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Herbst in Berlin

Teil 3 - Ein Gedicht zum Abschied

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Beide waren wie vom Schlag getroffen und richteten sich sofort auf, schnell wie die Klinge eines Klappmessers. Was würde nun passieren? Der Stimme nach durfte es sich zwar um keinen der Aufseher handeln – und Gottlob schon gar nicht um Lutz – aber wer war zu dieser Zeit schon wirklich jemand, dem man vertrauen konnte? Sie hatten sich so sicher und vor allem so allein gefühlt – und nun konnte alles vorbei sein.

Das Licht der Taschenlampe erlosch und die Stimme sagte erneut: „Kommt mit, wir suchen euch schon seit einer Ewigkeit!“

„Lars?“, fragte Peter in die Dunkelheit hinein.

„Ja, kommt mit“, antwortete er knapp. Scheinbar schien er ebenso verwirrt zu sein wie die beiden – er halt aus dem Grund, weil er nicht damit gerechnet hatte, sie auf diese Art zu finden, eng umschlungen auf dem Waldboden.

Fritz und Peter zitterten nach wie vor am ganzen Leibe, als sie bereits an Lars´ Seite standen und zum Gehen bereit waren. Schweigend stapfte das Trio zurück Richtung Lager und erst, als man die ersten Lichter eines Lagerfeuers erspähen konnte, durchbrach Fritz das eisige Schweigen.

„Hör mal Lars, wir zwei haben uns immer gut verstanden und ich bitte dich daher nur um eines: bitte, bitte sag nichts von dem, was du gerade gesehen hast…!“, flehte er ihn an.

Lars blieb, so wie die beiden anderen, stehen. „Habt ihr das aus Neugier gemacht, oder… liebt ihr euch etwa?“, wollte er wissen und man merkte, dass er die Frage wirklich aus Neugier stellte, und nicht etwa, weil es ihm vielleicht davor ekeln würde.

„Wonach hat´s denn ausgesehen? Ich denke du weißt, dass es nicht nur Neugier war!“, mischte sich Peter ein. „Du wirst es melden, stimmt´s? Weil du es tun musst, sonst wärst du doch kein guter Nazi, hab ich Recht?“

„Oh Gott, Peter!“, dachte sich Fritz. „Du wirst noch alles vermasseln.“

Lars blickte zu Boden und schüttelte stumm den Kopf – der psychologische Angriff Peters hatte tatsächlich Wirkung gezeigt.

„Ich habe das zwischen euch beiden schon länger geahnt. Als du damals zu spät zum Aufmarsch kamst“, wandte er sich Fritz zu, „da habe ich bemerkt, wie du Peter angesehen hast. Auf eine Art wie…“ Er hielt kurz inne. „Wie sich Verliebte eben ansehen! Verliebte Jungs. Und wisst ihr, woher ich das weiß?“, blickte er beide fragend, aber auch ängstlich an. „Weil ich selbst schon in einen Jungen verliebt war“, brachte er nur mühsam hervor, während er beschämt zu Boden blickte, fast so wie zuvor Fritz und Peter. „Ihr braucht also nichts zu befürchten, von mir erfährt keiner was!“, versprach er den beiden, ehe wieder Schweigen einsetzte und sie die letzten paar hundert Meter zum Lagerplatz zurückgingen.

„Ist doch klar, dass es wieder mal ihr beide seid, auf die man warten kann“, fuhr sie Lutz sofort an, nachdem sie vor ihm Aufstellung genommen hatten. „Unsere siamesischen Zwillinge, allein im Wald. Was soll ich davon nur halten?“, spazierte er vor ihnen herum und man konnte sehen, dass er dieses Machtspiel genoss.

Wieder wurde es beiden heiß und kalt zugleich – und keiner wagte den anderen, geschweige denn Lutz anzublicken. Endlich blieb Lutz stehen – er blickte sie mit finsterer Miene an, als er plötzlich wie ein Irrer zu lachen begann. „Ihr zwei seid doch die größten Idioten die wir hier mithaben. Der eine läuft in den Wald wie ein verschrecktes Kanickel – der andere kann sich nicht mal von einer einfachen Fessel befreien! Lars – welchen der beiden hast du denn zuerst gefunden? Das Kanickel im Loch, oder den Borkenkäfer in der Rinde?“

„Zuerst habe ich den Kameraden Peter befreit, wenig später hörte ich den Kameraden Fritz rufen“, log Lars.

„Aha“, meinte Lutz und Fritz wusste nicht, was er mit dieser kurzen Bemerkung anfangen sollte. Hatte es ihm Lutz abgekauft, oder vermutete er doch etwas anderes dahinter? Lutz war einfach schwer zu durchschauen und obwohl Lars sie deckte, konnte ihn auch dessen Lüge nicht beruhigen. Was ihn noch mehr verunsicherte war die Tatsache, dass er eben mit dieser Verunsicherung nur die Spekulationen der anderen schüren würde. Jeder könnte es wissen: Martin, der ihn in dem Moment nur blöde angrinste und der – wie sich später herausstellte – maßgeblich daran beteiligt war, Peter nicht vom Baum loszubinden, obwohl er in derselben Mannschaft wie er war. Fritz wollte in dem Moment am liebsten ganz weit weg sein. Egal ob Abessinien oder Connecticut. Nur weg.

„Nun“, hob Lutz wieder seine Stimme, „das Abendessen habt ihr leider versäumt, aber vielleicht habt ihr Glück und findet noch ein paar Reste auf den Tellern, die ihr jetzt abwaschen dürft – das gilt dann übrigens für den Rest der Woche. Und beim nächsten Mal kommt ihr nicht so glimpflich davon, verstanden? Abtreten!“

Während die anderen noch am Lagerfeuer Platz nahmen, mussten Fritz und Peter nach Erledigung des Abwasches in ihre Schlafsäcke. Schweigend lagen sie nebeneinander, wie am Abend zuvor. Sie waren sich so nah – und gleichzeitig doch so fern, nicht einmal zu sprechen wagten sie. Was, wenn dies eine Falle wäre, dachte sich Fritz. Lutz würde vor dem Zelt stehen und nur drauf warten, bis sie miteinander sprechen würden! Und dann käme alles raus! Oder hatten sie an diesem Abend wirklich nur Glück? Peter ging es ähnlich wie Fritz – er atmete schwer und heftig und kämpfte scheinbar wieder mal mit sich selbst, er, der sture Typ, der bislang alles in Frage gestellt hatte – er musste sich ein weiteres Mal dem Feind beugen und konnte nichts, aber auch gar nichts dagegen unternehmen.

„Das ist das, was sie wollen“, flüsterte Peter nach einer gefühlten Ewigkeit, „Aber sie werden es nicht schaffen. Sie werden uns nicht auseinander bekommen. Was ich im Wald zu dir gesagt habe, meine ich auch so: ich liebe dich und daran können die nichts ändern!“ Fritz schluckte tief: „Ich liebe dich auch!“ Noch nie hatte er diese Worte zu irgendjemandem gesagt – aber dennoch war er sich der Wahrheit hinter diesen Worten vollkommen bewusst. „Und ich verspreche dir, dass ich zu dir nach Amerika nachkommen werde!“ Beide hatten es nun doch zumindest etwas geschafft, sich an ihren eigenen Worten wieder halbwegs aufzubauen.

„Das ist lieb, aber versprich nichts, was du nicht halten kannst. Vergiss mich einfach nur nicht“, kämpfte Peter mit seinen Emotionen und hatte Fritz damit sofort angesteckt.

„Du tust so als ob du schon morgen gehen würdest“, plagte sich Fritz bei seinen Worten, musste aber sofort wieder den Mund halten, da in dem Moment die anderen Jungs ihre Schlafstätte heimsuchten. Und ehe in den anderen Schlafsäcken wieder die Taschenlampen angingen, waren beide auch schon eingeschlafen.

