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Wie ein roher Diamant

Teil 9 - Falkenauge

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Mit einem mulmigen Gefühl betrachtete Alexander die Wolken unter sich. Hier und dort rissen sich ein paar Löcher in die dichte Masse unter ihm und gaben den Blick auf die Landschaft frei, auf die er bald einen Fuß setzen würde.

Es war lang, sehr lang her, das er hier gewesen war.

Er schloss die Augen und lehnte sich tief durch atmend in seinen Sitz zurück.

Gleich nach dem Anruf hatte er sich einen Flug gebucht und war fünf Stunden später aus Mailand nach Berlin unterwegs.

Ob er ihm begegnen würde?

In den ganzen Jahren hatten Vincent oder Steffen nie ein Wort über Jan verloren.

Ein verärgertes Schnaufen erklang und er spürte, wie der fragende Blick seines Sitznachbarn auf ihm lag.

Langsam öffnete er die Augen und sah wieder aus dem Fenster. Vielleicht eine halbe Stunde, dann würde er landen und nach ewig langer Zeit deutschen Boden betreten.

Es waren fast zwanzig Jahre vergangen und trotzdem konnte er ihn einfach nicht vergessen. Immer wieder, meist in einem unbedachten Moment, kam die Erinnerung an ihn aus seinem Gedächtnis gekrochen. Es kostete ihn viel Mühe, ihn wieder dahin zustopfen wo er hergekommen war. Allerdings fand er nie den Schlüssel, um die ganze Sache endgültig abzuschließen und weg zu sperren zu können.

Dieser verantwortungslose Idiot hatte es sogar in seiner über Tausende Kilometer weiten Abwesenheit geschafft, Alexanders Leben weiter zu beeinflussen. Besonders einige Beziehungen. Eigentlich alle.

Gescheitert daran, dass er im Geiste noch immer an Jan hing.

Und das, nach all dem, was er ihm angetan hatte.

"Verflucht!", brummte er leise.

Wieder ein Blick, diesmal argwöhnisch. Sein Sitznachbar sah ungeduldig auf die Uhr. Anscheinend wurde ihm Alexander immer suspekter.

Nervös begann er mit den Fingerspitzen auf der Sitz lehne zu trommeln.

Vielleicht war Jan gar nicht mehr am Leben!?

Hatte sich besoffen von einem Bus überfahren lassen. Oder war total zugedröhnt von einer Brücke gestürzt. Oder hatte sich von einem Liebhaber erdrosseln lassen.

Wieder ein Schnaufen.

Als ob er ihm diesen Gefallen tun würde. Aber diese Gedanken waren nur ein paar der Alternativen die sich Alexander im Laufe seines Lebens für ihn hatte einfallen lassen.

Wann immer eine Beziehung gescheitert war, brachte er Jan in Gedanken auf die ein oder andere Weise, mehr oder weniger grausam, um die Ecke.

Valandro hatte gut lachen, er hatte sein Glück gefunden.

Während er, mit fast 40, noch immer Single war.

Alexander wurde aus seinen Gedanken gerissen, als die Stewardess ihn bat sich an zu schnallen, da sie zur Landung ansetzen würden.

Er schluckte den Frosch, der sich inzwischen zu einer dicken fetten Kröte entwickelt hatte, in seinem Hals hinunter.

Alexander hatte sich gewünscht, aus anderen Gründen den Flughafen zu betreten, von dem er vor fast zwei Jahrzehnten nach Italien abgeflogen war.

Er hatte es einfach nie über sich bringen können, Berlin wieder zu betreten. Vielleicht war es pure Feigheit, aber der Gedanke Jan wieder zu sehen, war einfach nicht tragbar für ihn gewesen.


Jan stand in der großen Halle vor den Schaltern, an denen sich eine dichte Menge an Menschen unterschiedlichster Herkunft drängten. Ein Gewirr aus Fremdsprachen, Lautsprecher ansagen und dem Surren der Gepäckwagen drangen nur wie durch Watte in seine Ohren.

Sein Blick hing gebannt an der Anzeigetafel. Der Flug war planmäßig und würde in zehn Minuten eintreffen.

Jan rieb sich die schwitzigen Handflächen an seiner Jeans ab.

Er war ein Erwachsener, und zugegeben alter Mann, und trotzdem war er aufgeregt wie ein Schuljunge.

Wie würde Alexander wohl auf ihn reagieren?

Mit Sicherheit nicht angenehm, soviel stand fest.

Wie er aussah? Wie seine Stimme klang?

Sein Herz begann wie ein kleiner Vogel in seiner Brust zu flattern.

