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Die schwarze Wollmütze

Teil 2 - Jeroen

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Informationen

 

Zur Vorgeschichte: Im Sommer lernte Jeroen Arno kennen, einen Wiener Jungen aus sozial schlechtem Milieu, der die Ferien bei Jeroens  Tante und deren Familie in Holland verbrachte. Die beiden verschossen sich sofort in einander, obwohl sie unterschiedlicher nicht hätten sein können: Arno, ständig im Kampf mit sich selbst und seiner Umwelt, zu Aggressionen neigend.  Jeroen, der Ruhige von beiden, der allerdings immer noch unter dem Tod seines besten Freundes, sowie der Trennung seiner Eltern litt. Dennoch ergänzten sich die beiden trotz, oder gerade deswegen, weil ihre Zeit sehr begrenzt war. Der Abschied war tränenreich und beide beschlossen, sich wiederzusehen.

Wie die Zeit verging. Jeroen war mittlerweile 15 geworden, ein gutes Stück gewachsen und hatte das Haus seiner Großeltern (wo er mit seiner Mutter nach deren Scheidung hingezogen war) verlassen. Nur wenige Wochen nach dem Abschied von Arno, wurde er in einer Schule für angewandte Künste angenommen, die etwa 140 Kilometer von seinem Heimatort entfernt lag. Klar, dass er da nicht jeden Tag hin- und herfahren konnte: Somit gab’s nur eine Lösung – ein Internat.

Anfänglich fühlte sich der ja eher scheue Jeroen sehr unwohl in seiner neuen `Heimat´ und sehnte Tag für Tag das Wochenende herbei, wo er regelmäßig heim zu seiner Mutter fuhr. Er hatte schrecklich Heimweh, vermisste seine Mutter und Arno noch viel mehr. Mit seinem Zimmerkollegen verstand er sich gar nicht, vor allem als er ihm erklärte, was es mit der Zeichnung (Arno zeichnete nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht den schlafenden Jeroen) auf sich hatte, die er sofort im Zimmer aufhängte. Mark, sein Zimmerkollege, beteuerte zwar, er hätte nichts grundsätzlich gegen Schwule, würde es aber doch vorziehen, keinen von `diesen Leuten´ als Freund haben zu vollen. Ein komischer Typ – aber zumindest ließ er ihn in Frieden. Die ersten Wochen waren somit sehr hart und Jeroen weinte sich mehr als einmal leise in den Schlaf – die vielen Briefe, die er von Arno bekam, hielten ihn allerdings aufrecht. Und ab und zu traf er sich mit Arno in einem Internet Chatroom, was aber eher von Zeit und Zufälligkeit abhängig war.

Nach einer Weile fand sich Jeroen dann aber doch ganz gut zu Recht: Er fand neue Freunde und hatte vor allem Riesenspaß am Unterricht: Er lernte sein Gitarrenspiel zu perfektionieren, büffelte Noten- und Musiklehre und – worauf er am meisten stolz war – gründete eine Band mit drei Mitschülern, in der er Leadsänger und Gitarrist war. Wie bei sehr vielen Sängern, schaffte es Jeroen beim Singen, aus seiner Introvertiertheit auszubrechen. Die Band bestand aus dem Bassisten Tim, dem Schlagzeuger Erik und der Keyboarderin Winnie, die ihn auch öfters beim Gesang begleitete. Am liebsten coverten sie Songs von U2 und Starsailor, probierten sich aber auch ganz gerne in härteren Gefilden. Besonders stolz war Jeroen auf seinen selbst komponierten und geschriebenen Song `Endless Summer´, den er sich und Arno widmete. Da er nie ein Freund von Versteckspielen war, klärte er seine Bandkollegen – vor allem Erik und Winnie wurden rasch zu seinen Freunden – auch über dessen Bedeutung auf, mit anderen Worten: Er outete sich. Bald wusste es die ganze Schule und niemand hatte ein Problem damit, was Jeroen sehr erleichternd fand.

Nach und nach vergaß er sein Heimweh und begann, sich in seiner neuen Welt zurechtzufinden. Einzig und allein Arno -  den vermisste er nach wie vor! Zwar war der Schmerz nicht mehr so immens groß, wie kurz nach dem Abschied – aber Jeroen hätte lügen müssen, wäre da nicht eine große Lücke in seinem Herzen entstanden, die keiner zu schließen vermochte.

Genau darum ging es auch in seinem Song.

Die ersten Monate vergingen und beide Jungs waren wirklich fleißig am Schreiben. Zu Weihnachten setzte es dann allerdings eine Riesenenttäuschung für Jeroen: In den Ferien hatte seine Mutter Arno nach Holland eingeladen, doch dieser sagte wenige Tage vor seiner geplanten Ankunft ab. Er war krank geworden. Seitdem vermutete Jeroen, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmen musste. War er wirklich krank und wenn ja, könnte es sein, dass sein gewalttätiger Vater etwas damit zu tun hatte? Oder wollte er vielleicht gar nicht kommen? Mit diesen Gedanken quälte sich Jeroen über die Weihnachtsfeiertage und nichts konnte ihn so richtig aufheitern.

In den folgenden Monaten lief es für Jeroen in umgekehrter Voraussetzung: War er in der Schule, fühlte er sich entspannt und ausgelassen -  kam er an den Wochenenden nach Hause, bohrten Fragen nach Arno in ihm.

Im März schließlich – wenige Tage nach seinem Geburtstag – hielt Jeroen einen Brief von Arno in der Hand. Er begann sofort wieder zu zittern, als er las, was da geschrieben stand:

Lieber Jeroen!

Es tut mir Leid, dass ich in letzter Zeit so wenig schreibe – aber es läuft grad wieder alles schief für mich. Manchmal find ich alles so Scheiße, dass ich es nicht mehr aushalte. Zuhause ist alles wie immer: Mein Vater säuft und brüllt den ganzen Tag herum. In der Schule läuft’s ähnlich schlecht und meine Noten sind unterirdisch schlecht. Ich glaube, ich werde den ganzen Krempel hinschmeißen – ich bin halt doch zu blöd dafür. Mein Vater hat mir angeboten, mich in der Firma unterzubringen, in der er arbeitet. Na bitte, wenigstens tut er mal was für mich. Dann verdien ich endlich Geld und kann in ein paar Jahren abhauen – nach Australien oder sonst wo hin. Irgendwohin, wo mich keine Sau kennt. Dann hätte ich endlich Ruhe. Ich hoffe, dir geht es gut.

Liebe Grüße,

Arno

Jeroen war geschockt: Das konnte doch nicht sein ernst sein! Der wollte doch tatsächlich die Schule schmeißen, um bei seinem Vater zu arbeiten! Seinem Vater – der nichts für ihn übrig hatte und der ihn mehr als einmal krankenhausreif geschlagen hatte. Außerdem war er irritiert: Da stand am Ende des Briefes nur `Liebe Grüße´, kein `Ich liebe dich´ oder `Ich vermisse dich´!  Irgendetwas war da in aller schwerster Unordnung – und dass ließ ihn fortan nicht mehr in Ruhe.


„Jeroen, Liebling, was ist denn los mit dir?“, fragte seine Mutter am darauffolgenden Wochenende, als sie ihren Jungen schweigend beim Frühstück gegenüber saß, dessen Laune am Tiefpunkt war.

„Ach nichts, lass mal, Mama“, meinte Jeroen, doch seine Mutter konnte er nicht so leicht anlügen.

„Es ist wegen Arno, stimmt´s? Hat er wieder geschrieben? Glaub mir, es tut mir auch weh zu sehen, wie sehr du ihn vermisst…“

Nun brach es aus Jeroen heraus – er erzählte seiner Mutter, was ihm Arno geschrieben hatte. Er war nun regelrecht außer sich vor Zorn: Zorn auf seinen geliebten Freund, aber auch auf sich selbst, da er ohnmächtig feststellen musste, nichts, aber auch nichts dagegen unternehmen zu können.

„Du solltest ihm sofort zurück schreiben… Oder noch besser: Chatte mit ihm!“, riet ihm Anne.

„Ich weiß nicht, ob ein Brief das richtige Mittel ist. Und zum Chatten hatte ich in den letzten Wochen sehr wenig Zeit. Ach, ich glaub es ist einfach aus“, meinte er traurig und ging in sein Zimmer, wo er die Fotos vom letzten Sommer betrachtete und mit den Tränen kämpfte.

Jeroen verbrachte fast den ganzen Samstag in seinem Zimmer, spielte etwas Gitarre oder starrte einfach faul vor sich hin. Aber egal was immer er auch tat: Mit den Gedanken war er bei Arno, der ganze Schmerz war wieder da, genauso stark wie an dem Tag, an dem er dem Bus hinterher gelaufen war, der Arno von ihm weggeführt hatte..

Gegen Abend wurde er dann doch hungrig und er beschloss in die Küche zu gehen, um seiner Mutter bei der Zubereitung des Nachtmahls zu helfen.

„Hallo Jeroen“, hörte er unten eine vertraute Stimme.

„Onkel Jan!“, rief Jeroen erfreut und begrüßte seinen Onkel, indem er ihm um den Hals fiel. „Das ist aber eine schöne Überraschung, was verschlägt dich hier her?“

„Verschlägt? So weit wohn ich doch auch nicht von euch entfernt. Wilma und Thys lassen dich übrigens recht herzlich grüßen. Wie geht es dir?“, fragte er scheinheilig, denn in Wahrheit hatte ihn Anne angerufen und um Hilfe gebeten. Denn Arno lag auch seinen ehemaligen Gasteltern immer noch sehr am Herzen, wenn auch der Kontakt nicht so häufig ausfiel, wie es zwischen Jeroen und Arno der Fall war.

Als Jeroen als Antwort seufzte, fuhr Jan fort, „Hör mal, Jeroen. Wir müssen etwas unternehmen. Deine Mutter hat mir von diesem Brief erzählt, den Arno dir geschickt hat. Also, das kann doch nicht sein Ernst sein? Wir haben versprochen, immer für ihn da zu sein – ich dachte zwar nicht, dass das so schnell der Fall sein würde, aber wir müssen ihm helfen, bevor er Blödsinn macht!“

Jeroen wusste nicht so Recht, worauf Jan hinauswollte. „Was können wir denn von hier schon tun?“, meinte Jeroen zerknirscht.

„Von hier nicht viel, aber was hältst du davon, wenn wir nach Wien fliegen, um nach ihm zu sehen? Ich habe bereits mit meinem Chef gesprochen – ein paar Tage Urlaub sind kein Problem, ich denke dein Schulleiter wird auch nichts dagegen haben – wie ich von deiner Mutter höre, bist du ja sein bester Schüler.“

„Was ich davon halte?“, kreischte Jeroen fast in schrillem Ton. „Das wäre einfach großartig!“ Mehr brachte er nicht mehr heraus, ehe er, nach Atem ringend, Jan um den Hals fiel.

„Es ist also alles aus“, meinte Anne frech, freute sich aber, ihren Sohn so glücklich zu sehen.

„Ich hätte auch keine Widerrede geduldet“, meinte Jan gespielt streng, „schließlich hab ich schon für Montag früh einen Flug gebucht.“

Jeroen musste das alles erst verarbeiten, als er einige Stunden später wach in seinem Bett lag. So sehr er auch besorgt um Arno war, so sehr freute er sich darauf, ihn wiederzusehen. Jan hatte ihn zwar gewarnt, dass es vielleicht nicht so wie im Sommer werden würde, aber das war ihm egal. Außerdem meinte Jan noch, dass es besser wäre, Arno nichts zu sagen. Wer weiß, er könnte vielleicht eine Dummheit begehen und weglaufen – wie er es im Sommer ja auch mal getan hatte.

Jeroen staunte wieder mal selbst über seine Pünktlichkeit und Ordentlichkeit, denn schon Sonntagmittag war sein Koffer fertig gepackt – seinetwegen könnte es ruhig schon losgehen. Er packte natürlich auch sein weißes Hemd ein, das ihm Arno zum Abschied geschenkt hatte. Wie sehr er sich auf den nächsten Tag freute, wenn auch etwas Unbehagen in ihm war. „Hoffentlich hat er sich nicht zu sehr verändert“, dachte er und betrachtete sich im Spiegel. Er selbst hatte sich äußerlich doch etwas verändert: Wie gesagt, er war ein ganzes Stück gewachsen, sein Gesicht wirkte viel erwachsener als noch im Sommer zuvor. Dennoch war ihm die` Spitzbübigkeit´ in seinen blauen Augen nicht zu nehmen, die nach wie vor Ruhe und Besonnenheit ausstrahlten, etwas, wofür Arno ihn so liebte. Die Länge seines Haares hielt er penibel ein – er wollte sie weder länger noch kürzer haben und saß daher alle zwei Wochen bei Winnie, der Keyboarderin, die sie ihm kürzte. Ab und an ließ er einen Teil seiner mittellangen, blonden Haare sein Gesicht zur Hälfte verdecken  - es gefiel ihm, obwohl er dann meist nur noch mit einem Augen sehen konnte.

Am Nachmittag saß Jeroen dann mit Jan zusammen, um letzte Details der Reise durchzugehen. Jan hatte übers Internet bereits ein Hotel gebucht. Mit Jeroens Hilfe hatte er auch die Telefonnummer von Arnos Schule herausgefunden – dort wollte Jan mit Arnos Direktor und seiner Beratungslehrerin sprechen.

„Du wirst sehen: Es wird alles gut werden“, versprachen ihm Anne und Jan, als sie Jeroen eine gute Nacht wünschten. Dennoch brachte dieser kaum ein Auge zu: Er war zu aufgeregt und konnte den nächsten Morgen nicht erwarten.


Jeroen hatte kaum geschlafen, als er kurz vor 9 neben Jan in der KLM-Maschine Platz nahm. Er liebte das Fliegen, aber dieses Mal war er besonders nervös. Das hatte aber natürlich einen anderen Grund – es war gewissermaßen eine Reise ins Ungewisse.

Das Flugzeug hob ab – und Jeroen schlief ein. Er hätte fast den ganzen Flug verschlafen, wäre er kurz vor der Landung nicht durch das Rumpeln des Flugzeugs aufgeweckt worden, das gerade eine nicht enden wollende Schneewolke durchflog. Es war Ende März und Wien wurde noch einmal so richtig von General Winter heimgesucht. Polternd setzte der Flieger dann doch auf – und ein kalter Wind blies Jeroen um die Ohren. „Das fängt ja schon mal gut an“, dachte er, schob aber seine Befürchtungen gleich wieder beiseite – schließlich war er in Wien. Arnos Stadt!

Mit der S-Bahn ging es – vorbei am riesigen Zentralfriedhof -  in die Innenstadt, wo Jan und Jeroen wenig später in einer kleinen Pension nicht unweit von der der Mariahilferstraße entfernt eincheckten. Arno hatte ihm von dieser großen Einkaufsstraße in Wien erzählt, aber was in dem Moment noch wichtiger war: Auch Arnos Zuhause war nicht weit von jener entfernt.

Beim Mittagessen bekam Jeroen nur wenige Bissen runter – obwohl ihm das erste Wienerschnitzel seines Lebens behagte, war er einfach zu nervös dazu.

„Hör mal zu Jeroen“, sagte in dem Moment Jan. „Ich halte es fürs Erste besser, wenn ich zunächst alleine zu Arnos Wohnung gehe. Wir wissen beide schließlich nicht, was uns dort erwartet, vor allem, wie sein Vater reagieren wird. Ich denke, du bist reif genug das zu verstehen.“

Jeroen legte sofort Protest ein: „Kommt nicht in Frage! Arno ist mein Freund und ich bin kein kleines Kind mehr. Ich werde dich begleiten, ob du willst oder nicht! Außerdem sind wir dann zu zweit!“ Jeroen war selbst erstaunt über diese harten, offenen Worte und dem Blick nach ging es Jan genauso.

„Gut, wie du meinst“, meinte er knapp und sah, dass es keinen Sinn hatte, Jeroen umzustimmen. Irgendwie war er sogar stolz darauf, dass sich Jeroen so für Arno einsetzte. „Hoffentlich geht alles gut“, dachte er sorgenvoll, während er seinem Neffen über die Haare strich.

Einige Zeit später stand man in einer Nebengasse der Äußeren Mariahilferstraße. Arno hatte nicht gelogen – er wohnte tatsächlich in der Nähe dieser Straße, dennoch lagen Welten zwischen der Gegend, wo Jan und Jeroen zuvor gegessen hatten und da, wo sie sich jetzt befanden. Die Geschäfte waren schäbig oder verlassen, zwielichtige Lokale säumten den Weg – und schließlich stand man vor dem Haus, in dem Arnos Familie wohnte. Vor dem Haus lungerte ein türkischstämmiger Mann herum, der die beiden argwöhnisch betrachtete. Auch Jan war etwas mulmig zu Mute – beide sprachen recht wenig, als sie das dunkle Treppenhaus bis in den 3. Stock hinaufstapften. Es roch nach Urin und hinter einer Tür im zweiten Stock schrie ein Mann gerade sein Kind an. Es weinte.

