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Goldjunge

Teil 2 - Mittwoch

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Vorwort der Redaktion

Liebe Leser,

die folgende Geschichte befasst sich unter anderem mit der Thematik Suizid. Dies ist ein sensibles Thema, das Nickstories.de nicht unkommentiert lassen kann und will. Deshalb haben wir uns entschieden diese Geschichten generell mit einem Vorwort zu versehen.

Für uns ist dieses Thema in Stories kein Tabu, aber wir wollen deutlich machen, dass Selbstmord mit Sicherheit kein Weg ist, um ein Problem zu lösen. Jeder, der sich in einer scheinbar aussichtslosen Lage befindet, sollte wissen, dass er Hilfe finden kann.

Wenn du jemanden kennst, der über diesen Schritt nachdenkt oder ihn geäußert hat, solltest du das nicht auf die leichte Schulter nehmen und versuchen mit dieser Person zu reden. Erst dann wird deutlich, wie ernst die Lage wirklich ist.

Wenn du über Selbstmord nachdenkst, bitten wir dich, Kontakt mit einer Hilfseinrichtung aufzunehmen, bevor du etwas tust, das für deine Freunde und deine Familie ein unwiederbringlicher Verlust sein wird.

Informationen und Notrufnummern findest du z.B. unter: www.telefonseelsorge.de

 

Fuchsteufelswild raste Lu durch das nächtliche Wien – er konnte es immer noch nicht fassen, was er gerade im Fernsehen gehört hatte. „Die können was erleben!“, fluchte er und griff nach seinem Handy – fast hätte er beim Wählen der Nummer seinen Wagen verrissen, was ihm einen weiteren Kraftausdruck entlockte.

Im Haus der Steins läutete es – genauer gesagt im Dienstzimmer des Chauffeurs der Steins.

„Hallo?“

„Sag mal, was soll diese Scheiße eigentlich? Es war doch abgemacht: keine Polizei, keine Medien! Sind die Fernsehtypen etwas schon bei euch im Haus?“, schnaubte Lu ins Telefon.

„Hör mal Lukas, keine Panik. Die Alten vom Julian schauen genauso blöd aus der Wäsche, wie du dich gerade anhörst. Keine Ahnung, wer denen einen Wink gegeben hat. Oh …ich seh gerade …also, das wird dich jetzt nicht freuen …ein Wagen vom Fernsehen hält gerade vor dem Tor … Naja, würd mich wundern, wenn sie die reinlassen würden. Also, keine Panik …“

„Keine Panik, keine Panik! Du hast leicht reden, du Trottel. Aber eines sag ich dir: Du steckst da genauso mit drinnen. Also, es bleibt wie besprochen. Ich rufe morgen gegen zehn herum an – und werde ausdrücklich dich als Kurier haben wollen.“

„Keine Sorge, alles wird hinhauen. Wie geht’s dem Kleinen?“

„Mein Bruder passt auf ihn auf. Die zwei dürften sich ja prächtig verstehen. Du kennst ja Chris – er scheint einen Narren an ihm gefressen zu haben“, antwortete Lu in spöttischem Ton -  mittlerweile schien er sich wieder beruhigt zu haben.

„Brauchen wir die beiden eigentlich noch?“, lachte die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Ich meine: 5 Millionen …das lässt sich schwer durch drei dividieren …!“

„Fall du morgen bloß nicht um, hörst du? Und lass diese Scheißwitze … Er ist immerhin so etwas wie mein Bruder …!“

„Keine Sorge, ich fall schon nicht um – der Alte vertraut mir doch. Baut ihr bloß keinen Scheiß – war ja auch nicht gerade eine kluge Idee, mehr Runden am Haus vorbei zu fahren, als Sebastian Vettel am Nürburgring. Einem der Bullen ist das nicht entgangen – nach deinem Auto wird bereits gefahndet. Also lass den Wagen besser verschwinden und erzähl mir nicht, was ich zu tun habe, verstanden? Alles wird so verlaufen, wie wir es geplant haben. Pass bloß auf, dass dein Bruder nicht durchdreht …“

Lu legte wortlos auf und fuhr weiter – vielleicht wäre es besser, so dachte er jedenfalls, noch einen Tag zu warten, denn langsam wurde selbst ihm die Sache etwas zu heiß.

Zur selben Zeit verließ Franz, der Chauffeur der Steins sein Dienstzimmer, dass sich im Untergeschoß der Villa besaß – da Herr Stein seine Dienste oft rund um die Uhr brauchen konnte, war dies mehr eine kleine, eigene Wohnung in der er des Öfteren auch über Nacht blieb.

„Herr Stein?“, fragte er gespielt besorgt seinen Chef, der mit seiner Frau am Fenster stand. Beide schienen gerade dabei zu sein, sich von Inspektor Platzer zu verabschieden. „Ich bleibe heute Nacht natürlich gerne hier. Ich meine, um Ihnen beizustehen, oder falls Sie irgendetwas benötigen.“

Herr Stein hörte gar nicht richtig zu, nickte allerdings kurz in seine Richtung, um dann wieder besorgt aus dem Fenster zu blicken, wo er ebenfalls den Wagen des Fernsehsenders ausmachen konnte.

„Also“, verabschiedete sich Platzer, „ich bin rund um die Uhr erreichbar. Rufen Sie mich an, falls sich der Erpresser nochmals melden sollte. Und denken Sie positiv, auch wenn es sich leichter anhört als getan.“


Es war kurz nach Mitternacht, als auch Lu wieder das Versteck betrat. Chris spielte mit seinem Handy herum, während Julian zu schlafen schien.

„Ok – du kannst dann auch mal ein paar Stunden schlafen. Ich übernehme mal eben den Wachdienst hier!“, meinte er zu Chris, der sichtlich erfreut darüber war, sich auch einige Stunden hinhauen zu können. „Ich weck dich dann in ein paar Stunden auf – dann kannst du wieder übernehmen.“ Bevor sich Chris ins Nebenzimmer bewegte, klärte ihn Lu noch über den Stand der Dinge auf, auch darüber, dass das Fernsehen Wind von der Sache bekommen hatte.

Danach setzte sich Lu, steckte sich eine Zigarette an und betrachtete den schlafenden Julian mit einem Blick des Triumphs. „Wehe deine Eltern zahlen nicht“, sagte er zu sich selbst, „denn falls nicht: Dann genießt du gerade die letzten Stunden Schlaf deines verwöhnten Lebens!“ Und um sich selbst zu beweisen wie ernst er das meinte, zielte er auch noch mit seiner Waffe auf den Burschen.

Mittlerweile hatten sich auch Julians Eltern zur Ruhe begeben, auch wenn an Schlaf natürlich nicht zu denken war. Beide lagen wortlos im Bett und starrten in die Finsternis, abwechselnd seufzend. Schließlich durchbrach Frau Stein das Schweigen, sie beschloss ihren Mann darüber aufzuklären, was einer der Beamten am Nachmittag herausgefunden hatte.

„Julius? Ich weiß, du liebst Julian und so blöd es klingt: Vielleicht ist gerade das der richtige Zeitpunkt, dir etwas über ihn zu sagen …“, setzte sie mit stockender Stimme an.

„Was meinst du?“, fragte Julius, ohne sich zu ihr zu drehen.

„Naja, einer der Beamten hat heute Julians PC untersucht, um vielleicht irgendwelche Hinweise zu finden. Gefunden haben sie nichts – zumindest nichts was mit der Entführung zu tun haben könnte …“

„Na, dann ist ja gut“, meinte Julius wieder, der trotz der Ereignisse des Tages jetzt gerne etwas Ruhe gefunden hätte.

„Nun“, setzte Frau Stein dennoch fort, „sie haben etwas gefunden, dass darauf schließen lässt, dass Julian …nun …und ich habe es auch schon seit längerem im Gefühl …dass Julian …“ Sie unterbrach ihr Reden, da sie nun doch etwas Angst vor der Reaktion ihres Mannes hatte, der sich jetzt doch zu ihr rüber gedreht hatte. Trotz Dunkelheit konnte sie die fragenden Augen spüren, die an ihr hafteten.

„Was möchtest du mir sagen?“, fragte Herr Stein in ruhigem Ton.

„Nun, alles deutet darauf hin, dass …nun …dass wir wohl nie Enkelkinder haben werden.“

In einem Ruck richtete sich Herr Stein auf. „Was willst du damit andeuten?“, fragte er laut und zerriss die Stille, die zuvor noch geherrscht hatte. „Willst du mir damit sagen, er sei schwul? Homosexuell?“

„Nun, dir kann doch auch nicht entgangen sein, wie unglücklich er in der letzten Zeit gewirkt hat. Ich nehme an, dass eben dies der Grund war – ja, ich vermute es schon seit längerem, dass er, naja, schwul ist …“, versuchte ihn seine Frau zu beruhigen.

„Mein Sohn …schwul?“, schrie Herr Stein, der aus dem Bett gesprungen war. „Nie im Leben!“, fauchte er und eilte aus dem Schlafzimmer, um sich einen Scotch auf den Schock zu genehmigen.

Ingrid huschte aus dem Bett, zog sich ihren Schlafrock über und folgte leise ihrem Mann, der abermals am Fenster stand und so tat, als ob er wieder den Fernsehwagen am Ende der Auffahrt beobachten würde – mit seinen Gedanken war er freilich ganz woanders.