Während der restlichen gemeinsamen Zeit im Zeltlager, kam bei beiden nicht mehr wirklich gute Stimmung auf, man sehnte sich nach gegenseitiger Nähe, die allerdings nicht möglich war – fast war das Gegenteil der Fall: Peter und Fritz gingen sich fast aus dem Weg, nur um ja niemanden Nährboden für etwaige Spekulationen zu bieten. Es war furchtbar für beide und nur in wenigen Situationen – etwa bei diversen sportlichen Wettkämpfen – konnten beide ihre triste Lage für ein paar Momente vergessen. Es waren kurze Momente des Spaßes, doch ihr Lachen erstickte oft schon im Ansatz, als sie sich wieder ihrer hoffnungslosen Lage bewusst wurden.

„Hey, ihr beiden, seht mal kurz her“, hörten sie die Stimme Lars´ hinter sich, als sie sich am Sonntag wieder Richtung Bahnhof aufmachten, um die Heimreise anzutreten. „Das ist die Kamera meines Vaters, ihr könnt gerne einen Abzug haben wenn ihr wollt. Los, legt den Arm umeinander“, forderte er sie auf, während er seine Kamera einstellte und auf sein Ziel ausrichtete.

Die beiden taten wie befohlen – kurz durchzuckte es beide, doch just in dem Moment spürten beide wieder jenes Band, das sie verknüpfte. Sie lächelten – und schon hatte Lars abgedrückt. „Danke euch“, sagte Lars.

„Nein, wir haben dir zu danken“, antwortete Peter ernst und hielt Lars die Hand hin. Lars war ein Freund – und in jenen Tagen war dies das Wertvollste, was man besitzen konnte. Schüchtern ergriff Lars Peters Hand mit den Worten: „Man kann doch nicht immer wegsehen – schon gar nicht bei Freunden!“

Als Fritz zehn Stunden später in Berlin wieder aus dem Zug kroch, fühlte er sich wie gerädert. Ihm war heiß und kalt zugleich, als er von seinem Vater abgeholt wurde, und sobald er im Auto saß – dass sich Herr Lenke wieder von Ulf ausgeborgt hatte – schlief er auch schon ein. Zu Hause angekommen löcherten ihn alle mit Fragen über das Zeltlager, ehe Frau Lenke merkte, dass etwas mit ihrem Sohn nicht stimmte.

„Du hast ja Fieber“, sagte sie mit mitleidigem Ton, als sie seine Stirn fühlte. „Du nimmst erst mal ein heißes Bad – und dann ab ins Bett mit dir!“

Nur widerwillig stieg Fritz ins Bad, denn selbst dazu war er zu müde. Alles wonach er sich  sehnte war Schlaf, viel Schlaf. Ein wenig später kam ihm wiederrum Max – so wie einige Wochen zuvor – ins Bad nachgefolgt, allerdings nicht, um sich wieder zu ihm in die Wanne zu setzten.

„Ich pass bloß auf, damit du nicht einschläfst und ertrinkst“, war er besorgt, nicht zu laut zu sein. „Der Kleine ist in den letzten Tagen tatsächlich erwachsen geworden“, dachte sich Fritz stolz, schloss die Augen und genoss das Wasser, solange es heiß war.

Fritz hatte sich tatsächlich eine Sommergrippe eingefangen und musste die nächsten Tage über das Bett hüten. Er bekam fiebersenkende Tropfen verschrieben und schlief die meiste Zeit über – ständig war sein Bruder um ihn, der ihn mit kühlenden Lappen versorgte, in der Hoffnung sie mögen das Fieber senken. Fritz hatte auch allerhand anderen Besuch zu verzeichnen: einmal standen Hitler und Stalin gemeinsam an seinem Bett. Sie blickten ihn allerdings nicht an, sondern in eine Ecke. In dieser stand Lars, der ein Foto von beiden schießen musste.

„Das schicken wir unserem Freund Mussolini“, meinte der Führer zu Stalin, der seinen Arm um ihn gelegt hatte. Im Vorbeigehen nickten sie Fritz kurz zu, ehe sie verschwunden waren. Dann stand plötzlich eine Wildsau neben seinem Bett, die Fritz höflich mit einem `Heil, mein Führer!´ begrüßte, was dem Schuster Böhmer ein `Pst!´ entlockte, der plötzlich im Zimmer aufgetaucht war, und der Fritz seinen Zeigefinger auf die Lippen legte. Dabei streifte ihn der weiß-blaue Ärmel seines Hemdes, aus dem zu Fritz´ Erstaunen plötzlich heiße Suppe floss die seinen ganzen Körper bedeckte, so sehr, dass er plötzlich darin schwimmen konnte. Er tauchte vorbei an dicken Fleisch- und Gemüsebrocken, und als er auftauchte saß er in der Badewanne seines Elternhauses. Neben ihm saß Peter, in einer ebensolchen Kleidung, wie sie zuvor Böhmer anhatte. Ein blau-weißes Hemd und eine dazugehörige Hose in denselben Farben.

„Sind wir in Connecticut?“, wollte Fritz wissen.

Peter schüttelte nur den Kopf und Fritz konnte erkennen, dass Blut aus seinen Mundwinkeln floss. Fritz schrie wie am Spieß, als Peter plötzlich nach hinten wegkippte und regungslos liegen blieb.

Endlich wachte er auf – schweißgebadet vom Fieber und der Angst, die dieser seltsame Fiebertraum verursacht hatte. Er hatte fast zwei Tage am Stück durchgeschlafen, aber wenigstens war das Fieber stark zurückgegangen.

„Schön, dass ich im Traum bei dir sein darf“, meinte Peter, der auf einem Stuhl neben seinem Bett Platz genommen hatte. Fritz hatte wohl wieder seinen Namen im Schlaf geschrien.

„Bist du es wirklich?“, rieb sich Fritz den letzten Fetzen Schlaf aus seinen Augen. „Ich dachte du wärst im K…“

„Ja? In Connecticut? Nein, ich bin´s wirklich – du scheinst es überstanden zu haben“, küsste Peter die nicht mehr ganz so heiße Stirn seines Freundes, während er unter der Decke seine Hand hielt.

Danach sahen sich  beide schweigend an. Fritz beschloss, Peter nichts von diesem furchtbaren Traum zu erzählen während auch Peter Fritz verschwieg, was er zu diesem Zeitpunkt bereits wusste: der Termin für die Überfahrt von Southampton nach Boston stand bereits fest – am 2.September sollte es soweit sein, dann würde er Deutschland und somit auch Fritz wahrscheinlich für immer den Rücken kehren. Er beschloss, ihm erst dann davon zu berichten, wenn dieser wieder vollständig gesund sein würde.

Da sonst niemand im Raum war, küsste er Fritz nochmals, dieses Mal auf den Mund und als er merkte wie trocken seine Lippen waren, flößte er ihm liebevoll etwas Tee ein, der auf einem kleinen Tischchen neben dem Bett stand.

„Fast könnte man meinen, ihr seid verheiratet“, sagte in dem Moment Fritz´ Mutter, die mit einer Schüssel Gemüsesuppe hereinkam. Prompt verschluckte sich Fritz am Tee und begann zu husten – Peter schreckte hoch, doch nichts änderte sich am lächelnden Gesicht von Fritz´ Mutter, die Peter die Schüssel in die Hand drückte. „Hier, dann kannst ja du gleich übernehmen“, meinte sie freundlich und verließ leise Fritz´ Kammer. „Verdammt“, dachte sich Peter, der sich nicht sicher war, wie lange Frau Lenke bereits im Raum gestanden war. „Ob sie gesehen hat, wie ich dich geküsst habe?“, wandte er sich Fritz zu, der nur mit den Schultern zuckte und gierig nach der Suppe verlangte, die ihm Peter schließlich schweigend Löffel für Löffel verabreichte.

Ehe er ging, lud er ihn noch für kommenden Sonntag zum Kaffee zu sich nach Hause ein, natürlich nur dann, wenn er wieder vollständig genesen sei. Dann würde er ihm wohl oder übel mitteilen müssen, dass der Abschied voneinander praktisch schon ins Haus stand. Traurig blickte er nochmals zu Fritz hinüber, ehe er ging und Fritz wieder einschlief. Der Führer schaute an diesem Tag nicht mehr vorbei.