Familie Stifter.

Beide standen vor der Tür und nach kurzem Zögern drückte Jan die Türklingel, während Jeroen einen Schritt zurückwich. Ein kräftiger Mann mit schon schütterem Haar öffnete die Tür.

„Ja, bitte?“, fragte dieser nicht unfreundlich. Jeroen war erstaunt – er hatte ein Monster erwartet, aber vor ihm stand ein Mann, der absolut nicht seinen Vorstellungen entsprach.

„Gestatten: de Bleeker. Arno war im Sommer bei uns und….“

„Nein, danke“, sagte Arnos Vater mit einem milden Lächeln und schloss die Tür wieder.

Nun erschauderte Jeroen – er wusste jetzt, was es mit dem Spruch `Wolf im Schafspelz´ auf sich hatte.

„Ich habe gemerkt, wie du vorhin geschaut hast“, meinte Jan, als man sich entschied, das Haus wieder zu verlassen. „Aber so ist das meistens“, setzte er fort, „nach außen lassen sich solche Menschen nichts anmerken. Monster, wie man sie aus Filmen kennt, gibt es nicht. Die wahren Monster leben unauffällig unter uns.“

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Jeroen.

Gegenüber von Arnos Haus befand sich ein kleines Café und Jan beschloss, darin zu warten, um das Haus zu beobachten.

Das hörte sich leichter an, als es schließlich war: Zwar bekam man einen Platz am Fenster, doch diese waren so  dermaßen verdreckt, dass man nur wenig von der Außenwelt erkennen konnte. Die Gäste im Lokal waren größtenteils alkoholisiert und man hörte nur sehr wenige deutsche Sätze. Auch wenn die beiden von den Meisten anfänglich kritisch gemustert wurden, wandte man sich bald wieder den eigenen Dingen zu und ließ sie in Ruhe.

Jan trank Kaffee, Jeroen eine Cola. Beide starrten so gut es ging durch das schmutzige Fenster und beobachteten die Haustür auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Jeroen durchzuckte es bei jedem Menschen, der am Fenster vorbeiging – er zitterte vor Anspannung.

„Na komm, lass es uns morgen wieder probieren“, meinte Jan tröstend, „ es wird bald dunkel. Fahren wir ins Hotel zurück“, meinte Jan nach knapp eineinhalb Stunden.

Zurück auf der Straße, war Jeroen gerade damit beschäftigt, seine dicke Winterjacke zu schließen, als er in den Augenwinkeln eine Gestalt auf der anderen Straßenseite ausmachen konnte. Die Gestalt hatte ebenfalls eine dicke Jacke an, einen Schal, der das halbe Gesicht verdeckte und eine schwarze Wollmütze, unter welcher  ein Büschel schwarzes Haar hervorlugte. Jeroen bekam weiche Knie, keine Frage: Bei dieser Gestalt handelte es sich um Arno.

„Arno!“, rief in dem Moment Jan, der bemerkte, dass Jeroen kein Wort herausbrachte. Der angesprochene Junge blickte kurz zu ihnen herüber, schreckte kurz zusammen – und verschwand im Haus.

„Wahrscheinlich hat er uns nicht erkannt“, versuchte Jan den jetzt noch wortloseren Jeroen zu beschwichtigen. Schließlich setzte er alles auf eine Karte: „Los, wir gehen ihm nach!“

Jetzt kam auch in Jeroen wieder Bewegung. „Arno. So nah und doch so fern“, dachte er sich und wusste ihm nächsten Moment schon nicht mehr, warum er das eigentlich dachte.

Wieder stiegen sie das Treppenhaus hinauf, abermals läutete Jan.

„Sie schon wieder! Jetzt reicht’s dann aber“, fuhr sie Arnos Vater an, beide rochen sofort seine mittlerer Weile ziemlich ausgeprägte Alkoholfahne. Von Arno war nichts zu sehen. „Hören Sie, ich weiß ja nicht, was Sie wollen, aber Arno hat nichts mit Ihnen zu tun. Außerdem hat er heute schon wieder die Schule geschwänzt, dieses Arschloch. Packen Sie ihren Scheißdreck zusammen und hauen Sie doch wieder ab. Wir haben nichts mit Ihnen zu tun!“

Beiden wurde die Tür vor der Nase zugeschlagen, ehe sie auch nur dazu kamen, ein Wort zu sagen.

„Genau so habe ich ihn mir vorgestellt“, meinte Jeroen mit zittriger Stimme. Wieder einmal war er dem Heulen nahe. Während Herr Stifter herumgeschrien hatte, hatte er versucht, an ihm vorbei in die Wohnung zu blicken, in der Hoffnung einen Hinweis auf Arno zu entdecken. Er glaubte zwar hinter einer Milchglastür einen Schatten gesehen zu haben, aber das könnte was auch immer gewesen sein. Auch von Arnos Mutter war nichts zu sehen. Könnte sein, dass sie gerade vor dem Fernseher saß, der im Wohnzimmer zu laufen schien.

„Bevor du fragst: Ich weiß es nicht! Ich hab keinen Schimmer, was wir jetzt tun sollen!“, kam ihm Jan zuvor, als man wieder im Freien war. Augenblicklich nahm er Jeroen in seine Arme – er erkannte, dass dieser es gerade dringend benötigte. In den Armen seines Onkels schossen ihm dann schließlich doch die Tränen in die Augen. „Er hat meine Mütze getragen“, schluchzte er kaum hörbar.


Onkel und Neffe lagen jeweils in ihren Betten und starrten an die Zimmerdecke. Das Zimmer war schlicht eingerichtet und bot kaum mehr Platz als für die beiden Betten. Das war Jeroen im Moment egal: Seine Gedanken drehten sich nur um Arno. Er trug also tatsächlich die Wollmütze, die er ihm zum Abschied geschenkt hatte. Die Jeroen so viel bedeutete – sie musste auch Arno wichtig sein. Es war gegen acht Uhr abends, als Jan den Fernseher anmachte. Er suchte etwas Ablenkung – die hatte auch Jeroen bitter notwendig, also fing er an, an einem neuen Song zu basteln. Die ganzen Emotionen des Tages sollten in diesen Song fließen: Er gab ihm vorweg den Titel `Unwanted Boy´. So richtig viel Text fiel ihm dann allerdings doch nicht ein, immer wieder schweiften seine Gedanken in eine andere Richtung ab.

Gegen neun Uhr - beide waren bereits ständig eingenickt – ließ sie auf einmal das Klingeln des Telefons hochschrecken.

„Wahrscheinlich Wilma“, meinte ein müder Jan.

„De Bleeker!“, meldete er sich.

„Ja, Grüß Gott. Rezeption. Herr de Bleeker? Wir bitten Sie, momentan zur Rezeption zu kommen. Hier gibt es Probleme mit einem Betrunkenen, der vorgibt, Sie zu kennen. Ich bitte Sie, das zu regeln, andernfalls müsste ich die Polizei rufen.“

„Bin gleich unten!“, antwortete Jan und legte auf.

„Wer war das?“, fragte Jeroen besorgt.

„Sieht fast so aus, als wäre uns dieser Verrückte gefolgt. Arnos Vater ist unten. Du bleibst hier – ich bin gebeten worden, nachzusehen.“

Dieses Mal war Jeroen bewusst, dass es keinen Sinn gehabt hätte, wieder Einspruch zu erheben. Er blieb widerspruchslos im Zimmer.

Als Jan in den Aufzug stieg, musste er sich eingestehen, dass er nun wirklich Angst hatte. „Wer weiß denn schon, was so ein Typ alles vorhat“, ging ihm durch den Sinn.

Der Portier erwartete Jan bereits vor dem Aufzug und führte ihn ins Foyer, wo eine Couch stand.

Auf der Couch saß Arno.

Er war der Betrunkene.

„Arno?“, fragte Jan verwundert und setzte sich zu ihm.

Arno konnte ihm nicht in die Augen blicken, so sehr hatte er sich auf ein Wiedersehen mit diesen Leuten gefreut – doch jetzt konnte er nur vor Scham auf den Boden blicken.

„Warum lasst ihr mich nicht einfach in Ruhe“, stammelte er, während ihm eine dicke Träne herunterkullerte. „Hat doch alles keinen Sinn!“

Er war sturzbetrunken und vollkommen verwirrt. Nachdem ihm am Nachmittag Jan auf der Straße zugerufen hatte, waren auch bei ihm wieder alle Gefühle für Jeroen da: Er liebte ihn immer noch!

„Er ist einfach hier herein gestürmt. Behauptet, Sie zu kennen“, meinte der Portier. „Ist das so?“

„Ja, es ist alles in Ordnung“, antwortete Jan, ohne den Blick von Arno abzuwenden.

„Ich hab gedacht, es wär nur ein Traum, als ich euch gesehen habe“, meinte Arno weiter mit leiser Stimme. Jan hatte Mühe ihn zu verstehen – nicht nur dass er betrunken war, sprach er auch noch in breitem Wiener Dialekt.

„Ich hab wieder die Schule geschwänzt. Als ich mich reinschleichen wollte, hat er mich leider erwischt“, klagte er und erst jetzt bemerkte Jan, das Jeroen krampfhaft seinen rechten Arm in die Magengrube drückte. „Voll in den Bauch“, fuhr er fort. „Ich bin ins Zimmer und wenig später hat es an der Tür geläutet. Da wusste ich: Das seid ihr. Es war kein Traum. Ihr seid noch eine Weile vor dem Haus gestanden, nachdem euch mein Alter rausgeschmissen hatte.  Da hab ich mich rausgeschlichen und bin euch gefolgt. Dann hat mich der Mut verlassen…“

Jan war jetzt näher gerückt und legte vorsichtig seinen Arm um Arnos Schulter. „Warum sagst du, dass wir dich in Ruhe lassen sollen? Wir sind doch für dich da – es warst außerdem du, der uns hierher gefolgt ist. Und das war auch gut, dass du das gemacht hast.“

Es kam kein Laut mehr von Arno – er war eingeschlafen. Dafür kam plötzlich von hinten eine weitere Hand, die sanft Jeroens Haar streichelte.

„Leise“, er ist gerade eingeschlafen, flüsterte Jan, der sofort wusste, dass die Hand nur Jeroen gehören konnte.

Jeroen war tatsächlich aus dem Zimmer geschlichen, weil er sich Sorgen um Jan machte. Nun wagte er nicht zu atmen: Wieder und wieder strich er Arno durchs Haar.

Zwar hatte er sich das Wiedersehen ganz anders vorgestellt, dennoch war er fürs erste beruhigt, dass es Arno gut ging. „Ich hab dich so vermisst. Ich liebe dich so sehr“, flüsterte er dem schlafenden Arno ins Ohr. „My sleeping beauty!“, wisperte er und küsste vorsichtig Arnos Stirn.

Währenddessen verhandelte Jan mit dem Portier, sowie dem dazugekommenen Manager. Jans Anliegen war klar: Arno sollte die Nacht im Hotel bleiben, denn in diesem Zustand wollte er ihn auf keinen Fall zurück zu seinem Vater schicken. Nachdem er in seinen Verhandlungen erfolgreich war, kam er zur Couch zurück, wo Arno mittlerweile umgekippt war – sein Kopf lag auf Jeroens Knien.

„Alles klar. Ich hab ihm ein Zimmer besorgt. Er soll heute Nacht hier bleiben, morgen müssen wir dann überlegen, was wir für ihn tun können“, meinte Jan. „Komm, wir werden ihn wohl oder übel ins Zimmer tragen müssen“, forderte er Jeroen auf.

Jan schnappte Arno unter den Armen, während Jeroen seine Beine trug. „Das muss schon ein komisches Bild sein“, dachte Jeroen und musste fast kichern, ehe er sich wieder dem Ernst der Lage bewusst wurde.

Arno bekam das Zimmer neben Jan und Jeroen. Sie legten ihn aufs Bett und entledigten ihn noch seines Pullovers und seiner Jeans. Dann meinte Jan: „Es ist besser du bleibst die Nacht über bei ihm, falls er munter wird oder Hilfe braucht. Ich bin ja gleich nebenan, falls du was brauchst. Gute Nacht, Jeroen! Was für ein Tag, nicht wahr?“

„Und ein langer noch dazu. Gute Nacht, Onkel Jan!“, erwiderte Jeroen.

Jeroen betrachtete Arno, der noch nicht zugedeckt nur in seiner Unterhose da lag. Er hatte sich seit dem Sommer eigentlich nicht verändert: Sein schwarzes Haar und seine weiße Haut bildeten immer noch einen wunderschönen Kontrast und das erste Mal kam Jeroen in den Sinn, wie zerbrechlich dies eigentlich wirkte. Zwar hatte Arno keineswegs die Statur einer Porzellanpuppe, aber vom seelischen Zustand her konnte man den Vergleich schon herstellen. Auf einmal entdeckte Jeroen doch eine kleine Veränderung: Jeroen hatte sich auf seinem rechten Oberarm ein Tattoo zugelegt. Es waren drei Worte: Love Faith Hope. Jeroen wurde es feierlich zu Mute: Es waren dieselben Worte, die Arno ihm in den Ring eingravieren ließ. Den Ring, dem er ihn zum Abschied geschenkt hatte und den Jeroen seitdem nicht mehr abgenommen hatte. In dem Moment wurde Jeroen klar: Das Band zwischen ihnen konnte noch nicht gerissen sein.

Love – die Liebe zwischen den beiden.

Faith – der Glaube an einander.

Hope – die Hoffnung auf ein gemeinsames Leben?

Er strich ihm sanft über sein Tattoo – seine Haut fühlte sich weich und warm an. Arno gab einen leisen, seufzenden Laut von sich und drehte sich auf die Seite. Jeroen starrte nun geradewegs auf seinen Hintern: Ein bisschen schämte er sich, denn eigentlich sollte er ja traurig wegen Arnos Zustand sein, doch als er ihn so daliegen sah, überkamen ihn die wildesten Gedanken. Er musste an all die zärtlichen Stunden denken, die er mit Arno zusammen verbracht hatte…

Es war zwar bereits kurz vor Mitternacht und Jeroen war hundemüde, doch er wäre sicher nicht eingeschlafen, hätte er sich nicht vorher noch einen runtergeholt.

„Wow“, schnaufte Jeroen kurz auf – es war der beste Orgasmus, den er seit letzten Sommer gehabt hatte.

Zufrieden schlief er ein. Zumindest waren er und Arno schon mal im selben Zimmer.


Unsanft wurde Jeroen bereits sehr früh geweckt. „Klar, Arno der Frühaufsteher“, dachte er verschlafen und dreht seinen Kopf in Richtung zweites Bett. Arno saß mit dem Rücken zu ihm auf der Bettkante und hielt sich stöhnend den Kopf. Er hatte einen Riesenkater und schien sich außerdem zu wundern, wo er überhaupt war.

Jeroen setzte sich auf, winkelte die Knie an und räusperte sich kurz. Arno drehte sich um und sah ihn wie versteinert an.

Alles was er raus brachte war: „Jeroen!“

Danach sprang er auf, stürzte ins Bad und Jeroen konnte hören, wie er sich die Seele aus dem Leib kotzte. Er schrubbte er sich die Zähne und kam ins Zimmer zurück.

„Du musst also kotzen, wenn du mich siehst“, meinte Jeroen humorvoll. Arno hatte jetzt auf Jeroens Bettkante Platz genommen.

„Tut mir leid wegen gestern, das war ein Scheiß Auftritt von mir“, meinte er reuevoll, ohne den Blick von Jeroen abzuwenden. „Du bist gewachsen“, meinte er und strich ihm liebevoll übers Gesicht. Das fühlte sich so schön an, dass sich augenblicklich seine Augen mit Tränen füllten. „Ich hab dich so vermisst“, meinte er schließlich und sie fielen sich in die Arme.

„Endlich!“, war wohl das, was sich beide in diesem Moment dachten. Endlich waren sie wieder zusammen. Sie saßen gut und gerne fünf Minuten so da – einander umarmend, ohne auch nur ein Wort zu sagen.

„Und ich dachte schon, du hast mich und alles was war vergessen“, durchbrach Jeroen schließlich die Stille. „Nie könnte ich dich vergessen, spinnst du?“, antwortete Arno. „Wie kommst du darauf?“

„Du hast kaum rüber gesehen, als wir dich gestern vor deinem Haus gesehen haben“, antwortete der blonde Holländer traurig.

„Ach, ich war vielleicht nur überrascht. Und ich habe mich geschämt – du solltest mich nicht in meiner Wohnung sehen.“

„Aber sag, was machst du bloß für einen Scheiß? Du besäufst dich – und die Schule willst du auch schmeißen?“, meinte Jeroen zornig. Beide waren überrascht über die harten Worte Jeroens.

