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Jazz'n'Boogie

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Wenn euch der ein oder andere Charakter oder Ort in dieser Geschichte bekannt vorkommt, dann habt ihr TJs „Mit anderen Augen“ gelesen, wenn nicht, wird’s Zeit *lach*.

Thomas hat mir dankenswerterweise seinen „Miguel“ überlassen, dessen Geschichte ich hier aufgeschrieben habe. Vielen Dank an Torsten, der mich in Sachen Interpunktion geerdet hat (war ich doch der Meinung selbige einigermaßen zu beherrschen) und Guido, der mich auf nicht wenige Stilmängel und weitere Kommafehler hingewiesen hat.

Der zweite Teil ist auch schon fast fertig und das Gesamtwerk steht Euch hoffentlich rechtzeitig zu Weihnachten 2022 zur Verfügung. Viel Spaß beim Lesen und scheut Euch nicht, mir vielfach Feedback zu geben. Denn wenn es niemanden außer mich interessiert, brauch ich auch nichts zu veröffentlichen.

Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch.

Raphael

Auf der vierstündigen Autofahrt hatte ich schweigend neben meinem Vater gesessen, der mich unbedingt einen Monat nach Schuljahresbeginn in dieses „gemischte Internat“ verfrachten musste. Der hatte nach mehreren vergeblichen Anläufen, ein Gespräch mit mir in Gang zu bringen, entnervt aufgegeben. Was erwartete der eigentlich, nach dem er mich jäh aus meinem gewohnten Umfeld gerissen hatte?

‚Hier soll ich also den Rest meines Lebens verbringen‘, schoss es mir durch den Kopf, als ich auf das schwere Eingangsportal des großen Hauses starrte. Okay, okay, den Rest meines Schülerlebens. Das Internatslogo, welches über der Tür in Stein gemeißelt war, wiederholte sich in dem großen Beet vor dem Eingang in einem Arrangement aus verschiedenen Pflanzen und Blumen.

Der Maybach war zum Stehen gekommen. Wir luden mein Gepäck aus und ich folgte lustlos meinem forsch vorauseilenden Vater ins Gebäude. Auf der Treppe wurde ich von einem herabstürmenden, schwarzhaarigen Jungen in meinem Alter heftig angerempelt. Fast wäre ich rückwärts gestürzt.

„Kannst du nicht aufpassen, Idiot?“, blaffte ich ihn an.

„Selber Idiot, was eierst du auch hier auf der Treppe rum?“, fauchte er zurück und war so plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Das Sekretariat war gut ausgeschildert. Kurz darauf standen wir im Vorzimmer des Direktors.

„Guten Tag, mein Name ist Dr. Hausner, das ist mein Sohn Raphael. Ich habe einen Termin bei Dr. Neubert.“

„Guten Tag Herr Dr. Hausner, Raphael, mein Name ist Schmitt, Dr. Neubert erwartet Sie schon.“

Den angebotenen Kaffee nahm mein Vater, der alte Schnorrer, sofort an, obwohl er sonst nur Tee trank. Schon öffnete sich die schwere, lederbespannte Zwischentür zum Büro des Direx und eben der ging auf meinen Vater zu. Mit geschätzten 1,85m überragte Herr Neubert meinen Vater um einige Zentimeter. Mit seiner blauen Jeans mit dem beigen Jackett schätzte ich ihn trotz seiner schlohweißen Haare auf Ende Fünfzig.

„Neubert, Guten Tag Herr Dr. Hausner.“

„Guten Tag Herr Dr. Neubert“, beeilte sich mein Vater den Gruß mit einer leichten Verbeugung zu erwidern.

Über den Rand seiner Nickelbrille schaute Herr Neubert zu mir.

„Hallo Raphael, willkommen im Johann-Heinrich-Pestalozzi-Internat. Möchtest du auch etwas trinken?“

Ich lehnte höflich ab, obwohl mir schon der Sinn nach einer Cola oder so stand, doch war mir dieser Ort einfach unsympathisch.

„Wenn Sie mir bitte folgen wollen“, bat uns Dr. Neubert in sein Büro.

„Nun, Herr Dr. Neubert, bestimmte Umstände erfordern es, dass wir unseren Sohn kurzfristig in Ihre Obhut geben müssen. Es wäre wirklich schön, wenn er an Ihrem Institut in drei Jahren sein Abitur machen würde.“

Oh wie hasste ich diesen übertrieben unterwürfigen, falschen Ton, den mein Vater in solchen Situationen immer anschlug.

„Herr Dr. Hausner, es ist sehr ungewöhnlich, dass wir nach Schuljahresbeginn noch einen neuen Schüler aufnehmen. Doch die dringende Empfehlung des Kollegen von deiner alten Schule, Raphael, war einigermaßen überzeugend. Ausschlaggebend waren durchaus deine guten Leistungen, die eine problemlose Integration in unsere 11. möglich machen sollten.“

Mein Vater nickte zufrieden.

„Ich habe nichts anderes erwartet, Herr Dr. Neubert. Ich würde mich dann verabschieden, wenn Sie gestatten. Auf Wiedersehen Herr Doktor. Und du mach uns keinen Ärger!“, sagte er noch an mich gewandt.

Und weg war er.

Ich bemerkte einen missbilligenden Ausdruck im Gesicht meines neuen Rektors, den mein Vater aber in seiner ignoranten Art nicht registrierte. Dr. Neubert musterte mich eine Weile, ohne etwas zu sagen.

„Möchtest du nicht doch etwas trinken?“

„Eine Cola vielleicht, bitte, wenn Sie haben.“

Er ging zur Tür.

„Frau Schmitt, wenn Sie uns bitte noch einen Kaffee und eine Cola bringen würden.“

Dann setzte er sich zu mir in die Sitzecke. Noch bevor er das Gespräch mit mir fortsetzen konnte, brachte uns seine Sekretärin das Gewünschte und darüber hinaus noch einen kleinen Teller mit Schokokeksen.

„Greif zu!“, forderte mich der Pädagoge mit einem Grinsen im Gesicht auf.

„Raphael, du scheinst mir mit diesem Schulwechsel nicht recht einverstanden zu sein.“

Ich antwortete nicht sofort, sondern sah ihn wohl etwas erschrocken an. Sollte ich ihm den wahren Grund mitteilen, dass mich mein alter Herr schlicht mit einem Klassenkameraden im Bett erwischt hatte und mir unter Androhung einer Tracht Prügel klarmachte, mir derartige Flausen gründlich austreiben zu wollen. Seinen Entschluss, mich fortan in einem gemischten Internat unterzubringen, konnten weder ich noch meine Mutter verhindern. Und wenn mein Vater schon dieses Internat ausgesucht hatte, dann doch sicher deshalb, weil Homosexualität hier wohl nicht geduldet war. Also antwortete ich dem Direx nur ausweichend:

„Das stimmt schon, aber es ist nicht einfach, wenn man seinen Freundeskreis so plötzlich verlassen muss.“

Dr. Neubert nickte und wechselte das Thema:

„Raphael, außer der Bewältigung des normalen Schulstoffs erwarten wir von jeder Schülerin und jedem Schüler noch ein weitergehendes Engagement in künstlerischer, musischer oder sonstiger kreativer Hinsicht. Spielst du zum Beispiel ein Instrument?“

Zunächst wusste ich nicht, was ich davon halten sollte, antwortete dann doch: „Ich spiele etwas Klavier.“

„Oh sehr schön, da gab es hier schon ganz wunderbare Ergebnisse. Klassik?“

„Nein, eher Richtung Jazz und Boogie.“

„Interessant, das wäre etwas Neues. Besprich dich am besten mit unseren Musiklehrern. Jetzt zeig ich dir erst mal die Anlage. Dann wird dich unser Hausmeister, Herr Maier, auf dein Zimmer begleiten, welches du dir mit Karl-Friedrich, einem Klassenkameraden, teilst. Ich hoffe, dass ihr miteinander klarkommt, denn es ist vorerst die einzige Möglichkeit.“

Ich war erstaunt, wie viel Zeit sich der Direx für mich nahm, um mir alles zu erklären.

Wieder am Sekretariat angekommen, wartete schon ein sportlicher Mann mittleren Alters auf uns.

„Raphael, das ist Herr Maier, die gute Seele dieses Hauses. Herr Maier, wenn Sie bitte so freundlich wären Herrn Hausner auf sein Zimmer zu Herrn von Seewein zu bringen. Raphael, wir sehen uns dann Morgen in Mathematik“, sprachs und verschwand in seinem Büro.

