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Murat Kokosnuss
Teil 2 - Eine Frage des Glaubens
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Informationen
- Story: Murat Kokosnuss
- Autor: Lone_Eagle
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out
Ich lag also da, meinen Kopf tief in mein Kissen vergraben und weinte. Wahrscheinlich lag es gar nicht nur daran, dass Murat nach dem Kuss einfach davongelaufen war – mittlerweile versuchte ich mich mit der Erkenntnis zu trösten, er wäre nur deswegen fortgelaufen, weil er genauso unsicher war wie ich. Vielmehr kamen nun die ganzen unterdrückten Gefühle der letzten Wochen und Monate raus, als ich mir einzureden versuchte, es wäre alles in Ordnung mit mir und ich wäre wie alle anderen. Mit einfachen Worten: Ich fühlte mich schrecklich allein, wusste nicht wohin mit meinen Gefühlen und war fest der Meinung, ich wäre der einzige der so fühlte. Dass ich das scheinbar doch nicht war, hatte mir Murat am Nachmittag bewiesen.
Als ich mich fast schon beruhigt hatte, spürte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter – unbemerkt hatte jemand mein Zimmer betreten. Natürlich hoffte ich sofort, es wäre Murat.
„Na, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen, Kleiner? Alles in Ordnung mit dir?“, hörte ich allerdings die Stimme eines Mädchens. Konkreter Weise die Stimme von Lisa, meiner Schwester, die zumeist an Wochenenden bei uns auftauchte. Die musste ich nun ja gar nicht um mich haben!
„Geht dich gar nix an, hau ab!“, antwortete ich, ohne mich nach ihr umzudrehen. Ich hatte beschlossen, einen auf `bockiges Kind´ zu machen, was mir – wie ich für mich beschloss – zu diesem Zeitpunkt auch völlig zustand.
„Ach komm, was ist denn los?“, meinte sie mit sanfter Stimme. So hatte ich sie noch nie gehört – aber vielleicht hatte ich das ja auch oft nur überhört.
Zaghaft drehte ich mich in ihre Richtung - und wirklich wahr: Ihr Gesicht hatte fast menschliche Züge und es schien ihr ernst zu sein, mich trösten zu wollen.
Ganz traute ich dem Frieden allerdings noch immer nicht.
„Wieso sollte ich mit dir über meine Probleme reden? Du hasst mich doch sowieso“, bemühte ich mich weiterhin krampfhaft, die Fassade des bockigen Kindes aufrecht zu erhalten. Scheinbar kaufte sie mir das allerdings nicht ab, denn anstatt zurück zu sticheln – wie sie es immer gern getan hatte – blickte sie mich lächelnd, gleichzeitig aber auch besorgt an. Verdammt, einer Psychologiestudentin konnte man scheinbar wirklich nichts vormachen.
„Liebeskummer, richtig?“, meinte sie – und durch ein kurzes Zucken hatte ich mich auch schon verraten.
„Treffer ins Schwarze“, jubelte sie gespielt und ballte kurz ihre Faust, so als hätte sie in irgendeinem Wettbewerb gerade die Weltmeisterschaft gewonnen.
„Willkommen im Club“, meinte sie, „ich und Mike haben uns diese Woche getrennt, ich weiß also wie es dir gerade geht.“
„Gar nix weißt du“, konterte ich sofort, „und ich hab mich auch von niemandem getrennt!“ Einerseits war ich froh, dass dieser Lackaffe Geschichte war, anderseits ging es in diesem Moment aber immerhin um mich!
„Es tut mir nicht leid, dass ich ihn los bin – aber Entschuldigung, jetzt geht´s um dich“, entgegnete sie freundlich. Verdammt, konnte Lisa plötzlich Gedanken lesen – und warum war sie plötzlich so freundlich? Bestimmt nur, weil Mike weg war und sie jetzt jemanden zum Reden brauchte.
„Ich weiß, wir hatten nicht immer das beste Verhältnis zueinander, aber mir tut's irgendwie weh, dich so zu sehen. So habe ich dich noch nie erlebt, ehrlich. Also: Ich gehe nicht eher hier raus, bevor du mir gesagt hast, was dich bedrückt.“
Sprach sie und blieb einfach sitzen. Sie sagte es einerseits sehr einfühlsam, auf der anderen Seite aber auch mit Nachdruck – so, wie man normal mit einem Kind redete. Und genau so führte ich mich ja auch gerade auf – und in dem Moment schämte ich mich fast dafür. Also beschloss ich, mich meines Alters gemäß zu benehmen. Ich drehte mich zu ihr um, setzte mich auf und blickte sie ernst an.