„Kannst ja wieder abhauen“, meinte Arno und wollte sich zur Seite drehen. „Dir geht’s doch eh toll in deiner Musikschule, da brauchst du mich sowieso nicht mehr!“

Das war zu viel für Jeroen: „Ich glaube, jetzt spinnst du! Warum glaubst du sind wir hier? Weil wir dich alle mögen – was heißt mögen, verdammt. Ich liebe dich. Die Schule ist toll, ja, aber jede Minute die ich unbeschäftigt bin, macht mich traurig, weil du nicht bei mir bist.“

„Sie haben mich nicht einmal abgeholt“, meinte Arno auf einmal.

„Was meinst du?“, fragte ihn Jeroen, etwas verärgert, weil er dachte, Arno hätte ihm nicht mal zugehört.

„Der Tag, an dem ich aus Holland zurück gekommen bin. Alle Kinder wurden am Flughafen von ihren Eltern abgeholt. Ich Arsch habe eine Stunde gewartet und mir eingeredet, sie würden schon noch kommen. Doch Irrtum – ich musste mit der Scheiß S-Bahn nach Hause fahren, ohne Ticket noch dazu. Und da wusste ich – ich bin denen scheißegal. Ich war so allein in den Wochen danach und niemanden interessierte es. Niemand war da, um mir zuzuhören. Aber denen wird ich es schon zeigen, was sie davon haben.“

Er stand auf und blickte aus dem Fenster. „Und weißt du, warum ich zu Weihnachten nicht zu dir gekommen bin?“

„Weil du krank warst?“, fragte Jeroen zurück, obwohl er wusste, dass ihm Arno scheinbar ganz etwas anderes erzählen wollte.

„Meine Mutter!“, sagte Arno stockend und Jeroen konnte von hinten erkennen, dass er alle Mühe hatte, nicht loszuheulen.

„Was ist mit ihr?“, meinte Jeroen fragend, der jetzt dicht hinter Arno stand.

„Sie ist einfach abgehauen. Ich meine… Ohne irgendetwas zu sagen…Sie….Sie haut ab. Ich war doch da für sie…Was soll das, mich einfach allein zu lassen….“.

Arno heulte, drehte sich aber nicht um. Scheinbar wollte er nicht, dass ihn Jeroen in die Arme nahm. Zu sehr verletzte ihn die Flucht seiner Mutter und aus irgendeinem unersichtlichen Grund hatte er Angst, dass auch Jeroen dasselbe tun könnte. Dieser legte seine Hand auf die Schulter: „Du bist nicht allein!“

„Doch verdammt, bin ich!“, schrie Arno. „Schon mitbekommen, dass uns an die 1000 Kilometer trennen? Was glaubst du, warum ich dir in letzter Zeit so selten geschrieben habe? In allen deinen Briefen ging es nur um deine scheiß neue Schule! Was hätte ich erzählen sollen? Dass meine scheiß Mutter abgehauen ist, dass ich in der Schule eine scheiß Niete bin?“

„Warum ich dir davon geschrieben habe? Na, weil ich dachte, mein scheiß Leben würde dich vielleicht  auch ein wenig  interessieren“, schrie ihn Jeroen an. „Aber scheinbar ist das nicht der Fall! Schon bemerkt, dass es immer nur um dich geht?“,  fuhr er ihn an – und es tat ihm im selben Moment Leid. Arno dachte nicht, dass Jeroen zu solch lauten Worte fähig wäre, er schreckte zusammen und kauerte sich auf sein Bett. Jeroens Worte hatten ihn schwer getroffen.

Jeroen sagte nichts. Er legte sich zu ihm ins Bett und schmiegte sich an ihn. Er dachte, dass Arno sicher seinen Arm vor Wut wegstoßen würde, doch er griff danach und zog den Arm fest zu sich.

„Entschuldigung“, meinte er traurig. „Ich hab ja nicht mal jemanden, den ich mal anschreien kann. Sorry, dass du dafür herhalten musstest. Außerdem hab ich einen scheiß Kater!“

„Mir tut’s Leid. Wegen deiner Mutter und dem ganzen Scheiß. Nur hilft es niemanden, wenn du dich komplett runter ziehst und dich gehen lässt.“

Er küsste zärtlich seinen Nacken. „Ich bin froh, hier bei dir zu sein! Und ich hoffe, bald den Arno zu treffen, den ich letzten Sommer kennengelernt habe!“ Er küsste nochmals innig Arnos Nacken.

„Der größte Teil von diesem Arno ist in Holland geblieben. Hier ist nicht viel von ihm über“, meinte dieser kryptisch.

„Na, dann müssen wir diesen Rest eben nach Holland bringen“, meinte Jeroen.

„Was meinst du damit?“, blickte ihn Arno fragend an.

„Mir ist egal, was Jan sagt. Ich lass dich auf keinen Fall in diesem Zustand zurück – ich gehe nicht ohne dich nach Holland zurück. Das schwör ich bei meinem Leben. Irgendetwas wird mir schon einfallen.“

Die Worte waren ernst gemeint, das war Arno sofort klar. Ernst, aber würde er sie auch realisieren können? Das war Arno vorerst egal, die Worte gingen runter wie Honig. Er küsste Jeroen auf die Lippen – der erste Kuss seit langem. „Lass uns noch etwas schlafen, es ist noch verdammt früh. Außerdem bin ich noch immer nicht ganz klar im Kopf“, meinte er mit brummiger Stimme. „Eins aber ist für mich klar: Ich bin auch froh, dass du hier bist.“  Er küsste jeden einzelnen  Finger Jeroens, bevor er – und wenig später auch Jeroen – wieder einschlief.

Gegen halb acht wurden die beiden Jungs erneut geweckt, dieses Mal durch das Klingeln des Telefons. Jeroen hob ab und erkannte die Stimme Jans, der sich erkundigte, ob beide schon wach wären.

„Also dann, in einer halben Stunde im Frühstückszimmer“, meinte Jeroen und legte auf.

Arno war inzwischen unter die Dusche gesprungen – Jeroen überlegte kurz, ob er ihn überraschen sollte und zu ihm in die Dusche steigen, entschied sich aber dagegen. „Ich möchte lieber etwas warten, bis wir über alles gesprochen haben“, dachte er.

Arno kam raus – und sah frisch und erholt aus. „Die haben sogar Aspirin hier“, meinte er, „das perfekte Frühstück, jetzt geht’s mir gleich viel besser.“

Er setzte sich auf sein Bett und zog sich an. „Wie bin ich eigentlich hier raufgekommen, ich kann mich gar nicht dran erinnern“, blickte er fragend zu Jeroen.

„Jan und ich haben dich getragen. Wir haben dich auch ausgezogen. Also ehrlich: Das mach ich lieber, wenn du wach bist“, meinte Jeroen grinsend.

„Machst du das öfters?“, fragte er weiter.

„Was meinst du?“, fragte Arno scheinheilig zurück.

„Na, dich volllaufen zu lassen…“

Arno dachte nach. „Ab und zu muss ich einfach ausbrechen, da kann es schon vorkommen, dass ich zu viel saufe. Gestern war es allerdings… ach ich weiß nicht… mein Vater hat wieder mal auf mich eingedroschen, dann wart ihr plötzlich da. Mich hat einfach der Mut verlassen! Ich war nervös – weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich dir diesen dämlichen Brief geschrieben habe. Ich habe mich so nach dir gesehnt und dann warst du plötzlich wirklich da.“

Jeroens Herz klopfte wie wild, Arno schien sich gefangen zu haben. Der Kater schien weg zu sein und er redete halbwegs vernünftig.

„Komm“, meinte er und griff nach seiner Hand. „Gehen wir frühstücken!“

„Warte“, meinte Arno leise und küsste Jeroen. „Ich hab schon ganz vergessen, wie sich das anfühlt. Deine Lippen meine ich. Wie viel Zeit haben wir noch?“ fragte er kurzatmig. Er wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern legte Jeroen aufs Bett, zog sich seine Jeans wieder aus und legte sich zu ihm. Beide küssten sich wild und leidenschaftlich – ihr Verlangen nach einander stieg ins Unermessliche. Schließlich lagen sie nackt aufeinander, wälzten sich hin und her, küssten sich und landeten schlussendlich mit dem Kopf zwischen den Beinen des anderen. Nach wenigen Minuten erreichten beide laut stöhnend den Höhepunkt, ehe sie – vollkommen erschöpft – noch etwas liegen blieben.

„Mann, mit dieser Ladung hätte man ja einen Großbrand löschen können“, meinte Jeroen schließlich und deutete auf das eingesaute Leintuch.

Arno grinste nur und zuckte mit den Achseln, ehe es an der Tür klopfte.

„Kommt ihr?“, meinte Jan.

„Sind wir bereits“, meinte Arno und hatte Sekunden später Jeroens Polster im Gesicht.

„Sind gleich unten“, meinte Jeroen, hüpfte aus dem Bett und zog sich in Windeseile an. Arno tat es ihm gleich und wenig später saßen sie mit Jan am Frühstückstisch, der beide kopfschüttelnd und grinsend ansah.

„Na, Wiedersehen gefeiert?“, meinte er und nippte an seinem Kaffee.

Beide griffen zu. Jeroen hatte mächtigen Hunger, während Arno sich eher am Orangensaft vergriff – sein Magen war noch nicht so weit für feste Nahrungsaufnahme.

„Also, hier mein Plan!“, erhob Jan die Stimme. Nun war wieder Ernsthaftigkeit in sein Gesicht gewichen. „Bevor dein Vater wieder Blödsinn macht, wäre es besser, du würdest jetzt nach Hause gehen. Ich…“

„Das ist nicht notwendig“, unterbrach ihn Arno. „Er wird sowieso schon in der Arbeit sein. Und als ich mich gestern rausschlich, war er schon dermaßen betrunken, ich meine, er hat mit Sicherheit nicht mitgekriegt, dass ich heute Nacht gar nicht zu Hause war. Ich hab das ja schon öfters gemacht.“

„Ok, nicht sehr klug, aber bitte! Darf ich jetzt weitersprechen?“, meinte Jan.

„Also, dann machen wir es so: Ich habe heute einen Termin bei deinem Direktor, ich habe ihn gestern noch angerufen – mit ihm werde ich über deine schulischen Leistungen sprechen. Irgendjemand sollte das tun, vielleicht steht’s ja gar nicht so schlimm um dich. Ich werde auf alle Fälle mein Bestes geben und ein gutes Wort für dich einlegen. Dir lass ich die Wahl: Du kannst mitkommen, oder – und ich glaube du wirst dich für zweites entscheiden – du zeigst Jeroen deine Stadt!“

„Ich weiß nicht“, meldete sich Arno kleinlaut zu Wort, „ich war die letzten zwei Wochen kaum in der Schule. Er wird sicher nichts Gutes sagen. Da wär’s mir lieber, du würdest allein hingehen.“

„Ok, dann treffen wir uns um zwei wieder hier. Und dann gehen wir alle gemeinsam essen, bevor ich zu deinem Vater gehe. Wann kommt er normal von der Arbeit heim? Vielleicht ist es besser, ihn irgendwo unterwegs abzupassen, anstatt in der Wohnung. Da kann er mich ja dann nicht einfach so anschreien, vor allen Leuten. Oder ich rede mit deiner Mutter, ach ja, die hab ich gestern….“

„Pst!“, versuchte ihn Jeroen noch zu unterbrechen.

„Meine Mutter ist weg. Abgehauen kurz vor Weihnachten“, sagte Arno mit leerem Blick.

Jan räusperte sich verlegen und lief rot an. Der Junge tat ihm entsetzlich leid, dennoch musste er auch konsequent in seinem Handeln sein, wenn er ihm wirklich helfen wolle. „Unglaublich“, schüttelte er abermals den Kopf. „Verständlich, wenn man da ab und zu durchdreht“, schlug sich Jeroen sofort auf seine Seite.

„Das schon“, fuhr Jan fort. „Aber nichts wird besser, wenn du jetzt die Schule abbrichst und wirklich mit deinem Vater zusammen arbeitest. Im Gegenteil: Da wird doch alles noch schlimmer“, wandte er sich wieder an Arno.

„Das leuchtet mir ja alles ein, wenn du es sagst“, antwortete Arno. „Aber ich habe keine Unterstützung. Von euch ja, aber die übrige Zeit…“ Er blickte ratlos zur Seite und schämte sich etwas, gerade so offensichtlich um Hilfe gebeten zu haben.

Danach blickte er zu Jeroen, der gleich neben ihm saß und an einem Butterbrot kaute. „Und bei dir muss ich mich entschuldigen! Das was ich heute früh gesagt habe, das tut mir leid. Ich freue mich für dich, dass es an deiner neuen Schule so gut läuft. Ich wünschte nur, dass… dass ich dir auch ähnlich gutes über mich sagen könnte…“

Jeroen musste schlucken. Er war sichtlich gerührt: „Ich entschuldige mich auch! Dir geht’s beschissen und das erste das ich mache, ist, dich anzufauchen.“

Er griff nach seiner Hand unter dem Tischtuch und drückte sie sanft. Arno wollte ihn küssen, aber im Raum saßen auch andere Leute. Schließlich waren sie nicht in Holland. Er seufzte tief und Jeroen erkannte auch sofort warum.

„Die Leute hier sind leider anders, als in eurem Land“, antwortete Arno auf  Jeroens Blick hin. „Nett, wenn man sie kennt, aber bei weitem nicht so aufgeschlossen. Nicht alle, aber wenn ich mir die Leute hier so ansehe“, er blickte sich um, „ also auf die trifft das 100% zu.“

„Er MUSS wirklich wieder nach Holland“, dachte sich Jeroen, gab aber Arno irgendwie Recht.

„So, ich werd dann mal“, warf Jan ein. „Der Termin ist um 9:30 Uhr – ich glaube, ich bin ohnehin schon verspätet. Viel Spaß euch beiden. Und um 2 wieder hier, ok?“

Arno erklärte ihm noch kurz den Weg zu seiner Schule und schon war er verschwunden.


Jan nahm vor dem Büro des Direktors Platz – er brauchte eine Ewigkeit dafür es zu finden, die Schule war riesengroß. Kurz nachdem er Platz genommen hatte, kam ihm eine dicke Frau entgegen.

„Sie müssen der 9:30 Uhr Termin sein, nicht wahr?“, meinte sie. „Gestatten: Umlauf mein Name. Ich bin die Sekretärin in diesem Laden. Leider ist der Herr Direktor heute erkrankt, daher hat er mich gebeten, Sie zu unserer Beratungslehrerin zu führen. Sie hat Einsicht in Arnos Schulakte und weiß auch persönlich mehr über ihn! Folgen Sie mir!“

Jan nickte, stand auf, gab ihr freundlich die Hand und folgte ihr. Obwohl sie sehr unbeweglich aussah, legte sie ein ziemliches Tempo vor und Jan hatte Mühe ihr zu folgen, noch dazu, da gerade Pause war und aus allen Klassen Schüler auf die Gänge strömten.

Schließlich kamen sie vor einem kleinen Zimmer im vierten Stock an, wo ihn Frau Umlauf bat, Platz zu nehmen.

„Anna wird gleich bei Ihnen sein“, meinte sie, reichte ihm die Hand und war sofort wieder verschwunden.

Nur wenige Minuten später bat ihn Anna – Arnos Vertrauenslehrerin – in ihr Zimmer, das gemütlich eingerichtet war. Anna war wohl bereits Anfang 50, war altmodisch gekleidet und wirkte auf Jan, wie eine dieser typischen Psychologen, die ihren Job nur des Geldes wegen machten. Doch sobald sie den Mund aufmachte, wusste sich Jan eines besseren belehrt. Sie war durch und durch freundlich und ihre Stimme klang sympathisch.

„Sie sind also Herr de Bleeker. Willkommen in Wien, ich hoffe Sie hatten einen guten Flug!“

„Ja, danke. Etwas holprig bei der Landung, aber ansonsten ok. Etwas holprig war auch die erste Begegnung mit Arno“, antwortete Jan, der gleich zur Sache kam und  Anna die ganze Geschichte vom Vorabend erzählte.

Als Jan den Namen Jeroen erwähnte, blickte Anna auf: „Dieser Jeroen muss ein ganz besonderer Junge sein. Arno hat viel von ihm erzählt, ich vermute da insgeheim eine besondere Beziehung dahinter!“

„Aha“, dachte Jan, Arno schien Anna also nicht alles über diese Beziehung erzählt zu haben.