„Die sind immer noch da“, meinte er, ohne sich zu seiner Frau umzudrehen, die er natürlich kommen gehört hatte. Dabei nippte er an seinem Glas.

„Julius …unser Sohn wird demnächst viel  Zuwendung brauchen, vor allem deine …er blickt doch zu dir auf …!“

„Ach ja? Er hat doch seit langem schon keine zwei vernünftigen Sätze mit mir gesprochen. Manchmal hab ich direkt das Gefühl, er würde mich verabscheuen. Dabei hat er doch immer alles von mir bekommen …! Keine Ahnung, was in ihm vorgeht!“

„Eben, du ….wir haben doch keine Ahnung, wie es ihm wirklich geht. Wann hast du das letzte Mal wirklich mit ihm gesprochen? Von Vater zu Sohn? Weißt du denn, was in letzter Zeit so in ihm vorgeht? Ich denke nicht … Versteh mich nicht falsch, es ist nicht nur deine, es ist auch meine Schuld. Wir müssen einiges ändern, wenn er wieder da ist … Wenn …“, unterbrach Frau Stein sich selbst, als ihr die derzeitige Lage ihres Sohnes wieder in den Sinn kam und sie laut aufschluchzte.

Julius nahm seine Frau in die Arme.

„Du hast ja Recht …Wir müssen einiges ändern, es war nur ein Schock, als du mir das vorhin gebeichtet hast …und einfach zu viel für diesen Tag. Komm – lass uns versuchen, etwas zu schlafen“, meinte Herr Stein und führte seine Frau ins gemeinsame Schlafzimmer.


Zur selben Zeit war auch Inspektor Platzer nach Hause gekommen – er war hundemüde und wollte sofort zu Bett gehen. Seine Frau hatte bereits einige Zeit geschlafen, drehte aber ihren Kopf zu ihm rüber, da sie durch lautes Geschrei aufgewacht war.

„Musst du ihn denn dauernd so anschreien“, ermahnte sie ihren Mann.

„Was meinst du? Sieh doch mal auf die Uhr – er ist erst 18 und kommt um diese Zeit nach Hause. So lange er unter meinem Dach wohnt, hat er nach meinen Regeln zu spielen, ist das klar?“

„Dir geht’s doch gar nicht darum, wann er nach Hause kommt. Dir geht’s doch um ganz etwas anderes“, wurde nun auch seine Frau lauter.

„Ich weiß nicht wovon du sprichst“, versuchte er sie zu beschwichtigen.

„Na, es wär doch für dich überhaupt kein Problem, wenn er um diese Zeit von einem Mädchen nach Hause kommen würde, oder …?“

„Fang nicht wieder damit an … du weißt doch, dass ich nichts davon hören will. Mein Sohn – schwul! Weißt du, was diese Typen machen, wenn sie sich unbeobachtet fühlen? Ich will gar nicht daran denken …dass mein Sohn das auch macht. Mir graust vor ihm, hörst du? Es ekelt mich an! Und außerdem: Weißt du, wie blöd mich in der Arbeit alle angrinsen? Letztens erst kam ein Kollege auf mich zu, der ihn in der Stadt gesehen hat – gemeinsam mit einem anderen Jungen … `Ich hab deinen Jungen gesehen, mit seinem Freund …´ …und er hat dabei Bewegungen gemacht, wie ein 19-jähriges Mädchen, dass mit dem Hintern wackelt. Also erzähl mir nichts von Verständnis. Ich werde nie damit zu Recht kommen, hörst du? Nie!“

„Aber das musst du ihm dann doch nicht dauernd vorwerfen. Glaubst du etwa, er merkt nicht wie sehr du ihn ablehnst? Und wie sehr er darunter leidet?“

„Wie er leidet? Er? Dann soll er sich doch normal benehmen – wie jeder normale Junge seines Alters. Und auch ein bisschen an uns denken – wie wir darunter leiden. Aber egal – ich will nichts mehr davon hören, es war ein langer Tag und ich würde jetzt gerne schlafen …“

Ein lauter Knall zerriss die finstere Nacht.

Inspektor Platzer schreckte hoch – der Platz neben ihm im Bett war leer. Lange hatte er nicht mehr davon geträumt, doch nach den Ereignissen des vergangenen Tages kehrte dieser Albtraum wieder.

Er ging in die kleine Küche und genehmigte sich einen doppelten Schnaps, ehe er sich an den kleinen Küchentisch setzte und ins Leere blickte. Vor ihm lag sein Dienstrevolver „Wesson & Smith“, eine Waffe derselben Marke, mit der sich sein Sohn eines Nachts erschossen hatte, weil er keinen anderen Ausweg mehr sah, weil er sich unverstanden fühlte und nicht wusste, wie er gegen die Ablehnung seines Vaters ankommen sollte.

Zwar lebte der Inspektor jetzt in einer anderen, weitaus kleineren Wohnung, doch immer noch sah er vor seinen Augen, wie er in jener Nacht versuchte, die Tür zum Zimmer seines Sohnes zu öffnen – und dabei sofort bemerkte, dass etwas die Tür blockierte.

Als Inspektor wusste er sofort, was geschehen war. Es war nicht der erste Selbstmörder den er gefunden hatte – mit dem einen Unterschied, dass es sich dieses Mal um seinen Sohn handelte, der da vor ihm lag, mit einem kleinen Loch an der Schläfe, kaum erkennbar – und doch da. Er lag da, mit offenen, doch leblosen Augen, die seinen Vater immer noch anzuflehen schienen, er möge ihn doch verstehen, ihm beistehen. Doch dazu war es zu diesem Zeitpunkt zu spät – Thomas, sein einziges Kind war tot. Und nichts sollte nachher mehr so sein, wie es vorher gewesen war.

Platzer ließ einen tiefen Seufzer aus und genehmigte sich noch einen Schnaps – obwohl das alles bereits 15 Jahre zurücklag, hatte er es noch immer nicht ganz verarbeitet und ihm wurde klar, wie er die Sache endlich hinter sich bringen konnte.

„Ich muss Julian finden – erst dann kann auch ich Ruhe finden. Und erst dann wird mir Thomas auch verzeihen können“, sagte er zu sich selbst, ehe er sich wieder in sein Bett legte. Seine Frau schlief schon seit vielen Jahren in einem anderen.

Schlaf fand er in dieser Nacht keinen mehr.


Das Versteck, in dem Julian gefangen gehalten wurde, befand sich in Floridsdorf, einem äußeren Bezirk von Wien. Lu hatte von einem Bekannten erfahren, dass die Arbeiten an dem Rohbau vor kurzem eingestellt worden waren, da sich der Auftraggeber scheinbar finanziell übernommen hatte. Chris hatte Bedenken, doch Lu war davon überzeugt, dass es sich dabei um das perfekte Versteck handelte und war nicht mehr von der Durchführung seines Plans abzubringen.

Immer wieder nickte Lu ein – also beschloss er, dass sich wieder Chris um Julian kümmern sollte. Er weckte seinen Bruder unsanft auf, indem er ihm mit dem Bein in die Rippen stieß.

„Los, du bist wieder dran. Und vergiss nicht mich um 10 zu wecken, ok?“, fuhr er ihn an, legte sich selbst hin und war im selben Moment auch schon eingeschlafen.

Es war etwa vier Uhr früh, als Chris schlaftrunken ins Nebenzimmer wankte und wieder neben Julian Platz nahm. Er erkannte sofort, dass Julian nicht schlief, da er keine rhythmischen Schlafbewegungen seines Oberkörpers erkennen konnte.

„Du wolltest doch wissen, ob ich im Gefängnis war?“, flüsterte er in die Dunkelheit hinein.

Sofort richtete sich Julian mit einem kräftigen Ruck auf – er war tatsächlich wach gewesen.

„Und, warst du?“, wollte er neugierig wissen.

„Ja, als ich 16 war. Man hat mich erwischt, als ich in eine Wohnung einstieg. Dabei muss ich den Alarm ausgelöst haben …! Jedenfalls war ich kaum fünf Minuten in der Wohnung, als auch schon die Bullen da waren. Ich wollte an ihnen vorbei ins Freie flüchten – hatte aber keine Chance.“

„Warst du denn ganz alleine? Ich meine, wer hat dich auf die Idee gebracht einen Einbruch zu verüben?“

„Mein Partner wartete in einem Auto ein paar Gassen weiter – sie haben ihn nicht erwischt.“

„Dein Partner? Ist es der, an den ich gerade denke?“

„Ja. Lu, mein …“

„Dein Bruder, stimmt’s?“, fiel ihm Julian ins Wort.

„Stimmt, naja, nicht ganz – er ist mein Halbbruder. Mein Vater hat sozusagen schon zwei Frauen unter die Erde gebracht. Lu ist der Sohn seiner ersten Frau. Sie ist gestorben, genau  wie meine Mutter …“

„Was meinst du mit `unter die Erde gebracht´. Hat er sie etwa …?“

„Nein, sagt man doch nur so“, musste Chris fast kichern, ehe sein Gesicht wieder ernste Züge annahm.

„Jedenfalls geh ich nie wieder ins Gefängnis. Es war die Hölle dort …die erste Zeit zumindest. Bis Lu nachkam – er wurde einige Monate später ebenfalls eingesperrt, für ein anderes Delikt, denn ich hab den Bullen nichts über ihn erzählt, also nichts, was den Einbruch betraf. Er hat mich so gut es ging beschützt …!“

„Beschützt? Vor wem denn?“, wollte Julian weiter wissen, obwohl er sich gut vorstellen konnte, wovon Chris da sprach.