„Du hast Recht – ich habe mich verliebt. Und heute haben wir uns das erste Mal geküsst und dann…“
Ich blickte verschämt zur Seite und sprach leise weiter: „…und dann ist er plötzlich weggelaufen.“
Verstohlen – ohne mich in ihre Richtung zu drehen - blickte ich zu Lisa, um ihre Reaktion einzuschätzen.
Ihr Lächeln war nach wie vor da, während mir blöderweise schon wieder die Tränen kamen.
„Komm her Kleiner“, meinte sie nur – und wenig später lag ich schluchzend in ihren Armen. Es war geschafft – ich hatte mich geoutet!
„Ich hab das schon länger vermutet“, flüsterte sie mir geradezu ins Ohr. „So, wie du Mike immer angesehen… ach, lassen wir das mit Mike! Es ist völlig ok für mich und rede dir bloß nicht ein, dass du anders bist, nur weil du schwul bist! Es ist ok!“
Immer wieder sagte sie mir, dass es ok wäre und – was soll ich sagen – so wie sie es sagte, glaubte ich es ihr auch.
„Soll ich mit Mama und Papa darüber sprechen?“
Langsam löste ich mich von ihr, wischte mir die Tränen aus den Augen und schüttelte den Kopf.
„Ich denke, dass sollte ich selbst machen – aber noch nicht jetzt! Man, was Papa wohl dazu sagen wird.“
„Was soll er schon sagen?“, antwortete Lisa. „Er wird am Anfang herumknurren, wie wir es von ihm gewohnt sind und es dann akzeptieren. Er steht ja doch unter Mamas Fuchtel – und die wird dir dasselbe sagen, wie ich gerade eben: Dass es normal ist und du nach wie vor unser Kleiner bist.“
Dann erzählte ich ihr von Murat – wie ich ihn kennen gelernt hatte, dass wir uns auf Anhieb blendend verstanden und eben die Geschichte vom Sportplatz.
„Weißt du was?“, fragte sie mich, als ich ihr alles erzählt hatte. „Ich denke, er ist genauso verunsichert wie du und muss ebenfalls erst damit klar kommen. Und ich denke, er hat´s sogar noch schwerer als du!“
Ich blickte sie fragend an, obwohl ich wusste worauf sie hinauswollte.
„Naja, Muslime zu sein und schwul. Wie du weißt habe ich nichts gegen irgendwelche Religionen, aber im Islam `gibt es ja praktisch keine Homosexuellen´. Und falls sich jemand zu seiner Homosexualität bekennt, also, leicht wird es diesen armen Leuten nicht gemacht. In manchen Ländern werden sie sogar hingerichtet, wenn sie sich öffentlich dazu bekennen. Schlimm ist das. Gut, dass dein Freund Murat in einem friedlichen Land lebt. Aber einfach wird’s trotzdem nicht werden – für keinen von euch“, meinte sie, ohne das irgendwie abwertend zu meinen.
Auf den Gedanken war ich noch gar nicht gekommen – ich war selbst nicht sonderlich religiös, daher war mir auch völlig egal, welche Religion Murat hatte.
„Geh rüber zu ihm, ist ja noch nicht zu spät. Redet miteinander“, durchbrach Lisa meine Gedanken.
„Ich weiß nicht, meinst du das wäre eine gute Idee?“, antwortete ich leise.
„Und ob: Du weißt erst woran du liegst, wenn du mit ihm gesprochen hast. Was willst du denn sonst machen? Hier liegen bleiben, um die ganze Nacht zu heulen? Außerdem hab ich gehört, dass ihr morgen ein Spiel habt. Papa dreht durch, wenn ihr das verliert. Und in so einem Zustand kannst du doch sowieso nicht spielen!“
Ich musste lachen als sie meinte, Papa würde durchdrehen.
Mir klopfte zwar das Herz bis zum Hals, aber ich beschloss ihrem Rat zu folgen. Außerdem hatte sie Recht: Ich hätte wohl nicht schlafen können, wir hätten das Spiel verloren – und ich hätte tags darauf wohl immer noch nicht gewusst, mit dieser Situation umzugehen. Ich musste mit Murat reden!