„Naja“, meinte er zu Anna, „die beiden stehen sich sehr nahe, wenn Sie wissen was ich meine.“

Anna lächelte und sagte: „Das ich da nicht selbst draufgekommen bin, ärgert mich fast ein wenig. Er ist wohl noch nicht soweit darüber zu reden. Tja und in letzter Zeit hat er überhaupt eher selten vorbeigeschaut. Ich habe versucht seinen Vater zu erreichen, doch der ist an keinem Gespräch interessiert. Es ist wundervoll von Ihnen, wie Sie sich um Arno kümmern. Ich denke, das wird ihm helfen.“

„Ach, Sie müssen wissen, Arno ist für uns – also meine Frau und mich – so etwas wie ein eigener Sohn geworden, uns liegt sehr viel an ihm. Es stand für mich außer Frage, hierher zu kommen, als ich von seinen Problemen gehört habe. Steht’s wirklich so schlecht um ihn in der Schule?“

„Zurzeit ist er in Mathematik und Englisch negativ, aber ich halte ihn für einen klugen Kerl. Er könnte das locker bis zum Schulschluss ausbessern  - das Problem ist, dass er scheinbar schon aufgegeben hat. Kein Wunder bei diesem Vater!“

„Ja, ich hab da schon so Geschichten gehört, von dem Lungenriss, den er Arno vor einigen Jahren zugefügt hat. Das man nichts gegen solche Leute machen kann – das macht mich so wütend!“

„Ja, natürlich wurde damals die Fürsorge hingeschickt, aber Sie kennen das ja: Die müssen ihren Besuch ankündigen und finden eine heile Welt vor. Arno könnte sich vom Gesetz her erst mit 16 aus seiner Wohnung verabschieden – aber dann auch nur mit Sonderregelung. Das wär in knappen 6 Monate ja schon der Fall.  Die Frage ist nur, ob er bis dahin durchhält.“

„Was halten Sie davon, wenn ich nochmals versuche mit seinem Vater zu sprechen?“, fragte Jan.

„Versuchen können Sie es ja, aber machen Sie sich nicht allzu große Hoffnungen. Sie haben ja selbst erlebt, was gestern los war. Aber… erzählen Sie mir doch ein bisschen von diesem Jeroen. Vielleicht kann ja er mehr bewirken, als wir beide zusammen!“

Jan begann zu erzählen.


Inzwischen hatten auch Jeroen und Arno das Hotel verlassen. Es war nach wie vor eisig kalt, auch wenn der Schnee vom Vortag dann doch nicht liegengeblieben war.

„Also, du bist ja das erste Mal in Wien. Wo möchtest du hin?“, fragte ihn Arno, während er sich seinen Schal zurechtrückte.

„Ich finde es toll, dass du meine Mütze trägst“, sagte Jeroen in dem Moment und lächelte ihn lieb an. Seine Nasenspitze war rot vor Kälte. Er sah so dermaßen niedlich aus, dass Arno auf alle anderen schiss und ihm einen Kuss auf die Wange drückte.

„Na also“, meinte Jeroen freundlich, „es geht doch!“

Arno lachte und schien seit langem wieder einmal glücklich zu sein.

Jeroen hatte schon viel über Wien gelesen und da er auch sehr interessiert an Geschichte war, wollte er unbedingt ins Schloss Schönbrunn. Arno war wenig begeistert, wollte ihm diesen Wunsch allerdings nicht abschlagen. Wenig später befand man sich dann schon vor diesem berühmten Schloss.

„Scheiß Tourist“, meinte Arno kichernd, als Jeroen sofort einige Fotos machte.

„Maria Theresia hat dieses Schloss erbauen lassen, richtig?“, fragte Jeroen.

„Hey, Wahnsinn. Ja, stimmt. Du bist ja ein richtiges Genie!“

Jeroen gefiel es mit seinen Kenntnissen zu prahlen und erzählte Arno sämtliches, was er über die Habsburger (das ehemalige Adelsgeschlecht Österreichs) wusste. Dieser war ziemlich verblüfft.

Man spazierte durch einige der vielen Prunkräume – und mit Jeroen an der Seite machte es auch Arno Spaß, etwas von der Geschichte seines Landes einzuatmen. Nicht dass er nichts davon wusste, aber besonders hatte es ihn nie interessiert.

Danach spazierte man durch den Schlosspark den Hügel hinauf zur Gloriette, einem Bauwerk, von dem man einen wunderbaren Blick über das Schloss und Teile Wiens hatte.

„Kaiserin Elisabeth ist hier oft spazieren gegangen“,  erzählte Jeroen.

„Ja, das weiß ich. Sie hat’s in diesem Schloss und in dieser Familie nicht ausgehalten. Ständig war sie auf der Flucht!“, ergänzte ihn Arno.

„Genau wie ich!“, schoss es ihm sofort durch den Kopf.

Jeroen, sensibilisiert für Arnos Gefühle, merkte das natürlich sofort. Es waren nur wenige Leute zu dieser Jahreszeit unterwegs, also nahm ihn Jeroen kurzerhand in die Arme, um ihn fest an sich zu drücken.

„Ich weiß was du denkst! Aber irgendwann wirst auch du ankommen, ich hoffe schon bald!“

Arno riss sich in diesem Moment fest zusammen, um nicht schon wieder loszuheulen – er wollte nicht ständig wie eine komplette Heulsuse rüberkommen.

„Na, hoffentlich komm ich nie nach Genf“, meinte er, „dort ist sie ja ermordet worden. So ist sie auf gewisse Weise auch angekommen.“

Jeroen blickte ihm erschrocken ins Gesicht. „Keine Angst“, beschwichtigte ihn Arno, „da fahr ich sicher nie hin. Ich kann die Schweizer nicht leiden.“ Er lachte und gab ihm einen Kuss.

Der Wind frischte auf und ließ binnen Sekunden Millionen Schneeflocken durch die Luft wirbeln: Jeroen löste sich sanft aus der Umarmung und sprang einigen Schneeflocken hinterher. Er quietschte vor Vergnügen. „Wir haben sehr selten Schnee in Holland“, freute er sich und sprang weiter herum wie ein ausgelassenes Kind, das den ersten Schnee eines neuen Winters begrüßt.


Jan begann Anna über Jeroen zu erzählen, besser gesagt über Jeroen und Arno. Wie schnell sie sich angefreundet und schließlich verliebt hatten.

„Jeroen ist ein toller Junge. Er ist einer, der an das Gute im Menschen glaubt, selbst als ihn Arno mal im Streit beschimpft hat – es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, ihn fallen zu lassen.  Für Leute die er liebt, würde er alles tun. Er ist allerdings auch sehr sensibel und manchmal frage ich mich, ob ihn diese ganze Situation nicht mehr belastet, als er zugeben würde. Aber wenn es um Arno geht, lässt er sich nicht dreinreden.“

Jan erzählte ihr außerdem, wie toll das Verhältnis zwischen Jeroen und seiner Mutter war, die er öfters mal aufbauen musste, nachdem sie sich von seinem Vater getrennt hatte.

„Mein Sohn – Thys – ich hoffe er wird mal genauso wie Jeroen!“, schloss Jan seine Erzählung ab.

Anna lächelte. „Genauso hab ich ihn auch kennengelernt!“, meinte sie.

„Wie darf ich das verstehen?“, antwortete Jan.

„Nun, anhand Arnos Erzählungen und anhand dessen hier!“

Sie griff in ihre Schublade und holte eine Zeichnung hervor: Sie zeigte  Jeroen! Er saß auf einem Holzzaun, das ein Weizenfeld einzäunte und kaute an einem Grashalm. Dabei blickte er einen lächelnd an.

Jan verschlug es die Sprache. Er starrte das Bild an, jedes Detail- und war es noch so klein- an Jeroens Körper stimmte. Jede einzelne Haarsträhne saß perfekt, jeder einzelne Fingernagel war perfekt schattiert. Und obwohl Arno grundsätzlich nur mit Bleistift zeichnete, konnte man sogar das Blau seiner Augen erahnen.

„Er hat sie gleich bei einem unserer ersten Treffen im September angefertigt“, durchbrach Anna das Schweigen. Sie konnte erkennen, wie ergriffen Jan noch immer die Zeichnung anstarrte.

„Er saß eine Stunde da drüben (sie deutete auf einen weiteren Tisch in ihrem Raum), bewegte schweigend den Bleistift auf und ab, schnaufte mit rotem Gesicht ein und aus. Als er fertig war, glänzte er übers ganze Gesicht. Es war, als hätte er Jeroen aus Holland hier her geholt. Mein Gott und ich alte Kuh habe nicht erkannt, dass er schwer verliebt ist. Da hätte ich einige Gespräche in eine ganz andere Richtung lenken können.“ Sie schlug sich vorwurfsvoll mit der Faust gegen die Stirn.

„Diese Zeichnung, also ehrlich“, kam Jan wieder zu sich, „ich meine, ich weiß, dass er gerne zeichnet. Er hat es gesagt. Aber ich… ich habe nie eine Zeichnung von ihm zu Gesicht bekommen. Und jetzt sehe ich das hier… Unglaublich!“

„Er hat großes Talent. Hier, nehmen Sie sie mit. Jeroen muss sie sehen.“

Die beiden gingen Richtung Tür – Anna gab Jan noch ihre Telefonnummer. „Passen Sie auf sich auf – und rufen Sie mich bitte an, wie das Gespräch mit Arnos Vater verlaufen ist!“, sagte sie und streckte ihm freundlich die Hand entgegen.

„Danke für alles, was Sie für Arno getan haben und möglicherweise noch tun werden“, sprach Jan und erwiderte ihren Händedruck.

Anna war ein guter Mensch – und Jan wusste das zu respektieren.

Als er wieder im Freien war, musste er nochmals einen Blick auf die Zeichnung werfen.

Dabei kam ihm eine Idee.


Arno und Jeroen fuhren mit der U-Bahn Richtung Innenstadt – Jeroen wollte unbedingt den Stephansdom sehen. In unbeobachteten Momenten legte Arno seinen Arm um Jeroen und wenn er all seinen Mut zusammennahm, hauchte er ihm einen sanften Kuss auf die Wange. Irgendwie turnte ihn die Angst vorm Erwischtwerden sogar an.

Jeroen sah das normalerweise anders – ihm war die Heimlichtuerei unangenehm, aber er verstand Arno – dies hier war seine Heimat und somit seine Entscheidung. Jeroen malte sich aus, was wohl los wäre, wenn einige von Arnos Kumpels auftauchen würden. Da war ihm diese Lösung schon lieber – er genoss daher jede kleine Berührung, jeden schüchternen Kuss.

„Wow, ich dachte nicht, dass er so groß ist!“, starrte Jeroen begeistert die 137 Meter hoch. „Lass uns rauf auf den Turm gehen“, meinte er und wollte schon los.

„Ich befürchte daraus wird nix“, antwortete Arno und deutete auf seine Armbanduhr. „Wir haben nur mehr eine knappe Stunde. Das wäre nur verschissene, äh, verplemperte, also vergeudete Zeit! Lass uns einfach durch den ersten Bezirk laufen“, zog er Jeroen weiter, „da gibt’s noch einige tolle Häuser und Bauwerke, die dir gefallen werden.“

„Du lebst echt in einer tollen Stadt“, war Jeroen nach wie vor begeistert, als die beiden über den Graben, einen prächtigen Platz im Herzen der Stadt, liefen.

„Naja“, kratzte sich Arno verlegen am Kopf, „ist aber schon ein Unterschied zwischen hier und der Ecke, in der ich wohne.“

Sie liefen an zahllosen Prachtbauten vorbei: Jeroen schoss Foto um Foto und Arno genoss seine Rolle als `Fremdenführer´. Auch er entdeckte vieles neu. „Wie oft man doch mit verschlossenen Augen durchs Leben geht“,  kam ihm in den Sinn. Jeroen spazierte ausgelassen neben ihm und begann doch glatt, die Melodie des Donauwalzers zu pfeifen.

Arno beschloss, mit Jeroen bis zur Pension zurück zu marschieren. Man gelangte über den Heldenplatz hin zur Ringstraße:  Vorbei am Rathausplatz, dem Burgtheater, der Hofburg und den beiden Museen, gelangte man wieder zur Mariahilferstraße.

Exakt zwei Minuten vor zwei befand man sich wieder im Foyer des kleinen Hotels, wo Jan bereits auf sie wartete.

„Ich hoffe, ihr beiden hattet einen schönen Vormittag“, begrüßte Jan die beiden.

„Ja, es war herrlich“, strahlte ihn Jeroen an und begann zu reden wie ein Wasserfall.

Arno stand daneben und schwieg – er beschloss Jeroen fertig berichten zu lassen, auch wenn er darauf  brannte zu erfahren, wie es für Jan in der Schule gelaufen war.

„Na kommt, wir können auch beim Essen darüber weiterreden“, deutete Jan Richtung Ausgang, „Arno, du bist natürlich mein Gast. Wo willst du hin? Schlag einfach etwas vor!“

Arno führte die beiden in ein nicht allzu weit entferntes Steakhaus, wo sie sofort einen Tisch bekamen. Kaum saßen sie, fragte Arno: „Und, wie ist es in der Schule gelaufen?“

„Euer Direktor hat sich leider heute früh krank gemeldet, also hab ich mit Anna gesprochen. Eine wirklich nette Frau – und du sagtest, du könnest mit niemandem reden“, meinte er in Richtung Arno.

„Ja, wie soll ich sagen…Du hast recht, sie ist ja nett und alles, aber irgendwie… es ist halt ihr Job“,  gab Arno zur Antwort.

„Ich glaub nicht, dass sie das so sieht. Ihr liegt ebenfalls sehr viel an dir – und sie meinte, du könntest das Schuljahr locker schaffen, wenn du dich endlich dahinter klemmst.“

Jan verschwieg, dass er auch über seine Beziehung zu Jeroen gesprochen hatte (Anna hatte ihm dazu geraten – sie würde ihn schon selbst in diese Richtung führen und er solle dann darüber sprechen, wenn er es wolle), auch von der Zeichnung und seiner Idee sagte er vorerst nichts.

Dennoch war den dreien wieder der Ernst der Lage und der Grund des Besuchs bewusst – die Leichtigkeit des tollen Vormittags war leider vorbei.

„Na dann, Mahlzeit!“, meinte Jan, als ihnen das Essen serviert wurde, „Na, da hast du uns ja nicht zu viel versprochen, sieht echt lecker aus!“, meinte er, als er ein Riesenteil Kuh vor sich auf dem Teller liegen sah.


„Also“, meinte Jan nach dem Essen, „so geht’s jetzt weiter. Arno, du und Jeroen, ihr bleibt am besten hier oder unternehmt noch etwas zusammen. Es ist besser, ich rede alleine mit deinem Vater. Er wird dich ja sowieso in der Schule vermuten. Also sag mir bitte wo und wie lange er arbeitet und wie er normal nach Hause fährt.“

„Er arbeitet normal bis 16.00 Uhr und fährt dann meistens mit der Straßenbahn nach Hause, das heißt, meistens steigt er unterwegs aus und geht in ein Wirtshaus“, antwortete Arno und erklärte ihm, wie er dort hinkäme.

„Was wirst du mit ihm reden“, wollte Arno weiter wissen.

„Ich werde versuchen, ihm klarzumachen, was für einen tollen Jungen er hat und dass es doch nicht in seinem Sinn sein kann, dass dieser wegen seiner eigenen Fehler zu Grunde geht“, antwortete er. „Und eines muss dir leider auch klar sein: Heute Nacht wirst du wohl oder übel zu Hause schlafen müssen. Sonst hängt er mir noch eine Anzeige wegen Kindesentziehung an. Ich werde ihm daher logischerweise nichts davon sagen, dass du letzte Nacht bei uns im Hotel geschlafen hast!“

Arno verstand. Es fiel ihm nicht leicht, aber er versprach sich daran zu halten und spätestens um 18.00 Uhr zu Hause zu sein.

„So und jetzt muss ich mich beeilen, es ist schon fast halb vier“, warf Jan einen flüchtigen Blick auf die Uhr.  „Also, du bist um 18.00 Uhr zu Hause – und du im Hotel, Jeroen. Ich verlass mich auf euch, ok?“

„Ok. Und danke für die Einladung, komm Jeroen, lass uns gehen“, meinte er und im selben Moment waren beide auch schon draußen.


„Das muss die Firma sein, in der er arbeitet“, dachte Jan, als er aus der Straßenbahn stieg und vor einer Kunststofffabrik stand. Er beschloss in der Nähe der Station zu warten, um ihm nachzugehen, sobald er auftauchen würde. Sobald er in der Straßenbahn säße, würde er ihn ansprechen.

Es war kurz nach 16.00 Uhr, als sich die Tore der Fabrik öffneten und zahlreiche Arbeiter ins Freie strömten. Jan hatte alle Mühe Arnos Vater aus der Masse heraus zu erkennen, aber schließlich erblickte er ihn doch. Ihm schlug das Herz bis zum Hals, als er sich in Bewegung setzte – die nächste Straßenbahn rollte bereits in die Station ein.

„Gestatten, ist dieser Platz frei?“, fragte Jan und setzte sich, ohne eine Antwort abzuwarten.

Herr Stifter hatte noch nicht registriert, dass es sich dabei um dieselbe Person handelte, der er tags zuvor die Tür vor der Nase zugeknallt hatte. „Entschuldigung, wir kennen uns“, probierte es Jan nochmals und hielt ihm die Hand hin. Zur großen Verwunderung erwiderte Herr Stifter den Händedruck. Er schien absolut nüchtern zu sein. Jan wertete dies als ersten kleinen Sieg an – zumindest hatte er ihn nicht sofort vom Sitz gejagt.

