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Wie ein roher Diamant
Teil 5 - Jade
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Informationen
- Story: Wie ein roher Diamant
- Autor: Lumen
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Lovestory
Mitternacht
Der Nebel kroch wie zäher Schleim durch mein Zimmer. Es waren minus 10°C und ich spürte meine Zehen nicht mehr. Das Fenster stand sperrangelweit offen. Irgendwie hatte ich gedacht, dass die Kälte des Winters die Kälte in meinem Innern kompensieren könnte. Meine Fingernägel waren schon ganz blau und meine Muskeln zitterten unkontrolliert, doch der Schmerz kam nicht wirklich in meinem Gehirn an. Fast zwei Monate waren bereits vergangen und noch immer war ich nicht darüber hinweg, das Valandro mich einfach so abserviert hatte. Ich verstand es einfach nicht. Die Uni hatte meine ganze Aufmerksamkeit. Wenn ich arbeitete, kam ich wenigstens nicht dazu, nachzudenken und ich fiel abends einfach nur erschöpft ins Bett. Wenn ich dennoch kein Auge zu machen konnte, warf ich eben ein paar Schlaftabletten ein. Nur nicht nachdenken.
Vincent beobachtete das mit wachsender Besorgnis, aber er hütete sich davor, mich anzusprechen. Scheinbar hatte er ein schlechtes Gewissen, er hatte quasi das böse Omen heraufbeschworen. Ich war auch nicht gerade sehr gesprächig und hatte auch kein Problem damit, es den Leuten mitzuteilen.
Mit tauben Fingern schloss ich das Fenster wieder und kroch zurück in die klammen und eiskalten Laken meines Bettes. Es schüttelte mich regelrecht durch, meine Zähne klapperten in stetem Rhythmus aufeinander und ich rollte mich zu einem Ball unter meiner Decke zusammen.
Selbstgeißelung nannte man so etwas früher, glaube ich.
Ich bemerkte vor meiner Tür einen Schatten. Unter dem Türschlitz wurde das spärliche Licht für einen Moment verdrängt, dann bewegte sich der Schatten von mir weg. Doch er hatte etwas hinterlassen. In der Dunkelheit setzte sich der weiße Briefumschlag hell leuchtend von der Schwärze ab. Ich runzelte die Stirn. Wieder kroch ich aus dem Bett, schnappte mir den Umschlag. Es stand kein Name darauf, also öffnete ich ihn einfach. Ich trat etwas näher zum Fenster, um im geringen Licht der Nacht etwas zu erkennen.
Es waren zwei Kinokarten. Ich blinzelte verwirrt. Kurz keimte in mir die Hoffnung auf, es sei ein Geschenk von Valandro, aber die Vernunft versetzte meinem Herz einen Schlag in die Magengrube. Ich sollte aufhören zu träumen.
Im Inneren des Umschlages lag ein kleiner Zettel:
‚Lust auf Kino? Jan'
Meine Hand zitterte für einen Moment, als ich den Zettel einfach zerknüllen und die Tickets zerreißen wollte. Doch ich hielt inne.
Warum tat ich mir das selber an? Wollte ich etwa mein ganzes Leben damit verbringen, in Selbstmitleid zu zerfließen und Valandro nachzutrauern? Verdammt und zugenäht, ich war jung! Auf der Rückseite des Zettels hinterließ ich meine Nachricht:
‚Wehe du bist nicht pünktlich!'
Das, zusammen mit einer der Eintrittskarten steckte ich zurück in den Umschlag und schob ihn bei Jan unter der Tür durch.
Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht aufgeregt gewesen war. Ich tänzelte auf der Stelle, um mich vor dem Kino aufzuwärmen. Mein Gesicht hatte ich hinter meinem Schal verborgen und suchte den Vorplatz nach Jan ab.
In mir keimte das Misstrauen, dass er mich wieder mal nur verarscht hatte und ich so dumm gewesen war, darauf hereinzufallen. Ein nervöser Blick auf die Uhr, sagte mir, dass Jan noch genau zwei Minuten hatte.
Ich erschrak fast zu Tode als sich zwei kalte Hände auf meine Augen legten.
"Sogar zwei Minuten früher." Wisperte es an meinem Ohr und die Gänsehaut,
die über meinen Körper kroch, gesellte sich zu der, die bereits durch die
Kälte entstanden war.
Ich entwand mich ihm und murmelte: "Will ich dir auch geraten haben. Ich
frier mir hier fast den Hintern ab."
"Oh, nun DAS wollen wir ja vermeiden, nicht?" grinste er dreckig.
Wider erwarten, entlockte mir das ein Lächeln. Ich boxte ihm spielerisch gegen die Schulter und betrat einfach das Kino. Es dauerte nicht lang und die Wärme begann an meinen Ohren und Füßen zu knabbern wie tausend kleine Ameisen.
"Geh schon vor, ich hol uns noch was." Schickte mich Jan los.