„Danke!“, drehte ich mich noch zu ihr um, als ich mein Zimmer verließ. Was hatte ich mich doch in meiner Schwester getäuscht – wir hatten zwar oft Meinungsverschiedenheiten, aber gerade hatte ich sie erst wirklich kennengelernt. Sie hasste mich nicht, das tat sie wahrscheinlich nie. Und als ich mich auf mein Rad schwang, um mich auf den Weg zu Murat zu machen, stieg in mir die Erkenntnis hoch, dass ich in den letzten Minuten – als ich mich bei meiner Schwester outete – wohl erwachsen geworden war.
Langsamer als die Tage zuvor radelte ich die kurze Strecke zu Murats Haus. Das Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich mit zitterndem Finger anläutete – einen Schritt zurückwich, zum Fenster hochblickte und wartete, bis mir geöffnet wurde.
Eine Frau mit Kopftuch erschien am Fenster, lächelte kurz und deutete mit einer Handbewegung, ich solle doch hochkommen. Ups, die Tür war tatsächlich geöffnet. Die Kühle des alten Hauses beruhigte mich komischerweise etwas, als ich die zwei Stockwerke hochstieg, wo mich vor einer offenen Türe bereits Frau Korkusuz empfing. Sie bat mich zur Tür herein, legte ihren Finger auf die Lippen um mir zu signalisieren, ich müsste leise sein und deutete auf meine Füße: Ich sollte mir also auch die Schuhe ausziehen. Sie sprach kein Deutsch – das hab ich nachher mitbekommen – machte aber trotz ihrer bestimmt wirkenden Gesten einen sehr freundlichen Eindruck. Sie sah alt aus unter ihrem Kopftuch, obwohl sie wahrscheinlich erst an die 40 sein musste – aber das schien kein Wunder zu sein: Schließlich hatte sie bereits sechs Kinder zur Welt gebracht. Die Wohnung war liebevoll eingerichtet. In den Schränken stand wertvolles Geschirr (zumindest nahm ich das an), das wohl aus der Türkei stammte. An den Wänden hingen Bilder von Verwandten sowie Zierteppiche.
Im Wohnzimmer angekommen, deutet sie mir abermals, ich möge leise sein ehe sie mir Platz anbot. Ich setzte mich und merkte erst jetzt, dass die Männer der Korkusuz Familie gerade am Beten war.
Murats Vater las und sang abwechselnd aus einem Buch vor, während seine Söhne – auch die zwei Jüngsten – auf einem Teppich knieten und beteten. Darunter auch Murat: Er hatte einen mit Silberfäden bestickten Umhang an, auf seinem Kopf eine Takke, die Gebetsmütze der Muslime. Sein kurzes, lockiges Haar lugte ansatzweise hervor. Während er seinem Vater lauschte und lautlos seine Lippen bewegte, saß er abwechselnd auf seinen Fersen oder bedeckte den Gebetsteppich mit seinem Kopf und seinen Handflächen.
Ich weiß nicht ob er es mitbekommen hatte, dass ich im Wohnzimmer war. Ich weiß nur, dass ich dieses Bild nie wieder aus meinem Kopf bekommen würde, so lange ich lebe. Als ich ihn da knien sah, während er zu seinem Gott betete, sah er einfach nur vollkommen aus. Er war schlichtweg wunderschön und sah aus wie ein orientalischer Prinz!
Sein Vater sang weiter – ich verstand natürlich kein einziges Wort, aber es klang anmutig und irgendwie sehnsuchtsvoll. Ich habe vorher bereits erwähnt, dass ich nie sonderlich religiös war. Zwar war ich getauft und auch bei der Konfirmation gewesen (da weiß ich noch genau, dass ich nachher meinen Anzug vollgekotzt habe, weil ich zu viel von Omas Schweinsbraten gegessen hatte…) aber so richtig hatte ich mir über meine Religion noch nie Gedanken gemacht. Zu Weihnachten zählten für mich immer nur die Geschenke und auch aus Ostern hatte ich mir nie sonderlich viel gemacht – Hauptsache es gab Ferien!
Als ich die Korkusuz Männer beim Beten betrachtete, fühlte ich mich einerseits zwar wie ein Eindringling in eine fremde Welt, andrerseits aber auch eine gewisse Leere in mir. Vielleicht war es weniger die Religion und der Glauben selbst, aber diese Familie hatte etwas, dass sie verband. Ein scheinbar sehr starkes Band, das sie im gemeinsamen Glauben hatten – und das imponierte mir gewaltig.