Mit etwas wackeligen Beinen streifte sich Fritz am Samstag wieder die Schürze im Geschäft seines Vaters über um zumindest bis Mittag wieder in den Arbeitsrhythmus zu finden. Zu seiner Überraschung kamen sogar Lutz und Lena vorbei, um sich nach seinem Gesundheitszustand zu erkundigen. Auf diesen Besuch hätte er allerdings dennoch gerne verzichtet, vor allem dann, als er erfuhr dass zwischen Lena und Martin bereits wieder alles vorbei war – und sie ihm schon wieder schöne Augen machte. Gott sei Dank blieben die beiden nicht lange, was Fritz seiner Schwester Anna zu verdanken hatte, die gemeinsam mit Lutz und Lena den Laden verließ.

Wiederum ein wenig später überraschte ihn dann der Besuch Peters, der sich nicht nur nach ihm erkundigen wollte, sondern auch für zu Hause einkaufen musste.

„Macht 3 Reichsmark“, sagte Fritz gespielt geschäftstüchtig, doch als Peter in seinen Taschen zu kramen begann, um die eingekauften Gurken zu bezahlen, unterbrach ihn Herr Lenke. „Die gehen aufs Haus“, meinte er freundlich, „und danke, dass Sie sich so um Fritz gekümmert haben, als er krank war. Ich weiß das zu schätzen, wenn mein Sohn auf seine Freunde zählen kann!“

Wäre die Lage nicht weiterhin so angespannt gewesen, hätte Fritz fast lachen müssen. „Wenn du wüsstest!“, dachte er sich, und blickte seinen Vater dennoch mit gewisser Dankbarkeit an.

„Nicht vergessen:  morgen um 3 bei mir, abgemacht?“, vergewisserte sich Peter nochmals, ob Fritz den Termin noch wusste. In seiner Stimme schwang Ernsthaftigkeit mit und da der August bereits dem Ende entgegenkroch, konnte sich Fritz leicht ausmalen, warum das so war. Ihm war daher ganz recht, dass Samstag war und sein Vater Punkt 12 Uhr die Pforten seines Geschäfts dicht-  und somit Wochenende machte.

Da er sich doch noch nicht ganz so gesund fühlte, legte er sich wieder ins Bett auch wenn ihn seine Gedanken zu keiner Ruhe kommen ließen.

Am späten Nachmittag kam schließlich Max zur Tür herein, der sich neben Fritz ans Bett setzte und ihn schweigend anblickte.

„Wie läuft´s mit Lotte?“, wollte Fritz wissen.

„Ganz gut!“, antwortete Max, zuckte allerdings mit den Achseln, weil er wusste, dass es hier nicht um ihn ging, sondern um Fritz, dessen traurigen Augen abwechselnd an die Decke und in Richtung Max wanderten.

„Und bei dir…und Peter? Alles in Ordnung?“

Fritz schüttelte den Kopf und schloss die Augen, konnte aber trotzdem nicht verhindern, dass ein paar Tränen hervorquollen. So sehr hatte er sich vorgenommen, nicht vor seinem Bruder zu weinen, aber zulange hatte er seine Gefühle bereits unterdrückt, als das er sie noch länger hätte zurückhalten können.

Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, klärte er Max über die Lage der Dinge auf: „Peter geht höchstwahrscheinlich weg, und so traurig das auch ist: vielleicht ist es ganz gut so. Hier hätten wir beide sowieso keine Zukunft – was wäre denn das für ein Leben, bei dem man immer befürchten muss, dass sie einen verhaften?  Wenn man sich ständig umblicken muss aus Furcht, dass selbst ein Blick einen verraten könnte. Wenn man nicht weiß, wer zu einem hält – und wer nicht. Und trotzdem: was würde ich dafür geben, könnte ich mit ihm mitgehen, aber das geht wohl nicht. Und das zerreißt mich innerlich, verstehst du? Ich werde ihn so furchtbar vermissen!“ Er drückte seinen Kopf fest in das Kissen, während er mit den Händen fest das Leintuch umklammerte – um nicht zu zeigen, dass er wieder weinte.

Max schwieg und legte nur seinen Arm auf seine Schulter. Er war verzweifelt, weil er nicht wusste, wie er seinem Bruder helfen hätte können.

Tags darauf fühlte sich Fritz gesundheitlich blendend, innerlich litt er allerdings  Höllenquallen. Er hatte keine Ahnung wie der den Nachmittag überstehen sollte, falls ihm Peter wirklich das berichten sollte, was er vermutete. Doch davon ging er aus, als er kurz vor drei Uhr vor der Tür der Kakoschkes stand.

„Guten Tag, Fritz. Nur herein in die gute Stube“, begrüßte ihn Peters Vater freundlich wie immer. „Das ist wirklich eine gute Stube“, dachte sich Fritz und musste kurz wegschauen, damit niemand sah, wie ihm sofort das Wasser in die Augen schoss. Alles roch förmlich nach Abschied.

„Heiratest du mich heute?“, kam ihm Siegrid freudestrahlend entgegen und wollte von ihm hoch genommen werden, was Fritz auch tat. „Nee, ich denke du musst dich noch etwas gedulden“, meinte er liebevoll und blickte ihr in ihre braunen Kinderaugen.

„Du weinst ja“, sagte sie auf einmal und patschte mit ihrer kleinen Hand gegen seine Wangen.

„Gar nicht wahr“, meinte Fritz und setzte sie schnell wieder ab.

Wie zuletzt hatte sich wieder die gesamte Familie am Küchentisch versammelt – Herr Kakoschke lächelte nach wie vor milde, so wie die anderen, nur dass er seinen Schmerz dahinter verbergen konnte, was den anderen nicht gelang – allen voran Peter, dessen Lächeln so gequält war, dass es Fritz die Kehle zuschnürte. Selbst als vor einigen Jahren seine Großmutter gestorben war, hatte er nicht annähernd solchen Schmerz empfunden wie in dieser Sekunde.

Er setzte sich neben Peter und es gab eine kleine Nachmittagsjause: Wurst, Käse und Brot. Peters Vater bemühte sich um etwas Auflockerung, indem er Geschichten aus seiner ehemaligen Schule berichtete, doch bald schon hielt es Fritz nicht mehr aus.

„Also, wann geht’s denn dann los für euch?“, wollte er wissen und seiner Frage folgten ein paar Momente der Stille.

„Am 2.September, also in zwei Wochen“, antwortete Peter leise, der bis dahin noch nicht viel gesprochen hatte. „Wir fahren mit dem Zug nach Calais, von dort geht’s mit der Fähre nach Southampton und von dort heißt es dann: Lebwohl, geliebte Heimat!“, setzte sein Vater fort und schenkte Fritz und Peter etwas Wein ein.

„Wir werden fast zwei Wochen unterwegs sein, ehe wir in Boston ankommen. Dort wird uns ein ehemaliger Studienkollege abholen, der uns nach Hartford bringen wird – das ist übrigens die Hauptstadt von Connecticut“, fügte er hinzu.

„Also“, meinte er, stand auf und erhob sein Glas, „Lasst uns auf uns, die wir hier zusammen sitzen, trinken. Auf das Gott unserer Familie Glück und Gesundheit schenken möge!“ Alle waren aufgestanden und erhoben die Gläser und Fritz war derjenige, mit dem Herr Kakoschke zuerst anstieß. „Unsere Familie“, beteuerte er und blickte Fritz an, als ob er sein eigener Sohn wäre.

Sie tranken ihre Gläser aus und setzten sich wieder.

„Wir haben ja noch zwei Wochen – ich fahre ja noch nicht morgen“, versuchte Peter sich selbst und Fritz zu trösten. „Und ich bin felsenfest davon überzeugt, dass es kein Abschied für immer sein wird. Ich verspreche dir, dass ich dir jede Woche einen Brief schicke – und irgendwann sehen wir uns wieder, in Amerika, oder hier in Deutschland!“

Und dann tat er etwas, wonach ihm in diesem Moment einfach war: er küsste Fritz, und niemandem störte es. Seine Familie tat so, als wäre nichts geschehen bis auf Siegrid, die ihren großen Bruder finster anblickte, schließlich war Fritz ja ihr Freund.

„So, jetzt aber raus mit euch. Ihr solltet jede Minute die ihr habt auskosten und miteinander verbringen. Wir sind hier nur im Weg!“, meinte Peters Mutter und wenige Minuten später saßen die beiden auf ihren Fahrrädern um etwas in der Gegend herumzufahren.