Mit der Zungenspitze fuhr er sich über seine trockenen Lippen.

Vielleicht war das die zweite Chance, um die er immer wieder gebeten hatte!?

Seine erste hatte er ja gründlich vergeigt.

schwanzgesteuert und zugedröhnt wie er gewesen war, hatte er nicht an etwaige Folgen gedacht, als er seine Zunge im Hals irgendeines Kerls versenkt hatte, um ihm danach begierig an die Wäsche zu gehen.

Zu dumm, das Alexander ihm auf die Party gefolgt war und alles gesehen hatte.

Jan seufzte tief.

So schlimm hatte er das gar nicht gefunden. Immerhin war es nur der reine Sex gewesen. Er konnte sich weder an den Namen noch an das Gesicht des Typen erinnern.

Allerdings hatte ihm Alexander deutlich gemacht, das er es weit aus mehr als nur ‚schlimm' gefunden hatte.

Irgendwann am späten Nachmittag, als er in soweit wieder hatte klar denken können, dass er das Fehlen seines Freundes bemerkt hatte, hatte ihm Vincent mitgeteilt, das Alexander gar nicht zu Hause gewesen war.

Als erstes hatte ihn eine Welle purer Panik ergriffen.

Er hatte Alexanders blassen, geschundenen Leib schon leblos in der Spree treiben sehen.

Doch der vernichtende Blick und die Information, dass Vincent Alexander die Adresse der Party gegeben hatte, ernüchterten Jan schlagartig.

Alexander war aus- und bei Valandro eingezogen.

Die italienische Schmalzlocke. Er hätte es ja wissen müssen.

So eifersüchtig wie er gewesen war, hatte er plötzlich den Betrogenen gespielt und Alexander unterstellt, sich von Valandro hatte einlullen zu lassen.

Die Dämmerung kam ihm leider zu spät.

Damals hatte er nur noch zusehen können, wie das Flugzeug sich in die Luft erhoben und Alexander mit sich genommen hatte.

Und feige wie er war, war er nie auf die Idee gekommen, ihm hinterher zu reisen und wieder zu holen. Oder sich zumindest aufrichtig bei ihm zu entschuldigen.

Ein handfester Streit beim Koffer packen, war das letzte Mal gewesen, dass sie einander begegnet waren.

Und das lag Jan seit Jahren wie ein zentnerschweres Geschwür im Magen.

Irgendetwas bereitete ihm Schmerzen.

Jan senkte den Kopf und sah in das verrunzelte und faltige Gesicht einer alten Dame die eine gestrickte violette Bastmütze mit Bommel trug. Sie war zwei Köpfe kleiner als er und stieß ihm zum wiederholten Male ihren Gehstock gegen die Schulter.

"Sie stehen mir im Weg."

Jan blinzelte verwirrt. "Was?"

"Sie stehen mir im Weg!"

"Oh, äh...Verzeihung", murmelte Jan und trat zur Seite. Zu beiden Seiten war mindestens ein Meter Platz gewesen, aber anscheinend stand er mittig ihres Weges. So wie bei einer Ameisenstraße.

Sie zog ihren kleinen Koffer hinter sich her und die Rollen bettelten um einen Spritzer Öl.

Jan rieb sich die Stelle, an der sich die Spitze des Stocks in seine Jacke gebohrt hatte und sah erneut auf die Tafel.

"Oh Mist!"

Das Flugzeug war bereits gelandet.

Sein Koffer war einer der Ersten und so stand Alexander nun vor dem Flughafengebäude.

Er atmete tief ein, und hatte das Gefühl, dass seine Lungen platzen würden.

So sehr viel anders, als in Mailand roch es in Berlin auch nicht. Bis auf den vertrauten Duft von Currywurst und altem Frittierfett.

Alexanders Magen knurrte laut auf. Mit einer Hand rieb er sich über den Bauch.

Erst würde er ins Krankenhaus fahren, dann würde er etwas essen.

Er beugte sich an der Beifahrerseite eines Taxis herunter, um sich bei dem Fahrer stumm zu vergewissern, dass dieser ihn auch chauffieren würde.

Danach landete das Gepäck im Kofferraum und Alexander stieg ein.

Während der Fahrer den Blinker setzte, versuchte sich ein Mann durch eine Gruppe Japaner zu drängeln, die aufgeregt mit ihren Kameras das deutsche Flughafen treiben dokumentierten.

Doch das Taxi war schon weg, als Jan es geschafft hatte, am Gehsteig anzukommen.