Nach dem Beten – Murat hatte mittlerweile bemerkt, dass ich gekommen war – bot mich seine Mutter an den Tisch und lud mich unter Zustimmung der anderen zum Essen ein.
Murats Vater hatte bereits eine Glatze, einen riesigen Schnauzbart – und eine genauso riesige Brille. Er wirkte streng und sprach nicht sonderlich viel – konnte allerdings im Gegensatz zu seiner Frau ganz gut Deutsch.
Sein ältester Bruder Metin hatte einen langen Vollbart und betrachtete mich skeptisch, während Musti – der zweitgeborene Sohn – kurzes Haar trug und sein Gesicht glatt rasiert war. So wie sein Vater trug er Brille und wirkte dadurch irgendwie belesen. Im Gegensatz zu Metin betrachtete er mich eher neugierig, genauso wie Murats jüngere Geschwister, Ali und Mehmet: Sie sahen aus wie Zwillinge, obwohl ein Jahr zwischen ihnen lag und waren total niedlich, wahrscheinlich weil sie Murat am ähnlichsten sahen.
Dann saß natürlich auch noch die kleine Fatma am Tisch – ebenfalls neugierig, wer denn hier die Wohnung ihrer Familie betreten hatte.
Ich nahm mit zittrigen Knien neben Murat Platz, der mich schüchtern anblickte und mich dann mit leiser Stimme seiner Familie vorstellte.
„Das ist Maxi, aus meinem Handballteam. Wir… sind Freunde!“
Murats Vater runzelte kurz die Stirn und ich wusste nicht so Recht, wie ich das deuten sollte. Vielleicht runzelte er aber auch nur die Stirn über den Topf, den seine Frau gerade vor ihm auf den Tisch stellte. Aber auch das bildete ich mir wahrscheinlich nur ein, denn augenscheinlich hatte ich selbst die Stirn gerunzelt, da ich bei bestem Willen nicht erkennen konnte, was da gerade vor mir aufgetischt wurde.
„Lammeintopf“, flüsterte mir Murat zu und als ich zu ihm rüber blickte und er meinen skeptischen Blick erkennen konnte war es wieder da: sein zauberhaftes Lächeln!
Eher widerwillig nahm sein Vater zur Kenntnis, dass ich als Gast von Murats Mutter die erste Portion auf den Teller geklatscht bekam – und er erst nach mir. Dennoch wartete ich, bis auch die anderen ihr Abendmahl hatten, ehe ich zu essen begann. Und was soll ich sagen: Ausgeschaut hat das Essen ja nach gar nichts, aber es schmeckte wirklich köstlich! Ich bin beim Essen ja sehr heikel, aber in dem Moment stellte ich einen Vergleich her, der wohl gar nicht so falsch war: Beim Essen ist es so wie bei Menschen – man sollte zuvor `kosten´ und nicht nur nach dem Aussehen urteilen.
Nach dem Essen setzte hektisches Treiben im Hause Korkusuz ein: Die älteren Brüder fuhren nach Linz um auszugehen, Frau Korkusuz erledigte den Abwasch, während Mehmet und Ali ihre Playstation traktierten. Murats Vater griff sich seine Zeitung und eine Zigarette und deutete Murat und mir mit einer Handbewegung, dass er jetzt gerne seine Ruhe hätte und wir nach draußen verschwinden mögen. Man merkte Murat sofort an, wie er nervös wurde aber er befolgte die `Anweisung´ seines Vaters und wir verließen die Wohnung.
Leise gingen wir die Straße entlang, von der langsam die Dunkelheit Besitz ergriff – nicht wissend, wo wir eigentlich hin wollten.
„Ich hoffe wir gewinnen morgen“, durchbrach Murat die unangenehme Stille, doch ich merkte sofort, dass ihm das eigentlich egal war. Nun ja, vielleicht nicht ganz egal, aber ich merkte, dass er eigentlich über ganz etwas anderes sprechen wollte, sich allerdings nicht so recht traute.
Da ich ihn nicht in Verlegenheit bringen wollte, drehte ich mich kurz um, um mich zu vergewissern, dass auch ja keiner in der Nähe war, ehe ich leise zu ihm sprach: „Du, das mit dem Kuss heute….“
„Das war dumm, tut mir Leid. Ich wollte dich nicht belästigen“, fiel er mir ins Wort und wieder schien es mir, als würde er nicht das sagen, was er meinte.