Nachdem man ihm endlich von der Sache unterrichtet hatte war Fritz zwar immer noch traurig, aber zumindest hatte er den dicken Kloß im Hals – zumindest vorrübergehend – hinuntergeschluckt. Etwas Zuversicht war in ihm aufgekommen, vor allem deswegen weil er den Worten Peters mit absoluter Sicherheit vertraute und wohl auch deswegen, weil Peters Familie so absolut hinter ihnen stand.

„Meine Mutter hat Recht!“, meinte Peter. „Noch sind wir zusammen – lass uns die nächsten beiden Wochen so genießen, als ob es keinen Abschied gebe!“ Da es noch nicht so spät war beschlossen sie, bis zum Volkspark Rehberge in Berlin – Mitte zu fahren. Dort angekommen schlenderten sie mehr oder weniger ziellos durch die Gegend, ehe sie sich in eine Wiese fallen ließen – da Fritz doch noch etwas erschöpft von seiner gerade erst überstandenen Grippe war. Die beiden lagen am Rücken und blickten in den Himmel – genauso wie sie es noch gar nicht so lange zuvor am Wannsee getan hatten. Über ihnen zog eine Amsel einsam ihre Runden.

„Fliegen müsste man können!“, meinte Fritz, als er in die Sonne blinzelte und versuchte die Amsel in seinem Blickfeld zu behalten. „Ich würde mich erheben und euch nach Amerika nachfliegen!“

„Ich bezweifle, ob du es über den ganzen Atlantik schaffst“, musste Peter lachen – und kassierte dafür einen Knuffer von Fritz.

„Bis Southampton schaffe ich es – und dann fliege ich einfach auf euer Boot. Wenn man als blinder Passagier auch noch fliegen kann, dann ist das äußerst hilfreich! Sie würden mich nie erwischen…“

„Ja, da hast du Recht. Und ich würde dich heimlich mit Brotresten durchfüttern!“

Wieder schwiegen beide – immer wieder kamen sie auf dieses Thema zu sprechen, ob sie nun wollten oder nicht.

„Peter?“, fragte Fritz nach einer Weile.

„Ja?“

„Träumst du öfters von mir?“

„Natürlich!“, lachte Peter, „Bei Tag und besonders in der Nacht!“

„Sind es gute Träume oder manchmal auch Alpträume?“

„Es sind sogar sehr gute, wenn du weißt was ich meine“, schenkte er Fritz ein Augenzwinkern, „In meinen Träumen sind wir frei: wir gehen spazieren, küssen uns ungeniert – und manchmal landen wir auch im Bett zusammen! Und dann wache ich auf – und meine Pyjamahose ist feucht“, kicherte Peter und wurde rot dabei wie ein Grundschüler, der sich für seinen ersten feuchten Traum schämte.

„Ja, davon träume ich auch öfters“, gab Fritz schüchtern zur Antwort. „Ich hab aber auch andere Träume: Träume, in denen mich Soldaten mit ihren Hunden verfolgen, in denen ich verhaftet werde oder in ein Lager komme. Und was mich immer erschaudern lässt: überall wo ich hinkomme, bist du bereits…. Dann wache ich auf und zittere am ganzen Leib, einmal war es so übel, dass ich mich vollgepisst habe, kannst du dir das vorstellen?“

„So Träume hat jeder, auch ich. Man träumt immer davon, wovor man sich tagsüber fürchtet. Als Kind waren es Hexen oder Gespenster – jetzt sind es Gespenster mit Namen und Gesichtern. Aber Träume sind Träume – nicht alle müssen real werden…“

„Können sie aber“, widersprach Fritz mit zittriger Stimme, setzte sich auf und blickte Peter an, der noch eine Weile liegenblieb.

„Lass mich für immer dein guter Traum sein…“, flüsterte er kaum hörbar und legte seine Hand auf die Brust seines Freundes.

Peter ergriff sie, setzte sich ebenfalls auf, blickte Fritz tief in die Augen und sagte: „Wenn ich die Augen schließe, sehe ich dich. Wenn ich träume, sehe ich dich. Und wenn ich irgendwann mal diese Welt verlasse und mein Auge bricht, dann nehme ich dich mit in meinem Herzen!“ Er küsste Fritz´ Faust und drückte diese gegen seine Brust, so dass Fritz seinen ruhigen Herzschlag spüren konnte.

„Ich schwöre, dass ich dich für immer lieben werde – egal wie viel Wasser auch zwischen dir und mir sein mag. Weine nicht wenn ich fort bin – denn egal wo ich bin, bin ich doch immer bei dir“, sprach Peter und nahm wenig später Fritz in seine Arme, dem diese Worte doch sehr nahegingen.

„Ich…ich…“, stammelte er, während er seinen Kopf in den festen Schultern Peters vergrub.

„Ich weiß“, antwortete Peter, löste sich langsam aus der Umarmung, nahm Fritz´ Kinn mit Daumen und Zeigefinger und küsste ihn auf den Mund.

„Ich weiß“, wiederholte er, ehe beide aufstanden und noch etwas die Helligkeit dieses Tages ausnutzten, denn bald schon sollte die Dunkelheit einsetzen.

Die nächste Woche stürzte sich Fritz so gut es ging in die Arbeit, um etwas Ablenkung vom bevorstehenden Abschied zu finden. Doch am Ende eines jeden Arbeitstages führte sein erster Weg sofort zu Peter, mit dem er sich meistens irgendwelche Orte als Treffpunkt ausmachte. Manchmal traf man sich auch in Peters Kammer – wo sie dann endlich allein und unbeobachtet waren und ihre Träume wahr werden ließen.

Dennoch schritt die Zeit voran – und die letzte gemeinsame Woche brach an. Während sich in den Zeitungen Gerüchte verdichteten, dass es zwischen Polen und Deutschland wohl bald Krieg geben würde, bat Fritz seinen Vater, er möge ihm doch die Woche freigeben. Als dieser einen Grund dafür wissen wollte, beschloss Fritz ihm die Wahrheit zu sagen.

„Dieser Peter – er ist dir wirklich ein guter Freund geworden“, antwortete sein Vater. „Natürlich kannst du dir freinehmen, wenn dir das so viel bedeutet.“

„Danke“, meinte Fritz traurig.

„Weißt du: es ist in Ordnung, um einen guten Freund zu weinen, aber das Leben geht weiter“, versuchte er ihn zu trösten.

In diesem Moment hätte er seinem Vater am liebsten gestanden, dass Peter mehr als nur ein Freund war – aber das unterließ er dann doch, schon allein deswegen, weil er seinen Vater nie so über Gefühlszustände reden hörte. „Es ist in Ordnung zu weinen“, hatte er gesagt. „Deutsche Jungen weinen nicht“, war das, was er bislang doch von ihm mitbekam.

„Hör mal, ich hab da eine Idee“, sagte kurz darauf Peter, nachdem sie sich in ihrem Lieblingscafé getroffen hatte. „Ich möchte mit dir – und nur mit dir allein – meinen Abschied feiern. Und ich möchte mit dir wo hingehen, wo wir uns nicht vor jedem Kuss umdrehen müssen, ob uns jemand deswegen ansieht.“

„Was meinst du?“, fragte Fritz, obwohl er wusste, worauf Peter hinauswollte.

„Ich hab da von einigen Lokalen gehört“, flüsterte er erregt, „in denen nur Leute wie wir es sind verkehren. Sie sind eigentlich verboten – aber es gibt sie immer noch.“

„Ich weiß nicht recht… Ist das nicht gefährlich?“

„Glaub nicht. Die Lokale sind versteckt, das heißt von außen sehen sie aus wie normale Häuser. Aber innen gibt’s Musik, Drinks und andere Leute, die so fühlen wie wir!“

„Dürfen wir da überhaupt rein und wo hast du diese Adresse her?“, war Fritz immer noch beunruhigt.

„Ich habe meine Informanten“, gab Peter geheimnisvoll zur Auskunft, „Ach komm, es würde mir sehr viel bedeuten – einmal noch auf den Putz hauen, ehe der Vorhang fällt“, nahm er Fritz´ Hand und blickte ihm treuherzig wie ein Dackel in die Augen.