„Sie geben wohl nie auf“, meinte Herr Stifter mürrisch und zugleich auch müde. „Scheinen ja einen Narren an diesem Hurensohn gefressen zu haben.“

„Nun, er ist uns einfach ans Herz gewachsen und würden Sie ihn besser kennen, dann…“

„Hat er Ihnen einen geblasen?“ unterbrach Herr Stifter ihn rüde und blickte Jan an, als wolle er ihm jeden Moment an die Gurgel.

„Was?“, meinte Jan erschreckt und schockiert über diese Aussage. „Wie kommen Sie auf so etwas?“

„Mein eigener Sohn, ich kann es nicht glauben. Erzählen Sie mir nichts von `wenn ich ihn besser kennen würde, dann …´, ich kenne ihn gut genug. Ich habe einige seiner Zeichnungen gesehen. Glauben Sie mir, wenn Sie die sehen würden, dann würden Sie mir Recht geben. Ich kann doch nicht zusehen, dass er so endet!“

Jan war noch immer schockiert und wusste nicht, was er als erstes sagen sollte.

„Also ich habe gerade vor ein paar Stunden auch eine seiner Zeichnungen gesehen und muss sagen, dass er äußerst talentiert ist, ich habe sogar…“

„Mein Gott, auf diesen Zeichnungen waren Schwänze gezeichnet und ähnliche Sauereien, das nennen Sie Talent?“ schrie Herr Stifter fast, unterdrückte es aber – schließlich waren auch andere Leute anwesend.

„Jungs in diesem Alter haben halt solche Fantasien…“

„Ja, schwule Jungs, das meinen Sie wohl“, unterbrach ihn Arnos Vater erneut.

„Hassen Sie ihn deswegen so sehr?“ fragte nun Jan, ebenfalls in etwas lauterem Ton. „Verprügeln Sie ihn deswegen?“, setzte er noch eins drauf.

„Blödsinn, ich… ich hasse ihn doch nicht. Ich habe immer Respekt vor meinem Vater gehabt, das versuche ich ihm auch beizubringen. Und dieses Schwule werde ich ihm auch abgewöhnen.“

„So, Respekt, aha. Und eine vernünftige Erziehungsmethode besteht also aus Prügel?“, konterte Jan mit gewissem Zynismus.

„Prügel? Die paar Ohrfeigen werden ihm schon nicht schaden… …Ich muss da aussteigen, gestatten?“

Er stand auf und drängte sich ins Freie – Jan folgte ihm.

„Ohrfeigen? Dann war er als Kind wohl wegen ein paar harmloser Ohrfeigen im Krankenhaus?? Sie hätten ihn fast umgebracht! Ein Kind, dass drei Wochen allein im Krankenhaus liegt…das nennen Sie Erziehung?“, schrie Jan.

Jetzt hatte er Arnos Vater ziemlich in Wut versetzt. Dieser blieb stehen, ballte die Faust und setzte zum Schlag an.

„Na los“, meinte Jan, „Vor Ihnen steht kein Kind. Schlagen Sie zu – aber eins muss Ihnen sicher sein: Ich schlag sicher nicht zurück und ein guter Freund von mir ist Anwalt. Er würde mich sicher gern bei einer Anklage gegen Sie unterstützen.“

„Ach, was wissen Sie denn schon“, antwortete Herr Stifter doch etwas überrascht und ließ die Hand wieder fallen.

Jan aber ließ nicht locker – er ging ihm auch in das Lokal nach, das Herr Stifter jetzt anvisierte.

„Zwei große Bier“, fiel Jan ihm ins Wort, ehe Arnos Vater zum Bestellen kam. „Ich lade Sie ein“, meinte er weiter zu Herr Stifter, dem absolut nicht wohl in seiner Haut war.


„So, jetzt bin ich dran“, meinte Arno zu Jeroen, nachdem sie das Steakhaus verlassen hatten. „Keine Sorge, ich bin sicher du wirst es toll finden!“, fuhr er fort.

Es war schon eigenartig: Aber kaum war das ernsthafte Gespräch beendet und Jan gefahren, verschwendete Arno keinen einzigen Gedanken mehr daran. Er wollte einfach diesen Tag genießen. Genauso wie er dachte, sagte er es auch Jeroen. „Wir können jetzt sowieso nichts tun, du hast Recht“, meinte Jeroen, „Aber du wirst sehen: Jan macht das schon, vertrau ihm!“

„Das tu ich“, gab Arno zur Antwort, schnappte sich den Arm seines Freundes und schon waren beide in einer U-Bahnstation verschwunden.

Wenig später standen sie vor dem Wiener Prater, einem bekannten Vergnügungsgelände.

„Haben wir denn so viel Zeit?“, meinte Jeroen misstrauisch, als er die vielen Attraktionen sah.

„Nur für eine Fahrt“, gab Arno zur Antwort, „es wird dir als alter Romantiker und Wien-Fan sicher gefallen!“

„Alter Romantiker“, maulte Jeroen und fing dennoch gleich an zu lachen.

„Hier sind wir!“, meinte Arno schließlich, als sie vor dem weltbekannten Wiener Riesenrad standen.

Jeroen stand mit offenem Mund davor – er war erstaunt, dass Arno wirklich so viel Sinn für Romantik hatte.  Am Vormittag Schönbrunn und der Stephansdom und jetzt ein weiteres Wahrzeichen, für das Wien in aller Welt bekannt ist. Das hätte er Arno nicht zugetraut. Arno blickte zu Jeroen und schien seine Gedanken lesen zu können.

„Überrascht, dass ich dich hier her führe, nicht wahr? Du dachtest wohl ich geh mit dir auf irgendeinen Fußballplatz oder so etwas Ähnliches“, meinte Arno lächelnd.

„Und wer ist jetzt der Romantiker?“, strahlten Arno Jeroens blaue Augen entgegen.

Beide ließen sich allerdings noch etwas Zeit, denn vor ihnen standen einige Leute und sie wollten unbedingt eine Holzgondel für sich alleine haben.

Nach einiger Zeit befanden sie sich dann aber doch im Inneren und die Fahrt begann – sie waren tatsächlich die einzigen, in der doch sehr geräumigen Gondel. Das Rad drehte sich sehr gemächlich und stoppte immer wieder, um Gäste in die weiteren Gondeln einsteigen zu lassen.

Arno und Jeroen standen Arm in Arm da – bei jedem Stopp küssten sie sich. Das Rad drehte sich höher und höher und schließlich schien es, als läge ihnen ganz Wien zu Füßen.

„Traumhaft!“, meinte Jeroen und blickte verträumt auf die unter ihnen liegende Donaumetropole. „Ja, traumhaft“, meinte auch Arno, als er Jeroen von hinten umarmte und zärtlich seinen Nacken küsste. „Meinetwegen könnte das Rad hier und jetzt für immer stehen bleiben!“, fuhr er fort. Jeroen drehte sich zu ihm um und beide küssten sich wild und leidenschaftlich, ließen ihre Zungen im Mund des anderen herumkreisen. Arnos Hände waren bereits beschäftigt, Jeroens Gürtel zu öffnen, doch dann kam er doch zur Vernunft. So lange würde die Fahrt schließlich auch nicht dauern.

„Schade“, meinte er seufzend und immer noch erregt, als sie wieder ausgestiegen waren. „Ich hätte es gerne mal im Riesenrad getrieben!“

Beide mussten lachen und gingen zurück zur U-Bahnstation.


Jan bestellte also zwei Bier, er wusste zwar, dass er einen Menschen wie Arnos Vater es war, nicht so schnell für sich gewinnen konnte, aber er ließ nichts unversucht.

„Hören Sie, ich wollte Sie vorher nicht anschreien, aber denken Sie nicht, Arno leidet unter der ganzen Situation?“, fragte er ihn, nachdem sie sich an einen leeren Tisch gesetzt hatten. Herr Stifter nahm einen Riesenschluck Bier und leerte das Glas fast bis zur Hälfte. Herr Stifter sagte nichts. „Und dass er schwul ist, dafür kann er genauso wenig, wie Sie. Es ist halt so – gerade jetzt, in diesem schwierigen Alter, braucht er dabei die Hilfe seiner Familie.“

„Ich werde das nie akzeptieren, verstehen Sie“, wurde Herr Stifter wieder laut. „Sie kommen aus Ihrer heilen Welt und wollen mir etwas von Erziehung erzählen? Ich habe mein Leben lang geschuftet, so wie mein Vater, der mich gut erzogen hat! Arno hat es nie an irgendwas gefehlt – und jetzt macht er mir solche Schande, aber Schluss! Aus! Basta! Ich will nichts mehr davon hören.“

Langsam dämmerte es Jan, dass man mit diesem Menschen scheinbar nicht reden konnte. Einen Versuch unternahm er allerdings doch noch: Er nahm Arnos Zeichnung von Jeroen aus seiner Tasche und legte sie vor Herrn Stifter auf den Tisch. „Das meinte ich davor mit Talent! Es zeigt seinen Freund, meinen Neffen  Jeroen und wenn Sie jetzt auch nur ein falsches Wort über ihn sagen, dann vergesse ich mich!“

Arnos Vater sagte nichts. Er blickte stumm auf die Zeichnung, die vor ihm auf dem Tisch lag. Seine Hand zitterte, aber wahrscheinlich war es auch nur der fehlende Alkoholgehalt in seinem Blut.

Arnos Vater war es also, der als erster von Jans Idee hören sollte.

„Jeroen, also mein Neffe, der Junge auf dem Bild, er besucht eine Schule mit kreativ- künstlerischem Schwerpunkt – er wird mal ein toller Musiker werden. Diese Schule bietet auch einen Zweig für Zeichner und Maler an. Würden die Leute in dieser Schule diese Zeichnung sehen, also ich denke, Arno hätte große Chancen aufgenommen zu werden.“

Jetzt war also die Katze aus dem Sack – seitdem Jan dieses Bild zum ersten Mal gesehen hatte, bohrte diese Idee in ihm.  Er wollte Arno unbedingt nach Holland mitnehmen – alles hing lediglich von seinem Vater ab.

Arnos Vater sagte noch immer nichts, doch Jan merkte, dass sich dessen Blick etwas verändert hatte.

„Ich werde jetzt gehen. Hier ist meine Telefonnummer, es würde mich freuen, wenn wir nochmals miteinander reden könnten. Ich und Jeroen, wir fliegen am Freitag zurück. Eine Bitte hätte ich noch: Egal, wie Sie sich entscheiden, aber lassen Sie Arno diese Woche seine Freizeit mit uns verbringen. Mehr verlange ich nicht! Auf Wiedersehen!“

Jan packte das Bild wieder ein, nickte kurz und verließ das Lokal. Eigentlich hätte er Arnos Vater drohen wollen, dass er ihn anzeigen würde, wenn er auch nur den kleinsten blauen Fleck an Arno finden würde. Doch er tat es nicht. Er war sich sicher, dass das nicht passieren würde. Die Prügel und die ganzen Demütigungen, die dieser Kerl Arno angetan hatte – dafür hasste ihn Jan, aber irgendwie tat er ihm auch etwas leid; er schien auch irgendetwas mit sich herumzutragen und war keinesfalls glücklich.


Beide Jungs hielten sich an die Abmachung. Jeroen begleitete Arno noch vor dessen Haus, hinter dem Eingangstor blieben sie stehen.

„Ich bin nervös. Jetzt wo ich wieder da bin. Ob Jan etwas ausgerichtet hat? Zuhause dürfte mein Vater ja noch nicht sein. Von der Straße aus sah alles dunkel aus!“

„Alles wird gut, vertrau mir“, meinte Jeroen tröstend und gab Arno einen zärtlichen Kuss.

„Mann, wenn ich an das Riesenrad denke“, sagte Arno schmachtend und war mit den Gedanken gleich wieder wo anders. „Ich hätte dort augenblicklich über dich herfallen können. Aber heute Abend muss ich mich wohl mit mir selbst begnügen – aber ich verspreche dir, ich werde dabei an dich denken“, hauchte er Jeroen ins Ohr.

„Werde ich auch tun“, das Licht war wieder ausgegangen und beide standen eine Weile im Dunkeln. Sie küssten sich erneut, ließen aber wenig später davon ab, da irgendjemand in einem der oberen Stockwerke das Licht wieder einschaltete.

„Sehen wir uns morgen?“ meinte Arno schließlich.

„Ja, das hoffe ich doch. Wann endet der Unterricht morgen?“, fragte Jeroen.

„Was meinst du?“, tat Arno als ob er die Frage nicht gehört hätte.

„Komm schon, versprich mir, dass du morgen zur Schule gehen wirst“, bettelte Jeroen.

Wollte er eigentlich nicht, aber Jeroens liebes, bettelndes Gesicht war so dicht vor ihm – er musste es ihm einfach versprechen.

„Ich hab um drei aus. Komm einfach hin, ok?“, seufzte er schließlich.

„Das werde ich, 100%!“

Er küsste ihn ein weiteres Mal und verschwand aus dem Haus in die Dunkelheit.

„Wahnsinn“, dachte Arno. Es war wieder alles da, die Leidenschaft und die Erkenntnis, es nicht ohne seinen geliebten Jeroen auszuhalten. Der Tag war einfach grandios für ihn gewesen – und ja, verdammt, er würde morgen sicher zur Schule gehen. Für Jeroen! Arno drehte den Schlüssel im Schloss vorsichtig herum und lugte vorsichtig in die Wohnung – sein Vater war tatsächlich noch nicht zu Hause. „Toll!“, dachte er, „warum bis zum Abend warten?“ Er ging in sein Zimmer, zog sich die Hose runter und mit den Gedanken bei Jeroen fing er wild an zu wichsen.

Danach ging er in die Küche, um seinem Vater ein paar Wurstbrote zuzubereiten, was er meistens tat, wenn er etwas von ihm wollte (und dennoch selten bekam). Gegen halb acht hörte Arno, wie die Tür zur Wohnung geöffnet wurde. Er war mittlerweile wieder in sein Zimmer gegangen. Sein Herz klopfte wie verrückt – gleich würde er erfahren, wie das Gespräch mit Jan verlaufen war. Es würde sein wie immer, dachte er. Sein Vater würde herumbrüllen, ihm dieses und jenes vorwerfen und vermutlich auch wieder zuschlagen.

Die Tür ging auf, Arnos Vater steckte seinen Kopf durch die Tür, sagte nur grüßend: „Arno!“ und schloss die Tür wieder. Das war alles. Sonst nichts! „Irgendetwas musste Jan bewirkt haben“, dachte sich Arno erfreut. Er konnte hören, dass sein Vater im Wohnzimmer den Fernseher anmachte wie er es immer tat. Arno war noch immer perplex – schließlich sammelte er sich wieder, setzte sich an seinen Schreibtisch und holte sein Matheheft raus: Er hatte einige Hausübungen nachzuholen.


Jeroen saß im Zimmer und stürmte seinem Onkel sofort entgegen, als dieser bei der Tür reinkam. Jan blickte zufrieden drein und Jeroen begriff sofort, dass das Gespräch halbwegs gut gelaufen sein muss.

„Erzähl mir alles!“, bat er Jan.

Und er begann zu erzählen: Dass ihn Arnos Vater in der Straßenbahn fast angeschrien hatte, auf der Straße schon die Faust erhoben hatte – und wie sie schließlich in dieser kleinen Kneipe gelandet waren.

„Und damit hab ich ihn – glaube ich zumindest – weich gekriegt“, sagte Jan, griff in die Tasche und legte Jeroen die Zeichnung hin. „Anna, seine Vertrauenslehrerin, hat sie mir gegeben.“

In den Sekunden darauf hätte man eine Stecknadel fallen hören können, so ruhig wurde es. Jeroen saß da und starrte auf die Zeichnung. „Die ist noch toller, als die, die er letzten Sommer von mir gemacht hat“, dachte er, denn reden konnte er nicht. Es hatte ihm schlichtweg die Sprache verschlagen. Als ihn Jan so dermaßen glücklich dasitzen sah, wuschelte er ihm durchs Haar und sagte: „Meinst du nicht auch, der Zeichenlehrgang deiner Schule könnte so einen wie Arno gut brauchen?“

Arno sprang wie von der Tarantel gestochen auf. „Das ist es!“, brüllte er, außer sich vor Erregung. „Die nehmen ihn 100%ig auf! Kein Zweifel!“ Er ließ sich auf sein Bett fallen und starrte wie irr an die Decke: „So schaffst du es Arno. Genau so!“, sagte er zu sich selbst. Er blickte wieder zu Jan, der ihm zu deuten schien: „Warum bist du da eigentlich nicht schon vor mir drauf gekommen?“

„Du hast das von Anfang an geplant, nicht wahr?“, sagte Jeroen, der  noch immer wie irre grinste und mit ausgestrecktem Zeigefinger langsam auf Jan zuging.