„Nun, ich war zwar schon 16, aber ein zierlicher Junge – naja und das haben die älteren Insassen dann auch ausgenutzt …“

Obwohl die beiden nur flüsterten breitete sich nun eisiges Schweigen im Raum aus. Julian hatte genau daran gedacht, als er fragte, wovor er denn beschützt werden musste. Er beschloss, nicht mehr weiter zu fragen. Er hatte in Filmen oft genug gesehen, was in Gefängnissen und vor allem in Jugendgefängnissen so alles passierte. Irgendwie tat ihm der Junge leid – und erstmals dachte er daran, wie gut er es eigentlich bei sich zu Hause hatte. Chris hatte das nicht – er hatte kein so liebevolles Umfeld wie er. Klar, sein Vater konnte schon recht abweisend sein, aber im Gegensatz dazu, wie es Chris ergangen war, ging es ihm doch wirklich gut. Er beschloss also, ihn nicht weiter danach auszufragen.

„Ist schon gut“, flüsterte er nach einer Weile in Richtung Chris, der scheinbar alle Mühe hatte, seine Fassung zu wahren.

„Du musst nicht mehr drüber sprechen, wenn du nicht willst, ok?“

Der Junge tat ihm nicht nur leid, irgendwie mochte er ihn auch – was ihm in einem Moment komisch vorkam (schließlich war er ja immerhin ein Verbrecher), im anderen wieder schön, da er merkte, dass es Chris ähnlich zu ergehen schien.

„Ist schon gut. Nur wie gesagt: Ins Gefängnis gehe ich nicht mehr, soviel steht fest.“

Wieder Stille.

„Weiß dein Bruder davon? Also, dass du schwul bist?“, lenkte Julian das Gespräch jetzt in eine andere Richtung.

„Ja, natürlich. Ich habe es ihm zwar nie offen gesagt, aber er weiß es. Er macht zwar des Öfteren Witze diesbezüglich, aber im Grunde scheint es ihm egal zu sein. Auch dann, wenn ich mal mit einem Freund zusammen bin.“

„Hast du grad einen, nun ja, Freund?“, wollte Julian weiter wissen und war merklich enttäuscht, dass er überhaupt schon einen Freund gehabt zu haben schien.

„Nö und wie steht´s bei dir? Hast du einen?“

„Nein, nicht mal ansatzweise. Ich hab ja nicht mal wirklich normale Freunde. Und bevor du fragst: Meine Eltern wissen nicht Bescheid darüber. Aber falls ich das hier überleben sollte, werde ich es ihnen erzählen, mit Sicherheit!“

Julian versuchte sarkastisch zu wirken, was ihm allerdings nicht so recht gelang – ihm war zum Heulen zu Mute ob seiner misslichen Lage. Und nicht nur deswegen: Irgendwie fühlte er sich zu diesem Chris einfach hingezogen, was dieser auch zu merken schien.

„Ich hab’s dir schon gestern gesagt: Ich lasse nicht zu, dass er dir etwas antut, verstanden?“, flüsterte er in diesem Moment und Julian erschrak, da sein Gesicht dem seinem ganz nah zu sein schien. So nah, dass er sogar Chris’ Atem in seinem Gesicht spüren konnte.

Julian reckte ihm sein Gesicht auch etwas näher entgegen, so dass beide nur mehr wenige Zentimeter voneinander entfernt waren, als er schließlich Chris´ Finger an seiner Wange fühlte, die dieser zart streichelte.

„Ich finde es schade, dass wir uns nicht unter anderen Umständen kennengelernt haben“, hauchte ihm Chris ins Ohr. „Du bist nämlich ein verdammt hübscher Junge …!“

Wieder kam Julian alles so unwirklich vor: Er wollte nicht gefangen sein, er wollte nicht hier auf dieser stinkenden Matratze liegen, in derselben Kleidung vom Vortag – doch trotzdem wollte er in diesem Moment nur eines … nämlich von Chris geküsst zu werden.

Nur wenige Augenblicke später spürte er tatsächlich – zum ersten Mal – die Lippen eines anderen Jungen auf den seinigen. Es war unbeschreiblich – es fühlte sich sanft an und nur wenige Bartstoppeln kitzelten Julians Oberlippen. Langsam und heftig atmend öffnete er leicht seinen Mund und wenig später spürte er auch Chris Zunge auf seiner. Er dachte zu schweben – und befand sich plötzlich ganz weit weg: Er war in diesem Moment nicht mehr Chris´ Gefangener und obwohl er nach wie vor eine Augenbinde umhatte, sah er die hellsten und buntesten Farben vor sich. Chris Zunge kreiste um seine herum und Julian versuchte es ihm gleichzutun. Immer noch streichelte Chris mit der einen Hand seine Wange, während er mit der anderen Julians sanften, weißen Hals auf- und abfuhr.

Gerne hätte auch Julian Chris berührt, doch just in dem Moment kam er wieder in der Realität an – seine Hände waren ja immer noch gefesselt. Also beschloss Julian von Chris abzulassen, was dieser enttäuscht zur Kenntnis nahm und tief seufzte.

„Sorry“, meinte Julian traurig, der hin- und hergerissen war.

„Nein, ich muss mich entschuldigen, dafür, was wir dir hier antun. Wüsste ich doch nur, was ich tun soll …“

„Ich weiß, dass du mich nicht freilassen kannst“, fiel ihm Julian ins Wort, „er würde dich umbringen, stimmt’s?“

„Ich muss mir was einfallen lassen – ich weiß nur nicht was. Kann ich sonst etwas für dich tun?“

„Nun, da gibt’s schon etwas. Ich steck seit gestern in denselben Klamotten und muss wohl schon ziemlich stinken. Zu Hause bade ich ja fast täglich. Ich könnte also etwas Wasser vertragen …“

„Ok“, meinte Chris, „es wird allerdings etwas dauern. Warmwasser gibt es hier nicht – ich muss es vorher auf dem Gaskocher erwärmen …“

Tatsächlich schien es eine Ewigkeit zu dauern, bis das Wasser eine halbwegs akzeptable Temperatur hatte und da es noch ziemlich früh am Morgen war, schlief Julian schließlich wieder ein.

Langsam näherte sich Chris mit einem Behälter warmen Wassers, als er enttäuscht bemerkte, dass Julian wieder vor sich hinschlummerte. Allerdings war ihm das nun egal: Julian hatte ihn darum gebeten, und auch er selbst stellte sich diese Sache äußerst aufregend vor. Er beschloss also, es dennoch zu tun und öffnete langsam die Knöpfe von Julians Hemd, um wenig später auf eine glatte Brust zu blicken, die so weiß war, dass sie in der Dunkelheit förmlich zu leuchten schien.

„Worauf wartest du“, schnaufte Julian, der wieder wach geworden war und ebenso aufgeregt auf den `Waschvorgang´ zu warten schien. Schließlich würde es das erste Mal sein, dass ihm ein anderer Junge dermaßen nahe kommen würde.

Da Julians Hände nach wie vor gefesselt waren, konnte ihm Chris sein Hemd nicht ganz ausziehen, aber er versuchte, es ihm so gut es ging über seine Oberarme zu streifen.

Es schien Julian fast wie eine Ewigkeit vorzukommen, ehe er ein feuchtes, warmes Tuch auf seiner nackten Brust spürte, dass ihn erleichternd aufatmen ließ. Mit sanften Bewegungen umkreiste das Tuch seine Brustwarzen und als Chris diese selbst mit dem Tuch berührte, stöhnte er leise auf, weil eine alles einnehmende Wärme seinen ganzen Körper durchströmte. Durch das Tuch konnte er Chris´ Finger fühlen, die neugierig Julians nackten Oberkörper abtasteten. Wohlige Schauer liefen seinen Rücken hinunter, als vereinzelte Wassertropfen links und rechts an seinem Oberkörper hinabliefen – warm und kitzelnd. Leise musste er kichern, als Chris mit dem Tuch schließlich an seinem Bauchnabel angelangt war, den er wiederum sanft umkreiste.

Immer wieder tauchte Chris das Tüchlein ins warme Wasser, um damit Julians Oberkörper auf- und abzufahren – er schien es genauso zu genießen wie Julian selbst. Als er das Tuch ein weiteres Mal auf seinem Körper gleiten ließ, machte er kurz unter dem Bauchnabel stopp.

Kurze Stille.

Julian wusste sofort, was Chris wollte und nun erst bemerkte Julian an sich, dass er eine ziemliche Erektion hatte - die auch Chris nicht entgangen zu sein schien. Julian wurde es heiß: Wie sehr hatte er sich seit langem gewünscht mit einem anderen Jungen zusammen zu kommen, eben auch auf sexuelle Art. Doch war dies der richtige Zeitpunkt dafür? War Chris der richtige Junge dafür? Und vor allem: Wäre es nicht absurd sich in dieser Situation auf so eine Sache einzulassen?

„Bitte nicht …!“, hörte sich Julian selbst sagen, als er tatsächlich spürte, wie sich Chris´ Hand an seinem Gürtel zu schaffen machte.

„Oh“, kam die kurze Antwort von Chris, dem man dessen Enttäuschung anhören konnte.