„Wann?“, sagte Fritz schließlich.

„Am Donnerstagabend. Am Freitag kann ich dann noch ausschlafen, ehe es am Samstag…“, er schluckte, „ehe es am Samstag auf die Reise geht.“

„Ist gut. Holst du mich ab?“, versuchte Fritz ruhig zu wirken, obwohl ihm immer noch nicht recht wohl bei der Sache war.

„Ja um acht Uhr. Einverstanden?“, meinte Peter, erhob sich und ging.

Die beiden hatten so leise wie möglich gesprochen und nachdem auch Peter gegangen war, erhob sich ein paar Tische hinter ihnen Lena. Sie hatte alles mitangehört….

Der Donnerstag kam mit Riesenschritten und bereits den ganzen Nachmittag hatte sich Nervosität an Fritz´ Schultern geheftet. Immer noch war ihm äußerst unwohl dabei, mit Peter dieses Lokal – das sich in Schöneberg befand – zu besuchen. Es war nicht nur die Angst vorm Erwischtwerden, sondern auch vor den Leuten, die dort anzutreffen wären. Die sie vielleicht auslachen würden, wenn sie die Jüngsten unter den Gästen wären.

Aber er wollte Peter diese Freude machen – und zog sich gegen sieben seinen Sonntagsanzug an, ehe er in der Küche auf Peter wartete.

„Na, man könnte glauben du hast ein Rendezvous!“, meinte seine Schwester Hertha, als sie ihn fingernagelkauend dasitzen saß.

„Nee, ich geh nur mit Peter aus. Es ist sein Abschied“, meinte Fritz und versuchte dabei nicht angespannt zu klingen.

„Soso, nur mit Peter“, sagte Hertha mehr oder weniger zu sich selbst und ging.

Fritz wurde es heißer und heißer – er hatte sich sein weißes Hemd bis oben zugeknöpft und seine Krawatte schnürte ihm fast die Luft ab. Unter seinem blonden Scheitel, der seine Stirn bedeckte hatten sich Sturzbäche an Schweiß angesammelt, ehe es endlich an der Tür klopfte: Peter war gekommen.

„Alle Achtung“, meinte dieser mit offenem Mund, als er Fritz vor sich stehen sah. „Aber, lass mich da noch etwas korrigieren“, meinte er und zog keck Fritz´ Hemd aus dessen Hose, löste seine Krawatte – die er auf den Tisch warf – und knöpfte die oberen zwei Knöpfe seines Hemdes auf.

„Besser!“, meinte er schließlich und wuschelte Fritz noch durch sein Haar. Er begutachtete ihn nochmals und meinte abermals: „Besser!“

Auch Peter hatte sich in Schale geworfen und seine beste Sonntagskleidung angezogen. Wenig später befanden sie sich auch schon auf dem Weg nach Schöneberg – in der Straßenbahn herrschte hektisches Treiben, einige Leute lasen Zeitungen, die allesamt vom Konflikt mit Polen berichteten.

Als man bei der richtigen Station ankam und schließlich in die Straße einbog, die man als Ziel hatte, wurde auch Peter sichtlich nervös. Herzklopfend standen die beiden vor einer schwarzen Tür, durch die nichts nach außen drang. Auch die vier Fenster des Erdgeschoßes ließen nichts Verdächtiges ahnen, außer dass sie alle mit dicken, schwarzen Vorhängen zugehängt waren.

„Jetzt sind wir schon einmal hier, also lass es uns durchziehen“, meinte Peter schließlich und klopfte an die Tür.

Ein älterer Mann mit Glatze und einem Zwicker auf der Nase öffnete ihnen und blickte sie fragend an. Doch als er sah, wie nervös beide Jungs waren, wusste er sofort Bescheid, blickte kurz an beiden vorbei hinaus auf die Straße und ließ sie schließlich ins Innere.

Die beiden mussten noch durch eine weitere Tür, ehe sie links ins Lokal einbogen. So finster das Ganze von außen aussah, so hell und freundlich wirkte es von innen – das Lokal war mit roten Teppichen ausgelegt, die Stühle mit ebenso rotem Samt überzogen. Von den Decken hingen einige einfache Leuchten, die aber trotzdem zum übrigen Inventar passten. Der Mann mit der Glatze durfte der Barmann sein, denn er fragte die beiden sofort, was sie denn zu trinken wünschten.

Da es erst kurz vor acht Uhr abends war, befanden sich noch nicht allzu viele Gäste im Lokal – und die, die da waren schenkten den beiden anfangs wenig Beachtung. Überraschend fand Fritz, dass nicht nur Männer da waren, sondern auch Frauen und dass von den Männern – entgegen seinen Befürchtungen – keine Bedrohung ausging. Sie waren zwar wirklich alle etwas älter als er, wirkten aber freundlich und schienen nur das zu suchen, was Fritz und Peter auch wollten: etwas Ablenkung von der irren Welt, die draußen herrschte – und gemeinsam ein paar schöne Stunden zu verbringen.

„Na, siehst du? Alles halb so wild“, beruhigte Peter Fritz und griff nach seiner Hand. Fritz zuckte nur kurz zusammen, erkannte aber schnell, dass es niemanden hier störte. Seine Bedenken waren einem Wohlgefühl gewichen – er genoss die Nähe Peters, der dicht neben ihm saß: der aussah wie ein griechischer Gott, und roch wie eine Frühlingswiese. Er konnte nicht anders und drückte ihm einen Kuss auf den Mund, ehe die beiden ihre Weißweinschorle serviert bekamen.

„Dann wünsche ich euch einen schönen Abend, Jungs“, meinte der Barmann freundlich und stellte sich mit seinem Namen Otto vor.

Die beiden tranken ein paar Gläser und unterhielten sich unbeschwert über dieses und jenes – Fritz vor allem schien in dieser angenehmen Atmosphäre regelrecht aufzublühen, wie Peter zu bemerken glaubte. Den eigentlichen Grund – das Feiern von Peters Abschied – ließen beide ausgeklammert.

Man fühlte sich gut, man fühlte sich frei, so, als habe man durch diese Tür einen Geheimgang gefunden der aus dem Deutschen Reich hinaus führte, als säße man auf einer fernen Insel. Und dieses Glücksgefühl setzte Lebensfreude in beiden frei, wie sie sie zuletzt kaum verspürt hatten – ein Gefühl der Trunkenheit setzte ein, nicht nur wegen den Gläsern Weißweinschorle, an denen beide fortwährend nippten.

Nach und nach wurde das Lokal immer voller und gegen zehn Uhr abends waren beide froh, einen Sitzplatz für sich beanspruchen zu dürfen: es war rappelvoll. Fritz hatte diesen Massenauflauf in Lokalen nie besonders geschätzt, aber hier empfand er es als eine ihn alles umgebende Sicherheit – alle wirkten so freundlich und schienen genauso befreit zu sein, wie er und Peter es waren.

Man kam mit einigen Leuten ins Gespräch, weil es tatsächlich so war, dass die beiden die jüngsten Anwesenden waren und dass erfreute und  interessierte die älteren Gäste.

Peter, der genau wie Fritz schon die Wirkung des Alkohols verspürte, packte plötzlich Fritz am Arm und befahl ihm aufzustehen. Er schob ihn vor sich hin, bis die beiden auf einer winzig kleinen Tanzfläche zu stehen kamen.

Peter legte seine Arme auf Fritz´ Schultern, während dieser seine in Peters Hüften legte. „Gott, du bist so einzigartig, so schön!“, blickte ihm Peter tief in die Augen und wusste in diesem Moment nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

„Lass uns einfach tanzen!“, meinte Fritz, „Du bist mein wichtigster Mensch – und nichts wird das je ändern“, meinte er drauf, küsste ihn und begann zu tanzen.

Die beiden hatten nicht bemerkt, dass die anderen Gäste einen Kreis um sie gebildet hatten und die beiden jungen Liebenden ehrfürchtig beim Tanzen beobachteten.

Der Barmann hatte für beide eine besondere Platte auf das Grammophon gelegt: Zarah Leanders `Nur nicht aus Liebe weinen´ hallte durch das Lokal.