„Nö, erst seit heute Vormittag, nachdem mir Anna diese Zeichnung gezeigt hatte. Du bist also derselben Meinung – Arno muss nach Holland!“

„Ich kann es gar nicht erwarten, ihm von unserem Vorhaben zu erzählen. Der wird Augen machen. Aber – was… was…wenn sein Vater…“, durchzuckte es Jeroen plötzlich.

„Also da gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens, wir können ihn dazu bewegen, dass er seinem Sohn einfach diese Chance bietet, oder zweitens, wir warten bis Arno 16 ist. Das ist er in 6 Monaten – dann kann er selbst entscheiden, ob er von zu Hause ausziehen will. Das Jugendamt muss allerdings entscheiden, ob Arno dazu reif genug ist“, erklärte ihm Jan.

„Also ich bin für die erste Möglichkeit, wir müssen seinen Vater rumkriegen.“

„Das wird alles andere als einfach. Ein Problem gibt’s noch – wann finden die Aufnahmeprüfungen statt?“

„Meistens Ende Mai. Man erfährt  dann gleich im Anschluss, ob man angenommen wurde. Wow, er könnte sogar bei mir im Internat schlafen“, war Jeroen noch immer aufgeregt. Er sah das alles bereits vor sich: Ein Zimmer mit ihm zu teilen, mit ihm gemeinsam über das Schulgelände zu marschieren, Hand in Hand. Er bebte regelrecht. Und immer wieder musste er die Zeichnung anstarren.

„Ich geh noch auf einen Kaffee runter“, sagte Jan schmunzelnd, der sofort erkannte, dass Jeroen jetzt ein paar Minuten mit sich und seinen Gedanken brauchen würde.

Natürlich müsse Arno auch Holländisch lernen, fiel ihm ein, was für die Aufnahmeprüfung allerdings kein so großes Hindernis wäre – da zählten schließlich die Arbeiten, die Arno ihnen vorlegen würde. Ihm wurde warm ums Herz – so wie Arno wollte Jeroen eigentlich sofort nach der Rückkehr ins Hotel wichsen, doch dazu war ihm jetzt nicht zu Mute. Er war erfüllt von Glückseligkeit, die ihm im Moment mehr Befriedigung verschaffte, als jegliche sexuelle Handlung es tun hätte können.

Nach etwa einer halben Stunde kam Jan zurück.

„Ich hab dir eigentlich noch nie dafür gedankt, was du für Arno alles getan hast“, sprach Jeroen gerührt zu Jan. „Danke, Onkel!“ Er gab ihm einen Kuss auf die Wange.

„Arno kann sich glücklich schätzen, so einen Menschen wie dich gefunden zu haben“, gab ihm Jan zur Antwort.

„So Menschen wie uns“, berichtigte ihn Jeroen.

Danach legten sie sich beide entspannt in ihre Betten. Jan las noch etwas in einem Buch und telefonierte mit Wilma, während sich Jeroen seinen mp3-player ins Ohr stöpselte. Und jede Minute dachte er dabei an Arno.


Es war bereits ein Uhr nachts und immer noch lief der Fernseher in der kleinen Wohnung der Stifters. Sein Sohn schlief bereits seit einigen Stunden, doch Manfred, Vater eines fast 16-jährigen Jungen namens Arno, war noch wach und versuchte fernzusehen. Wie fast jeden Tag hatte er sich volllaufen lassen – leere Bierflaschen ließen fast nichts mehr von der Tischdecke erkennen, die noch  wenige Monate zuvor seine Frau gekauft hatte, bevor sie die Tür hinter sich für immer schloss.

Manfred hatte eine Riesenwut in sich: Da kommt so ein Holländer daher gelaufen und möchte ihm etwas von Erziehung erzählen! Am liebsten würde er jetzt noch losziehen, um ihn zu verprügeln. Und sein Sohn, also der könne sich am nächsten Morgen auf was gefasst machen. Seine Frau, die Hure, würde es wahrscheinlich schon mit jemand anderes treiben, genau jetzt, in diesem Moment.

Wie jeden Abend spulte er vor seinem geistigen Auge dieses Hassprogramm herunter, aber irgendwie war es dieses Mal anders: Er kam heim und konnte seinen Sohn nicht mal ansehen. Irgendwas in ihm hinderte ihn daran.

Zack! Ein Bier ginge noch!  Er öffnete die nächste Flasche. Die haben ja alle so leicht reden, dachte er sich. Die wissen ja nicht, wie es ist, wirklich hart erzogen zu werden. Wie es ist, einen Vater zu haben, der auf alle hin drosch, ehe sie sich nur bewegten. Der seine Mutter schlug, seinen kleinen Bruder und der seinen Hund mit bloßen Händen totschlug, weil er ihm die Pantoffel zerbissen hatte.

Die heutige Jugend hat es doch viel leichter als wir damals, dachte er weiter. Heute schmusen alle in der Öffentlichkeit herum, ganz egal ob Mann mit Frau oder Frau mit Frau oder Mann mit Mann. Heute sei das alles ja so einfach, damals als er 13 war und ihn seine Mutter mit den Händen in der Hose erwischte, da war das alles anders. Erziehungsmaßnahmen waren das, als sie ihm daraufhin die Hände auf die Ofenplatte presste, mit Brandblasen an den Händen wirst du dir überlegen, wo du in Zukunft hin greifst.

Alle, alle haben sie heute so leicht reden, dachte er. Die wissen ja nicht, wie das ist, wenn man auf einmal merkt, dass man in seinem besten Freund mehr als einen Freund sieht. Wie man sich im Keller des Hauses gegenseitig einen runterholt – und den Jungen am nächsten Tag verprügelt, weil er darum bittet, es nochmals tun zu dürfen. Weil es falsch war. Weil es falsch ist. Weil man es versucht, allen recht zu machen, schau her Vater, dieses Mädchen werde ich heiraten.

Alle haben sie so leicht reden, wenn man sich für eine Familie abschuftet, die man eigentlich nie wollte. Weil man den Sohn, der einem geboren wird ablehnt, voller Angst er könne so werden wie man selbst. Weil man das in ihm vernichten will, was man am liebsten an sich selbst vernichten würde. Weil man ihn hasst, weil man sich selbst dafür hasst. Für diese Gefühle, die da in einem schlummern, die einfach falsch sind. Verbrannte Hände schmerzen. Früh habe er es an seinem eigenen Sohn bemerkt, damals in der Vorschulklasse, als er ihn eines Abends fragte, ob Buben eigentlich auch Buben heiraten könnten und wenn ja, dann würde er Philipp heiraten. So was ginge nicht, habe er ihm damals gesagt, doch er hörte nicht auf zu fragen, erst als man ihn mit einer Ohrfeige zur Vernunft brachte. In der Pubertät wurde es dann erst übel, nie brachte er ein Mädchen nach Hause – dieser Stil sich zu kleiden, seine Haare. Er hasste ihn, er hasste sich. Er prügelte ihn, weil er mal 10 Euro stahl. Er prügelte ihn, weil er ihn beim Rauchen erwischte. Er prügelte ihn, weil er zu spät nach Hause kam. Er prügelte ihn. Weil er ihn hasste. Weil er sich selbst dabei sah, wenn er ihn verprügelte. Verbrannte Hände schmerzen – eine verbrannte Seele noch mehr.

Regungslos saß Arnos Vater da. „Nein, weg mit diesen Gedanken, so ist das doch alles gar nicht.“ Nicht einmal in seinen Gedanken durfte das Wort `schwul´ Platz finden. Und doch ging es nie um etwas anderes, dass hatte ihm dieser Holländer heute vor Augen geführt.

„Eigentlich tust du mir Leid“, sagte ihm seine Frau eines Abends. „Weil du dich die ganze Zeit selbst prügelst!“ Am nächsten Tag war sie fort – zwei Briefe hinterließ sie, einen für ihn, den anderen für Arno. Er nahm sie beide. Ihm schrieb sie, dass sie zu ihrer Schwester fahren würde und dass er sich keine Mühe machen solle sie zu suchen. Arnos Brief öffnete er nicht.

Er drehte den Fernseher ab, saß allein im Dunkeln da – und ertränkte sich in Selbstmitleid. Er griff in die Hosentasche – die Telefonnummer des Holländers.

Er würde ihn am nächsten Tag anrufen. Danach schlief er auf der Couch ein.


Etwas nervös betrat Arno am nächsten Tag seine Schule, er hatte doch einige Zeit gefehlt und wusste nicht, wie seine Lehrer darauf reagieren würden. In der Aula traf er prompt Anna, die ihn freudig begrüßte. „Schön, dass du wieder hier bist. Wenn du heute zu mir kommen möchtest, ich bin ab eins in meinem Zimmer. Nur für den Fall, dass du über etwas reden willst“, bot sie ihm an. „Nein, danke, ich bin ok“, antwortete Arno höflich aber bestimmt. Er schenkte ihr ein Lächeln des Dankes und überlegte kurz sie zu umarmen – es schien ihm dann aber doch etwas unangebracht. Einige seiner Mitschüler schienen sich dann scheinbar wirklich zu freuen, dass Arno wieder hier war. Sie klopften ihm auf die Schultern.  Auch sein Mathelehrer gab ihm Grund zur Hoffnung, dass es schon nicht so schlimm werden könnte. „Na, auch wieder hier? Ich hoffe, du bist zur Vernunft gekommen“, meinte er streng und zwinkerte ihm dennoch zu, als sich alle anderen Schüler wieder ihren Heften zuwandten.

Zur selben Zeit etwa saßen Jeroen und Jan beim Frühstück. Jeroen war nervös: Was würde Arno sagen, wenn er ihm von diesem tollen Plan berichten würde? Und wie würde Arnos Vater reagieren?

„Also um drei Uhr hat Arno Unterrichtsschluss?“,  versuchte ihn sein Onkel abzulenken. „Da haben wir ja noch massenhaft Zeit, gemeinsam etwas zu unternehmen.“  Da sich Jeroen für so ziemlich jegliche Musikrichtung interessierte, hatte Jan für diesen Vormittag zwei Führungen reserviert: Eine durch die Wiener Staatsoper und die andere in den Saal des Wiener Musikvereins, in dem jedes Jahr das berühmte Neujahrskonzert stattfindet. Damit konnte er Jeroen zwar schwerstens begeistern, aber nicht ablenken. Ständig blickte er auf die Uhr – er hatte irgendwie das Gefühl: Dies könnte der Tag sein, der sein – und vor allem Arnos Leben für immer verändern würde.

Arno ging es nicht anders – er ließ den Unterricht mehr oder weniger über sich ergehen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er vom Vorhaben seines Freundes noch keine Ahnung, doch instinktiv spürte er, dass heute alles irgendwie anders war. Es fing schon in der Früh an, als er und sein Vater gemeinsam die Wohnung verließen. Klar, sein Vater war frühmorgens meistens verkatert und ruhig, aber heute war er irgendwie anders. Er hatte Arno gefragt, ob dieser Kaffee wolle und ihm schließlich sogar einen `Schönen Tag´ gewünscht. Er konnte kaum erwarten, Jan zu sprechen – irgendwas musste er mit seinem Gespräch erreicht haben.


Endlich war der Vormittag vorbei und Jan und Jeroen waren auf dem Weg zu Arnos Schule, als plötzlich Jans Handy läutete.

„De Bleeker“, meldete er sich und blickte plötzlich überrascht drein.

„Wer?“, flüsterte Jeroen und zupfte ungeduldig an seinem linken Mantelärmel.

„Pst!“, winkte Jan kurz ab, legte dann aber doch seine Hand übers Handy und zischte kurz in Richtung Jeroen: „Arnos Vater!!“

Dann wandte er sich wieder dem Telefonat zu.

„Also, wenn Sie wollen“, hörte er die Stimme am anderen Ende der Leitung, „dann können wir uns heute Abend treffen, um über diese Schule zu reden. Sagen wir gegen 7, bei Ihnen im Hotel?“

„Geht klar, bis heute Abend“, sagte Jan freundlich und legte auf. „Kaum zu glauben, aber Arnos Vater kommt heute Abend ins Hotel. Er will mit uns reden, er will mit uns über die Schule reden!!“

Jeroen sprang von seinem Sitz auf und stieß einen Jubelschrei aus, ehe er Jan um den Hals fiel. Dass alle anderen Fahrgäste dabei blöd dreinschauten, interessierte ihn nicht im Geringsten. Jetzt musste nur Arno eingeweiht werden. Kaum war man aus der U-Bahn gestiegen, griff Jan wieder zum Telefon – dieses Mal um Jeroens Schule anzurufen. Er erkundigte sich nach den Bestimmungen und ein weiteres Mal huschte nach Beendigung des Gesprächs ein Siegerlächeln über seine Lippen.

„Kein Problem, sagten sie. Er solle einige seiner Arbeiten einreichen – und sich für die Aufnahmeprüfung anmelden. Dass er noch kein Holländisch spricht, sei fürs erste kein Problem, meinten sie noch. Jeroen, ich glaub das wird dein und Arnos Tag!“, sprudelte es aus Jan heraus.

Auf dem Weg zur Schule huschte Jeroen noch in eine Buchhandlung, um ein kleines Geschenk für Arno zu kaufen. Es war eine Buchhandlung, die sich auf Fremdsprachen spezialisierte. „Schon ein Zufall, dass wir gerade jetzt da vorbeikommen“, dachte sich Jeroen verwundert und freute sich, als er das fand, wonach er gesucht hatte.


Endlich war die letzte Stunde vorbei und Arno beeilte sich Richtung Ausgang, als ihm plötzlich Michael den Weg versperrte. Michael war ein verzogener Schnösel, sein Vater war einer der bekanntesten Rechtsanwälte Wiens und er sollte irgendwann in dessen Fußstapfen treten. Er liebte es Arno aufgrund seiner Herkunft aufzuziehen – weil er wusste, dass ihm dieser nichts tun konnte. Allen anderen die gewagt hatten, irgendetwas Schlechtes über ihn oder seine Familie zu sagen, hatte Arno eine aufs Maul gegeben. Bei Michael musste er aufpassen, nicht vor ihm, sondern besser gesagt vor seinem Vater.

„Hey, wie geht’s Arno?“, fragte ihn Michael falsch freundlich.

„Danke gut“, sagte Arno kurz und wollte weiter.

„Gehst du zur U-Bahn?“, wollte Michael wissen.

„Ja, und?“ wurde Arno stutzig.

„Du fährst gerne mit der U-Bahn stimmt’s?“, wurde er immer noch nicht konkreter.

„Ach, du redest nur Scheiße wie immer. Lass dich mal untersuchen“, zischte ihm Arno entgegen und ging weiter.

„Fährt dein Engelchen heute auch wieder mit?“, flötete Michael mit übertrieben hoher Stimme. „War das einer von den Sängerknaben, mit dem du da gestern in der U-Bahn gesessen bist?“

Arno kochte. Ihm wurde heiß und gleichzeitig schlecht – dieser Arsch war gerade dabei, ihn vor der gesamten Schule zu outen. Einige andere Schüler hatten sich bereits um Michael versammelt. „Ich hab’s doch gesehen. Ich war im Wagen hinter dir und hab gesehen, wie du ihn geküsst hast! Du bist also eine Schwuchtel, nicht zu glauben!“

Arno stand da wie angewurzelt, die Hand zur Faust geballt – bereit zuzuschlagen. Da hatte er sich vorgenommen, wieder zur Schule zu gehen und dann passierte das. Nie wieder könnte er nach diesem Tag die Schule betreten.

Er trat Michael entgegen und für ihn war es beschlossene Sache: Der Junge würde gleich so eine auf die Fresse bekommen, dass er hinterher seine Zähne einsammeln könnte.

„Mann, du redest doch nur Scheiße“, sagte in dem Moment ein Schüler einer höheren Klasse zu Michael.

„Bist wohl neidisch, weil du keine abbekommst“, meinte ein Mädchen, das ebenfalls um Michael herumstand. „Oder keinen!“

„Du bist ein echtes Arschloch. Hast wohl keine Freunde, dass du dauernd andere niedermachst“, kam von einer anderen Seite. Mit jeder Meldung wurde Michael kleinlauter – und Arno mutiger. Seine Faust hatte sich entkrampft, er stand Auge in Auge vor Michael.

Alle sahen gespannt zu als Arno den Mund öffnete: „Ja, und? Hast du ein Problem damit, dass ich einen Jungen küsse?“

Donnerblitz.

Arno war über sich selbst erstaunt. „Wo kamen denn diese Worte her?“, dachte er sich. Noch weniger allerdings hätte er sich folgende Reaktion erwartet: Es standen gut und gerne 50 Schüler herum, die alles gehört hatten. Zunächst blickten sie Arno an – um ihm kurz darauf Applaus zu zollen. Am Treppengelände konnte Arno Anna erkennen  - sie klatschte ebenfalls und deutet mit dem Daumen nach oben, als Arno in ihre Richtung blickte. Michael zog von dannen, wie ein begossener Pudel.