„Na, dann komm mal mit!“, forderte mich Herr Maier mit einer tiefen, angenehmen Stimme auf. Er schnappte sich meinen großen Rollkoffer, als er sah, dass ich mit einem Riesenrucksack und zwei nicht viel kleineren Reisetaschen hinreichend bepackt war.

„Karl-Friedrich von Seewein“ stand an der Tür, an der Herr Maier nun klopfte.

„ Ja, bitte“, kam es von innen.

Herr Maier öffnete die Tür und schob mich ins Zimmer.

„Maier, was soll das?“, raunzte ihn der Zimmerbewohner ziemlich ungehalten an.

„Tut mir leid, Seewein, wenn man Sie noch nicht informiert hat, aber laut Anweisung vom Chef soll ich Herrn Hausner zu Ihnen bringen. Wie Sie vielleicht wissen, ist das das einzig freie Bett im Hause.“

Der Angesprochene rollte nur theatralisch mit den Augen.

Letztlich stellte er sich mir vor: „Karl-Friedrich von Seewein“, und streckte mir die Hand entgegen, „aber alle nennen mich nur KF.“

Ich grinste schief: „Angenehm – Raphael Hausner“, dabei ließ ich eine der Taschen fallen und ergriff die mir dargebotene Hand.

KF scannte mich regelrecht und meinte etwas resigniert: „Dann versuchen wir, uns mal zu arrangieren.“

Herr Maier schob meinen Rollkoffer an die Stirnseite des freien Bettes und verabschiedete sich mit einem „Na dann.“

Mein erster Schultag am Johann-Heinrich-Pestalozzi-Internat begann mit einer Doppelstunde Englisch bei Dr. Gabriel. Also sollte ich mich gleich auf Englisch vorstellen, was einigermaßen unfallfrei über die Bühne ging. Der einzige freie Platz war ausgerechnet neben dem Rüpel, der mich am gestrigen Tag schier die Treppe heruntergehauen hatte. Er giftete mich gleich wieder an, doch das konnte ich auch und giftete zurück. Fast glaubte ich, ein kurzes Grinsen in seinem, zugegebenermaßen, hübschen Gesicht bemerkt zu haben. Sein dunkler Teint harmonierte mit seinen braunen Augen und den pechschwarzen Haaren. Doch der Zauber des Augenblicks war im nächsten Moment wie weggefegt, als er mir zuraunte: „Was glotzt du so schwul?“

‚Was ein Arsch‘, dachte ich nur und schüttelte den Kopf. Trotzdem ertappte ich mich immer wieder dabei, wie ich ihn förmlich anstarrte. Zum Glück schien er das nicht zu merken. In der Pause sagte mir dann KF, dass Miguel Hernandez wohl einigermaßen arrogant sei; sein Erfolg sei ihm wohl zu Kopf gestiegen. Ich wollte noch nachfragen, was er denn damit meinte, doch die Schulglocke unterbrach unser Gespräch und rief uns wieder zum Unterricht.

Abends im Bett kam ER mir wieder in den Sinn. ‚Was für ein Idiot.‘

Zugegeben, er faszinierte mich auf eine Art. Seine grazilen Bewegungen passten so gar nicht zu seiner ruppigen Art. Mit der Zeit ging meine Phantasie mit mir durch, indem ich versuchte, ihn mir nackt vorzustellen. Der Rest meines Verstandes, der noch in Betrieb war, schalt mich einen Narren. Kaum in der neuen Schule, schon war ich auf Schürzenjagd. Und das Objekt meiner Begierde war ausgerechnet der größte Depp der Anstalt. So gesehen war ich wohl der Idiot in der Geschichte.

Diese Gedanken wälzte ich ergebnislos hin und her. So langsam setzte zum Glück mein übriger Verstand wieder ein, und es gelang mir irgendwann, doch noch einzuschlafen.

Durch eine heftige Bewegung wurde ich wach.

„Mensch Raphael, du Schlafmütze, steh endlich auf, oder brauchst du kein Frühstück vor dem Unterricht?“

KF bekam mich offensichtlich nur durch kräftiges Schütteln wach.

„Was ist los?“, brummte ich schlaftrunken.

„AUF – STE –HEN!“, grollte er ungeduldig und zog mir die Decke weg, um gleich fies zu grinsen.

„Ach Menno“, schimpfte ich, als ich das Zelt bemerkte, das sich überdeutlich über meiner Körpermitte aufspannte. Sofort schoss mir der Rest meines Blutes in den Kopf und ich schwang meine Beine aus dem Bett.

„Raphael, denk dir nichts“, meinte KF ungewöhnlich sanft, „das geht doch jedem so.“

Wenn der wüsste, was ich grade geträumt hatte.

„Ich komm gleich, geh schon mal vor.“

Einigermaßen geräuschlos brachte ich die ersten Schultage hinter mich.

Gleich am Mittwoch meiner ersten Schulwoche hatte ich mich mit Herrn Kramer, einem unserer Musiklehrer, zum Vorspiel auf dem Klavier verabredet.

Etwas zu früh kam ich zum Musikkabinett und wollte schon eintreten, als ich hörte, dass es noch besetzt war.

Ich lauschte und es gefiel mir sehr, was ich hörte. Wer immer da gerade am Klavier saß, beherrschte sein Handwerk. Gerade beendete er ein Stück von Rachmaninow, doch dann setzte er mit dem „Honky Tonk train blues“ ein. In einem atemberaubenden Tempo spielte er (oder sie) diesen Klassiker von Meade Lux Lewis und variierte gekonnt. Also war diese Musik hier doch nicht so unbekannt, wie ich es nach den Begrüßungsworten unseres Rektors angenommen hatte.

Ich ging noch schnell zur Toilette bevor ich selbst zum Klavierunterricht dran kam.

Als ich zurück war, war mein Vorgänger schon weg. Ich wollte Herrn Kramer unbedingt fragen, wer das war. Doch jetzt war ich erst mal dran. Mit den obligatorischen Fingerübungen begann die Stunde. Im Vorfeld hatte ich mich mit Herrn Kramer verständigt, dass ich mir gerne einige der Werke von Scott Joplin aneignen würde.

Den „Magnetic Rag“ hatte ich schon ganz gut drauf, dennoch arbeiteten wir die ganze Stunde an den Feinheiten und vor allem an meiner Spieltechnik.

Oje, da hatte ich mich auf etwas eingelassen.

Doch Herr Kramer schien einigermaßen von meinem Können und meinem Willen, konsequent zu arbeiten, überzeugt. Als ich noch erzählte, dass ich zuhause auch Orgelunterricht genommen hatte und gelegentlich die Sonntagsmesse begleitete, wenn der Organist in Urlaub oder krank war, zeigte er sich sehr angetan. Auf meine Frage, ob es hier wohl möglich wäre, weiterhin Orgel zu lernen und zu spielen, versprach er, sich erkundigen zu wollen.

Geschafft, aber sehr zufrieden verließ ich das Musikkabinett.

Schon zur nächsten Übungsstunde eröffnete mir Herr Kramer, dass mich Oliver Stotz, der hiesige Kantor, als studierter Musikpädagoge gerne an der Orgel unterrichten würde. Er gab mir dessen Handy-Nummer mit der Aufforderung, mich baldmöglichst mit ihm in Verbindung zu setzen. Dann begann der Unterricht, der mich wieder ziemlich forderte, jedoch großen Spaß machte. Herr Kramer schien sehr erfreut, wie gut ich bereits alle drei vereinbarten Stücke von Scott Joplin vorbereitet hatte. Er hatte nur wenig zu verbessern, stattdessen setzte er sich an den zweiten Flügel und wir improvisierten vierhändig den „Maple Leaf Rag“.

Zum Schluss fragte er mich, ob ich mir sicher sei „nur aus Spaß“ Klavier spielen zu wollen. Augenblicklich verfinsterten sich meine Gedanken und die gute Stimmung war wie weggeblasen.

„Raphael, was ist denn auf einmal los?“, fragte Herr Kramer besorgt.

„Ach, wissen Sie Herr Kramer, ich würde schon sehr gerne ausschließlich Musik machen wollen, aber mein Herr Vater erwartet, dass ich ihm ohne Wenn und Aber in der Firma nachfolge.“

Herr Kramer bemerkte wohl meine glasigen Augen und sagte nichts weiter als: „Raphael, wie dem auch sei, du bist ein toller Pianist und du kannst die Menschen mit deinem Spiel begeistern.“

Zwar hatte ich schon ein gesundes Selbstbewusstsein, doch jetzt drängte es mich doch, Bescheidenheit zu zeigen: „Vielen Dank Herr Kramer, aber zu einem guten Pianisten fehlt mir schon noch ein gutes Stück.“

Der grinste mich nur an.