Alexander schob die Gardine beiseite und warf einen Blick aus dem Fenster.

Keiner wusste, dass er hier war.

Es wäre kein Problem gewesen bei Steffen und Vincent zu wohnen, für die Dauer seines Aufenthalts. Aber schließlich hatten beide genug damit zu tun, ihren Alltag auf die Reihe zu bekommen. Seit einem Unfall saß Vincent im Rollstuhl und das hatte mehr als eine Veränderung in ihr Leben gebracht.

Nicht nur, dass sich Vincent beruflich einschränken musste. Sie brauchten außerdem eine neue Wohnung. An für sich das kleinere Übel im Gegensatz zu der Tatsache das ihre Beziehung ziemlich unter dem Umstand zu leiden hatte, das Vincent nicht mehr gehen konnte.

Alexander wollte sie nicht noch mit seiner Anwesenheit belasten. Er wollte nicht Zeuge von ihren Streitigkeiten werden.

Aber zum Großteil wollte er sich nicht erklären müssen.

Die ganzen Jahre war er selten zu Besuch gekommen. Seine Familie hatte er öfters gesehen. Meistens zu Weihnachten oder einem großen Geburtstag.

Seine Freunde waren eigentlich immer nach Italien gekommen.

Alexander wandte sich um und rieb sich die Stirn.

Wie kindisch. Nur wegen eines einzigen Mannes, der ihn vor zwanzig Jahren betrogen hatte, war er ausgewandert.

Dieser Gedanke brachte ihn zum Lachen. Warum kam er erst jetzt darauf? Warum kam es ihm erst jetzt so lächerlich vor?

Nicht das es ein Fehler gewesen war. Alexander hatte sich in Mailand eine Existenz aufgebaut. Eine ziemlich überdurchschnittliche sogar.

Und trotzdem, was blieb ihm am Ende?

Eine große Wohnung, in der er allein sterben würde. Nicht gerade das, was er sich von seinem Leben erhofft hatte.

Und wieder trieb alles auf einen Gedanken zu: Jan.

Alexander trat wütend gegen das Hotelbett. "Verdammt!", fluchte er, ließ sich darauf fallen und warf seinen Schuh quer durch das Zimmer. Während er sich die schmerzenden Zehen massierte, versuchte er tief durchzuatmen.

Eine Woche, vielleicht zwei. Dann würde er nach Italien zurückkehren und das alles hier vergessen.

Wenn er Glück hatte.


Seit geraumer Zeit lief Jan unschlüssig vor dem Hotel hin und her.

Der Portier musterte ihn bereits argwöhnisch. Anscheinend versuchte er abzuwägen, was Jan vor hatte und was er als Konsequenz daraus ziehen würde.

Aber das war Jans geringstes Problem.

Er konnte schlecht hinein marschieren, nach Alexanders Zimmernummer fragen und einfach an dessen Tür klopfen. Wenn alles gut ging, würde er nur mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus landen.

Vincent hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wenn sie von einem Besuch aus Mailand wieder kamen, dass Alexander immer noch wütend auf ihn war. Und damit kalt lächelnd in der Lage, ihn umzubringen.

Er blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. Murrend nahm er zur Kenntnis, dass es nur noch eine war und die ziemlich verbeult. Mit zitternder Hand nahm er einen ersten Zug.

Warum war er hier?

Weil er nach all den Jahren immer noch an Alexander denken musste.

Er war der erste gewesen für den er annähernd Gefühle empfunden hatte. Gefühle die beziehungstauglich waren, und nicht nur bis zur Bettkante reichten und dann nach dem Orgasmus in der Luft verpufften.

Jan musste über sich grinsen.

Er war ein Idiot. Er wollte sich für etwas entschuldigen, das bereits Jahrzehnte zurücklag. Anstatt es ab zu haken, konnte er nicht aufhören daran zu denken.

Egal wie viel Pillen er sich eingeworfen hatte. Egal mit wie viel Typen er es getrieben hatte, Alexander war immer wieder in seine Gedanken zurückgekehrt.


Erst dachte Jan, er würde ihn gar nicht erkennen. Und für einen Moment wirkte es auch so, als würde Alexander an ihm vorbeigehen ohne von ihm Notiz zu nehmen.

Doch er blieb stehen.

Es erinnerte nicht mehr viel an den schlaksigen jungen Mann, der viel zu gern über seine eigenen Füße stolperte.

Sein Gesicht war kantiger, männlicher geworden. Und wenn Jan richtig sah, hatte Alexander sogar schon kleine Krähenfüße an den Augenwinkeln, Lachfalten an den Mundwinkeln und eine kleine Verdickung oberhalb des Nasenbeins.