„Ich dachte, du wolltest es auch“, fuhr er fort.

„Das dachte ich auch“, meinte Julian, „aber irgendwie … also ich denke, es wäre nicht richtig. Nicht hier und nicht jetzt! Ich hab ja noch nie im Entferntesten irgendetwas mit einem anderen Jungen erlebt. Entschuldige, aber ich würde das gerne unter, nun ja, anderen Umständen erleben. Bist du mir jetzt böse?“

„Nein“, antwortete Chris, der Julian insgeheim ja Recht gab. „Du hast ja Recht. Hier ist nicht der richtige Ort dafür – wahrscheinlich bin auch ich nicht der richtige Kerl für dich!“

„Das könntest du sein, glaub mir, aber … wie gesagt, ich bin noch nicht so weit. Weder mit dir … oder mit jemand anderem.“

„Schon gut, ich bin dir nicht böse“, versuchte Chris zu beschwichtigen. Er kam sich plötzlich schäbig vor, sich in dieser Weise Julian genähert zu haben. Er nahm ein Handtuch, trocknete Julians Oberkörper ab und zog ihm wieder sein Hemd über.

„Danke“, flüsterte Julian und er meinte es auch so. „Es hat mir trotzdem sehr gefallen!“

Chris knöpfte Julians Hemd zu und als er ihn auf die Wange küsste merkte er, dass dieser bereits wieder eingeschlafen war. Mit einem Lächeln auf den Lippen, wie Chris zu bemerken glaubte.

Als Julian wieder munter wurde, fühlte er sich erstaunlicherweise frisch und ausgeruht. Mittlerweile schien auch ein neuer Tag angebrochen zu sein, da es nicht mehr ganz so dunkel durch seine Augenklappen durchzudringen schien.

„Na, gut geschlafen?“, knurrte ihn eine Stimme an. Leider war die Illusion eines (fast) perfekten Morgens sofort wieder verpufft, da es Lu war, der ihn da anknurrte. Zur Beruhigung Julians schien allerdings auch Chris im selben Zimmer zu sein, was ihn merklich erleichterte.

„Nun, dann wollen wir mal“, meinte Lu sichtlich nervös und fingerte an den Tasten seines Mobiltelefons herum. „Willst du mit deinem Vater reden?“, fragte er zur Überraschung aller Julian.

Julian nickte.

„Du sagst ihm lediglich, dass es dir gut geht und dass wir dich gut behandeln, ist das klar? Irgendwelche anderen Kommentare und es passiert was – hast du mich verstanden?“

„Verstanden!“, schrie Julian, als wäre er bei der Bundeswehr. Er hatte tatsächlich nicht vor, irgendetwas zu tun, um Lu in Ärger zu versetzten.

Kaum nach Julians kurzer Antwort presste Lu auch schon sein Handy gegen das Ohr und wartete das Klingelgeräusch ab.

Es klingelte auch nur einige Sekunden, ehe Julius Stein am Apparat war.

„Stein“, klang es müde aber ruhig aus dem Telefon.

„Was sollte das mit dem Fernsehen?“, brüllte Lu sofort ins Telefon. „Wissen Sie nicht, wie gefährlich das für Ihren Sohn sein kann?“

„Glauben Sie mir, ich habe keine Ahnung, wer diese ganze Sache veranlasst hat – aber ich kann Ihnen versichern – ich war das mit Sicherheit nicht! Wie geht es meinem Sohn?“

Ohne zu antworten, presste Lu das Handy gegen Julians Gesicht und deutete diesem, dass er nun reden dürfe – noch einmal mit einer Drohgebärde versichernd, dass er ja das Richtige sagen solle.

„Hallo Paps“, brachte Julian nur leise hervor, „Macht euch keine Sorgen um mich, es geht mir gut und sie behandeln mich auch ….“

„Das sollte reichen“, unterbrach ihn Lu, der sein Mobiltelefon wieder an sein eigenes Ohr hielt.

„Also, ich hoffe Sie haben das Geld auftreiben können. Warten Sie bis zwei Uhr nachmittags, dann rufe ich wieder an. Oh und ist Ihr Chauffeur heute im Haus?“

„Meinen Sie Franz, wieso …“

„Keine Ahnung, wie er heißt, ist mir auch scheißegal. Nur – er soll das Geld bringen. Wo und wohin, erfahren Sie später.“

Tütütütü … Lu hatte aufgelegt.


Das Gespräch war wiederum zu kurz, um es zurück zu verfolgen.

„Er will, dass Franz, mein Chauffeur, das Geld überliefert“, meinte er erstaunt zu Platzer, der nach einer schlaflosen Nacht schon früh wieder bei den Steins aufgetaucht war.

„Holen Sie ihn her“, meinte er kurz zu Julius Stein, indem er keine Miene verzog.

„Sie wünschen, Herr Inspektor?“, fragte dieser gespielt verdutzt, als er wenige Augenblicke später vor Platzer stand.

„Nun, wir haben gerade mit Julians Entführern gesprochen und wie es aussieht, haben die Täter Sie als Überbringer des Lösegelds auserkoren. Was halten Sie davon?“, fragte ihn Platzer, indem er ihn von oben bis unten musterte. Es schien ihm fast, als hätte Franz fast damit gerechnet, diese Frage gestellt zu bekommen – als Inspektor hatte er viel erlebt und einen Lügner erkannte er auf Anhieb. Irgendetwas war hier oberfaul.

„Nun, natürlich werde ich so gut es geht mithelfen, dass Julian bald wieder hier ist. Was muss ich tun und wo soll ich hin? Natürlich mache ich es, Chef!“, drehte er sich in Richtung seines Chefs, der ihm dankbar und anerkennend auf die Schultern klopfte.

„Das ist mein Franz. Einen besseren und loyaleren Chauffeur finden sie nirgends“, meinte er stolz in Richtung Platzer. Stolz und erleichtert. Erleichtert, weil er endlich Gewissheit hatte, dass es seinem Sohn den Umständen entsprechend gut ging.

„Die Entführer melden sich nochmals, aber Sie müssen darauf gefasst sein, dass es gefährlich werden kann. Natürlich werden sie verlangen, dass wir nicht dabei sein sollen. Wir werden in sicherem Abstand aber dennoch da sein – und vor allem werden wir Sie verkabeln, Sie verstehen was ich meine?“, belehrte ihn Platzer.

„Verkabeln?“, wiederholte Franz.

„Nun, wir werden Ihnen ein Mikro auf die Brust heften – ich hoffe, Sie haben nicht zu viel Brusthaar, denn das muss jetzt ab“, schmunzelte Platzer und wählte eine Nummer. „Keine Sorge“, meinte er zu Franz, während er dem Läuten lauschte, „ich werde Sie nicht rasieren. Auch dafür haben wir eigenes Personal!“

Franz schien zu ahnen, dass Platzer ihm nicht zu trauen schien – war er vorher der ruhige, besonnene Ermittler, war er ihm nun eine Spur zu freundlich. Und was ihn noch nervöser machte: Platzer schien auch zu bemerken, was gerade in diesem Moment in ihm vorging.

Ein wenig später kam eine dicke Beamtin zur Tür rein, die auch sofort zur Tat schritt und sich weiße Gummihandschuhe überstreifte und mit fragendem Blick die Gegend durchlöcherte – wer denn der zu Rasierende sei und wo denn bitte das Bad wäre. Nachdem man Franz zur Rasur freigegeben hatte, wurde Platzers Blick wieder ernst. Er wandte sich Herr Stein zu und fragte ihn: „Also gut, Herr Stein. Wie gut kennen Sie Franz?“

„Also, er ist seit fast 20 Jahren mein Chauffeur – da lernt man einen Menschen schon ganz gut kennen. Warum fragen Sie mich das, Inspektor?“

„Vertrauen Sie ihm auch?“, kam von Platzer die Gegenfrage und er fuhr fort ohne Steins Antwort abzuwarten.

„Wissen Sie, bei einem großen Prozentsatz aller Entführungen gab es Beteiligte im näheren Umfeld des Opfers – oft waren es sogar Familienmitglieder, meist aber eben Personen, die der Familie, nun, sagen wir nahestanden, oder sich zumindest äußerst gut in deren Häusern und vor allem in deren Privatsphäre auskannten. Also …“

„Franz“, schrie Herr Stein plötzlich. „Also, Inspektor, mit Verlaub und bei allem Respekt: Franz ist ein loyaler Mitarbeiter, fast so etwas wie ein Familienmitglied – niemals würde er das tun. Für ihn leg ich meine Hand ins Feuer!“

Langsam huschte über Platzers Gesicht wieder ein leichtes Lächeln.

„Drum fragte ich auch, ob Sie ihm vertrauen. Ich habe ja nicht behauptet, dass es so wäre – aber, dass es immerhin so sein könnte. Nichts für ungut – ich will nur Ihren Sohn finden und dabei keine Möglichkeit ausschließen.“

„Auf alle Fälle würde ich mich gerne im Dienstzimmer seines Chauffeurs umsehen – und zwar dann, wenn er mit dem Geld unterwegs ist“, dachte sich Platzer und nahm dankend eine Schale Kaffee entgegen, die ihm Frau Stein gebracht hatte.