„Okay, jetzt erst mal guten Appetit. Es ist nämlich schon sechs Uhr durch, wir haben die Zeit ganz aus den Augen verloren“, meinte er lachend.

So machten wir uns gemeinsam auf den Weg in die Mensa. Ich genoss förmlich das einfache Abendessen.

Da es noch vor acht war, dachte ich mir, es wäre nicht zu spät für einen Anruf bei Herrn Stotz.

„Oliver Stotz“, meldete sich eine jugendliche, sehr sympathische Stimme, was mir fast die Sprache verschlug. So fiel ich gleich mit der Tür ins Haus: „Äh, ja, Raphael Hausner hier. Herr Kramer meinte, dass ich bei Ihnen Orgelstunden nehmen könnte.“

„Oh, guten Abend Raphael, schön, dass du dich meldest. Ja, das ließe sich hier gut einrichten. Leider interessieren sich nicht sehr viele für dieses Instrument, von dem wir hier in unserer Dorfkirche ein richtig gutes Exemplar zur Verfügung haben.“

„Guten Abend Herr Stotz, entschuldigen Sie, dass ich so direkt hereingeplatzt bin. Aber das klingt gut. Wann hätten Sie denn Zeit für mich? Mein Stundenplan lässt mir Luft am Montag, Dienstag und Donnerstag.“

„Hm, Mittwoch geht nicht?“, fragte nun Herr Stotz.

„Da habe ich Klavierunterricht bei Herrn Kramer.“

„Aha, meinst du, du könntest Volker, also Herrn Kramer bitten, deine Klavierstunden zu verlegen?“

„Ich weiß nicht, da müsste ich ihn erst fragen.“

„Warte, Raphael, ich melde mich gleich wieder. Wann sagtest du, hättest du Zeit? Montag, Dienstag und Donnerstag?“

„Ja, richtig.“

„Dann bis gleich“, und schon hatte er aufgelegt um keine zehn Minuten später zurückzurufen: „So, Raphael, gerade hab ich mit Volker telefoniert. Er würde deine Klavierstunden auf Montag verlegen. Du möchtest ihn bitte gleich noch anrufen. Dann komm bitte am Mittwoch um 15 Uhr zu mir in die Sankt-Nikolaus-Kirche.“

„Okay, Herr Stotz, vielen Dank, dann bis nächsten Mittwoch“

„Ja prima. Gute Nacht, Raphael“ und schon hatte er aufgelegt.

Nach Rücksprache mit Herrn Kramer hatte ich nun montags von 16 bis 17 Uhr 30 bei ihm Klavier- und mittwochs ab 15 Uhr Orgelunterricht bei Herrn Stotz.

Zufrieden machte ich mich auf den Weg in mein Zimmer. Bei meiner Ankunft hier im Internat hätte ich es mir nicht träumen lassen, dass ich hier meiner größten Leidenschaft so ungehindert würde frönen können. Jetzt war ich direkt froh, so weit von zu Hause weg zu sein. Genauer gesagt von meinem Vater. Mit diesen freudigen Neuigkeiten schlief ich an diesem Abend rasch ein.

Miguel

Die Anwesenheit des Neuen nervte mich einigermaßen. Wie hieß er noch gleich? Ach, richtig: „Raphael“. Erst rannte er mich gleich bei seiner Ankunft über den Haufen, was für ein Tolpatsch, dann glotzte er mich auch noch ständig so schwul an. Ich meine, ich habe nichts gegen Schwule, schließlich war es mein „Nachhilfelehrer“ Carsten ja auch. Allerdings machte mir der keinerlei Avancen. Gut, Carsten war blind, so dass er von meiner äußeren Erscheinung nicht hätte fasziniert werden können. Außerdem war er bei Andreas in festen Händen. So war es möglich, dass wir uns ausschließlich aufs Klavier konzentrieren konnten. Wir hatten den Montag für meinen Klavierunterricht bei ihm vereinbart.

Heute Nachmittag war es wieder soweit und ich war gut vorbereitet, dachte ich jedenfalls. Doch war ich irgendwie unkonzentriert und entsprechend fahrig spielte ich Carsten vor. Ich spürte, wie sehr er sich beherrschte, mein Vorspiel nicht komplett zu zerlegen. Es war seiner Ruhe zu verdanken, dass ich nicht meinerseits ausflippte, denn das von mir Dargebotenen entsprach weder meinen Vorstellungen noch meinem tatsächlichen Können. Seine sachlich-fachliche Kritik war für mich zu einhundert Prozent nachvollziehbar, gleichwohl ging an diesem Nachmittag nichts mehr vernünftig zusammen.

Spürbar entnervt beendete Carsten den Unterricht vorzeitig.

„Miguel, was ist heute mit dir los? So unkonzentriert hab ich Dich noch nie erlebt!“

„Ich weiß auch nicht. Vielleicht ist es besser, wenn wir es für heute gut sein lassen“, erwiderte ich einigermaßen resigniert.

„Okay, Miguel, dann bis nächste Woche.“

Als Carsten mit Max, seiner Blindenführhündin den Raum verlassen hatte, saß ich immer noch verwirrt am Flügel, tatsächlich wusste ich keinen Grund für meine Unkonzentriertheit. Im Gegenteil war es bislang immer so, dass wenn ich über etwas grübelte und nicht weiter kam, ich mich nur ans Klavier zu setzen brauchte und darüber sämtliche Probleme vergaß.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ER stand im Raum – Raphael!

„Oh, du?“, starrte er mich zunächst erschrocken an.

„Was willst du hier?“, blaffte ich zurück.

Ein spöttisches Grinsen stahl sich in sein hübsches Gesicht. Habe ich gerade „hübsch“ gedacht?

Ob er wohl meine stümperhaften Spielversuche vorhin mitbekommen hatte?

Er hatte.

„Was sollte ich hier wollen? Du bist nicht der Einzige, der dieses Instrument hier malträtieren kann“, feixte er.

Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete ich, wie er auf mich zukam.

„Und? Was ist? Willst du hier Wurzeln schlagen? Herr Kramer kommt gleich.“

Mit einem Seufzer erhob ich mich und verließ fast schon fluchtartig das Musikkabinett. Wie peinlich war das denn? Verärgert und verwirrt beschloss ich, vor dem Abendessen noch eine Runde joggen zu gehen.

Am See traf ich erneut auf Carsten, der mich gleich namentlich begrüßte, obwohl ich noch keinen Ton gesagt hatte. Überrascht fragte ich ihn: „Woher weißt du, dass ich das bin?“

Carsten lachte: „Ach Miguel, auch wenn ich dich nicht sehen kann, so kann ich dich doch hören und in diesem Falle auch riechen.“

„Oh! Stinke ich so?“

Wieder lachte Carsten: „Nein, Miguel, aber wir haben eben fast eine Stunde miteinander verbracht, so dass mir deine Mischung aus Deo, Aftershave und Schweiß sehr eindeutig in Erinnerung ist, auch wenn ein Hauch Waschmittel dazu gekommen ist. Du scheinst die Klamotten gewechselt zu haben. Lass mich raten: Du möchtest noch eine Runde laufen.“

„Ganz richtig“, gab ich verblüfft zurück.

Ich holte tief Luft.

„Carsten. Darf ich dir eine Frage stellen?“

„Abgesehen davon, dass du das eben schon getan hast“ - ich grinste unweigerlich - „werden wir sehen, ob ich darauf antworten kann.“

Ich druckste ein wenig herum, bis ich meinen ganzen Mut zusammennahm: „Wie merkt man, dass man schwul ist?“

„Oh, Miguel“, kam es von ihm, „etwas persönlich und direkt“, Carsten überlegte, „ich weiß nicht, ob es da eine allgemeingültige Erklärung gibt. Manche sagen, sie hätten das von Anfang an gewusst, als sie selbstständig zu denken angefangen hatten.“

Wieder machte er eine Pause.