"Wann hast du dir die Nase gebrochen?"

"Vor zehn Jahren, bei einem Fußballspiel."

Über Jans Rückgrat kroch ein Schauer, und jedes feine Härchen stellte sich dabei auf. Seine Stimme war tiefer geworden. Wie er jetzt wohl beim Sex klang?

Alexander schien ihm wohl seine Gedanken anzusehen, denn er schob sich an ihm vorbei und lief weiter. Jan folgte ihm eilig.

"Du siehst gut aus", meinte er fast schüchtern.

"Was man von dir nicht behaupten kann", entgegnete Alexander trocken, ohne ihn dabei anzusehen.

"Touchè", murmelte Jan. Er wusste selbst, das die Jahre in denen er zügellos Partys gefeiert, raue Mengen Alkohol und Drogen konsumiert hatte, nicht spurlos an ihm vorbeigegangen waren. Aber so genau wollte er das gar nicht wissen.

Zumindest hatte er ihm keine runter gehauen. Das war doch schon mal ein guter Anfang.

"Ich würde dich gern einladen. Vielleicht heute Abend in den Stadtkeller!?"

Nur nicht zu viel Hoffnung in die Stimme legen.

"Wozu?"

"Ähm, na ja...um unser Wiedersehen zu feiern?" Jan grinste schief.

Alexander würdigte ihn noch immer keines Blickes.

"Da gibt es zu viele Zeugen und niemand würde mir glauben, es handle sich um Notwehr." So klang es also, wenn jemand Glas gefressen hatte.

Jan griff Alexander am Ärmel seiner Jacke und zog ihn halb zu sich herum. Er suchte seinen Blick.

"Lass uns reden. Bitte."

Alexanders Muskeln waren zum zerreißen gespannt, und er musste sich mühsam beherrschen, seinen Arm Jan nicht zu entreißen. Er atmete tief durch.

"Ich wüsste nicht, was das bringen sollte."

"Lass es mich erklären. Soll ich auf die Knie fallen und dir die Schuhspitzen küssen, damit du mir wenigstens zuhörst?"

"Wäre schon mal ein Anfang."

Jan suchte nach einem Zeichen, das es rhetorisch gemeint war. Doch allem Anschein nach schien es Alexanders Ernst zu sein.

Ja, er hatte einen Fehler gemacht. Aber erniedrigen würde er sich nicht. Trotzig sah Jan ihn an, ließ seinen Ärmel los und schnaufte abfällig.

"Ich mach mich doch nicht zum Trottel. Ich werde nicht betteln Alexander. Wenn du es dir anders überlegst. Ich werde ab acht an der Bar zu finden sein!"

"Wo auch sonst", murmelte Alexander und sah Jan nach, der wütend die Straße hinunter stampfte. In seinem Kopf blitzte eine Erinnerung auf.

Ihre erste Verabredung. Ein Kinobesuch und das Popcorn in Jans Haaren. Damals war er genauso wütend abgerauscht.

Für einen Moment schloss er die Augen und atmete mehrmals tief ein und aus. Sein Herz raste in seiner Brust und er hasste sich dafür, dass diese eine Berührung, seinen kompletten Körper in einen Ausnahmezustand versetzt hatte. Sogar durch den Stoff hindurch.

Wie konnte es nur möglich sein, dass Jan selbst nach all diesen Jahren, so eine Macht über ihn besaß?

Vor allem. Woher, zum Geier, wusste Jan, dass er hier war?


Alexander setzte sich.

Er fragte sich zum hundertsten Mal warum er eigentlich hier war. Wahrscheinlich sah er es als Möglichkeit, das ganze Kapitel endgültig abzuschließen.

Er hatte sich zurück gelehnt und die Arme verschränkt. Abwartend musterte er Jan.

Der fühlte sich ziemlich unbehaglich.

"Ich habe uns schon etwas zu trinken bestellt. Ich hoffe es macht dir nichts aus." Warum nur war er so nervös? Er fühlte sich wieder wie ein 15jähriger bei der ersten Verabredung.

Alexander hob nur die Schultern. Er hatte nicht vor sehr lange zu bleiben. Er würde sich anhören, was Jan zu sagen hatte und dann würde er gehen und nie wieder einen Gedanken an ihn verschwenden. Soweit zur Theorie.

Jan atmete tief durch und suchte Alexanders Blick. "Das was damals passiert ist,...ich hab nicht nachgedacht."

Ein verächtliches prusten.