„Na, hab ich was verpasst“, hörte er plötzlich die süßeste Stimme der Welt. Er drehte sich zur Seite – und blickte in ein freudestrahlendes Gesicht. Jeroen hatte das Klatschen bis auf die Straße gehört, war neugierig geworden und einfach ins Schulhaus gegangen.

„Scheiße, ich glaube ich habe mich gerade geoutet!“, meinte Arno, der nicht wusste ob er gerade vor Glück lachen oder weinen sollte. Niemals hätte er mit dieser Akzeptanz in seiner Schule gerechnet.

„Komm, lass uns gehen!“, hielt ihm Jeroen die Hand entgegen.

„Ja, gehen wir!“ Arno nahm Jeroens Hand und sie spazierten aus dem Schulhaus.

Ein wenig später saßen sie in einem kleinen, gemütlichen Lokal um zu Mittag zu essen. Arno hatte schon die ganze Zeit über bemerkt, dass Jeroen aus irgendeinem Grund nervös war. Immer wenn er ihn deswegen fragend anblickte, sah dieser zur Seite.

Nach dem Nachtisch – Arno hatte den beiden Nusspalatschinken empfohlen – hielt er es schließlich nicht mehr aus: „Los! Raus mit der Sprache! Irgendwas stimmt hier doch nicht!“

Jan wartete noch, bis der Tisch abgeräumt war und legte dann die Zeichnung auf den Tisch.

„Sie ist wunderschön“, raunte Jeroen so verzückt, als ob er sie das erste Mal sehen würde.

„Du hast unglaubliches Talent“, meinte Jan, „insofern ich das beurteilen kann. Aber es gibt da welche, die würden das sicher gerne beurteilen.“

„Ich versteh nur Bahnhof“, meinte Arno, der sogar etwas sauer war, dass Anna seine Zeichnung aus der Hand gegeben hatte. Allerdings war er das wirklich nur im ersten Augenblick, denn als er Jeroens freudig erregtes Gesicht sah, war es ihm das wert.

„Arno!“, sagte in diesem Moment Jeroen leise und vor Aufregung bebend. „In meiner Schule, da gibt es nicht nur einen musikalischen Zweig – die haben da auch einen Zweig für Leute mit deiner Begabung. Jan – er, er hat bereits dort angerufen, sie wollen dich kennenlernen, dich und deine Arbeiten.“

Arno saß regungslos da. „Entschuldigt mich bitte kurz“, meinte er dann und ging langsam zur Toilette. Jeroen und Jan saßen da und blickten sich nur achselzuckend an – sie hatten keine Ahnung, ob Arno nun erfreut darüber war oder nicht.

Arno schloss sich in einer Toilette ein, setzte sich auf den Deckel und zog seine Knie bis zu seinem Kinn. Er musste alleine sein – für ihn schien der Moment gekommen zu sein: Alles könnte sich heute ändern. `I love you´ stand da eingeritzt auf der Toilettentür – Arno starrte den Schriftzug an und da passierte es: Er begann zu heulen wie ein Schlosshund. Alles schien in dem Moment herauszuplatzen: Die ganzen Demütigungen und Prügel, die er bis zu diesem Zeitpunkt hatte einstecken müssen. Die Angst, die er hatte, es nie zu irgendetwas zu bringen. Das Versteckspiel vor allen anderen, was seine sexuelle Orientierung betraf. All das fand an diesem Tag ein Ende. Es waren Tränen des Zorns auf die Vergangenheit, Tränen der Erleichterung, was die Gegenwart betraf - und Tränen vor Glück auf das, was noch kommen würde. Und das alles kam urplötzlich aus ihm herausgeschossen. Er saß einfach da und weinte.

„Alles in Ordnung?“, hörte er draußen Jeroen, der zaghaft an die Tür klopfte.

„Es könnte nicht besser sein!“, gab Arno mit brüchiger Stimme zur Antwort. „Keine Sorge, ich bin gleich wieder ok. Gib mir noch ein paar Minuten!“

Jeroen wartete vor der geschlossenen Tür und als Arno schlussendlich öffnete, fiel er ihm um den Hals. „Ich hab dir gesagt, es wird alles gut werden“, flüsterte ihm Jeroen ins Ohr. „Weil du es verdienst, ganz einfach: Weil du es verdienst.“ Auch Jeroen weinte nun vor Glück – und so standen sie da: Zwei Jungs, die sich liebten und vor Glück weinten.

Als sie sich wieder gesammelt hatten, kehrten sie schließlich zu ihrem Tisch zurück, wo Jan grad an einer Tasse Kaffee nippte.

„Also, wie soll es jetzt weitergehen?“, fragte Arno. „Ich meine, mein Vater – er hat das doch nicht etwa erlaubt, oder?“

„Noch nicht“, meinte Jan und machte sofort eine beschwichtigende Handbewegung, als Arno erschreckt zusammenfuhr, „Noch nicht, aber er kommt heute zu uns ins Hotel. Er will mit uns darüber reden. Ich denke, er wird zustimmen. Ich hoffe es.“

Jeroen kramte einstweilen in seinem Rucksack herum und schob eine kleine Plastiktasche zu Arno rüber. „Hier! Du wirst in den nächsten Monaten einiges zu tun haben!“

Arno langte in die Tüte und zum Vorschein kam ein Buch mit dem Titel `Deutsch-Niederländisch. Grammatik und Rechtschreibung´. „Werde ich!“, meinte er feierlich und hob drei Finger zum Schwur in die Luft.

Danach bummelten die drei durch die Mariahilferstraße, wo Jeroen einiges an Geld für Klamotten und CDs loswurde. Natürlich ging auch Arno nicht leer aus – Jan hatte die Spendierhosen an. Als er ihm ebenfalls einige CDs zukommen ließ, fragte ihn Arno an der Kasse besorgt: „Aber, wenn ich jetzt wirklich nach Holland gehe, ich meine, ich kann mir das doch nie im Leben leisten!“ Daran hatte er bis jetzt absolut nicht gedacht. Jan wiegelte sofort ab: „Wenn du aufgenommen wirst – und davon gehe ich aus – bekommst du unter Garantie ein Stipendium. Und den Rest – ich habe schon mit Wilma gesprochen, also den Rest übernehmen wir. Unter einer Bedingung: Du musst mich, Wilma und Thys zeichnen!“

Wieder kamen Arno die Tränen. Diese Leute – seine Familie – waren einfach unglaublich. Er fiel Jan dankend um den Hals und küsste ihn auf die Wange, genauso, wie es wenige Stunden zuvor Jeroen getan hatte.

„Na los, lass uns hier nicht rührselig werden!“, meinte Jan gespielt und gab Arno einen Klaps auf den Hintern. Er liebte ihn wirklich wie seinen eigenen Sohn.

Nach einem längeren Einkaufsbummel beschlossen sie, zurück ins Hotel zu gehen, um dort auf Arnos Vater zu warten. Sie saßen auf der Couch und zählten ungeduldig die Minuten, bis es endlich sieben Uhr war. Würde er wirklich kommen? Würde er nüchtern sein? Und vor allem: Würde er sein `Ok´ geben?

Zehn Minuten nach sieben stand er dann plötzlich vor ihnen. Arnos Vater gab Jan die Hand, nickte kurz zu Arno rüber und musterte Jeroen kritisch, nickte ihm dann aber auch zu.

Sie beschlossen, in den Frühstücksraum zu gehen, wo man Kaffee bestellte.

Nachdem man sich gesetzt hatte, herrschte zunächst mal eisiges Schweigen. Arnos Vater war nüchtern, das hatte Jan sofort erkannt, also brach er als erstes das Eis.

„Also, Herr Stifter. Danke, dass Sie gekommen sind, wir…“

„Sie wollen ihn mir wegnehmen, stimmt’s? Weil ich ein lausiger Vater bin, stimmt’s?“, flüsterte Herr Stifter.

„Ich will Ihnen Arno nicht wegnehmen, ich möchte ihn nur mitnehmen. Er soll die Chance auf eine tolle Ausbildung bekommen – das kann doch auch nur in Ihrem Sinne liegen“, antwortete Jan.

Arno und Jeroen saßen da, schwiegen und lauschten angespannt dem Gespräch der beiden.  Herr Stifter war unglaublich nervös und man merkte sofort, dass ihm dieses Gespräch nicht leicht fiel. Immer wieder blickte er um sich, ab und zu auch zu Jeroen, der ihn milde anlächelte. Jeroen schien ihm nicht unsympathisch zu sein – aber das war auch kein Wunder. Der Junge hatte so ein einnehmendes Wesen – alle mussten ihn auf Anhieb gerne haben.

„Was ist das für eine Schule?“, wollte Arnos Vater jetzt wissen und Jan begann zu erklären, dass es eine Schule für angehende Künstler jeglicher Art wäre, egal ob Musik, Literatur oder Malerei.

„Und du willst das machen?“, fragte er schließlich Arno, der nicht so schnell mit dieser Frage gerechnet hatte.

Arno nickte stumm.

„Und wann geht’s los?“, fragte er weiter.

„Wir würden Freitagvormittag fliegen“, meinte Jan, ebenso erstaunt, dass man sich scheinbar nach wenigen Minuten schon einig war.

„Also übermorgen, verstehe“, fuhr Herr Stifter fort, der weiterhin keinerlei Regung zeigte, weder freute er sich für seinen Sohn, noch war er wütend. „Dann solltest du heute schon packen“, meinte er in Richtung Arno, stand auf, gab Jan die Hand, bedankte sich für den Kaffee und eilte nach draußen.

Alle drei blickte sich erstaunt an. Arno war glücklich, aber zugleich auch traurig. Sein Vater hatte ihm zwar die Einwilligung gegeben, aber in einer dermaßen eigenartigen Art, dass es ihn betrübt zurückließ.

„Onkel? Ich fahr dann mit zu Arno, ok?“, meinte in dem Augenblick Jeroen.

Onkel Jan nickte und wenig später waren die beiden Burschen auf dem Weg zu Arnos Wohnung.

„Ich helfe dir beim Packen. Und ich bin neugierig auf dein Zimmer“, sagte Jeroen freudig.

„Na hoffentlich trifft dich nicht der Schlag. Es sieht saumäßig aus“, schüttelte Arno den Kopf.

Jeroen hatte außerdem vor, sich bei Arnos Vater zu bedanken, aber das verriet er Arno nicht.

„Bin gespannt wie mein Alter reagiert, wenn ich dich mit nach Hause nehme“, meinte Arno.

„Es wird ok für ihn sein, ich glaube, er mag mich“, beruhigte ihn Jeroen.

Wenig später befanden sie sich in der Wohnung der Stifters, wo ihn Arno sofort zu sich ins Zimmer zog, so dass sein Vater nichts von ihrer Anwesenheit merkte. Arno schloss die Tür ab, wie er es immer tat. Jeroen blickte sich um – Arnos Zimmer war wirklich in absoluter Unordnung, es war nicht schmutzig, aber alles lag irgendwie herum. Bücher, CDs, DVDs, Kleidung. Unter Arnos Bett lugte eine alte, verschlissene, braune Ledermappe vor, die voll Papier war.

„Darf ich?“, fragte Jeroen und hatte sie im selben Moment auch schon geöffnet, ohne eine Antwort abzuwarten. Drinnen befanden sich gut an die hundert Zeichnungen, alle von Arno angefertigt. Von Arno, der seinen Freund leise beim Begutachten betrachtete.

Jeroen staunte über jede einzelne Zeichnung – die Vielfalt der Motive verblüffte ihn. Arno schien zu zeichnen, was ihm gerade einfiel. Auch einige Porträts waren darunter: Selbstporträts, Porträts seiner Mutter und natürlich auch von Arno. Erotische Zeichnungen. Landschaften und einfache Leute in typischen Alltagssituationen. Am besten gefiel Jeroen (neben dem Selbstporträt Arnos natürlich) eine Zeichnung mit dem Namen `Station´. Darauf waren Leute zu sehen, die in einer Warteschlage auf einem Bahnhof standen. Das Eigenwillige an der Zeichnung war, dass man die Leute nur ab der Hüfte abwärts sehen konnte – lediglich eine Person sah man ganz: Ein kleines Kind, das seinen Teddybär in der Hand hielt. Wie bei jedem  Bild von Arno sprang einem auch hier sofort wieder seine Liebe fürs Detail ins Auge: Jeder Schnürsenkel, jede Mantelfalte saß perfekt.

„Die muss unbedingt mit“, meinte Jeroen zu Arno, der sich inzwischen zu ihm aufs Bett gesetzt hatte und ihm zärtlich den Nacken kraulte. „Die und die und die…“, fuhr Jeroen fort, indem er alle möglichen Zeichnungen auswählte.

Arno war in dem Moment nicht an Zeichnungen interessiert und ehe es Jeroen bemerkte, spürte er auch schon dessen Hand in seinem Schritt. „Ich möchte jetzt mit dir schlafen“, hauchte Arno und ließ seine Hand unter Jeroens T-Shirt wandern.

Jeroen begann heftig zu atmen und tat dasselbe bei Arno – seine Finger strichen über sein Tattoo und kreisten um Arnos Brustwarzen und Bauchnabel.

Schließlich entledigten sie sich ihrer T-Shirts, fielen sich in die Arme und tauschten heiße Küsse aus. Dabei streichelten sie sich am ganzen Körper – ehe auch ihre Hosen in weitem Bogen durch das Zimmer flogen.

Arno störte es nicht im Geringsten, dass sein Vater im Nebenzimmer war. Jeroen kniete lustvoll vor ihm und streckte ihm seinen Hintern entgegen.

Wenig später bewegte sich Arno in Jeroen auf und ab, während er mit einer Hand Jeroen `bediente´. Arno stöhnte laut auf, als es ihm kam und im selben Moment war auch seine Hand voll geklebt – Jeroens Körper erbebte in wohligem Schauer.

„Wow – das werden wir in Zukunft hoffentlich sehr, sehr oft erleben“, meinte er wenig später und schmiegte sich an Arno.

„100%!“, antwortete Arno kurz, immer noch völlig außer Atem.

Die beiden blieben noch eine Weile liegen, ehe Jeroen Arno ungeduldig in die Seite stupste: „Na komm, ich helfe dir packen!“

Arno wollte einen Haufen Kleidung irgendwie in die Tasche stopfen, doch Jeroen ermahnte ihn zur Sorgfalt. Behutsam nahm er ihm das bisschen Kleidung, das er besaß, aus der Hand, faltete es ordentlich zusammen und legte es in die Tasche. Als allererstes hatte Arno seine Mappe mit den Zeichnungen verstaut – das wichtigste des gesamten Inhalts.

Viel Kleidung besaß Arno zwar nicht, dennoch war die Tasche bald gefüllt und es war kein Platz mehr für andere Dinge: Da waren noch so viele Bücher und CDs, die er unbedingt mitnehmen wollte. „Wuschel dürfen wir auch nicht vergessen“, meinte Arno schließlich und legte seinen Stoffhasen ganz oben hin. Jeroen musste lachen – den Stoffhasen hatte Arno auch in Holland mitgehabt.

„Tja“, seufzte Jeroen etwas später, „da werden wir wohl eine zweite Tasche anschaffen müssen, das heben wir uns dann noch für morgen auf! Ich muss mal aufs Klo, wo ist es denn bitte?“

„Aus dem Zimmer raus, rechts die zweite Tür“, antwortete Arno, der gerade überlegte, ob er nicht doch wieder eine Jacke aus der Tasche entfernen sollte.

Als Jeroen aus der Toilette rauskam, lief er geradewegs Arnos Vater in die Arme. Erschrocken murmelte er: „Guten Abend, Herr Stifter!“

Dieser betrachtete ihn argwöhnisch – er hatte getrunken. „Du bist also der Freund von meinem Sohn …“ Jeroen nervte es, wie er das Wort `Freud´ betonte.

„Ja, so ist es. Wir werden auf ihn aufpassen, das verspreche ich Ihnen!“, fiel Jeroen nichts besseres ein.

„Ach, macht doch was ihr wollt. Es wird ohnedies Zeit, dass er hier rauskommt!“, meinte er mürrisch.

„Das meine ich auch“, dachte Jeroen und ging in Arnos Zimmer zurück.

„Um halb 10 bist du draußen, ist das klar?“, rief ihm Herr Stifter nach. „Ich will nicht, dass du hier schläfst. Außerdem muss Arno morgen noch zur Schule.“

„Geht klar, ich hatte sowieso nicht vor, hier zu schlafen“, blieb Jeroen wiederstehen.

„Wieso, gefällt dir meine Wohnung etwa nicht?“, fuhr ihn Herr Stifter unfreundlich an.

„Das nicht, aber mein Onkel macht sich sonst Sorgen“, meinte Jeroen, der erkannte, dass Arnos Vater wieder genauso war, wie zwei Tage zuvor.

„Der Onkel macht sich Sorgen“, murmelte Herr Stifter zu sich selbst, ging ins Wohnzimmer zurück und ließ sich auf die Couch fallen. Jeroen war verunsichert – was wäre, wenn es sich dieser Mensch nochmals überlegen würde? Wenn er Arno doch nicht gehen ließe?