„Bei mir war das nicht so. Ich hab mir da keine Gedanken gemacht. Vielleicht deshalb, weil ich mit allen anderen Dingen voll ausgelastet war. Ich kenne es zwar nicht anders. Man hat mir mal gesagt, dass es für mich wohl sehr anstrengend war und ist, mich zu orientieren. Dann hat mich die Beschäftigung mit dem Klavier voll und ganz in Beschlag genommen. Aber um deine Frage zu beantworten: Ich denke, dass meine allererste Begegnung mit Andreas im Treppenhaus unseres Internats bei dessen Ankunft den Anstoß gegeben hat. Seine Stimme hat mich sofort in den Bann gezogen. In dem Moment dachte ich noch nicht in irgendwelchen sexuellen Kategorien. Erst im Laufe der Zeit wurde mir langsam klar, dass ich mich da bereits in ihn verliebt hatte. Liebe auf den ersten Ton, sozusagen. Obwohl wir uns zufällig das Zimmer geteilt haben, hat es lange gedauert, bis wir zueinander gefunden haben. Andreas war sich seiner sexuellen Orientierung zwar bewusst, aber er hatte an seiner alten Schule sehr schlechte Erfahrungen gemacht, so dass er sich sehr zurückhielt. Er hat mir später erzählt, dass er sich gleich bei seinem ersten Gespräch mit Doktor Neubert ihm gegenüber geoutet hatte. Ich denke, wir haben sehr viel Glück mit unserem Direx, der ein immenses Maß an Einfühlungsvermögen besitzt und zudem ein absolut toleranter und weltoffener Mensch ist. Bei mir allerdings wuchs erst mit der stetig stärker werdenden Sympathie zu Andreas mein Bewusstsein, dass ich mich in ihn verliebt habe und daher wohl schwul bin. Vor allem, als ich mich auch körperlich immer mehr zu ihm hingezogen fühlte. Darf ich dagegen fragen, wie du auf diese Frage kommst?“

„Hm“, machte ich versonnen, „ich glaube, dass ich deshalb heute so unkonzentriert war.“

„Wie jetzt? Verwirre ich dich so?“, fragte Carsten jetzt scherzhaft nach.

„Hä? Achso, nein Carsten, das hat nichts mit dir zu tun.“

„Dann ist ja gut. Du weißt, Miguel, dass ich mit Andreas fest liiert bin.“

„Ja, ne, is klar. Hat mich einfach so interessiert. Ich trab mal ab. Wir sehen uns beim Abendessen.“

„Du mich vielleicht“, grinste er.

„Scherzkeks, bis nachher.“

Raphael

Am darauffolgenden Montag hatte ich erstaunt festgestellt, dass dieser Miguel recht gut Klavier spielte, wenn auch selbst für meine Ohren nicht so ganz überzeugend. Immerhin nahm er Unterricht bei Carsten von Feldbach, gewissermaßen dem Star der Schule, der sowohl mit dem Schulorchester, als auch bei einem Gastauftritt in Dresden schon fantastische Konzerte gegeben hatte. Dass Carsten blind war, spielte dabei überhaupt keine Rolle. Leider hatte ich noch keine Berührungspunkte zu ihm. Ich war ja gerade mal zwei Wochen auf diesem Internat.

Jedenfalls fieberte ich förmlich dem Mittwoch entgegen. Punkt halb drei machte ich mich auf den Weg, schließlich wollte ich nicht gleich am ersten Tag durch Unpünktlichkeit auffallen. Eine knappe Viertelstunde später stand ich vor der Kirche St.Nikolaus. Etwas unschlüssig, ob ich schon reingehen sollte, wurde mir die Entscheidung von einem überaus attraktiven Mann Mitte/Ende 20 abgenommen, der direkt auf mich zukam.

„Hallo, ich bin Oliver Stotz. Bist du der Raphael vom Johann-Heinrich-Pestalozzi-Internat?“

„Ja genau, hallo Herr Stotz.“

„Freut mich, dass du gekommen bist. Lass uns reingehen, die Tür sollte eigentlich offen sein.“

Er ging voraus bis in die Mitte des dreischiffigen Kirchengebäudes.

Voller Stolz deutete er zurück auf das Haupttor über dem sich, quasi dem Turm vorgelagert, die Orgelempore befand. In einem kunstvoll geschnitzten Orgelprospekt erstreckte sich ein vergleichsweise großes Instrument bis fast unter das frühgotische Gewölbe des Mittelschiffs.

„Es ist kaum bekannt, dass dieses Instrument schon 1710 von Gottfried Silbermann, also vor seiner offiziell ersten Orgel in Frauenstein, gebaut wurde. Man kann nur vermuten, dass er auf seinem Heimweg von Straßburg hier zufällig hängengeblieben ist und hier versucht hat eine Orgel ohne die Mithilfe seines Bruders Andreas zu bauen. Da aber alle Schriftstücke aus jener Zeit bei uns überlebt haben, konnte überhaupt festgestellt werden, dass es sich tatsächlich um eine Silbermann-Orgel handelt, mit der ein Vorgängerinstrument ersetzt wurde. Der Verdacht kam schon bald auf, denn schließlich gibt es einfach ein paar typische Merkmale, die auf den berühmten Orgelbauer schließen ließen. Ausgangs des 19. Jahrhunderts wurde das Instrument zum ersten Mal generalüberholt und leider auch dem Zeitgeist entsprechend verändert. Etwa hundert Jahre später hat man 1995 eine umfassende Sanierung und behutsame Rekonstruktion beschlossen und durchgeführt. Jedenfalls sind wir schon ein bisschen stolz auf diese tolle Orgel und es macht großen Spaß darauf zu spielen.“

Er machte eine kleine Pause und ich kam aus dem Staunen nicht heraus.

Mit einem Kloß im Hals fragte ich ehrfürchtig, ob ich darauf jetzt wirklich spielen und lernen dürfe.

Herr Stotz lachte amüsiert auf.

„Klar, Raphael, wieso denn nicht. Ein Instrument auf dem keiner spielt bringt doch niemandem etwas. Lass uns hochgehen!“

So erklommen wir die recht steile Treppe zu diesem außergewöhnlichen Instrument. Nachdem er es eingeschaltet hatte und genügend Luft zur Verfügung stand, bat mich Herr Stotz einfach einmal etwas zu spielen.

Damit hatte ich schon gerechnet, weshalb ich gestern nochmal, halt an einem der Klaviere in der Schule, meine eingestaubten Kenntnisse aufgefrischt hatte. So versuchte ich mich am wohl populärsten Orgelstück von Bach der ‚Toccata und Fuge in d-Moll‘, was mir nach der langen Pause recht gut gelang. Nachdem ich geendet hatte, herrschte erst mal Ruhe. Ich schielte zu meinem Orgellehrer, den ich sichtlich beeindruckt hatte.

„Raphael, das war wunderbar. Und sehr ausdrucksstark gespielt, obwohl du dieses Instrument überhaupt nicht kennst. Allen Respekt. Wie lange hast du jetzt nicht gespielt?“

„Etwa einen Monat, aber dieses Stück schon länger nicht. Allerdings will ich gestehen, dass ich es gestern im Internat auf einem Klavier geübt habe. Ich dachte mir schon, dass ich Ihnen wohl etwas würde vorspielen sollen“, antwortet ich etwas verschmitzt.

Herr Stotz schmunzelte.

„Ohne dass ich jetzt noch mehr von dir gehört habe, würde ich sagen, dass du die Vertreterstelle hier schon Mal hast, wenn du willst“, grinste er mich an.

„Vertreterstelle?“, fragte ich verwirrt.

„Wenn ich Mal nicht da bin, würde ich sagen, dass du jeden Gottesdienst locker begleiten kannst.“

Ich freute mich sehr über diese Anerkennung.

„Und“, setzte er noch einen drauf, „ich würde dir gerne auch so einmal diesen Platz überlassen und mich einfach daneben setzen und dir zuhören.“

Ich war baff, sooo gut war ich jetzt nach eigenem Dafürhalten doch nicht, oder noch nicht.

„Jetzt schau nicht so ungläubig“, lächelte er mich freundlich an, „natürlich gegen Vergütung, auch wenn du davon nicht reich wirst.“

„Das wäre mir eine Ehre“, rutschte es mir heraus.

Wieder lächelte er mich an; fast bildete ich mir ein, dass er mit mir flirtete.

„Hast du bestimmte Stücke oder Komponisten, nach denen du vorzugsweise üben willst?“

Ich überlegte, kam dennoch für die Orgel zu keinem speziellen Ergebnis.

„Also auf dem Klavier möchte ich mir zunächst ein paar Grundwerke von Scott Joplin aneignen, aber hier? Darf es hier auch etwas jazziges sein?“, fragte ich verunsichert meinen Orgellehrer.

„ Ja sicher, warum denn nicht. Ich denke nicht, dass er sich daran stören würde“, dabei deutete er in Richtung des Kreuzes über dem Altar. Wieder blitzte der Schalk in seinen Augen auf.

Ich lächelte und nickte.

„Hm, dann George Gershwins Rhapsody in Blue”, fiel es mir spontan ein.