„Das war nicht dumm“, lenkte ich ein und schenkte ihm einen tiefen Blick. „Ehrlich nicht – es war wunderschön und nichts wofür man sich schämen muss.“
Murat schüttelte nur traurig den Kopf.
„Es ist falsch und es gehört sich nicht. Ich meine, ich bin Moslem – das geht doch nicht, dass ich…!“ Er musste sich sehr zusammennehmen um nicht zu heulen und am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen, wie es zuvor Lisa mit mir tat. Aber das hätte ihn in aller Öffentlichkeit wahrscheinlich noch mehr verunsichert. Er tat mir so leid und ich glaubte sogar, dass er bei seinen Worten zitterte. Nicht einmal aussprechen konnte er das Wort: schwul!
„Bis vor ein paar Tagen dachte ich auch, ich wäre der einzige“, versuchte ich ihn zu trösten. „Und glaub mir: Es gibt sicher in jeder Bevölkerungsschicht, in jeder Religion Leute wie uns. Auch bei euch Moslems!“
Ich seufzte tief, ehe ich fortfuhr: „Es fällt mir ja auch nicht leicht, es an mir zu akzeptieren, aber es ist nun mal so.“
„Es ist falsch“, sagte Murat wieder und tat sich sichtlich schwer zu reden, „Harám, verstehst du? Verboten!“
Es gelang ihm jetzt nicht mehr, die Tränen zurück zu halten und es war mir egal: Ich legte meinen Arm um ihn. Zu meiner Verwunderung ließ er es zu, obwohl wir unseren kleinen Ort mittlerweile noch nicht allzu weit hinter uns gelassen haben.
„Ich kenne mich ja nicht sonderlich gut aus mit Religion“, gab ich flüsternd zu, meinen Arm um ihn behaltend, „ aber ich denke auch dein Gott liebt doch die Menschen, so ähnlich wie unserer. Glaubst du, dein Gott hat dich so erschaffen um zu sehen, wie du dich damit quälst? Wenn es falsch wäre so zu sein, warum hat er dich dann so gemacht?“
Das alles klang für mich relativ plausibel, hatte aber bei Murat scheinbar nicht die von mir erhoffte Wirkung.
„Vielleicht will Allah mich bloß prüfen. Vielleicht geht es ja auch vorüber, wenn ich mich anstrenge“, stammelte er kaum hörbar. Er löste sich von mir, sah mich an – und wieder schossen ihm die Tränen in die Augen. Man merkte ihm an – und dessen war ich mir 100% sicher: Er war genauso Hals über Kopf in mich verliebt, wie ich in ihn. Er wollte es sich scheinbar einfach nur nicht eingestehen.
„Lass uns einfach nur Freunde sein“, meinte er.
Ich schüttelte den Kopf und beschloss reinen Tisch zu machen.
„Ich weiß nicht, ob ich das durchhalte“, begann ich zu reden. „Seit ich dich vor ein paar Tagen traf, ist für mich alles so klar. Ich kann an nichts anderes mehr denken als an dich – von morgens bis abends. Das fühlt sich so schön an – und so traurig zugleich, wenn ich jetzt sehe, wie du vor mir stehst. Erst seit ich dich kenne, weiß ich wer und was ich bin – ich bin schwul und werde wohl damit leben müssen. Und ich habe mich… (verdammt war das schwer!)…ich habe mich in dich verliebt. Und ich weiß nicht, ob ich es schaffe, dich einfach nur als Freund zu haben.“
Es war nicht einfach ihm das zu gestehen, weil die Situation für ihn dadurch wohl nicht einfacher wurde. Er stand da, blickte mich an – und ich befürchtete, er würde gleich wieder weglaufen. Doch er blieb.
„Gehen wir noch ein Stückchen“, meinte er. Er schien sich beruhigt zu haben.
„Hast du es jemanden erzählt?“, wollte er wissen, als wir fast schon den kleinen Sportplatz erreicht hatten, an dem das Schicksal ein paar Stunden zuvor seinen Ausgang genommen hatte.
„Meiner Schwester“, antwortete ich, „aber keine Sorge: Sie sagt niemanden etwas. Sie scheint wie ausgewechselt zu sein – außer ihr weiß es niemand!“
Murat blieb wieder wie angewurzelt stehen.