"Ich will mich dafür entschuldigen." Jetzt war es heraus, und es war keinesfalls leichter als vor 20 Jahren.

Erneutes prusten.

Jan sah Alexander an, mit dem Blick eines misshandelten Tieres.

"Und was erwartest du jetzt? Absolution?"

"Eigentlich nur, dass du mir glaubst. Und das wir vielleicht wie Erwachsene miteinander umgehen können."

"Hör zu Jan. Du wolltest dieses Treffen. Wenn du für dein Seelenheil Rettung suchst, tu es bei irgendeinem Kerl. Das kannst du doch so gut!"

Alexanders Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden und sein Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er Jan am liebsten gevierteilt und in Flammen aufgehen lassen würde.

"Verdammt, es ist zwanzig Jahre her. Ja, ich habe dich verletzt. Aber mein Gott, ich habe schließlich nicht versucht dich umzubringen."

Stille. Jan hatte gedacht, eine weitere Welle Gift würde wie ein Tsunami über ihn hereinbrechen, doch stattdessen: Schweigen.

Alexander war merkwürdig blass geworden und die heraustretenden Kieferknochen zeigten, dass er gerade die Zähne aufeinander presste.

Eine eisige Ruhe legte sich über ihn. Er fixierte Jan und hatte ein verbittertes Lächeln auf den Lippen. "Du hast es nicht getan, oder?"

"Was?" fragte Jan ehrlich irritiert. "Was habe ich nicht getan?"

"Warst du jemals bei einem Arzt?"

"Wozu? Wegen dem bisschen Schnupfen und Husten", und Restbeständen an Drogen im Blut...

Jan zuckte die Schultern.

Alexander lachte humorlos auf. Er atmete tief ein und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar.

"Was... Alexander, bist du krank?", fragte Jan verunsichert. Er griff nach Alexanders Hand, doch der entzog sie ihm noch bevor Jan sie berühren konnte.

"Was? Was ist es?"

"Ich sollte gehen. Es war ein langer Tag." Alexander erhob sich und legte Geld für seinen Drink auf den Tisch, Jan nutzte die Chance und umfasste sein Handgelenk. Er sah zu ihm auf.

"Alex, warte! Was ist es? Ich will dir helfen!"

Alexander kämpfte gegen den Drang an, sich gewaltsam loszureißen und bedachte Jan mit einem Blick, der einen Vulkan zum erlöschen gebracht hätte.

"Danke, aber ich glaube, sterben kann ich noch allein."

Verwirrung machte sich auf Jans Gesicht breit. Er kapierte nicht.

"Ich habe Aids."

Als diese drei Worte in Jans Hirn angekommen waren, ließ er Alexander los, als habe er sich verbrannt. Mit großen Augen starrte er ihn einfach nur fassungslos an.

Ein verkrampftes Lächeln zeigte sich auf Alexanders Gesicht. Diese Reaktion war nichts, was er nicht schon kannte und er hatte sie erwartet. Er presste die Handfläche auf die Tischplatte und beugte sich noch ein wenig herab um Jan in die Augen zu sehen.

"Und ich habe es von dir."


"Möchten sie jetzt bestellen?"

Die Stimme des Kellners holte Jan in die Gegenwart zurück. Er blinzelte und sah ihn verstört an. "Was?"

"Ob sie bestellen möchten?", wiederholte sich der Kellner geduldig.

Jan warf einen Blick auf den Stuhl gegenüber. Er war leer.

Doch das unberührte Glas Wein stand noch immer an seinem Platz. Alexander.

Es war also keine Einbildung gewesen.

"Nein. Ich will zahlen."

Während der Kellner ging um die Rechnung zu holen, versuchte Jan seine Gedanken zu ordnen.

War das der Grund gewesen, weshalb Valandro ihn angerufen hatte? Was sollte er jetzt tun? Sollte er überhaupt etwas tun?

Plötzlich stieg Panik in ihm auf.

Er hatte Aids. Das hieß, er würde sterben.

Doch woher sollte Alexander wissen, dass er sich bei ihm angesteckt hatte. Er konnte es sich doch auch bei sonst wem geholt haben. Warum ausgerechnet von ihm? War es nur seine Rache?

Jan zwang sich zur Ruhe. Er sollte lieber nachdenken, was er jetzt tun sollte, anstatt einen Nervenzusammenbruch zu erleiden.

Als er das Restaurant verlassen hatte, entschied er sich vor allem anderen, sich an diejenigen zu wenden, die ihm am nächsten standen.

Rational gesehen, waren andere immer besser in der Lage einem zu sagen, was man tun sollte.

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