„OO … keee“, kam es langgezogen von Herrn Stotz.

„Und wie es der Zufall will, habe ich hier ein spezielles Arrangement nur für Orgel“, strahlte er mich an.

„Ich mag nämlich diese Musik ebenfalls sehr gerne. Hast du das Stück schon mal gespielt?“

„ Nein, noch nicht.“

„Willst du es mal vom Blatt probieren?“

„Ja gern.“

Herr Stotz stellte mir die Partitur aufs Notenpult und erklärte:

„Raphael, das Orgelarrangement spielst du am besten etwas langsamer, oder variierst das Tempo ein wenig. Das liegt daran, dass für manche Stellen der Hall in der Kirche zu heftig ist.“

Ich begann zu spielen, die Umsetzung auf die Tasten klappte recht gut, war mir das Stück an sich doch einigermaßen bekannt. Herr Stotz half mir bei der Registrierung.

Ich fand, dass das schon ganz passabel klang, was mir Herr Stotz mit einem aufmunternden Blick bestätigte.

Freilich produzierte ich etliche Patzer und es haperte doch an der Spieltechnik; auch wollte ich peu à peu die Registrierung selbst übernehmen. Es machte richtig Spaß, obwohl es anstrengend war. Vor lauter Eifer vergaßen wir völlig die Zeit. Die Uhr zeigte, dass es schon wieder weit nach sechs Uhr war. Ich konnte das gar nicht glauben. Ein richtiges Glücksgefühl machte sich in mir breit, auch Herr Stotz kam aus dem Dauergrinsen nicht heraus.

Trotzdem meinte er irgendwann: „Raphael, wir sollten trotz alledem so langsam Schluss machen. Noch nie habe ich einen Schüler erlebt mit einer solch enormen Ausdauer wie dich, wirklich. Ich glaube, ich werde dir einen eigenen Schlüssel besorgen, so dass du auch ohne mich jederzeit rein kannst, um zu üben.“

Daraufhin habe ich wohl etwas entgeistert drein geschaut, jedenfalls lachte er auf: „Hey Raphael, jetzt schau nicht so erschreckt. Du bist echt gut. Jetzt aber raus hier. Du kriegst sonst kein Abendessen mehr.“

Die Aussicht, mit leerem Magen ins Bett gehen zu müssen, verursachte eine fast schon überstürzte Aufbruchsstimmung, was Herrn Stotz einen regelrechten Lachflash bescherte.

„Also, Raphael, dann mach‘s gut, wir sehen uns nächste Woche.“

Vor dem Einschlafen kam mir nochmal dieser schöne Nachmittag in der Dorfkirche bei dem ebenso verständnisvollen wie attraktiven Kantor in den Sinn. So dämmerte ich ins Land der Träume hinüber. Immer wieder flackerte das Bild von Oliver Stotz mit seinem sympathischen und gewinnenden Lächeln vor meinem geistigen Auge auf. Ich träumte, wie er aus der Kirche trat, seine Arme ausbreitete, ich auf ihn zustürzte und mich an seinen Hals warf. Er lachte fröhlich, umfasste mich an den Hüften und wirbelte mich im Kreis herum.

Durch diese Bewegung schreckte ich auf und saß schweißgebadet im Bett. Dieser Traum war so dermaßen real, dass ich eine ganze Weile brauchte, um mich zu sortieren. Als ich begriff, was los war, ließ ich mich nach hinten auf mein Kissen fallen. Wo sollte das noch hinführen? Je länger ich allerdings darüber nachdachte, desto sicherer wurde ich mir, dass Oliver Stotz wirklich mit mir geflirtet hatte. Wie konnte es sein, dass schon beim ersten Aufeinandertreffen eine so vertraute und – ja – herzliche Atmosphäre vorhanden war.

Ich nahm mir vor, am nächsten Mittwoch ganz genau auf seine Körpersprache zu achten.

Nachdem ich schließlich wieder eingeschlafen war, träumte ich erneut von meinem Orgellehrer.

Am nächsten Tag nahm ich meine Umwelt nur schemenhaft wahr, mehrmals war ich mit meinen Gedanken weit weg und die Lehrer ermahnten mich nicht nur einmal, mich auf den Unterricht zu konzentrieren. Im Augenwinkel bemerkte ich das spöttische Grinsen von Miguel, was mich zu meinem eigenen Erstaunen inzwischen überhaupt nicht mehr anfocht.

So tagträumte ich mich durch die Woche und übers Wochenende und wurde immer hibbeliger, je näher der Mittwoch kam und ich IHN wiedersehen würde. Beim Mittagessen bekam ich fast keinen Bissen hinunter und gleich im Anschluss stürzte ich unter die Dusche. Natürlich hatte ich vergessen, frische Unterwäsche mitzunehmen, sodass ich nur mit dem Badetuch um die Hüften zurück ins Zimmer lief, was freilich an einem Mittwochnachmittag für einiges Aufsehen sorgte. Meist trafen mich nur verständnislose Blicke; doch wie konnte es anders sein, lief ich auch Kevin, unserem Klassenkasper über den Weg. Der war mit ein paar anderen unterwegs und konnte sein loses Mundwerk nicht halten: „Oh, hey Rafi, gibst du jetzt eine Strip-Show am helllichten Nachmittag?“

Dabei wackelte er übertrieben mit den Hüften. Ich wollte schon mit einem lockeren Spruch kontern, da hatte er mir schon das Handtuch vom Körper gerissen. Da ich meine Hände mit Duschzeug und sonstigem nicht frei hatte, konnte ich nicht schnell genug reagieren und stand schlagartig im Freien. Normalerweise hätte mir das nichts ausgemacht und ich wäre auf sein Spiel eingestiegen, was ich irgendwie an diesem Tage nicht konnte. So rannte ich wie von der Tarantel gestochen los, um so schnell wie möglich in mein Zimmer zu kommen. Die feixende Schülerschaft und der kopfschüttelnde Lehrkörper entgingen mir dabei nicht. Zu allem Überfluss erwartet mich in meinem Zimmer nicht nur KF sondern auch noch seine Freundin Lilo, mit der er mittwochs immer zusammen lernte.

„Hallo Rafi, interessanter Aufzug“, war auch sein prompter Kommentar, Lilo schaute verschämt auf die Seite. Trotzdem lief meine Birne rot an wie eine Tomate. Ich warf die Duschutensilien auf mein Bett und angelte mir aus meinem Schrank schnellstens eine Boxershort. Doch dann begann das Drama: Was sollte ich bloß anziehen? Noch nie hatte ich mir da großartig Gedanken gemacht. Unschlüssig starrte ich in den Schrank, bis es auch den anderen beiden auffiel.

„Hast du auch nichts zum Anziehen?“, fragte KF in einem spöttischen Ton, der unüberhörbar einen Seitenhieb auf die anwesende Weiblichkeit enthielt. Lilo knuffte ihn nur kräftig in die Seite.

„Aua“, schrie er schrill.

„Lass einfach deine unqualifizierten Anspielungen“, meinte Lilo nur ungerührt und an mich gewandt fragte sie: „Brauchst du Unterstützung? Hast du ein Date?“

Unfähig zu antworten, bekam ich ihren weiteren Rat zu hören: „Du hast doch diese schwarze, hüftbetonte Jeans. Und dazu ein knappes, weißes T-Shirt“, schlug sie mit Blick in meinen Kleiderschrank und dem herrlichen Sonnenschein vor und setzte sich wieder zu ihrem Freund.

Konnte ich das wagen? Klar war, dass das T-Shirt regelmäßig nach oben rutschen würde.

Egal, vielmehr okay. So folgte ich brav der Empfehlung der Freundin meines Zimmergenossen.

Dunkle Socken und meine schwarzen Sneakers, fertig.

Es gelang mir schließlich, mich pünktlich auf den Weg zu machen. Man, was war ich aufgeregt.

Fast wie in meinem Traum, trat Herr Stotz aus dem Seiteneingang der Kirche. Zwar breitete er seine Arme etwas aus, doch nicht als Aufforderung auf ihn zuzustürmen. Er trug eine weiße Jeans und ein weites, schwarzes T-Shirt.

„Hallo Raphael“ begrüßte er mich und zog mich doch tatsächlich zumindest mit einem Arm freundschaftlich zu sich. Dabei kam er zwangsläufig mit seiner Hand unter mein T-Shirt. Mir wurde ganz warm.

„Bitte nenn‘ mich ab jetzt beim Vornamen, sonst fühle ich mich dir gegenüber so alt, einverstanden?“

„Ja gerne, Herr Stotz … äh Oliver, okay.“

‚Das ging ja schon mal sehr erfreulich los‘, dachte ich mir und strahlte ihn an.