Obwohl alle um sie herumstanden, war es für beide, als wären sie im Moment die einzigen auf der Welt: Fritz, Peter und die tiefe Stimme der Zarah Leander, die da sang, sie könne jeden lieben den sie will.

Die beiden tanzten immer noch, drehten sich langsam und eng miteinander verbunden im Kreis, auch dann noch, als das Lied schon längst verklungen war, und die Nadel des Grammophons unaufhörlich in der Auslaufrille kratzte. Niemand der Anwesenden wagte zu atmen – selbst der Barmann stand da und war für einen Moment der Stille sprachlos. In gewisser Weise hatten sie mit diesem Tanz Abschied voneinander genommen.

Als sich Peter schließlich von Fritz löste, setzte Applaus für beide ein und das trieb – so wie einigen anderen Gästen – den beiden Tränen der Rührung in die Augen. Fritz nahm Peter nochmals in die Arme, wollte ihm sagen, wie viel er ihm bedeutete, als er in den Augenwinkeln erkannte, dass plötzlich zwei Leute der SS das Lokal betraten…

Mit einem Schlag wurde es ruhig. Instinktiv schoben sich zwei ältere Männer vor Fritz und Peter, um die beiden zu schützen, dennoch konnte Fritz die Stimme sofort erkennen, die gleich zu reden anfangen sollte. Es war die Stimme von Lutz! Unmöglich! Wie in Gottes Namen kam der ausgerechnet hier her, wo dies doch gar nicht sein Bezirk war…? War der Moment gekommen, von dem er sich gefürchtet hatte, seitdem er Peter kennengelernt hatte?

„Wir erklären hiermit dieses Lokal für geschlossen“, erhob Lutz seine unverwechselbar arrogant klingende Stimme. „Wir bitten Sie alle nach draußen, wo Sie sich einer ordnungsgemäßen Perlustrierung zu unterziehen haben. Wird dem nicht Folge geleistet…“ – er unterbrach seine Ausführung und klopfte sich mit seinem Schlagstock in die freie Hand – „dann werde ich mit euch Freunden verfahren, wie es euch gebührt!“

Die Menschenmenge war bis dorthin ruhig geblieben, ehe einer aus den vorderen Reihen zu schreien begann: „Verdammt, da sind an die 50 SSler draußen, die auf uns warten.“ Kurz nach dem er dies gebrüllt hatte, griff er nach einer herumstehenden Bierflasche und schlug sie dem SS-Mann, der neben Lutz stand über den Kopf – ehe die Hölle losbrach.

Fritz konnte nicht mehr erkennen, was dem Mann in Folge passierte, denn alle liefen und schrien wie wild durcheinander, Stühle und Gläser fielen zu Boden, als die Menge zuerst Richtung Ausgang strömte – um plötzlich abrupt stehen zu bleiben.

Fritz und Peter waren nach wie vor dicht beieinander, ehe einem Mann neben ihnen plötzlich der Mund offen blieb: „Oh, mein Gott!“

Die Menge drängte wieder zurück, denn nun passierte es: an die 50 Mann brachen die Tür auf und stürmten das Lokal. Alle, die sich in den Weg stellten wurden niedergeknüppelt – kurz konnte Fritz den Mann sehen, der zuvor Lutz´ Kollegen geschlagen hatte – er lag am Boden und rührte sich nicht mehr, eine klaffende Wunde bedeckte seinen Kopf. Danach setzte wieder Schreien ein – eine Frau wurde an den Haaren ins Freie gezerrt, ihr folgten weitere SS-Männer, die blutende, teils schwer verletzte Männer ins Freie zogen. Sich zu ergeben hatte nun keinen Sinn mehr – man drosch auf alles hin, was sich bewegte und Fritz konnte das Blut förmlich riechen.

„Pst“, hörte er plötzlich und als er sich umdrehte sah er Otto, der beiden mit einem Handzeichen zu verstehen gab, sie mögen zu ihm hin kriechen. In geduckter Haltung schafften es Peter und Fritz tatsächlich hinter die Bar, wo Otto eine kleine Geheimtür –  wohl ein kleines Abstelleck für Getränke – hatte, in das Peter und Fritz hineinschlüpften. Otto schloss die Tür und es wurde finster. Sie setzten sich hin und kauerten sich eng aneinander. Fritz spürte, wie Peter zitterte, mehr noch als er selbst.

„Ich habe dich in diese Lage gebracht“, wisperte er, ehe er wieder aufschreckte: knapp neben der Bar musste gerade jemand zusammengeschlagen worden sein, zumindest hörte man Tritte, die dumpf auf jemanden niederprasselten. „Es tut mir leid“, wimmerte er vor Angst und griff schützend nach Fritz´ Hand. „Sie werden uns finden… Du wirst mir nie verzeihen können, dass ich dich hier hergebracht habe…“

Fritz legte zitternd seinen Zeigefinger auf seinen Mund und befahl ihm ruhig zu sein, als es schließlich ruhig wurde. „Pst, wir kommen da raus, in Ordnung? Wir kommen hier raus“, flüsterte er.

„Das dürften dann alle sein, niemand mehr hier“, hörte er jemanden sagen.

„Nun, das denke ich nicht“, hörte er jetzt Lutz sprechen. „Nicht wahr? Da ist doch noch jemand!“ Fritz hatte ein winzig kleines Loch in der Holzverkleidung der Bar entdeckt und konnte erkennen, dass Lutz genau vor ihnen stand.

„Barmann, du weißt, dass solche perversen Lokale verboten sind“, fragte er in dem Moment Otto.

„Ja, das weiß ich“, antwortete Otto mit klarer Stimme, ehe ihm Lutz ins Gesicht schlug.

„Du dummer Mann, dann weißt du auch was mit Leuten wie euch passiert?“, verhöhnte er ihn auf triumphierende Art.

Es kam keine Antwort und Lutz wartete auch gar nicht darauf.

„Ich komm jetzt zu dir hinter die Bar, einverstanden? Und dann wirst du mir sagen, ob wirklich alle das Lokal bereits verlassen haben!“

Wieder Stille. Nur die schweren Stiefel konnte Fritz vernehmen, die sich von der einen Seite entfernten und auf der anderen Seite wieder zu stehen kamen – direkt vor der kleinen Tür, durch die er und Peter gekrochen waren.

„Meyer, sie dürfen gehen. Helfen sie den anderen beim Verladen dieser – Hunde…!“

Fritz hörte, wie sich Lutz´ Kollege entfernte – es waren jetzt nur mehr er, Peter, Otto und Lutz im Lokal.

Lutz näherte sein Gesicht ganz nah dem von Otto und obwohl er nur leise zischte, konnte Fritz in seinem Versteck alles hören: „Wo sind sie?“

„Ich weiß nicht nach wen Sie suchen, sie haben doch….“

Otto bekam die Faust in den Magen gerammt und ging zu Boden, wurde aber sofort wieder in die Höhe gezerrt.

„Einmal frage ich dich noch. Solltest du nicht wahrheitsgemäß antworten, dann schneide ich dir, und Gott sei mein Zeuge, dann schneide ich dir deine schwulen Eier ab und steck sie dir in deine Fresse“, zischte er erneut, während er eine Flasche zerschlug und sie Otto bedrohlich nahe in den Schritt schob.

„Ich liebe dich. Vergiss das nie – und vergiss mich nicht, bitte. Sonst wäre alles umsonst gewesen“, sagte Peter in dem Moment zu Fritz. Er küsste ihn und sofort spürte Fritz den salzigen Geschmack von Peters Tränen auf seinen Lippen. Peter löste sich von ihm, blickte ihn noch einmal an und stand auf…

Ein gleißend heller Lichtstrahl traf Fritz im Gesicht und alles was jetzt folgte, schien für ihn wie in Zeitlupe abzulaufen und es sollte ihn bis an sein Lebensende verfolgen.

Peter hatte die Tür geöffnet, sein Versteck verlassen und war vor Lutz getreten, der ihm ohne Warnung sofort ins Gesicht schlug. Peter taumelte, fiel aber nicht.

„Kakoschke“, sagte Lutz nur, ohne sonderlich überrascht zu sein. „Lenke“, meinte er und warf einen kurzen Blick in das Eckchen, indem Fritz noch immer kauerte. Er hatte wieder sein diabolisches Grinsen aufgesetzt.