Auch in Floridsdorf ging man mittlerweile nochmals den Plan durch, der am Nachmittag über die Bühne gebracht werden sollte. Nachdem Julian von Chris wieder aufs Klo gebracht wurde, zogen sich die beiden Brüder in ein anderes Zimmer zurück – Julian sollte nicht mithören, was die beiden vorhatten.

„Also, nochmals zum Mitdenken, liebes Bruderherz“, meinte Lu süffisant.

„Halbbruder“, entgegnete ihm Chris auf dessen Reaktion Lu nun absolut nicht gefasst war.

„Ok, ok. Halbbruder. Ganz wie Sie wünschen, Sire! Also, nochmals und es wäre schön, wenn du mich nicht wieder unterbrichst: Franz macht sich auf den Weg zu diesem Parkhaus im 16. Bezirk, das an einen Supermarkt angrenzt. Du weißt welcher?“

„Natürlich!  Der, in dem du mal gearbeitet hast“, antwortete Chris ruhig.

„Richtig, ich war ja dort immerhin für drei Monate“, kicherte Lu fast aufgeregt. „Nun, ich hab mich dort in letzter Zeit oft genug umgesehen – und hab auch nie den Schlüssel zu den Lagerräumen abgegeben. Nicht mal, als sie mich ungerechtfertigt hinaus geschmissen haben – ich konnte doch nicht wissen, dass die Tochter des Filialleiters noch minderjährig war, aber egal, davon verstehst du ja eh nichts …“

In Chris brodelte es – alleine für diese Bemerkung hätte er Lu gerne eine runter gehauen, doch dieser redete ungebremst weiter.

„Also, Franz wird in die dritte Etage des Parkhauses fahren – Videoüberwachung gibt es dort nicht, was mich ehrlich gesagt wundert, bei diesem Scheißbezirk, hinten an der Mauer ist ein kaum sichtbarer Schacht, der genau in den Getränkelagerraum des Supermarkts führt – wo ich schon warten werde. Während sich Franz selber eine über die Rübe Haut, blutend aus der Garage wankt – wo natürlich schon tausende Bullen auf ihn warten – spaziere ich mit dem Geld seelenruhig auf der anderen Seite des Supermarkts heraus. Laut Franz hat ihm einer das Geld in der Tiefgarage abgenommen – so einfach ist das. Unser lieber Franz wird im Krankenhaus behandelt, während wir schon zu Abend essen – es ist ein perfekter Plan, nichts kann schief gehen!“

Lu wirkte beinahe euphorisch – er war sich seiner Sache wirklich sicher.

„Und was ist mit dem Jungen“, fragte Chris schüchtern.

Lu´s  Stimmung wurde nun wieder böse wie eh und je. „Also mir ist es egal: Von mir aus kannst du ihn danach ruhig ficken. Das ist es doch was du willst, oder? Glaub nicht, dass mir das entgangen ist. Aber und ich sage es nochmals: nachher! Verstanden? Wehe, du vermasselst das mit deiner irregeführten Vorstellung von Erotik. Mach was du willst mit ihm, denn wenn wir geteilt haben, will ich von dir sowieso nichts mehr wissen. Und jetzt hol ich mal Frühstück.“

Scheinbar wieder wohl gelaunt und pfeifend verließ er das Haus, während Chris traurig zu Julian zurück schlich, der immer noch auf der Matratze lag – Lu meinte es `gut´ mit ihm.

„Heute Morgen“, sagte Chris schließlich Richtung Julian, „es war schön, wie nahe wir uns kamen. Ich bin total durcheinander, weil ich nicht weiß, wie das alles weitergehen soll.“

Julian schreckte auf.

„Nein, nein“, beruhigte ihn Chris, „es ist nicht das, was du meinst. Ich verspreche dir, dass dir nichts passieren wird. Nur ich ….ich finde dich toll, aber mein Verstand sagt mir, dass wir uns nachher nie wieder sehen werden. Es geht einfach nicht, abgesehen davon glaube ich nicht, dass du …“

Er hörte auf zu sprechen und blickte in die entgegen gesetzte Richtung von Julian – er konnte ihn nicht mal ansehen, so mies ging es ihm in dem Moment. Was dichtete er sich da nur zusammen – natürlich würden sie nie zusammenkommen. Selbst wenn sich der Junge auch nur eine kleine Spur in ihn verliebt hätte – irgendwann würde es ihm herausrutschen, wo und unter welchen Umständen sie sich kennengelernt hatten. Und dann wär’ alles vorbei.

Julian bemerkte Chris´ inneren Kampf.

„Dass ich mich auch in dich verliebt habe? Doch – habe ich, also, glaube ich zumindest, selbst wenn ich noch nicht mal dein Gesicht gesehen habe. Vielleicht fühle ich mich von dir aber auch einfach nur beschützt – ich weiß es nicht. Aber was ich weiß ist, dass du nicht der harte Kerl bist, der du zu sein vorgibst. Das habe ich auch heute früh bemerkt – du hättest die Situation auch ausnützen können – wehren hätte ich mich schließlich nicht können. Es hat mir gezeigt, dass du kein übler Kerl sein kannst. Warum haust du nicht gemeinsam mit mir ab? Ich werde dafür sorgen, dass dir nichts passiert, ich werde es meinem Vater erklären. Ehrlich – noch hast du die Chance dazu, dich aus dieser Lage zu befreien.“

„Lu würde uns finden, glaube mir. Ich muss die Sache durchziehen, sonst sind wir beide tot, dass kannst du mir glauben. Du kannst mir aber auch glauben, dass ich jetzt genauso wie du gerne ganz wo anders wäre, aber es geht einfach nicht.“

Chris legte sich ganz nah zu Julian, so nah, dass dieser seine Tränen bemerkte.

„Ich würde dich so gerne berühren, glaub mir …“, flüsterte Julian, drehte seinen Kopf in Richtung Chris und gab ihm einen scheuen Kuss auf seine Wange.

Der Kuss schmeckte traurig und salzig.

„Ich glaube ich liebe dich“, heulte Chris nun endgültig.

„Ich weiß“, antwortete Julian ergriffen, als beide hörten, dass Lu im Begriff war, zurückzukommen.

„Dir passiert nichts, versprochen“, hauchte ihm Chris noch einen Kuss auf die Wange, ehe er sich wieder erhob und sich die Tränen hastig aus den Augen wischte, um Lu ja keinen Grund zum Ausrasten zu geben.

„So, selbes Spiel wie gestern: Du darfst unseren Goldjungen füttern, oder ist er schon nur mehr dein Goldjunge, hm?“, sagte Lu spöttisch zu Chris, während er ihm ein paar über den Kopf zog, als würde er einen Hund tätscheln.

„Lass das“, schrie Chris, sprang auf und funkelte seinen Halbbruder böse an. „Oder …“

„Oder was?“, knurrte Lu böse und schob seine Jacke ein Stück zurück, um sichtbar zu machen, dass er derjenige ist, der bewaffnet sei.

„Na los, gib mir einen Grund, Schwuchtel!“

Das war zu viel – mit eine lautem Schrei versuchte Chris auf Lu loszugehen, doch dieser wich dem Schlag geschickt aus, drehte Chris den Arm auf den Rücken und drückte ihn zu Boden.

„Dreh jetzt bloß nicht durch hörst du? Ich sag’s dir nochmals: Was du nachher mit ihm tust ist mir scheißegal, aber glaub nicht ich merke nicht, was hier abläuft, wenn ich nicht da bin. Hältst du mich für so dämlich?“

„Lass ihn los!“, schrie jetzt Julian so laut er nur konnte.

„Wie? Hab ich dir kleinen Scheißer nicht befohlen, du sollst dein Maul nur dann aufreißen, wenn ich es sage?“, brüllte Lu erbost und war im nächsten Moment an Julians Seite, der mittlerweile wieder auf dem Stuhl saß.

Julian wurde es heiß und im nächsten Moment kalt, als der den kühlen Lauf einer Waffe an seiner linken Schläfe spürte und ein Klicken hörte. Der Wahnsinnige hielt ihm doch tatsächlich eine geladene Waffe an den Kopf! Julians Körper zeigte daraufhin Reaktion: nicht nur, dass er am ganzen Leib zitterte, nein, er spürte auch, wie warme Pisse an seinen Beinen runter lief.

„Lass ihn zufrieden!“, brüllte nun Chris, der zur Überraschung von Lu nun ihm eine scheinbar geladene Waffe entgegen hielt.

„Du glaubst wohl, du bist der einzige hier, der mit Waffen umgehen kann. Nimm sie runter, oder bei Gott, ich knall dich ab, du geisteskranker Irrer!“, schrie er, wobei sich seine Stimme überschlug.

Lu ließ die Waffe sinken – er war sichtlich überrascht über die Reaktion seines Bruders.

„Ok, ok“, meinte er, „wir alle sollten uns jetzt langsam wieder beruhigen. Ich hab die Waffe runtergenommen, das solltest du auch tun. Lass uns noch diesen Nachmittag zusammen durchstehen – dann geht jeder seine eigenen Wege, ok?“

Langsam ging er dabei auf Chris zu und als dieser tatsächlich seine Waffe senkte, schlug er ihn im richtigen Moment mit einem gezielten Schlag nieder.

„Ich hab’s dir gesagt“, meinte er böse lachend, „ich lass mir von dir dieses Sache nicht vermiesen. Ich ziehe es wenn nötig auch alleine durch, kapiert?“ Während er ihm noch allerhand Drohungen entgegen schnaubte, fesselte er Chris an einen Heizkörper.