Er erwiderte das mit einem ebenso strahlenden Blick und einem Zwinkern. Jetzt wurde mir heiß.

Irgendwie standen wir etwas unentschlossen herum, obwohl der Zweck meines Besuchs ja eindeutig war.

Schließlich betraten wir das Gotteshaus und stiegen auch gleich zur Empore hinauf.

„Raphael, du hast letztes Mal erwähnt, dass du dir auf dem Klavier ein paar Stücke von Scott Joplin aneignen würdest. Da ist doch sicher der Maple Leaf Rag dabei, oder?“

„Ja richtig, da bin ich gerade dran.“

„Gut, ich hab mich übers Wochenende hingesetzt und den für unsere Orgel arrangiert. Willst du das gleich mal probieren?“

Verblüfft sah ich ihn an, und er grinste von einem Ohr zum anderen.

„Ja, logisch versuch ich das.“

Ich musste mich ernsthaft zurückhalten, um ihm nicht um den Hals zu fallen. Rasch setzte ich mich an den Spieltisch. Oliver stellte mir seine Partitur auf das Pult und wir besprachen die Unterschiede zum Klavier. Er hatte eine sehr kräftige, fast schrille Registrierung gewählt. Ich begann zu spielen und es klang phantastisch, wenn man von meinen Fehlern absah. Oliver hatte mir seine Hände auf die Schultern gelegt, was mir einen wohligen Schauer über den Rücken jagte.

„ Gleich nochmal“, raunte er mir ins Ohr. Mir wurde ganz schummerig. „Und ein bisschen schneller.“

Ich tat, wie mir geheißen und siehe da: Es hörte sich gleich noch besser an.

Für die verschiedenen Klangfarben die Oliver für die einzelnen Abschnitte gewählt hatte, wechselte ich einfach das Manual. Davon hatte diese Silbermann-Orgel zwei.

Immer noch ruhten Olivers Hände auf meinen Schultern, er schien zu wissen, dass mich die kleinste Bewegung erneut erschaudern ließ.

Kaum hatte ich geendet, strich er mir mit beiden Händen über meine Oberarme. Das war zu viel, ich versteifte automatisch meinen Oberkörper, so dass er erschrocken seine Hände zurückzog.

„Entschuldigung“, murmelte er.

„Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“

„ Schade“, rutschte es mir heraus und ich schwang meine Beine über die Orgelbank.

Seinem Blick hielt ich nur kurz Stand und betrachtete stattdessen meine Sneakers.

Was machte er? Er legte seinen angewinkelten Zeigefinger unter mein Kinn und hob meinen Kopf bis ich zwangsläufig in seine hellen Augen schier versank.

„Wie meinst du das, Raphael?“

Ich sah ihn lange an, sollte ich oder sollte ich nicht? Dann fasste ich einen Entschluss.

„Oliver“, begann ich leise „seit letzter Woche gehst du mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich träume nachts von dir.“

Wieder entstand eine viel zu lange Pause.

„Jetzt sag schon was. Sag, dass du mich unter diesen Umständen nicht mehr unterrichten kannst.“

Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen.

„Nein, Raphael, nein. Ich will dich weiter unterrichten und dich genau hier auf dieser Orgelbank sitzen sehen. Ich muss gestehen, dass mir noch niemals zuvor ein Orgelschüler mit so viel Talent und Lernbegeisterung begegnet ist wie du. Tatsächlich bin ich heute ewig vor meinem Kleiderschrank gestanden habe, weil ich nicht wusste, was ich anziehen sollte.“

Das war’s. Ich lachte los. „Man Oli, ganz genau so ging es mir auch. Zum Glück war die Auswahl nicht sehr groß und ich hatte eine Beraterin.“

„Eine Beraterin?“

„Ja, die Freundin meines Mitbewohners.“

Da sich die Stimmung nun etwas gelöst hatte, erzählte ich ihm gleich noch die ganze Geschichte des heutigen Tages.

„Oje, Raphael, da warst du ja ganz schön durch den Wind.“

„Das kannst du laut sagen“, grummelte ich.

„Ich hab mich dafür wohl bestimmt zehnmal umgezogen“, gab er zu.

Wieder einmal lächelten wir uns an.

Ein unbeschreibliches Wohlgefühl durchströmte meinen Körper, ich fühlte mich so gut, dass ich Bäume ausreißen könnte. Ich spürte jetzt eine unheimliche Lust, auf diesem traumhaften Instrument zu spielen.

Ich drehte mich um und begann Beethovens Ode an die Freude. Diesen wohl bekanntesten Ausschnitt aus der 9. Symphonie hatte ich schon auf dem Klavier vorwärts und rückwärts geübt und gespielt, so dass ich mich auf die Registrierungen konzentrieren konnte.

So erklang nun in der Kirche St.Nikolaus die Europahymne in einer mehrere Minuten langen Improvisation. Plötzlich hatte ich den Einfall, daraus ein Medley mit der Europa-Fanfare zu spielen, was mir allerdings nicht sofort so gelang, wie ich mir das vorstellte. Ich brauchte mehrere Anläufe, dieses kurze Musikstück, das schon immer zu Beginn einer Eurovisionssendung im Fernsehen gespielt wurde, zu einem geeigneten Zeitpunkt erklingen zu lassen. Unerwarteter Weise erhielt ich Unterstützung durch Oliver, der, offensichtlich begeistert, etliche phantastische Registrierungen einstellte. Unverkennbar war dabei seine exakte Kenntnis dieses Instruments. Als ich zufrieden mit dem Ergebnis meine Beine wieder über die Orgelbank schwang, sah ich in ein strahlendes Gesicht.

„Das war phanastisch“, schwärmte er, „einfach unglaublich“.

In den folgenden Wochen blühte ich regelrecht auf.

Ich übte wie ein Besessener auf beiden Instrumenten – Oliver hatte mir tatsächlich einen Schlüssel zu Kirche und Orgel verschafft. – Und mein Klavierunterricht am Montag und die Orgelstunden am Mittwoch vergingen immer viel zu schnell, besonders die Mittwoche.

Das Phänomenale daran war, dass sich auch meine sonstigen – ohnehin schon guten – schulischen Leistungen weiter verbesserten. Ich geriet förmlich zum Musterschüler.

Miguel

So gut es ging, hielt ich mich von Raphael fern, was mir mit ein paar schnoddrigen Sprüchen ganz gut gelang.

Dennoch versuchte ich, immer ein Auge auf ihn zu haben. So fiel mir auf, dass er jeden Mittwoch ziemlich herausgeputzt – um nicht zu sagen aufgedonnert – um halb drei Richtung Dorf verschwand. Das versetzte mich zunehmend in Unruhe; wo der wohl hin ging? Allerdings fragte ich mich im nächsten Moment, weshalb mich das eigentlich interessierte. Irgendwie begann ich, an meinem Verstand zu zweifeln. Als er am darauf folgenden Mittwoch – Herr Kramer hatte meine Klavierstunde verschieben müssen – wieder um exakt 14:30 Uhr das JHP-Internat verließ, stach mich wohl der Hafer und ich verfolgte ihn; ich musste wissen, was Raphael da trieb. Umso verwunderter war ich, als er direkt in unserer Dorfkirche verschwand und auch über eine halbe Stunde später nicht wieder auftauchte. Im Übrigen war fortan die Orgel zu hören. Dass Raphael da spielen könnte, kam mir jedoch nicht in den Sinn. Vorsichtig öffnete ich die schwere Kirchentür und fand mich in einer Art Windfang wieder. So konnte ich weiter in das Innere des Gotteshauses vordringen, ohne dass man mich gehört haben würde.

Orgelmusik hatte mich schon immer fasziniert, doch das, was ich da zu hören bekam, hatte einen ganz besonderen Reiz, auch wenn das Spiel immer wieder unterbrochen wurde. Plötzlich erklang eine Variation des „Maple Leaf Rag“, was mir einen leichten Schauer über den Rücken jagte. Völlig ungewöhnlich auf einer Orgel, jedoch toll harmonisch und kraftvoll gespielt. Ich vergaß völlig, weshalb ich eigentlich hergekommen war. Nach anderthalb Stunden endete das Orgelspiel. Ich hörte, wie sich zwei Personen leise unterhielten und dabei die knarzende Treppe von der Orgelempore herunterkamen. Ich drückte mich an einen Pfeiler des dreischiffigen Kirchenbaus und erkannte erstaunt, dass es Raphael war, der da scherzend mit einem attraktiven End-Zwanziger Richtung Ausgang ging. Ich traute meinen Augen nicht, als sich die beiden mit einer Umarmung verabschiedeten.