„Und wenn sie uns doch Probleme macht? Meine Brüder – sie würden ausflippen“, rang er nach Atem.
Ich legte ihm meinen Zeigefinger an seine Lippen (ich habe mal in einem Film gesehen, wie jemand auf diese Art eine andere Person beruhigt hat) und wiederholte, dass sie sicher niemanden etwas sagen würde.
Es schien zu helfen. Murat griff meine Hand – kurz dachte ich, er würde sie wegdrücken, doch er griff fest zu und ließ sie nicht los.
„Es ist so eigenartig, weißt du. Ich…also mir…mir ging es genauso. Als mich Burker in die Halle führte, bist du mir sofort aufgefallen. Wahrscheinlich auch deshalb, weil du mich die ganze Zeit angesehen hast. Ich wollte dir dann beim Training auch unbedingt zeigen was ich kann – einfach nur, um dir zu gefallen. Nur: Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Es fühlt sich gut und falsch zugleich an. Ich war schon öfters in einen Jungen verschossen, habe das aber immer als komische Schwärmerei abgetan. Bei dir ist das anders: Ich spüre, dass da viel mehr ist…“
Er plagte sich regelrecht durch diese Worte, während er nach wie vor meine Hand in seiner hielt. Ich wollte nicht, dass er sich so abquälte, weil ich ohnehin wusste, was er mir damit sagen wollte – also trat ich näher, so nahe, dass sich unsere Nasen fast berührten.
„Ich finde dich unbeschreiblich süß“, flüsterte ich kaum hörbar. „Und ich würde gerne dein fester Freund sein – auch wenn mir klar ist, dass wohl niemand davon wissen darf. Aber dieses Risiko will ich eingehen – und ich hoffe du auch.“
Ich konnte seinen Atem in meinem Gesicht spüren und bemerkte, wie seine Hand mittlerweile schweißnass geworden war.
Und dann küsste ich ihn.
Ich merkte wie er zu `schweben´ begann – der Griff seiner Hand wurde lockerer, ehe er sie ganz los ließ, meinen Arm hochfuhr und schließlich ganz vorsichtig meinen Nacken berührte. Dachte ich am Nachmittag noch, der Kuss wäre das Beste gewesen, was mir je widerfahren war, wurde ich jetzt eines besseren belehrt. Es war unbeschreiblich, als ich das erste Mal die Zunge eines anderen Jungen in meinem Mund spürte.
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir dastanden und uns küssten – es ist auch völlig unerheblich so etwas Tolles in Zeit zu messen. Auf alle Fälle verschwanden während des Kusses alle Probleme, alle Zweifel. Die Welt um uns hörte auf sich zu drehen – die einzigen Erdbewohner, denn so fühlte ich mich, standen da und waren eins. Es fiel uns beiden schwer, voneinander zu lassen, doch leider blieb uns nichts anderes über. Müsste ich wählen, eine einzige Tätigkeit bis an mein Lebensende zu vollziehen – es wäre wohl dieser Kuss, für den ich mich entscheiden würde. Nachdem wir uns schließlich doch voneinander verabschiedet hatten, ging ich früh zu Bett.
Was für ein verrückter Tag das gewesen war – mein erster Kuss, das Outing vor meiner Schwester, das Kennenlernen der Familie meines Freundes, die Aussprache mit Murat – und dann dieser himmlische Kuss. Es fiel mir schwer einzuschlafen – und das vor einem wichtigen Spiel. Zu blöd!
Irgendwann muss ich dann wohl doch eingeschlafen sein, denn um acht Uhr morgens (und das ist verdammt früh für einen Sonntag!) riss mich mein Wecker aus den schönsten Träumen. Meine Mutter traute sich schon gar nicht mehr, mir ins Gesicht zu blicken – zu unterschiedlich waren meine Gemütslagen in den letzten Tagen.
Dieses Mal bekam sie wieder mein freundliches Gesicht präsentiert.
„Nicht zu viel essen! Spiel!“, brummte Papa hinter seiner Sonntagskrone hervor, für die er meist nur 50 Cent statt einen Euro bezahlte. „Selber Schuld“, meinte er immer, „dass sie die Zeitungen am Sonntag in so lächerlichen Ständern verkaufen! Die müssen ja mit sowas rechnen!“ Von meiner Mutter bekam er dann immer einen bösen Blick.