„Das sollte dich erstmal beruhigen“, sagte er und verschwand im Nebenzimmer um sich noch etwas auszuruhen. In einer halben Stunde würde er wieder bei den Steins anrufen, um deren Chauffeur Franz in die Sache `einzuweihen´.

Auch im Hause Stein war die Nervosität mittlerweile mehr als greifbar – man wartete nahezu schon gespannt auf den Anruf, um die Sache hinter sich zu bringen.

„Und Sie wollen wirklich nicht, dass wir das Geld in Plastik packen, das Farbe versprüht, sobald man es öffnet?“, vergewisserte sich Platzer bei Herr Stein, nachdem er ihm diese Möglichkeit erklärt hatte.

Herr Stein schüttelte nur den Kopf – er wollte absolut kein Risiko eingehen und lieber sein Geld, als seinen Sohn verlieren.

„Nun, wie Sie wollen. Aber den Minipeilsender in der Tasche, also, dazu würd’ ich Ihnen schon raten – vertrauen Sie mir: Die Verbrecher werden vom Anblick des Geldes dermaßen erregt sein, dass sie sich nicht darum kümmern werden, was sonst noch in der Tasche ist. Sie werden ihn nicht finden, dass verspreche ich Ihnen!“

Herr Stein stimmte nach längerem Überlegen zu – was sollte er sonst auch tun?

Währenddessen wurde auch sein Chauffeur nochmals in den Lauf der Dinge instruiert: dass er sich so ruhig wie möglich verhalten solle, nicht den Helden spielen solle und nur das tun solle, was auch von ihm verlangt wurde. Nur dann würde ihm nichts passieren.

Und schließlich klingelte um exakt 14:00 Uhr das Telefon – so, wie es der Verbrecher angekündigt hatte.

Herr Stein hob zitternd ab – zwar hatte er auf diesen Moment gewartet, doch dennoch zitterte er jetzt mehr, als in den Stunden zuvor – es ging jetzt schließlich ans Eingemachte.

„Also gut, hören Sie mir gut zu. Ich erkläre es Ihnen nur einmal“, sprach Lu sofort drauf los – er wollte scheinbar keine Zeit verlieren.

„Und schalten Sie auf die Mithörfunktion, sodass ihr Chauffeur sofort weiß, was er zu tun hat. Ich werde es nicht zweimal sagen. Also, er soll sich sofort mit Ihrem Dienstwagen auf den Weg in die Thaliastraße machen. Thaliastraße 123 – dort befindet sich ein Parkhaus. Er soll den Wagen in die dritte Etage lenken – die meisten Leute nutzen nur die beiden unteren Etagen zum Parken. Es wird uns somit keiner stören und es wird dann auch dort zur Übergabe kommen. Sollte irgendein Polizist anwesend sein, dann ist Ihr Junge tot. Sollte irgendjemand in der Nähe sein, der auch nur aussieht wie ein Polizist – dann ist Ihr Junge tot. Ich zögere keine Sekunde – glauben Sie mir. Also, es ist jetzt kurz nach zwei Uhr – um 15:00 werde ich warten. Klappt alles, kommt Ihr Junge sofort frei … Und ihr Chauffeur soll pünktlich sein …“

Sobald Lu aufgelegt hatte, begann Inspektor Platzer auch schon herum zu telefonieren. Natürlich würde kein Polizist im Parkhaus selbst warten, aber in den Gebäuden herum sollten überall Beamte in Zivil positioniert werden – und zwar so unauffällig wie möglich. Selbst im angrenzenden Supermarkt sollten Beamte anwesend sein. Was Platzer zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht ahnen konnte, war die Tatsache, dass Lu sich längst dort aufhielt und auch das Telefonat von dort führte. Er hatte sich hinter leeren Getränkekisten verschanzt und war bereit für die Übernahme der Geldtasche, die Franz wie abgemacht durch den Schacht werfen sollte.

Bevor er sich auf den Weg machte, hatte er seinen Bruder zwar von seinen Fesseln befreit, ihn aber nochmals eingetrichtert, dass es für beide schlecht ausgehen würde, wenn er Julian in irgendeiner Weise zur Flucht verhelfen sollte.


„Also Franz, ich hoffe Sie sind bereit“, instruierte Inspektor Platzer den Chauffeur und Lösegeldüberbringer. „Wie heißen Sie eigentlich mit Nachnamen?“

„Spindler. Es wird doch alles gut gehen, oder?“, machte er einen auf verängstigt.

„Wenn Sie sich an die Regeln halten, wird Ihnen nichts passieren. Der Junge ist schließlich das Entführungsopfer – nicht Sie. Nochmals: Wir stehen über Ihr Brustmikro stets miteinander in Kontakt. Und spielen Sie bitte nicht den Helden, machen Sie nur das was die Täter von Ihnen verlangen. Geben Sie Ihnen die Tasche, fragen Sie nichts und folgen Sie deren Anweisungen. Glauben Sie mir, die beiden haben sich nicht unbedingt das beste Gelände für die Übergabe ausgesucht – mitten in der Stadt, das birgt für die beiden ein großes Risiko. Dementsprechend nervös werden sie also sein – also, sind Sie bereit?“

Franz nickte kurz und nahm die Geldtasche an sich. 5 Millionen! Er bekam leicht zittrige Knie, als er ins Auto seines Chefs stieg, dass er zum vereinbarten Ort lenken sollte.

Als er allein auf der Straße war, gingen ihm tausende Sachen durch den Kopf.

5 Millionen!! Was wäre, wenn er einfach mit dem Geld abhauen würde? Doch sofort verwarf er diese Idee wieder – schließlich war er im Auto seines Chefs unterwegs, nachdem man sofort fahnden würde. Auch dieses Mikro machte ihn nervös – schließlich war ihm ja bewusst, dass niemand im Parkhaus auf ihn warten würde. Und dass Lu dann nicht mit ihm reden würde – käme das Platzer nicht etwas komisch vor? Gut, er könnte es so drehen, dass der Entführer mit so etwas rechnete und ihm durch Handzeichen zu verstehen gebe, was er zu tun hätte.

Er versuchte nicht zu verkrampfen um auf den Verkehr zu achten.

Eine weitere Sache nagte an ihm: Nämlich, auf welche Art er sich selbst k.o. schlagen sollte – zwar hatte er einige Tage zuvor einen Schlagstock unter dem Beifahrersitz versteckt, doch was, wenn er zu fest zuschlagen würde, das Bewusstsein verlieren würde und mit dem Stock in der Hand gefunden wird? Leichtes Unbehagen stieg in ihm auf, als plötzlich das Telefon läutete.

Es war Inspektor Platzer.

„Alles klar bei Ihnen? Sie befinden sich am Lerchenfelder Gürtel, die nächste links abbiegen – und Sie sind fast da. Nochmals – meine Leute befinden sich überall in den Gebäuden neben dem Parkhaus. Ihnen kann nichts passieren …“

„Alles klar!“, gab Franz so ruhig wie möglich zur Antwort. Er wusste, dass ihm Platzer nach wie vor nicht über den Weg traute. Kurz überlegte er wieder, mit dem Geld abzuhauen, da auch er seinerseits Lu nicht wirklich traute. Was wäre, wenn er alle bescheißen würde – ihn und seinen Bruder? Als er so vor sich hin grübelte, tauchte auch schon das Parkhaus vor ihm auf.

Es ging also los – noch einmal an der roten Ampel angehalten und schon befand er sich in der Auffahrt Richtung dritte Etage.


Nervös blickte Chris aus dem Fenster auf die Straße. Sein Bruder war bereits seit einer Stunde weg und der Minutenzeiger seiner Uhr stand kurz vor der 12 – es war also beinahe 15 Uhr, der Termin der Übergabe. Er atmete tief durch und stieß einen schweren Seufzer auf. Bald hätten sie es hinter sich gebracht – bald wäre dieser Albtraum vorbei.

Er drehte sich um und blickte in Julians Richtung, der festgebunden auf seinem Stuhl hockte und keinen Laut von sich gab.

„Alles klar bei dir? Gleich haben wir es geschafft – es ist fast 15:00. Wahrscheinlich findet gerade die Übergabe statt. Ein bisschen noch – und du bist frei!“

„Und wie soll das Ganze dann ablaufen?“

„Ganz einfach, Lu kommt mit dem Geld her – und wir hauen ab. Wenn wir weit genug weg sind, rufen wir deinen Vater an, wo er dich finden kann.“

Er ging einen Schritt näher auf den Jungen zu und versuchte sein Gesicht zu berühren.

Instinktiv drehte Julian seinen Kopf zur Seite. Er mochte Chris, doch er war auch enttäuscht, dass es ihm nicht gelungen war, ihn zu seiner Freilassung zu überreden.

„Du kannst mich immer noch freilassen!“, versuchte er es nochmals. „Glaubst du, sie würden nicht nach euch fahnden, wenn ihr mit dem Geld auf der Flucht seid? Oder was ist, wenn sich Lu allein mit dem Geld aus dem Staub macht? Was machst du dann?“

Kurze Stille.

Chris musste zugeben, dass auch ihm selbst dieser Gedanke schon gekommen war – nämlich, dass Lu allein mit dem Geld durchbrennen könnte.

„Ach, sei ruhig. Das wird schon nicht passieren!“, antwortete er leise, nur um sich selbst etwas zu beruhigen.