Warum in aller Welt versetzte mir das jetzt einen Stich?

Fünf Minuten später verließ ich unbemerkt ebenfalls die Kirche St.Nikolaus.

Fortan kreisten meine Gedanken nur noch um Raphael, was mich völlig verwirrte. Anfangs begriff ich überhaupt nicht, was plötzlich mit mir los war. Ich begann, von ihm vollkommen wirr zu träumen.

Eines Nachts schreckte ich auf und realisierte, dass ich einen feuchten Traum hatte, was mir schon seit Jahren nicht mehr passiert war. Einerseits war mir das oberpeinlich, doch beschlich mich erneut der Verdacht, dass ich schwul sein könnte. Das konnte, nein das durfte nicht sein. Mit einem Paukenschlag verfestigte sich dieser Verdacht jedoch augenblicklich zur unumstößlichen Erkenntnis. Mir entfuhr ein laut klagendes „Neiiin!“, was natürlich meinen Zimmergenossen Fabian aus dem Schlaf riss. Der kam regelrecht angeschossen und fragte besorgt, was denn los wäre. Mit Mühe konnte ich ihn davon überzeugen, wohl einen Alptraum gehabt zu haben. Gleichwohl blieb er noch ein paar Minuten auf meiner Bettkante sitzen, unschlüssig, was er noch tun könnte.

„Danke, Fabian, ich glaub‘, es geht schon wieder“, bemerkte ich, was ihn veranlasste, wieder sein Bett aufzusuchen.

An Schlaf war meinerseits nicht mehr zu denken. So gestand ich mir ein, wohl in Raphael verknallt zu sein.

Scheiße, Mann.

Ob er wirklich schwul war? Schlagartig stellte sich mir die Frage, wer wohl der Typ in der Kirche war, mit dem Raphael da rumknutschte und ein mir vollkommen neues und unbekanntes Gefühl stellte sich ein: Ich wurde tierisch eifersüchtig, umso mehr, als ich mir vorstellte, was die beiden sonst noch miteinander trieben. Ich setzte mich auf um mich gleich wieder nach hinten fallen zu lassen. Okay, sie hatten sich nur kurz umarmt, aber in einer Kirche!

„Was mach ich jetzt bloß?“

Über diese Frage kreisten nun meine Gedanken in einer Endlosschleife.

Inzwischen war es halb sechs Uhr und ich beschloss, Joggen zu gehen. Auch eine völlig abgehetzte Runde um den See bei strömendem Regen schaffte keine Abhilfe. Ich musste dringend mit jemandem reden. Doch mit wem? Ich stürzte mich erst mal Hals über Kopf unter eine heiße Dusche. Als ich den Waschraum betrat, traf ich auf Andreas und Carsten, die mich erschrocken anschauten. Offensichtlich hatte ich die beiden überrascht. Andreas fand am schnellsten zu seiner Beherrschung zurück und fragte besorgt, nachdem er wohl bemerkte, dass ich ziemlich durch den Wind war: „Miguel, was ist denn mit dir passiert, um Himmels Willen?“

Mir war gar nicht bewusst, dass man mir meine wirren Gedanken so direkt ansah.

Verschämt drehte ich mich zur Wand.

„Miguel, da ist nichts, was du verstecken musst.“ Andreas‘ saloppe Bemerkung machte es auch nicht besser.

Im Gegenteil, mir war zum Heulen: „Man Andreas! Ich weiß nicht wieso, aber ich bin schwul!“, schrie ich geradezu heraus.

„Na und? Wir doch auch“, kam es trocken von Carsten.

„Bei euch ist das doch normal, aber bei mir? Mein Vater bringt mich um.“

Als ich das sagte, sackten mir die Beine weg. Mit einem Satz war Andreas bei mir und fing mich auf, bevor ich auf den Boden knallte. Fast wie ein Ertrinkender klammerte ich mich an ihn. Dass wir beide nackt waren, und nicht gerade in einem entspannten Zustand, verdrängte ich in diesem Moment.

Nach einer gefühlten Ewigkeit löste ich mich von ihm. Auch Carsten stand jetzt bei uns und legte seinen Arm um mich.

„Geht es wieder?“, hörte ich seine sanfte Stimme.

„Ja, danke“, erwiderte ich mit niedergeschlagenem Blick.

„Miguel, können wir dich alleine lassen? Jetzt wärm dich erst mal auf, du bist eiskalt.“

„Und nachher kommst du zu uns aufs Zimmer, dann reden wir!“, ergänzte Carsten in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ.

„Jawoll, Käpt‘n“, entfuhr es mir.

„Witzbold“, antwortete Carsten.

Das Gesprächsangebot der beiden löste offensichtlich den Knoten in meinen verzweifelten Gedanken.

„Dann bis gleich“ bekräftigte Andreas, „und, Miguel, wir helfen dir, wenn du willst.“

„Danke. Bis gleich.“

Es war noch ziemlich früh, so dass ich gleich nach dem Duschen bei Carsten und Andreas vor der Tür stand.

„Ah Miguel, komm rein. Netter Aufzug“, bemerkte Andreas.

„Äh, stört es euch, wenn ich hier im Bademantel aufkreuze?“

„Aber nein, es ist nur überraschend.“

„Ich dachte halt, dass euer Zimmer quasi auf dem Weg zu mir liegt.“

„Schon gut. Miguel, was ist los? Komm, setz dich!“

Andreas hatte sich zu Carsten auf dessen Bett gesetzt. Ich seufzte: „Ich weiß nicht recht, wo anfangen.“

„Am besten von vorne“, schlug Carsten mit einem Lächeln und leiser Ironie in der Stimme vor.

„Okay, von vorne“, wiederholte ich zögerlich, um meine Gedanken etwas zu sortieren. „Also, da ist dieser Neue, Raphael Hausner.“

Ich erzählte den beiden von unserer ersten Begegnung auf der Treppe und den ständigen gegenseitigen Sticheleien. Andererseits war da diese seltsame Faszination, die von diesem Typen ausging, bis hin zu den Begebenheiten in der Kirche und dem mir eigentlich fremden Gefühl der Eifersucht. Weshalb ich dann im Umkehrschluss folgerte, dass ich mich zu Raphael hingezogen fühlte, was wiederum meine körperlichen Reaktionen erklären würde.

So wie ich den Beiden das alles erzählte, wurde es für mich endgültig zur Gewissheit, dass ich erstens in Raphael verknallt und zweitens dann wohl schwul war.

„Leute, danke, dass ihr mir zugehört habt. Das hat mir sehr geholfen.“

„Hey Miguel, immer wieder gerne“, grinste mich Andreas an.

„Wie ich das allerdings meinen Eltern beibringen soll, ist mir völlig schleierhaft“, ich schüttelte den Kopf.

„Jetzt erst mal bis gleich beim Frühstück, allerdings solltest du dich vorher noch anziehen“, meinte Andreas.

„Meinst du wirklich?“, kokettierte ich und wackelte ein wenig mit dem Hintern, „geht das nicht so? Also gut, bis gleich“, lachte ich und fühlte mich plötzlich frei.

Raphael

Völlig überraschend und unangekündigt tauchte heute Herr Kramer in der Kirche auf. Zuerst bemerkte ich ihn gar nicht, denn er hatte sich unauffällig mitten im Chorraum auf eine der Bänke gesetzt.

Oliver bat mich, Beethovens Fünfte einfach durchzuspielen und stellte mir die Partitur auf das Notenpult.

Dieses Arrangement hatte ich in den letzten beiden Wochen intensiv geübt. Irgendwie hatte ich ein komisches Gefühl. Nach 30 Minuten wusste ich warum: Herr Kramer wollte mein Spiel bewerten und es schien ihm gefallen zu haben. Als er die Treppe heraufkam, grinste Oliver mich etwas hinterlistig an. Es entwickelte sich ein äußerst angeregtes Gespräch zwischen den beiden Musikpädagogen, dem ich nur mit immer größer werdenden Augen folgen konnte. Herr Kramer entwickelte eine Idee, die im Laufe des Gesprächs immer konkretere Formen annahm.

„Sag mal, Raphael, was würdest du von einem Duett Orgel und Klavier halten?“, wollte er wissen.

Verblüfft schaute ich Herrn Kramer an.

„Etwas ungewöhnlich, oder? Geht das überhaupt?“, entgegnete ich ausweichend.