„Kakoschke, du bist eine Schande für die HJ. Na, kein Wunder, bei diesem Vater. Aber, dass du aus Lenke“, redete er sich wieder in den Wahnsinn hinein, „dass du aus Lenke, einem aufrechtem Deutschen, eine schwule Sau gemacht hast, das wirst du teuer bezahlen!“ Er brüllte ihn an – und Peter sagte kein Wort. Fritz kauerte nach wie vor auf dem Boden im Versteck – er sah Peter nur bis zur Hüfte und konnte erkennen, wie seine Knie und seine herabhängenden Arme vor Todesangst zitterten. Noch einmal beugte sich Lutz zu Fritz hinunter. „Du bleibst wo du bist!“, war alles, was er zu ihm sagte.

„Na los. Raus hier“, sagte er darauf zu Peter und Otto, auf eine ruhige Art und Weise, die fast noch erschreckender klang als zuvor sein Gebrüll. Als Peter nicht sofort ging, versetzte ihm Lutz einen Schlag in den Magen. Peter ging zu Boden  - und blickte Fritz an. Fritz sah Peter ins Gesicht und für einen kurzen Moment schien es ihm, als würde er ihn anlächeln. Noch im Moment seiner Verhaftung versuchte er Fritz zu beruhigen, ihm zu sagen: das kommt schon alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen um mich. Doch beide wussten in dem Moment, dass nichts je wieder in Ordnung kommen würde  – und das sie sich gerade zum letzten Mal angeblickt hatten. Fritz streckte ihm noch die Hand entgegen, doch in diesem Moment wurde Peter hochgerissen und ins Freie gezerrt. Danach wurde es ruhig im Lokal – alles was Fritz hören konnte war sein heftiges Atmen. Er kauerte sich ins Eck, winkelte die Knie an und wippte auf und ab – alles kam ihm so unwirklich vor. Bestimmt würde Peter sofort wieder zurückkommen, sie würden seine Personalien aufnehmen und dann würden beide zusammen nach Hause gehen. Er blickte aus seinem Versteck heraus, hin zur Tür – niemand war mehr zu sehen, auch der Lärm auf der Straße war verhallt. Wie ein Eisenhammer donnerte jetzt die Erkenntnis auf ihn hernieder: das, was sich gerade abgespielt hatte passierte wirklich. Peter war weg. Er saß da und das Atmen fiel ihm schwer, er hatte das Gefühl als würde ihm jemand den Hals zudrücken, also stieß er einen lauten Schrei aus, um wieder Luft zu bekommen. Er schrie und konnte einfach nicht aufhören damit – gleichzeitig schlug er mit den Fäusten gegen die Holzverkleidung der Bar. Er war wie von Sinnen und sollte jetzt jemand zur Tür hereinkommen, dann wäre es ihm egal gewesen: sollten sie ihn doch auch mitnehmen. Warum hatte ihn Lutz überhaupt dagelassen? Jetzt, wo doch sowieso alles vorbei war. Warum bloß hatte Peter sein Versteck verlassen? Warum hatte er selbst nicht den Mut dazu? Er schrie bis ihm seine Stimme versagte – niemand kam herein, er war allein. Peter war weg.

Nach einer Weile raffte sich Fritz auf – kaum eine Flasche und ein Glas waren heil geblieben, der zuvor noch so feierlich wirkende rote Teppich war mit Glasscherben übersät. Blut klebte an ihm, so wie an den Tischen und an den Vorhängen. Die Türen waren herausgebrochen, das Grammophon zerschlagen. Wie in Trance taumelte Fritz ins Freie – die Lastwägen waren längst verschwunden und nichts deutete mehr darauf hin, was sich hier kurz zuvor abgespielt hatte.

Es war spät geworden und auch die Straßenbahn fuhr nicht mehr, als Fritz anfing, sich zu bewegen. Ein Schritt nach dem anderen, einem Roboter aus Metropolis ähnelnd, wankte er durch die Dunkelheit Berlins. Rings um ihn nahm er nichts mehr war – seine Seele war leer. Irgendwann – er hatte keine Ahnung wie lange er gegangen war – kam er in seiner Straße, vor seinem Elternhaus an. Er suchte nach dem Schlüssel, als er plötzlich einen stechenden Schmerz in den Nieren spürte und sofort zu Boden ging.

„Ganz fertig sind wie beide auch noch nicht!“, flüsterte Lutz, der ihm die Faust in die Seite gerammt hatte.

Fritz blickte auf und sah Lutz vor ihm stehen. „Deshalb konntest du bei meiner Schwester nicht“, fauchte er und zog ihn am Hemdkragen zu sich empor. Zwei Knöpfe lösten sich und fielen zu Boden. Fritz stand nun Angesicht vor Angesicht vor Lutz – er hätte ihn schlagen können, ihm seine Knie in die Eier rammen können – doch er konnte nicht, er fühlte nichts, er stand unter Schock.

„Aber eines soll dir gesagt sein: treffe ich dich nochmals in einem dieser Lokale an, dann bringe ich dich eigenhändig um. Verstehst du? Ich ramme dir meine Klinge in den Bauch und schlitze dich von unten bis oben auf. Du kannst mir dankbar sein, dass ich das nicht heute schon gemacht habe – dankbar! Weil ich ein guter Mensch bin, und das deiner Familie nicht antun wollte! Und du kannst Lena dankbar sein!“, sprach Lutz leise, um ja niemanden von Fritz´ Familie aufzuwecken.

Fritz blickte ihn fragend an.

„Ja, denn wenn sie euch nicht im Café gehört hätte, dann…Naja, was soll ich sagen: sie hat mir alles berichtet. Und heute habe ich dann jemanden auf euch angesetzt. Oh, seht ihn euch an, weint er etwa? Ja darf denn das alles war sein!“, war Lutz gespielt überrascht. Und tatsächlich: Fritz weinte leise, ohne es selbst bemerkt zu haben.

„Also, nimm dir zu Herzen, was ich dir gesagt habe“, sprach Lutz, während er ihm den Hemdkragen richtete.

„Peter?“, stammelte Fritz und es war das erste Wort, das er seit Stunden hervorbrachte. Lutz verzog seine Mundwinkel und schüttelte nur den Kopf: „Vergiss ihn. Für ihn und solche Leute hat sich unser Führer feine Heilmethoden ausgedacht.“ Er kam ihm ganz nahe, legte seine Hände auf Fritz´ Schultern fast als ob er ihn küssen wollte und flüsterte ihm ins Ohr: „Keine Angst, er wird dich nie wieder belästigen!“ Dann verschwand er pfeifend und wohlgelaunt in der Dunkelheit.

Fritz öffnete die Tür und schwankte in die Küche – auf dem Tisch lag immer noch seine Krawatte, die Peter wenige Stunden zuvor dort hingeworfen hatte. Das war zu viel: er stürzte ins Bad und übergab sich – er kotzte alles heraus was in ihm drinnen war, ehe er neben dem Klo zu liegen kam, gegen den Boden trommelte und sich schließlich heulend in die Faust biss, um ja nicht die anderen aufzuwecken. Er glaubte sterben zu müssen – er rang nach Luft und sprang schließlich panisch auf, weil er dachte er müsse ersticken, so wie es ihm zuvor schon im Lokal gegangen war.

Er blickte in den Spiegel und sah durch sich hindurch – dem Heulkrampf von zuvor war wieder diese absolute Lethargie gefolgt, als es ihm plötzlich als wichtig erschien, dass zwei Hemdknöpfe fehlten. Er wusch sich sein Gesicht und ging in seine Kammer – Max schlief den Schlaf des Gerechten, nichts ahnend dass sich das Leben seines Bruders gerade für immer geändert hatte. Er legte sich samt der Bekleidung in sein Bett und warf noch einen letzten Blick auf die Uhr an der Wand – es war der 1.September 1939, kurz vor vier Uhr früh. Nur wenig später sollte Deutschland Polen überfallen und damit einen Krieg auslösen, der schlimmer war, als alle Kriege zusammen es bis zu diesem Zeitpunkt gewesen waren.

Peter sollte Recht behalten: Deutschland überfiel Polen und nur wenige Stunden später erklärten England und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg.