„Was habt ihr überhaupt vor mit so viel Geld?“, wollte Julian wissen.

„Zunächst mal werd ich mich von Lu trennen, dass will er ja selber auch so. Keine Ahnung, wohin ich gehe – mein Traum wäre es, nach Südamerika zu gehen, um dort ein Lokal aufzumachen“, träumte Chris vor sich hin.

„Südamerika?“, entfuhr es Julian überrascht. „Warum gerade Südamerika? Du weißt, dass man dort Spanisch spricht?“

„Klar weiß ich das! Ich bin doch kein Trottel – vielleicht geh ich auch woanders hin, ich weiß es nicht. Stell nicht so viele Fragen!“, erwiderte Chris leicht erbost.

„Sorry. Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich bin schon wieder ruhig.“

„Warum kommst du nicht mit mir mit?“, fragte Chris weiter, um im nächsten Moment zu erkennen, wie blöd diese Frage war.

„Du spinnst wohl. Ich wird mit meinem Entführer durchbrennen … Wie würde das denn aussehen?“

„Sorry“, fuhr Julian fort, weil er trotz Augenbinde erkannte, dass er mit dieser Aussage Chris ziemlich getroffen hatte. Chris mochte ihn scheinbar wirklich, nun ja, er ihn ja auch, aber mit ihm mitgehen? Das klang ihm dann doch ein bisschen zu unvernünftig – und zu sehr nach Hollywood.

„Sorry, war ja nur ein Gedanke“, meinte Chris enttäuscht. „Ich weiß ja selbst, dass das nicht gehen würde.“

Langsam kam er wieder auf Julian zu, nahm sich einen Stuhl und setzte sich direkt neben ihm.

„Du wirst noch vielen Jungs den Kopf verdrehen, weißt du das? Bei deinem Aussehen …!“

„Meinst du wirklich?“

„Klar doch, du bist ein hübscher und scheinbar auch intelligenter Kerl. Mach dir da keine Sorgen – und mach dir auch keine Sorgen, was deine Eltern darüber denken. Erzähl es ihnen am besten gleich nach deiner Freilassung. Sie werden so froh sein, dich wieder zu haben, dass das der beste Zeitpunkt sein wird. Vertrau mir!“

„Chris?“

„Ja, was ist?“

„Bitte schneide mir meine Fesseln auf – ich verspreche dir, nichts Dummes zu tun. Aber wenn ich dein Gesicht schon nicht sehen kann, dann würd ich es zumindest gerne fühlen. Auch wenn es nur für ein paar Minuten ist.“

Chris wurde es heiß – nichts wollte er mehr, als von Julian berührt zu werden, aber war jetzt gerade dafür auch der richtige Zeitpunkt, jetzt, wo sein Halbbruder wohl gerade den Plan der letzten Tage in die Tat umsetzte? Er war schon nervös genug, und nun stellte ihm der Goldjunge solch eine Frage.

„Meine Beine sind doch auch angebunden – ich kann also unmöglich fliehen. Bitte!“, bettelte Julian.

Chris war es nun egal – selbst wenn er abhauen würde. Der Junge vor ihm bettelte in so süßer Art, dass er ihm den Wunsch nicht abschlagen konnte. Er nahm ein Messer und schnitt mit einem kräftigen Ruck die Plastikfessel durch – zuerst die rechte, dann die linke.

Julian saß einen kurzen Moment regungslos da. Dann ballte er seine Hände zu Fäusten, erleichtert, seine Hände endlich wieder bewegen zu können. Plötzlich spürte er Chris´ Hand auf seiner. Sie fühlte sich warm und sanft an und führte schließlich seine Hand zu Chris´ Gesicht.

Chris’ Gesicht fühlte sich glattrasiert und sanft an – ähnlich wie es seine Hand tat. Er tastete ihm über seine Wangen, berührte kurz seine Nase und glitt ihm dann über die Stirn. Seine Haare schienen kurz zu sein, denn nur wenig davon hing über seine Stirn. Julian spürte den heftigen Atem seines Gegenübers – also wanderte seine Hand wieder von der Stirn runter in Richtung Lippen, die er sanft berührte. Auch sie fühlten sich warm und sanft an – er spürte auch wieder ein paar Bartstoppeln darüber, als Chris plötzlich seinen Mund öffnete. Scheinbar wollte er, dass Julian seine Finger in seinen Mund führen sollte. Nur kurz zögerte Julian, als er diesem Wunsch unaufgefordert nachkam und im nächsten Moment spürte, wie Chris´ Zunge verspielt seine Finger liebkosten. Es fühlte sich wunderbar an. Und absurd zugleich – gerade jetzt, wo sich sein Schicksal entscheiden konnte, fummelte er im Gesicht seines Entführers herum! Also beschloss er zu handeln – indem er sich mit seiner freien Hand die Augenbinde herunterriss.

„Ahhhh!“, stieß er im nächsten Moment einen Schmerzensschrei aus – nach fast zwei Tagen in kompletter Dunkelheit, trafen ihn die Lichtstrahlen wie Feuer im Gesicht, so dass er sofort wieder die Augen schloss und sich schützend beide Hände davor hielt.

Chris war erschrocken aufgesprungen und riss ihm sofort die Hände vom Gesicht, um Julian wieder festzubinden. Julian ließ es geschehen – er weinte und war sich in diesem Moment bewusst, dass seine Lage hoffnungslos war. Irgendwie wollte er sogar, dass ihm Chris wieder die Augenbinde umband, nur um nichts mehr sehen zu müssen. Es war ihm egal – Chris war ihm egal, seine Eltern, alles! Für ihn war in diesem Moment klar: Er würde sterben!


Lu hatte es sich, so gut es ging, hinter ein paar leeren Getränkekisten bequem gemacht – ständig blickte er auf den Luftschacht über ihm, den er kurz zuvor geöffnet hatte. Niemand hatte ihn bemerkt, als er gegen halb zwei in den Lagerraum geschlichen war. Drei Monate hatte er in diesem Laden gearbeitet, ehe er bei einer Weihnachtsfeier die 16-jährige Tochter des Filialleiters bumste – und daraufhin entlassen wurde. So wie es ihm bei den wenigen Malen immer erging, wenn er mal zufällig einer rechtmäßigen Arbeit nachging – die meiste Zeit seines Lebens hatte er ja bisher zwischen kleineren Verbrechen und Gefängniszellen verbracht. Aber das sollte jetzt vorbei sein: Nie wieder würde er arbeiten müssen, sobald er das Geld in Händen halten sollte! Und noch eins war ihm klar: Auf keinen Fall würde er das Geld teilen – weder mit seinem schwulen Halbbruder, noch mit diesem schleimigen Franz, mit dem er eines Abends in einem einschlägigen Lokal am Gürtel ins Gespräch kam. Dort, wo er ihn dann regelmäßig traf und ihn schließlich zu diesem Plan überredete. Spindler brauchte bloß die Tasche durch diesen Luftschach werfen – und er würde seelenruhig aus dem Supermarkt spazieren, natürlich nicht ohne zuvor das Geld in eine andere,  mitgebrachte Tasche zu stopfen.

Spindler war also in der dritten Etage des Parkhauses angekommen, die tatsächlich menschenleer war, so wie es Lu verheißen hatte. Kein einziges Auto war zu sehen, als sich plötzlich Platzer im Ohrknopf bemerkbar machte, dass man Franz zusätzlich zum Mikro reingestopft hatte.

„Was können Sie sehen?“, wollte er gespannt wissen.

„Im Moment noch gar nichts, es ist ziemlich dunkel hier. Moment – ich sehe eine Person ganz hinten an der Wand lehnend“, log Spindler. „Er deutet mir ich solle auf ihn zufahren …“

„Können Sie mir sagen, wie er aussieht?“, fragte Platzer.

„Pst. Er kann mich bereits sehen – er deutet mir, aus dem Wagen zu steigen!“

„Tun Sie das nicht, hören Sie? Bleiben Sie im Wagen sitzen!“

Doch Franz hielt sich nicht an die Anweisung und stieg aus dem Wagen.

„Er hat den Knopf im Ohr entdeckt, Scheiße!“, schrie Spindler gespielt panisch und riss sich den Knopf sowie das Mikro ab, warf es zu Boden und trampelte drauf.

Danach schnappte er sich die Tasche und warf sie wie befohlen, durch die Öffnung des Luftschachts, der versteckt hinter einem Altpapiercontainer lag. Wehmütig verfolgte er den Weg der Tasche, die polternd in der Dunkelheit verschwand. Jetzt kam der schwierigere Teil – er musste sich selbst k.o. schlagen. Spindler beschloss, einfach mit voller Wucht gegen einen Betonpfeiler zu laufen, klar es würde wehtun – aber zu verlockend erschien ihm sein Anteil an den Millionen.

Er atmete noch einmal tief durch und knallte im nächsten Moment mit voller Wucht gegen den Pfosten, was ihm sofort das Bewusstsein raubte und ihn mit einem dumpfen Knall am Boden aufprallen ließ.


„Keine Sorge, Herr Stein“, beruhigte Platzer ihn in dem Moment, als der Funkkontakt zu Franz abriss.