Ja – auf alle Fälle war es Papas Art, mir an Spieltagen auf diese Art und Weise einen Guten Morgen zu wünschen. „Iss nicht zu viel, Spiel“, hörte ich dann immer hinter seiner halbgestohlenen Kronenzeitung hervor. Er erlaubte auch nicht, dass ich mit meinem Fahrrad zur Halle fuhr – da musste er immer den Chauffeur spielen, nicht zuletzt deswegen, da er ja auch immer auf der Tribüne Platz nahm und sich keines meiner Spiele entgehen ließ. Und dabei drohte er mir immer wegen meiner Schulleistungen den Handball zu streichen – das hätte er wohl nie gemacht.
An diesem Sonntag nahm sogar meine Schwester im Wagen Platz – was mich nach unserem Gespräch vom Vortag allerdings nicht mehr verwunderte. Sicher war sie auch neugierig auf `meinen´ Murat. Wie immer war ich an diesem Sonntag der erste, der die Umkleidekabine betrat – ich bin ja ein dermaßen abergläubischer Mensch, es wäre ein absolut böses Omen, würde irgendjemand meiner Teamkameraden vor mir da sein.
Ich saß also schon in voller Montur da, ehe die anderen eintrudelten, darunter natürlich auch Murat, der mir abermals ein schneeweißes Lächeln schenkte. Ein herrliches Gefühl zu sehen, dass er genauso gut drauf zu sein schien, wie ich selbst es war. Auch er wurde von seinem Vater zum Spiel gebracht, der ebenfalls auf der Tribüne Platz nahm. Vielleicht würde ich ihm ja meinen Vater im Anschluss an das Spiel vorstellen – das hing allerdings ganz vom Resultat ab. Unsere Mannschaft war eigentlich ja sehr schwer zu schlagen, aber nach Niederlagen war mein Vater oft mieser drauf als ich selbst – da war der Sonntag dann meist (auch wenn es wirklich selten vorkam, ehrlich!) im Eimer. An diesem Tag stand eine Niederlage allerdings nicht zur Debatte – die Mannschaft aus Zwettl war uns nicht im Geringsten gewachsen. Wir – allen voran Murat und ich – flogen förmlich durch die Halle und ließen unseren Gegnern keine Chance. Angriff über Angriff rollte auf das gegnerische Tor zu, wonach der Endstand von 31:14 keine Überraschung war.
Wie gut Murat und ich uns verstanden, sah man sogar an der Anzahl der erzielten Tore: Beide hatten wir je acht Treffer erzielt! Wie immer kosteten wir den Sieg nach dem Spiel in der Kabine voll aus – wobei ich das eigentliche Alter von uns Jungs (einschließlich mir selbst) in solchen Momenten oft stark anzweifelte, es erinnerte oft eher an kleine Kinder. Wir spritzen uns mit Wasser und Cola voll, skandierten einstudierte Jubelsprüche und freuten uns einfach über den Sieg.
Murat saß auf der Bank und beobachtete das ganze erstaunt und amüsiert zugleich – er schien sich eher nach innen zu freuen, lächelte vor sich hin und schien mit sich und der Welt im Reinen zu sein. Das hoffte ich zumindest.
Lediglich Bernhard – der sich als Freund mehr und mehr von mir zu entfernen schien – war sauer. Kurz vor Schluss hatte Murat einen seiner Angriffe nicht erfolgreich abgeschlossen. Anstatt Bernhard anzuspielen, der sich in einer wesentlich besseren Position zum Tor befand, warf Murat selbst – und zwar am Tor vorbei. Wie kleinlich muss man sein, bei so einem Sieg deswegen auf einen Teamkameraden sauer zu sein. Auf alle Fälle machte auch Bernhard an diesem Sonntag nicht bei den Jubelfeiern mit und würdigte Murat keines Blickes.
Als ich sah, wie Bernhard Murat gerade damit konfrontieren wollte, kam unser Trainer herein. Nur kurz verstummte der Lärm, nämlich als Burker uns verkündete, dass wir auch diesen Sommer wieder zu einem Turnier ins Ausland eingeladen wurden.
„Leute, freut euch auf – Bologna!“, verkündete er feierlich.
„Geil, Spanien!“, freute sich Eierkratzer-Jürgen und erntete dafür Spott und Hohn von uns allen.