Fritz wusste zu dieser Zeit noch immer nicht, wie ihm geschah: mal dachte er, es sei alles nur ein Traum gewesen,  ein anderes Mal brach alles mit einer derartigen Wucht über ihn herein, dass er fast den Verstand zuvor.

Eine Woche nach Peters Verhaftung war Fritz endlich so weit, zu Peters Haus zu gehen. Dort angekommen fand er eine leere Wohnung vor – Peters Familie war also abgereist, oder geflohen, dass konnte Fritz nicht mehr in Erfahrung bringen. Die Möbel waren weg, alle bis auf die Möbel in Peters Kammer, auf dessen Schreibtisch ein Brief lag, geschrieben von seinem Vater. Darauf stand die Adresse in den USA, die Unterschrift seines Vaters und darunter: Ich bete, daß du es schaffst! 

Fritz schluchzte auf und drehte sich blitzartig um,  so als ob der Schluchzer von jemand anders gekommen wäre. In Peters Schreibtischlade fand Fritz schließlich ein Heft, er öffnete es und fand lediglich eine einzige beschrieben Seite. Darauf befand sich ein Gedicht.

31.August 1939

Oh Dunkelheit, hier bist du wieder,

legst dich leise übers Land.

Singst die altbekannten Lieder,

reichst mir einmal mehr die Hand.

Nehm sie nicht an, die garst´ge Klaue

Will leben, weit, weit weg von dir

Mit dem, dem ich so sehr vertraue

Den dennoch ich zurücklass hier…

Bald kommt ein neuer, andrer Morgen

Nach dieser wunderbaren Nacht

Wir teilten Freuden, teilten Sorgen

Haben geliebt, geweint, gelacht.

Oh Dunkelheit, du Ungeheuer

Kann hörn wie es dir Freude macht

Dass du mir nimmst, was lieb und teuer

Mir Freude in mein Leben bracht.

Doch sag ich dir, dass sollst du wissen

Treibst du mich auch hinaus aufs Meer.

So sehr ich ihn auch werd vermissen,

glaub fest ich an die Wiederkehr.

Gott mag dem lieben Fritz beistehen

Der stets nach Glück soll streben

Und wenn wir uns dann wiedersehen

Noch lang mögen wir leben.

Peter hatte das Gedicht am Tag seiner Verhaftung geschrieben.

Fritz drückte das Heft an sich – er stand wie angewurzelt da und wieder brach die Erkenntnis über ihn herein, dass Peter fort war. „Lass dich nicht verbiegen – sei du selbst!“, hatten ihm Peter und sein Vater gesagt, als er das erste Mal bei ihnen zu Gast war. Und genau das hatte Peter getan – er blieb er selbst bis zum bitteren Ende, jede einzelne Minute seines jungen Lebens. Fritz wischte sich die Tränen ab, nahm das Heft und verließ die gute Stube der Kakoschkes, die nun leer und trist wirkte.

Peter wurde zuerst ins Konzentrationslager Dachau  und später nach Mauthausen gebracht, wo er 1943 an Typhus starb. Er wurde keine 20 Jahre alt.

Fritz wurde 1941 in die Armee eingezogen – seinem `guten Freund´ Lutz verdankte er es, dass er am `Unternehmen Barbarossa´ - dem Überfall auf die Sowjetunion teilnehmen musste. Er wurde während der Schlacht um Stalingrad festgenommen und geriet in russische Kriegsgefangenschaft, die er wie durch ein Wunder überlebte. Er kehrte erst 1949 ins immer noch vom Krieg geschundene Berlin zurück. Dort erfuhr er vom Tod seines Bruders sowie vom Tod seiner Mutter, die von Mauertrümmern erschlagen wurde, als sie versuchte für ihre Familie Lebensmittel zu besorgen.

Fritz blieb in Lichtenberg, einem Stadtteil Berlins, der wenige Jahre später von einer Mauer umgeben war, die bis zum Jahr 1989 Bestand haben sollte.

Im Jahre 1992 unternahm Fritz als alter Mann seine erste Auslandsreise, die ihn nach Connecticut führte. Nach intensiven Recherchen und Bemühungen hatte er die Adresse von Peters Schwester Siegrid herausgefunden.

Er erkannte sie sofort wieder, als sie ihn unter Tränen in die Arme nahm. Peters Eltern waren bereits tot, Hertha in New York verheiratet, Siegrid war in Connecticut geblieben. Zur Überraschung von Fritz wurde den Kakoschkes nach deren Auswanderung noch ein weiterer Sohn geboren. Sie tauften in Max und er lebt heute in Chicago.

„Hier, die haben wir damals in Peters Schreibtisch gefunden“, meinte Siegrid und drückte ihm einen Stoß alter, vergilbter Hefte in die Hand. „Es war alles so schwer für uns zu verstehen, doch als wir seine Tagebücher fanden, machte alles einen Sinn: er hat dich über alles geliebt, und es war ihm egal wie gefährlich das auch war. Er hat immer seinen Kopf durchgesetzt, obwohl das eine gefährliche Sache war.“

Fritz zitterte, als er mit seinen rheuma-geplagten Fingern über die Hefte strich – er öffnete ein Heft und begann zu lesen. Darin beschrieb Peter alles, was er fühlte. Mal musste Fritz lachen, ein anderes Mal weinen. Peter beschrieb sein Leben, wie es damals vielleicht auch viele andere Jungen in seinem Alter gelebt hatten.

Er schrieb von einem Jungen, der in einem Land lebte, dass ihn verachtete.

Von einem Jungen, der Angst hatte.

Von einem Jungen, der glücklich war.

Von einem Jungen, der liebte.

Von einem Jungen, der einfach nur leben wollte – einfach nur er selbst sein wollte.

Im letzten Heft fand Fritz einen kleinen Umschlag, den er mit zittrigen Händen öffnete. Drinnen war ein Foto, dass zwei Jungen mit einem Rucksack zeigte, die Arme übereinander gelegt wie zwei dicke Freunde. Fritz musste zweimal hinsehen, ehe ihm einfiel was er längst schon vergessen hatte: es war das Foto, dass Lars von ihm und Peter gemacht hatte, als sie sich am letzten Tag des Zeltlagers auf dem Weg zum Bahnhof befanden.

Fritz schämte sich ein wenig – über all die Jahre hatte er Peters Gesicht vergessen gehabt, doch dieses Foto brachte ihn in seine Gedanken zurück. Es brachte nicht nur die schlechten, sondern auch die guten Erinnerungen zurück, an diesen ereignisreichen und schicksalshaften Sommer 1939.

Siegrid gab Fritz die Hefte mit, und seitdem er sie bei sich hatte, hörten die Alpträume auf, die  bis zu diesem Zeitpunkt immer wiederkehrten. In einem verfolgten ihn schwarze Hunde, die drohten, sein Gesicht zu zerbeißen. Im anderen sah er Peter vor sich stehen, nur bis zur Hüfte, mit zitternden Knien und Armen. Es war, als wäre Peter auf geheimnisvolle Art zu ihm zurückgekehrt und das ließ ihn – bis zu seinem Tod im Jahre 1996 –endlich ruhig schlafen. Die schwarzen Hunde hatten ihn nicht erwischt.

Persönliches Nachwort:

Ich fand es persönlich wichtig, diese Geschichte zu schreiben, auch wenn sie mir ziemlich viel abverlangt hat: sie verfolgte mich und raubte mir den Schlaf, an manchen Stellen weigerten sich meine Hände weiterzuschreiben oder ich musste raus an die Luft.

Dennoch finde ich Geschichten dieser Art wichtig – um nicht zu vergessen, welch grauenhafte Dinge damals hier bei uns passiert sind, und um sie weiterzugeben an junge Leute, die heute das wichtigste Gut besitzen, das es gibt: ihre persönliche Freiheit.

Liebe Leser, falls ihr an manchen Stellen die eine oder andere Träne vergossen habt, so soll es ein Gebet gewesen sein – egal, ob oder welcher Konfession ihr angehört. Ein Gebet für Millionen unschuldige Männer, Frauen und Kinder, die während des Nationalsozialismus  ihrer Würde und ihres Lebens beraubt wurden.

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