Bedrückt kehrte er ins Zimmer zurück, wo Arno immer noch mit ratlosem Blick auf seine Tasche starrte.

„Mein Alter ist wieder ziemlich blau, nicht wahr?“, meinte er zu Jeroen ohne besonders erschüttert darüber zu sein. „Zeit, dass ich hier wegkomme“, meinte er weiter, „früher oder später würd’ sonst nämlich was passieren….“

Jeroen setzte sich zu ihm, legte ihm den Arm über die Schulter und seufzte: „Ich kann es kaum erwarten, mir mit dir ein Zimmer im Internat zu teilen.“ Dann blickte er ebenfalls auf die vor ihnen liegende Tasche. „Morgen nach der Schule kaufen wir eine zweite, ok? Hast du wieder um drei aus?“, fragte er ihn.

„Nö, ich werde morgen nur bis eins bleiben. Ich möchte mich noch von den paar Leuten verabschieden, die mir zumindest ein bisschen was bedeuten. Anna zum Beispiel. Und im Sekretariat sollte ich auch vorbeischauen – ich muss mich ja auch abmelden.“

„Ich werde dann gehen“, meinte Jeroen. „Dein Vater hat gerade gemeint, ich muss um halb 10 draußen sein. Ich liebe dich!“, wisperte er und gab Arno einen Kuss auf den Mund.

„Ich liebe dich auch“, zog ihn Arno zu sich und küsste ihn zurück. „Warte, nur noch fünf Minuten“, flüsterte Arno und war wenig später mit seinem Kopf zwischen Jeroens Beinen zu Gange.


Jeroen war gegangen und Arno blieb allein mit seinen Gedanken zurück. Klar, er war überglücklich mit Arno mitgehen zu können, aber irgendwie fühlte er sich eigenartig. Er ließ seinen Blick durch das Zimmer wandern. „So muss sich einer fühlen, der nach 20 Jahren Gefängnis entlassen wird und sich draußen nicht mehr zurecht findet“, dachte er. „Blödsinn!“, widersprach er sich kurz darauf wieder selbst. „Mein Leben fängt jetzt endlich an.“ Was wohl aus seinem Vater werden würde – er hatte ihn zwar nie zu irgendetwas ermutigt, ihn ständig geschlagen – aber selbst im größten Moment seines Glücks musste er noch an ihn denken. Seine Mutter fiel ihm plötzlich ein – als Kind liebte er sie, später unternahm sie auch nichts gegen die Schläge. Trotzdem fehlte sie ihm. „Sie war doch auch nur eine arme Sau, die sich mehr vom Leben erhofft hatte“, dachte er und beschloss, sich hinzulegen. Und noch eines beschloss er kurz bevor er einschlief: Zwar würde er sicher wieder nach Wien zurückkommen, aber nie wieder seinen Vater besuchen. Nie wieder!

Der nächste Morgen kam schnell und Arno hatte es eilig in die Schule zu kommen. So wie tags zuvor war sein Vater bereits wach. Arno verneinte die Frage nach Kaffee und wollte nach draußen.

„Und du willst es dir nicht nochmal überlegen?“, meinte sein Vater. Er klang traurig, doch wahrscheinlich wollte er Arno nur ein schlechtes Gewissen einreden. „Was wird dann aus mir?“, fuhr er fort. „Aha“, dachte Arno, er hatte also Recht, „jetzt kommt er mir mit dieser Mitleidstour!“ Arno schüttelte nur den Kopf und verließ wortlos die Wohnung. „Wenn ich das nächste Mal hier rausgehe, bin ich weg!“, dachte er.

In der Schule führte sein erster Weg ins Sekretariat, wo er sich bei Frau Umlauf abmeldete, die ihm noch viel Glück auf seinem weiteren Weg wünschte. Auf dem Weg in seine Klasse lief er dann auch prompt Anna in die Arme – den Abschied von ihr hätte er gerne noch hinausgezögert, denn er wusste, dass er auch ihr eine Menge zu verdanken hatte. Anna wusste bereits Bescheid – Jan hatte sie angerufen. Sie nahm ihn in die Arme und sagte: „Ich wünsche die alles Glück dieser Erde! Mach was aus dir und vor allem: Werde glücklich! Du hast es dir verdient! Du hast es dir verdient, wie kein anderer! Greif zu und koste das Leben aus, so gut es nur geht.“

Arno drückte sie ganz fest und mit Tränen in den Augen antwortete er: „Das werde ich. Ich danke Ihnen so sehr.“ Zu mehr kam er nicht – Anna sah ihn nochmals kurz an, zwinkerte ihm kurz zu und war anschließend im Gewühl der Schülermassen verschwunden.

Arno saß in seiner Klasse und nach und nach trudelten seine Klassenkollegen ein. „Nicht traurig sein“, meinte Silvia, ein Mädchen aus seiner Klasse und legte ihm ihren Arm auf die Schulter, „Dieser Michael ist ein verwöhnter Wichser! Der ist es nicht wert! Den meisten hier ist es vollkommen egal wie du bist – im Gegenteil, sie bewundern dich für deinen Mut gestern!“

„Ach, das ist es nicht. Ich bin nur komischerweise traurig – es ist heute mein letzter Tag hier. Schon komisch: Ich wollte nichts sehnlicher als von hier verschwinden, und jetzt… ach Scheiße!“

„Wo gehst du denn hin?“

„Ich gehe nach Holland. Mit Jeroen.“

„Ach?“, rief das Mädchen verzückt. „Ist das dein Schnuckel? Da hast du dir ja einen ganz Süßen geangelt!“, schwärmte sie und gab Arno einen Kuss auf die Nase. „Schon komisch!“, dachte sich Arno, der mit Silvia bislang keine 5 Sätze gesprochen hatte.

So ging es fast den ganzen Vormittag über – von vielen seiner Mitschüler, die er eigentlich gar nie so wirklich kennen gelernt hatte, kamen aufmunternde Worte. Nur Michael saß beleidigt in einer Ecke.

Nach den ersten beiden Stunden war Arnos Laune wieder auf dem Höhepunkt – dennoch beschloss er, nicht bis 1 Uhr in der Klasse zu bleiben, sondern sich in die Cafeteria zu setzen. Schließlich war er ja offiziell bereits von der Schule abgemeldet.

Dort hatte er noch ein komisches Erlebnis: Kaum hatte er mit einer Flasche Cola in der  Hand Platz genommen, saß plötzlich ein Junge aus einer höheren Klasse neben ihm. Es war derselbe, der am Vortag als erster für ihn Partei ergriffen hatte, als Michael ihn quasi zwangsoutete.

„Alle Achtung, deinen Mut hätte ich gerne“, sagte der Junge leise. „Ich bin Mario, mir geht’s wie dir!“

„Oh, wirklich?“, verschluckte sich Arno fast.

„Jap. Dachtest du, du wärst der einzige Schwule in dieser Schule?“, lachte Mario.

„Echt?“, fragte Arno jetzt etwas naiv – tatsächlich hatte er immer gedacht, er wäre der einzige und ganz allein. „Wer alles?“, wollte er neugierig wissen.

„Keine Ahnung. Wie bereits gesagt, ich hab das `Geständnis´ ja noch vor mir. Bei einigen vermute ich es zumindest. Aber ich denke, ich werde bald soweit sein, das wollte ich dir eigentlich nur kurz sagen. Danke!“, meinte Mario freudestrahlend.

„Gern geschehen“, stammelte Arno, doch Mario war schon wieder weg.

Eine Stunde später wurde es Arno zu langweilig und er beschloss der Schule den Rücken zu kehren. Das letzte Mal! Stolz und aufrecht marschierte er beim Ausgang raus – ohne sich nochmals umzudrehen. Er beschloss im angrenzenden Park auf Jeroen und Jan zu warten.


Bereits von weitem erkannte er Jeroen heranwetzen – er kam alleine.

„Wo ist Jan?“, fragte Arno nach einer heftigen Begrüßung.

„Er spricht nochmals mit deinem Vater -  er hat einige Formulare vom Jugendamt abgeholt, die dein Vater unterschreiben muss. Und er besorgt dir eine neue Reisetasche. Außerdem hat er für heute Nacht nochmals ein Zimmer für dich im Hotel reserviert, da wir morgen ja sehr früh zum Flughafen aufbrechen müssen. Damit du nicht verschläfst! Der Flug geht nämlich schon um 8 in der Früh.“

Das waren ja Neuigkeiten – somit hatte Arno die letzte Nacht in seinem Zimmer schon hinter sich.

„Ist er zu ihm in die Firma gefahren?“, hakte Arno noch nach.

„Jap! Du kennst ja Jan – wenn er sich etwas in den Kopf setzt, dann macht er das auch sofort! Hey, was ist mit dir? Du kneifst doch nicht etwa?“, fragte Jeroen nach, der den nachdenklichen Blick Arnos nicht anders zu deuten wusste.

Arno sah Jeroens besorgtes Gesicht vor sich und von einem Moment zum anderen verwandelte sich die Nachdenklichkeit in seinem Gesicht zu einem herzlichen Lächeln.

„Nie im Leben! Der Vormittag war nur anders als erwartet“, beschwichtigte er Jeroen.

„Wie denn?“, wollte dieser wissen.

„Alle waren so freundlich zu mir – das hätte ich nicht erwartet, ehrlich. Das hat mich doch mehr berührt, als ich zu denken wagte. Wann kommt Jan zurück?“, fragte er.

„Wir treffen uns erst am Abend im Hotel wieder – dann fahren wir alle zu dir nach Hause, um deine Sachen zu holen, der Nachmittag gehört also uns!“, strahlte Jeroen.

„Komm, ich zeige dir eine Ecke, die dir gefallen wird“, schlug Arno vor und nach einer kurzen U-Bahnfahrt befanden sie sich am Wiener Naschmarkt, einen Markt mit den feinsten und frischesten Köstlichkeiten, der eine Tradition von über 100 Jahren aufweist. Dort genehmigte man sich Sushi, ehe man einfach die Atmosphäre in sich aufsog und gemütlich herumschlenderte. Das Wetter war mittlerweile auch besser geworden – viel wärmer als es noch bei Jeroens Ankunft am Montag zuvor.

„Wirst du Wien vermissen?“, fragte Jeroen plötzlich.

„Ich würde nur dich vermissen. Hierher kann ich später immer wieder kommen“, meinte er und legte den Arm um seinen Freund. „Ehrlich, so sehr ihr mir die Woche auch beigestanden wärt, ich wüsste nicht was ich tun würde, müsste ich mich morgen wieder von dir verabschieden“, verriet Arno und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Danach ging’s nochmals in den ersten Bezirk, wo Arno Jeroen die Kaisergruft zeigte – in der sämtliche ehemaligen Herrscher der Donaumonarchie in ihren prunkvollen Sarkophagen bestattet sind. Der Nachmittag verging wie im Flug und nach einem kurzen Abschlussbummel durch die Innenstadt beschloss man, ins Hotel zurück zu kehren.

Dort wartete bereits Jan im Foyer – als er die beiden Jungs sah, reckte er beide Daumen in die Höhe, er hatte alle von Arnos Vater unterzeichneten Formulare beisammen. Die letzten Zweifel waren ausgeräumt – dem Abschied von seinem alten Leben stand nichts mehr im Wege.

„Also“, schlug Jan wieder mal vor, „ich würde sagen, wir fahren jetzt gleich zu dir nach Hause, damit du die letzten Sachen packen kannst. Dort kannst du dann entscheiden, ob du deinen Vater noch sehen willst oder gehst, bevor er von der Arbeit nach Hause kommt.“

Das musste sich Arno wirklich noch überlegen – er hatte schon länger in Gedanken daran gearbeitet, wie der Abschied von seinem Vater denn aussehen würde.

Ein letztes Mal betrat Arno – in Gefolgschaft von Jan und Jeroen – sein Zimmer. Hastig wollte er wieder alles in die Tasche stopfen, ehe Jeroen dazwischen ging und ihm so wie am Abend zuvor zur Hand ging. Von einigen Sachen musste sich Arno schließlich doch trennen – es ging immer noch nicht alles rein. Arno zitterte vor Nervosität, als ihn Jan fragend anblickte.

„Lass uns fahren!“, sagte Arno und kritzelte noch eine Nachricht für seinen Vater auf einen Zettel. Drauf standen schlicht und einfach die Worte

Auf Wiedersehen,

Arno

Mehr Worte war ihm sein Vater nicht wert.

„Also dann“, meinte er, blickte sich noch einmal kurz um und schloss die Tür hinter sich. Eine tonnenschwere Last fiel von seinen Schultern und als man wieder im Hotel war, warf er die Taschen in sein Zimmer, sprang aufs Bett und hüpfte darauf herum wie ein kleines Kind. Immer wieder ballte er dabei die Fäuste und reckte sie zum Zeichen des Triumphes in die Luft. Jeroen kauerte sich in eine Ecke und betrachtete mit glänzenden Augen das Treiben Arnos. Beide waren höchst zufrieden und wenig später lagen sie nebeneinander im Bett – sie lagen einfach da und blickten sich an. Hier und da streichelte man dem anderen die Wange – gesprochen wurde nichts. Man genoss die Stille des Augenblicks!


Nach einem abschließenden Abendessen genoss man die Nacht zusammen in vollen Zügen: Man ließ sich für alle Zärtlichkeiten endlos lang Zeit – bis dorthin hatte man fast immer schnellen, wilden Sex, da man nie wusste, ob es das letzte Mal sein könnte. Nicht in dieser Nacht, die beide fortan höchstwahrscheinlich zu den schönsten ihres Lebens zählen würden.

Das Taxi hupte bereits einige Male, als die drei am folgenden Morgen um halb sechs Uhr früh verschlafen das Hotel verließen. Der Verkehr war um diese Uhrzeit noch sehr mäßig und man war pünktlich am Flughafen, wo man sofort eincheckte.

Als man gleich im Anschluss zur Passkontrolle wollte, hörte Arno plötzlich jemanden seinen Namen rufen.

Er drehte sich um – und vor ihm stand sein Vater.

„Ich muss mich doch von meinem Sohn verabschieden“, meinte dieser, dieses Mal nicht mit gespielter Traurigkeit, wie Arno zumindest vermutete. „Und wenn es dir nicht gefällt, dann kommst du halt wieder!“

„Ich denke nicht, Papa!“, gab Arno ernst zur Antwort, hielt ihm jedoch als Friedensangebot seine Hand zum Abschied hin.

„Verstehe“, flüsterte Herr Stifter. Er sah ein, dass sich sein Sohn durch nichts und niemanden aufhalten ließ.

„Hier, nimm! Ist von deiner Mutter!“, sagte er schließlich und drückte Arno einen Brief in die Hand.

Arno betrachtete zitternd das Stück Papier in seinen Händen, ehe ihn Jan aufforderte, sich zu beeilen. Er warf noch einen letzten Blick auf seinen Vater – zum ersten Mal konnte er erkennen, wie klein er eigentlich war.

„Was stand in dem Brief?“, wollte Jeroen beim Einsteigen ins Flugzeug wissen.

„Keine Ahnung!“, gab ihm Arno zur Antwort. „Ich hab ihn weggeworfen. Neues Leben, schon vergessen?“, lächelte er Jeroen an.


Arno hatte sich schnell eingewöhnt: Er wurde am Bauernhof von Jeroens Großeltern, da wo ja auch seine Mutter wohnte, aufgenommen. Er half dort bei der Arbeit mit, zeichnete und büffelte Holländisch wie ein Wilder. Jeroens Mutter, die ja als Lehrerin arbeitete, half ihm dabei unermüdlich.

Jeroen musste natürlich wieder zur Schule, wo alles bestens für ihn lief. Seine Noten waren außergewöhnlich gut und mit seiner Band hatte er die ersten kleinen Auftritte.

Das Wochenende gehörte immer den beiden allein. Dann fuhren sie mit den Rädern durch die Gegend oder zogen um die Häuser. Natürlich half ihm auch Jeroen beim Lernen der neuen Sprache – Arno zeigte dabei ständig Fortschritte. Er lernte gut und schnell – und schon bald stand die Aufnahmeprüfung an Jeroens Schule bevor. Dort musste er fünf seiner eigenen Arbeiten vorlegen. Außerdem musste er über einige holländische Maler Bescheid wissen.

Arno war sichtlich nervös, als er aus dem Raum des Prüfungskomitees heraus kam. Es war seiner Meinung zwar gut verlaufen, aber man konnte ja nie wissen. Neben ihm saßen einige andere Jugendliche, die ebenfalls die Prüfung abgelegt hatten und genau so nervös waren wie er. Nach und nach wurden die Prüflinge wieder ins Zimmer gebeten. Einigen war die Enttäuschung anzumerken, als sie wieder herauskamen – andere stießen Jubelschreie aus.

„Arno Stifter!“, hörte er schließlich eine Stimme seinen Namen rufen.

Arno atmete noch einmal tief durch, stand auf und öffnete die Tür. Die Tür zu einem neuen Leben.

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