Italien, Wahnsinn – leider waren es bis dorthin noch einige Schulwochen, dachte ich mir später unter der Dusche. Beim Verlassen der Halle sorgte leider abermals Bernhard dafür, meine gute Laune – wenn auch nur kurzfristig – zu trüben, indem er mir zuraunte: „ Na, Gott sei Dank müssen wir nicht in die Türkei!“
Volltrottel!
Meine Laune war nur kurzfristig getrübt, als plötzlich Murat und sein Vater vor mir standen. Sein Vater wirkte viel freundlicher als am Tag zuvor, er gab mir die Hand und gratulierte mir äußerst höflich zu unserem Sieg. Als auch mein Vater hinzukam, konnte ich mein Vorhaben verwirklichen: „Papa, das ist Murat und sein Vater!“
Unsere Väter schüttelten sich die Hände, was mich außerordentlich freute – falls es irgendwann aufgrund unserer Beziehung zu Komplikationen kommen sollte, war es gut, dass sie sich bereits kannten.
Dann kam mir spontan die Idee, mich für die Einladung zum Essen mit einer Gegeneinladung zu revanchieren. Ich flüsterte meinem Vater ins Ohr und bemerkte, wie Murat sofort rot anlief.
„Na, dann frag ihn doch. Für mich ist es kein Problem!“, brummte mein Vater in gewohnter Manier.
„Herr Korkusuz, wenn Sie es gestatten, würde ich mich gerne für die Einladung revanchieren und dafür heute Murat zu uns zum Essen einzuladen!“
Herr Korkusuz nickte kurz und wenig später saß eine Person mehr bei uns im Auto. Lisa schien einen Narren an Murat gefressen zu habe – sie schien ihn auf Anhieb genau so süß zu finden, wie ich es tat. In einem unbeobachteten Moment zwinkerte sie mir zu, so nach dem Motto: Guten Geschmack hast du, alle Achung! Meine Mutter war dann allerdings nicht so erfreut, als wir mit einem weiteren Esser zu Hause ankamen – zwar schien ihr Murat auch sofort sympathisch zu sein, allerdings hätte sie sich sicher für die Zubereitung eines anderen Mahls entschieden, hätte sie gewusst, dass Murat mitkommen würde.
Es gab nämlich Schweinebraten! Fuck!
Wie war uns das allen peinlich. So verzögerte sich unser Mittagessen an diesem Sonntag erheblich, da meine Mutter verzweifelt die Tiefkühltruhe durchwühlte, um schließlich eingefrorene Schwammerlsauce herauszufischen und diese für Murat auftaute und zubereitete.
„Hättest auch vorher fragen können“, brummte mich Papa an, der es vor der Halle noch ganz selbstverständlich fand, Murat einzuladen. Während ich in einer Tour rot anlief, schien Murat den ganzen Wirbel um sich zu genießen. Er saß still da und lächelte vor sich hin – nachdem er zunächst versucht hatte, meine Mutter zu überreden, sie solle sich wegen ihm keine Mühe machen. Doch meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr aufzuhalten. Keiner sollte sagen, sie wäre keine gute Gastgeberin!
Als mein Vater in der Küche verschwand, um sich ein Bier zu genehmigen, hatten Murat und ich zum ersten Mal an diesem Tag Gelegenheit, ein paar Minuten für uns zu haben.
„Super Spiel“, begann ich die Unterhaltung.
„Ja, war echt geil!“, antwortete Murat. „Deine Familie – also – ist total nett!“
„Ach – die sind alle verrückt“, lachte ich und wurde in der nächsten Sekunde bestätigt, als meinem Vater die gerade geöffnete Flasche Bier aus der Hand rutschte und knallend am Küchenboden zerschellte – sehr zum Missfallen meiner Mutter.
„Italien wird Klasse“, strahlte Murat. „Nur wir und die Mannschaft, herrlich!“
Da ich mich gerade unbeobachtet fühlte, griff ich kurz nach seiner Hand und stimmte ihm zu – Italien mit Murat, dass wir unbedingt ein gemeinsames Zimmer wollten, auch darin waren wir uns einig.
Schließlich saßen wir dann doch gemeinsam am Mittagstisch – ausgelassen und fröhlich, wie eine große Familie, bis plötzlich Herr Korkusuz an der Tür klingelte.
Nachwort
Liebe Leser, ich würde mich sehr, sehr, sehr über Feedback freuen!!^^
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