Ein Seufzen kroch über meine Lippen. Ein Doppelsitz. Okay, hier ging es nicht einfach nur darum, mich aufzuheitern! Ich schälte mich aus meinen Kleiderschichten, wie eine Zwiebel aus ihren Pellen, und wartete gespannt. Der Saal füllte sich langsam. Jan setzte sich nach ein paar Minuten Abwesenheit neben mich und reichte eine Cola sowie eine Tüte Popcorn an mich weiter. Eigentlich mochte ich diese Pappe nicht. Es quietschte wenn man es kaute und manchmal blieb die harte Schale der Maiskörner zwischen den Zähnen stecken oder klebte unangenehmer Weise am Gaumen. Doch Jan zuliebe - woher sollte er es auch wissen - nahm ich ein paar. Zumindest rochen sie gut.
"Woher wusstest du, dass ich den Film sehen will?" fragte ich nach und betrachtete Jan.
Der zuckte die Schultern. "Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Ich hab’s einfach mal auf gut Glück probiert. Umso besser, wenn ich richtig lag." Sein Schuljungengrinsen machte ihn plötzlich sympathisch, animierte mich dazu, es mit einem Lächeln zu erwidern. Ich wandte den Blick ab und hielt mich an meiner Cola fest. Jedes Mal wenn er sich bewegte schwappte ein Duftwölkchen seines Parfüms zu mir herüber. Ich ertappte mich dabei, wie ich es begierig einsog. Es war noch immer ‚Wild Wind'. Ich rutschte unauffällig näher. Plötzlich fand ich die Idee des Doppelsitzes gar nicht mehr so schlecht. Ach was sollte es...
Nachdem die halbe Stunde Werbung und der nervende Eisverkäufer aus dem Saal verbannt worden waren, legte sich angenehme Dunkelheit über uns. Und ich machte einen Anfang. Jans Duft zog mich förmlich an, wie das Licht die Motte. Obwohl ich diesen Vergleich mehr als unpassend fand. Erst etwas steif lehnte ich mich an ihn, wurde aber sofort weich, als er wie selbstverständlich seinen Arm um mich legte.
Es war doch nichts dabei. Man konnte es nicht einmal als kuscheln bezeichnen, es war eben nur eine bequemere Sitzposition.
Jan schob sein Bein unter meines und legte locker seine Hand auf meinen Oberschenkel. Auch DABEI war noch nichts Besonderes. Dennoch klopfte mir mein Herz fast bis zum Hals. Das was ich bisher vom Film mitbekommen hatte, reichte keinesfalls aus, um zu sagen, worum es ging oder was bisher passiert war.
Sofort versteifte ich mich, als ich merkte, wie Jan sich bewegte. Er würde doch nicht... nicht hier... und jetzt, das konnte er unmöglich bringen!
Seine Hand auf meinem Schenkel übte sanften Druck aus, als er sich zu mir beugte und mir einen Kuss aufdrückte. Mein Schock währte nur wenige Sekunden. Es war dunkel und keine Sau interessierte es, wenn ein Pärchen im Kino knutschte. Mein Verstand wurde akkurat abgesägt. Fühlen war die Devise, nicht denken.
Ich entspannte mich und begann, seinen Kuss zu erwidern. Seine Lippen waren noch immer so weich wie ich sie in Erinnerung hatte. Jans Überraschung flutete in mich über. Ich spürte sie und lächelte leicht in den Kuss. Das nahm er wohl als Zeichen, denn nur wenig später fühlte ich seine Zungenspitze, die Einlass fordernd über meine Lippen strich und sich dazwischen drängte.
Wie ein Bumerang traf mich mein wieder funktionierender Verstand am Kopf. Ich spürte seine Zunge in meinem Mund und realisierte, dass er mich an das andere Ende des Sitzes gepresst hatte, halb auf mir lag.
Mit den Handflächen drückte ich gegen seine Schultern und sprach, sobald sich seine Lippen von meinen getrennt hatten.
"Du hättest auch gleich fragen können ob ich mit dir ficke..." zischte ich. Jan zog die Stirn in Falten, zog sich zurück. "Hey sorry." Er hob abwehrend die Hände nach oben. "Ich habe eben vergessen, dass du ein Landei bist."
Da hätte er auch gleich sagen können, dass er mich für verklemmt hielt. Ich starrte ihn wütend an. Meine Hand griff das nächststehende was sie erreichen konnte und der restliche Inhalt der Popcorntüte ergoss sich über Jans Kopf.
"Fick dich!"
Die Blicke der anderen waren mir so was von egal. Ich schnappte nur meine Jacke und verließ den Kinosaal, hörte Jan hinter mir fluchen und aus einigen Ecken das gehässige Lachen und geschäftige Tuscheln anderer Kinobesucher.
Ich zog meinen Schal so fest um meinen Hals, dass ich mich fast selbst strangulierte. Noch bevor ich die Ausgangstür des Foyers erreichte, hielt mich Jan am Arm zurück.