„Wir haben sowohl Ein- und Ausfahrt, als auch die beiden Seitentüren der Garage überwacht – die Typen kommen da nicht raus!“

„Aber was ist, wenn sie Franz etwas tun, oder Julian bereits tot ist?“ brüllte Stein und stürmte raus in den Garten. Er brauchte jetzt dringend Luft – sein Nervenkostüm schien fast zu zerreißen. Komischerweise verhielt sich seine Frau nun viel ruhiger als er, was vielleicht daran lag, dass sie eine Tablette eingeworfen hatte.  Vor dem Tor stand immer noch der Fernsehwagen, an dem sich sofort die Türen öffneten und ein Kameramann sowie scheinbar ein Reporter heraus sprangen.

Herr Stein war kurz vorm Durchdrehen: Er stieß die beiden zur Seite, hüpfte in seinen Zweitwagen und brauste davon – er musste unbedingt sehen, was sich da in der Thaliastraße abspielte!

„Na, sehr toll“, raunte Platzer, der ständig entweder am Mobiltelefon oder an seinem Funkgerät hing. Er stürmte natürlich ebenfalls sofort aus dem Haus, eilte zum Auto und machte sich ebenfalls auf den Weg zum Tatort. Es galt nun weder zu zaudern, noch hektisch zu handeln.

Am Tatort selbst kontrollierten die Beamten jedes aus dem Parkhaus kommende Auto – die Einfahrt war längst abgesperrt geworden. Gefunden wurde allerdings nichts – also beschloss der Einsatzleiter vor Ort mit einigen Kollegen in die dritte Etage vorzudringen.

„Warten Sie noch ein bissche, Herr Kollege, bis ich vor Ort bin!“, befahl Inspektor Platzer, der nicht wollte, dass die Beamten vielleicht übereilt reagieren könnten. Außerdem war es ja immer noch sein Fall!

Stubner, der leitende Beamte des Einsatzkommandos wartete brav ab, stürmte aber sofort das Parkhaus, nachdem Platzer sein O.K. dazu gab.

Leise pirschten sich er und drei Kollegen Etage um Etage nach oben – als sie schließlich in der dritten ankamen, wo sie zunächst Schutz hinter einem Pfeiler suchten.

„Ist da jemand?“, rief er laut und deutet mit erhobener Waffe seinen Kollegen, sie mögen in Deckung gehen.

Ein leises Wimmern war zu vernehmen.

Langsam blickte Stubner ums Eck – ganz hinten stand ein schwarzer Mercedes, vor dem zusammengekauert ein Mann saß. Er schien Schmerzen zu haben und gab jammernde Laute von sich.

„Wer sind Sie? Sind Sie alleine?“, schrie Stubner, der noch immer schutzsuchend hinter dem Betonpfeiler stand.

„Spindler, Franz Spindler!“, keuchte der Verletzte. „Ich sollte das Lösegeld übergeben und ja, ich bin alleine. Der Täter …. Er ist weg!“

Nach kurzer Rücksprache mit Platzer näherten sich die vier dem Verletzten – er hatte eine klaffende Wunde am Schädel und außer ihm befand sich tatsächlich niemand sonst in der Etage.

„Inspektor? Bitte kommen Sie rauf – Etage gesichert!“, brummte Stubner ins Funkgerät, um gleich im Anschluss einen Rettungswagen für Spindler zu rufen.

Auf dem kurzen Weg hinauf schossen Platzer hunderte Gedanken durch den Kopf: Hatte er etwa Recht und Steins Chauffeur hatte etwas mit dem Fall zu tun? Seine Kollegen hatten schließlich alles abgesichert – wie also hätten der oder die Täter entkommen sollen? Und wo war Julian? Was sollte er seinem Vater sagen, der nur mit Mühe davon abgehalten werden konnte, nicht ebenfalls das Parkhaus zu stürmen? Denn gemeldet hatten sich die Verbrecher nicht mehr, nachdem die scheinbare Übergabe über die Bühne gebracht worden war.

„Er hat eine blutende Wunde an der Stirn und scheinbar eine leichte Gehirnerschütterung. Er kann sich zumindest nicht mehr an alles erinnern!“, kommentierte Stubner die Sachlage, als Platzer schnaufend eintraf.

„Herr Spindler? Ich bin’s, Inspektor Platzer. Hören Sie, es ist sehr wichtig für uns, was hier passiert ist. Wichtig für uns und für Julian.“

„Ich …ich..weiß nicht“, stammelte Spinndler, „der Mann, es war nur einer, deutete mir, ich solle aus dem Auto steigen. Er entriss mit die Tasche, bevor ich noch etwas sagen konnte, packte mich am Genick und schleuderte mich gegen den Pfeiler da drüben!“

„Haben Sie gesehen, wie er aussieht? Irgendein Merkmal? War er groß, dick, klein?“

„Er war mit einer schwarzen Strumpfmaske maskiert – er hat weder gesprochen, noch hab ich ein auffälliges Merkmal an ihm entdecken können.“

„Nun – wir bringen Sie erstmals ins Krankenhaus“, meinte Platzer, der ihm kein Wort glaubte. Der Krankenwagen kam und er forderte zwei Beamte auf, doch mit dem Verletzten mitzufahren.

In der Zwischenzeit klingelte dann doch Steins Telefon. Es war Lu.

„Na wunderbar Herr Stein“, meldete er sich auf die übliche, arrogante Tour. „Ich bedanke mich für Ihre Kooperation und für das Geld – ich habe es noch nicht nachgezählt, aber ich denke es wird schon alles da sein! Hören Sie – Sie haben Ihren Teil der Abmachung eingehalten, ich werde dasselbe tun. Nur: Ich brauche zwei Stunden, um aus der Stadt rauszukommen. Nach diesen zwei Stunden verrate ich Ihnen, wo Sie Ihren Sohn finden können. Keine Sorge – es geht Ihm gut!“

Noch ehe Herr Stein antworten konnte, hatte Lu auch schon aufgelegt. Er hatte es tatsächlich aus dem Supermarkt rausgeschafft, hatte er doch zuvor das Geld noch in seine eigene, mitgebrachte Sporttasche gepackt. Und sich an Kontrollen vorbei zu mogeln – das konnte er. Zufrieden warf er sein Handy in den Mülleimer und hüpfte in die U-Bahn: Er dachte nicht daran, das Geld mit irgendjemand zu teilen, ebenso wo Julian zu finden wäre. Sollten sie doch alle machen, was sie wollen – er würde längst über alle Berge sein, bevor einer seiner Komplizen zu singen beginnen würde.


„Wie spät ist es?“, wollte Julian wissen, der sich mittlerweile wieder beruhigt hatte. „Tut mir Leid wegen vorhin, ich wollte bestimmt nicht abhauen – ich wollte, ach, keine Ahnung was ich eigentlich wollte …!“

„Es ist kurz vor fünf“, meinte Chris knapp, der wohl mittlerweile ahnte, dass ihn sein Bruder übers Ohr gehauen zu haben schien. Radio oder Fernseher gab es im Haus nicht, bestimmt war schon irgendwas über die Entführung gesagt worden – seinen Bruder erreichte er am Handy ebenfalls nicht. Er hatte also keine Ahnung, wie die Sache gerade stand - und jetzt fing auch Julian noch an, Fragen zu stellen.

„Er hat’s getan, stimmt’s? So wie ich gesagt habe, er hat dich beschissen!“, meinte Julian, nicht ohne einen Ausdruck des Triumphs in seiner Stimme.

„Und das freut dich wohl?“, meinte Chris mit brüchiger Stimme.

„So eine verdammte Scheiße!“, brüllte er und stürzte auf Julian zu, der instinktiv seinen Kopf zur Seite drehte, so als wüsste er, dass Chris ihn gleich schlagen würde.

Chris stürmte also auf Julian zu, doch als er ihn gefesselt vor ihm sitzen sah, hielt er ein – er konnte ihm einfach nicht wehtun. Er sackte vor ihm auf den Boden und begann zu heulen.

„So ein Arschloch, so ein verdammtes Arschloch“, stammelte er immer wieder und trommelte dabei mit seinen Fäusten auf den Boden.

Julian saß da und schwieg – er wusste nicht, was er in diesem Moment auch hätte sagen können, nur eines war ihm klar: Lu dürfte wirklich abgehauen sein, was bedeuten würde, dass er lebend aus dieser Sache rauskam. Denn Chris würde ihm bestimmt kein Haar krümmen!

Chris hatte sich mittlerweile wieder halbwegs beruhigt und stand nun wieder am Fenster, von wo aus er auf die Straße starrte und scheinbar immer noch darauf wartete, dass sein Bruder jeden Moment kommen könnte.

Es verging eine weitere Stunde, ohne dass etwas passierte – beide schwiegen vor sich hin, um den anderen ja nicht zu verunsichern.

Schließlich durchbrach Julian das Schweigen.

„Wie geht’s jetzt weiter?“, meinte er und versuchte dabei so ruhig wie möglich zu klingen.

„Es ist jetzt kurz vor sechs“, meinte Chris. „Ich werde noch zwei Stunden warten, ob Lu zurückkommt …“

„Und wenn nicht?“, wollte Julian wissen.

„Wenn nicht …also wenn nicht …“

„Ja?“, fragte Julian nochmals, dem ein ungutes Gefühl beschlich.

„Wenn nicht, dann bringe ich zuerst dich um – und dann mich“, antwortete Chris – und dem Klang seiner Stimme nach schien er das auch durchaus ernst zu meinen.

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