"Würdest du BITTE aufhören, mir Lebensmittel über den Kopf zu schütten!? Das wird irgendwann lästig!" meinte er scharf, während ich ihn feindlich anblitzte. "Was zum Geier ist denn nun schon wieder los?"
Er sah ehrlich ratlos aus, hielt mich aber weiter am Arm, beim Anblick meiner Verfassung erschien ihm das wohl richtig. Er zog mich nach draußen.
"So, hier bist du hoffentlich weit genug weg, um Nahrungsmittelmissbrauch zu begehen." Ein zynisches Lächeln umspielte seine Lippen, während er sich einige Popcornstücke aus den Haaren klaubte.
"Ich hab’s kapiert Jan, okay!? Und ich lass mich darauf nicht ein!"
"Hättest du auch die Güte mir zu erzählen, was du kapiert hast? Ich glaube, ich war da gerade Kreide holen."
"Wann hast du es dir in den Kopf gesetzt, mich flachzulegen? Als wir uns kennen gelernt haben oder als Valandro mit mir zusammen war?" Ich hatte die Hände in die Hüfte gestemmt.
Oh ja, ich hatte begriffen. Ich stand als ‚Jungfrau' auf seiner Abschussliste. Da konnte er ja nicht tatenlos zusehen, wie ein anderer seinen Preis wegschnappte. Und jetzt wo er Valandro erfolgreich vertrieben hatte, konnte er seinen Plan weiterverfolgen.
Jan wedelte aufgeregt mit den Händen.
"Hey, Moment. Sehe ich das richtig, du denkst, ich will dich nur ficken und dann verliere ich das Interesse an dir?" Er öffnete erneut den Mund, doch schloss ihn gleich wieder. Ich konnte ihm ansehen, wie es in seinem Hirn arbeitete. Geduldig wartete ich, bis sein Prozessor die Daten verarbeitet hatte, und ich ihm eine Antwort zuteil werden ließ.
"Ja..." meinte er gedehnt und seufzte tief. "Ich gebs zu. Aber mittlerweile..." hilflos gestikulierte er mit den Händen, um mir etwas mitzuteilen.
"Alex, ich bin total unbegabt in so was und wahrscheinlich waren meine Versuche mehr als plump, aber ich hab mich in dich verliebt... glaub ich." Fügte er unsicher an.
"Glaubst du, ja?" fragte ich giftig.
"Ja, verdammt. Ich kenn mich mit dieser ganzen Gefühlskacke nicht aus, aber sogar ich merke, dass das mit dir was anderes ist. Denkst du, du wärst es sonst wirklich wert, dass ich mich so um dich bemühe?"
Das hatte gesessen. Ich starrte ihn sprachlos an. Vor Wut schossen mir die Tränen in die Augen, die ich ärgerlich wegblinzelte und stattdessen mit meinem Fuß gegen Jans Schienbein trat. Wortlos wandte ich mich um und lief los.
Natürlich nicht! So ein Langweiler wie ich war es doch nicht wert, dass ein Herr Schönfeldt sich mit ihm abgab. Was für eine dumme Frage. Wo das doch so glasklar war!
"Scheiße!" hörte ich Jan hinter mir fluchen, dann aufgeregte Schritte, die mir folgten. "Alex! Warte!" Er schloss immer mehr zu mir auf, doch ich wollte nicht stehen bleiben.
"Himmel, Arsch und..." seine Hand grub sich erneut in meinen Arm, riss mich herum. Wütend starrte er mich an, dass ich erschrocken einen Schritt zurücktaumelte.
Seine freie Hand umfasste mein Kinn hart, um mich zu zwingen, ihn anzusehen. "Jetzt hör mir mal zu, Klugscheißer! Ich bin vielleicht kein Gentleman, aber sogar ich habe Gefühle, okay? Und irgendwann reicht es, dass du die mit Füßen trampelst." Jans knallblaue Augen blitzten auf, dass es mir eiskalt den Rücken runterlief. Meine wirkten mit Sicherheit wie die eines zu Tode verängstigten Rehs. Seine Stimme war so eisig, dass selbst der Frost vor Neid erblassen würde. Er klang als hätte er Glas gefressen.
"Entweder du glaubst mir oder nicht! Ich kann es nicht ändern! Seit ich dich das erste Mal gesehen habe, gehst du mir nicht mehr aus dem Kopf und das ist total neu für mich! Also, du hast die Wahl: Glaub es mir oder glaub es mir nicht! Es war vielleicht nicht gerade feinfühlig ausgedrückt gerade, aber ich muss mich auch erstmal damit anfreunden." Mit einem Ruck ließ er mich los und stand schnaufend vor mir. Am liebsten wäre ich irgendwo im Boden versunken und nie mehr aufgetaucht. "Wenn du dich beruhigt hast und mir etwas sagen willst... du weißt ja wo ich wohne." Ich blieb wie vom Donner gerührt stehen und sah ihm nach, wie er wütenden Schrittes die Straße hinunter verschwand. Da hatte ich wohl mal wieder ziemlichen Mist gebaut.
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