„Naja, es gibt da die Scott Brothers in England, die verschiedene Arrangements für Orgel und Klavier veröffentlicht haben. Es käme auf einen Versuch an.“

„Und an wen dachten Sie da als Duett-Partner?“

„Spontan fällt mir da Miguel Hernandez ein.“

„Nicht Ihr Ernst“, entfuhr es mir postwendend. Auf diese arrogante Socke hatte ich nun überhaupt keine Lust. Meine Überraschung schien mir ins Gesicht geschrieben, allerdings interpretierte Herr Kramer das eher als Bewunderung denn als Abneigung.

„Warum nicht? Miguel kann sich hervorragend anpassen“, fuhr er fort.

Das konnte ich mir nun überhaupt nicht vorstellen.

„Und er liebt darüber hinaus Jazz und Boogie-Woogie genauso wie du.“

Das auch noch.

An den Kantor gewandt fragte er:

„Oliver, Ihr habt hier doch auch einen Flügel, wenn ich mich recht entsinne?“

Erstaunt sah ich zu Oliver, der das nur grinsend bejahte.

„Sehr schön! Raphael, du hast ‚Die Fünfte‘ auf der Orgel perfekt drauf, wie ich mich eben überzeugen konnte. Miguel kann sie auf dem Klavier“, fuhr Herr Kramer unbeirrt fort. „Treffen wir uns doch nächste Woche hier und entwickeln zusammen ein für euch passendes Arrangement für Klavier und die Orgel als Quasi-Orchester. Normalerweise habe ich zu dieser Zeit Klavierunterricht mit Raphael, ich werde ihn einfach hierher bestellen. Oliver, würdest du bitte den Flügel entsprechend aufstellen und stimmen lassen?“

„Ja klar“, antwortete Oliver gutgelaunt.

Zugegebenermaßen fand ich die Idee an sich sehr reizvoll und spannend, aber mit dem Unsympath der Schule als Duett-Partner?

Die beiden Musikpädagogen waren von dieser Idee derart begeistert und überzeugt, dass ich nicht wagte zu widersprechen.

Irgendwie wurde mir das jetzt ein bisschen zu viel. So beschloss ich eine Runde schwimmen zu gehen. Im Bad war ich fast alleine, jedenfalls in der Umkleide. Als ich nach dem Duschen die Schwimmhalle betrat, stellte ich fest, dass tatsächlich nur einige wenige ihre Bahnen zogen. Plötzlich erkannte ich Carsten, der schnell wie ein Fisch mit wenigen Zügen die 50m zurücklegte. Fasziniert sah ich ihm eine Weile zu. Als er eine Pause einlegte, sprach ich ihn an:

„Hallo Carsten, du schwimmst ja wie ein Fisch.“

Er lachte: „Tja, Raphael, wöchentliches Training hält mich ganz gut in Form. Es ist ein hervorragender Ausgleich zum Klavierspielen. Aber das scheinst du dir ja auch zu denken. Wenn du nur annähernd so gut schwimmst, wie du Klavier spielst, solltest du nicht viel langsamer sein als ich.“

Verblüfft fragte ich ihn, woher er denn wüsste, dass ich Klavier spielte.

„Raphael, so viele sind es nicht, die am JHP-Internat ein Tasteninstrument spielen. Da ich vorhabe, Musik und Klavier zu studieren, höre ich es heraus, wenn plötzlich ein weiterer Pianist übt. Da hat jeder einen individuellen Stil und deiner gefällt mir sehr gut.“

Ich errötete leicht bei diesem Lob von der JHP-Piano-Ikone.

„Danke, Carsten, so eine Anerkennung aus deinem Munde läuft runter wie Öl. Doch was anderes beschäftigt mich grade: Ich hab dir eben beim Schwimmen zugesehen und mich gefragt, wie du die Bahn hältst?“

„Oh, das ist einfach: Es gibt hier akustische Signale, damit solche Gesellen wie ich nicht vom rechten Weg abkommen!“

Ob dieser Formulierung musste ich lachen. „Na dann.“

„Ich mach Schluss für heute, bis später, Raphael.“

„Bis später, Carsten.“

Jetzt wo Carsten es erwähnt hatte, hörte ich die Signale ebenfalls, die mir sonst nicht aufgefallen wären. Angespornt durch seine Worte wollte ich nun ebenfalls einige Bahnen schwimmen. Allerdings war ich doch reichlich aus der Übung.

Ziemlich ausgepowert kam ich in die Dusche und streifte meine Badehose ab, um mich unter dem Wasserstrahl zu regenerieren. Da bemerkte ich IHN. Unvermittelt schoss mir das Blut nicht nur ins Gesicht. Bevor ich mir einmal mehr eine hämisch-schroffe Bemerkung einhandelte, verließ ich fluchtartig den Duschraum. Die süffisant-amüsierten Blicke der wenigen Badegäste kümmerten mich jetzt auch nicht mehr.

„Raphael, bitte warte“, hörte ich Miguels Ruf, dem jegliche Schärfe fehlte.

Verwundert drehte ich mich um.

Miguel war mir sofort in die Umkleide gefolgt, ebenso nackt, wie ich.

„Raphael, sieh mich an! Mir geht es doch genauso, wie dir!“

Da standen wir nun: Groß-Raphael, Groß-Miguel, Klein-Raphael und Klein-Miguel.

Zum Glück waren wir alleine und musterten uns regelrecht.

Miguel begann freundlich zu grinsen und auch mir schlich ein Lächeln ins Gesicht.

„Hier, die gehört dir, glaub‘ ich.“ Damit reichte er mir meine Badehose, die er zusammen mit der seinen aus der Dusche mitgebracht hatte.

Auch wenn ein deutliches Knistern in der Luft lag, wollten wir diesen sehr öffentlichen Ort doch schnell und unauffällig verlassen. So trockneten wir uns ab und zogen uns straßentauglich an, allerdings nicht ohne immer wieder zum anderen zu schielen und dabei kindisch zu kichern.

Auf dem Nachhauseweg kam mir dann die Idee von Oliver und Herrn Kramer wieder in den Sinn.

„Miguel, ich bekomme seit einigen Wochen Orgelunterricht in der hiesigen Kirche.“

„Ich weiß“, rutschte es ihm heraus.

„So?“, verblüfft bemerkte ich seinen schlagartig verfinsterten Blick.

„Wie dem auch sei, heute kam Herr Kramer überraschend in die Kirche und Oliver, mein Orgellehrer, und er entwickelten die abstruse Idee, dass wir Beide ein Duett Klavier und Orgel spielen sollen. Ganz schön verrückt, was?“

Ungläubig starrte Miguel mich an.

„Wie kommen die denn auf die Idee?“, fragte er schließlich.

„Keine Ahnung. Ehrlich gesagt war ich ganz schön schockiert. Vor allem nach dem ganzen Geplänkel zwischen uns Zwei.“

Mit einer Mischung aus Überraschung und Überheblichkeit lachte er auf.

„Siehst du, genau diese Arroganz hat mich die ganze Zeit auf Distanz zu dir gehalten und ich kann mir deshalb nicht vorstellen, mit dir zusammen Musik zu machen.“

Jetzt sah er mich völlig bedröppelt an.

„Ist das dein Ernst? Wirke ich arrogant auf dich?“

„Das kannst du laut sagen, mein Lieber.“

Beschämt senkte er den Blick.

„Raphael, ich wollte einfach nur auf Distanz zu dir bleiben.“

„Aha, wäre mir gar nicht aufgefallen“, entgegnete ich sarkastisch.

Traurig schaute er mir nun in die Augen.

„Raphael, am Anfang war das aus Reflex, nachdem wir auf der Treppe zusammen gestoßen sind. Dann irgendwie instinktiv.“

„Und wieso?“, fragte ich genervt.

Nach einer Weile blieb er stehen und sagte:

„Raphael, ich bin schwul und habe mich in dich verknallt.“

Ich schaute auf ihn herab, denn ich überragte ihn um gute 15 Zentimeter. Dann fiel mir die Szene im Schwimmbad ein und ich musste ihm zugestehen, dass er diese Differenz um 9% aus seiner Sicht an anderer Stelle mehr hatte, als ich. Ich schüttelte den Kopf.

„Was grinst du jetzt?“

Miguel

Nachdem wir das Bad verlassen hatten, wollten wir zügig ins Internat zurück.

Plötzlich faselte Raphael etwas von einem Duett von uns Zweien an Klavier und Orgel, was eine Idee von Herrn Kramer sei, er sich das auf Grund meiner Arroganz nicht vorstellen könne.

Das schockte mich nun einigermaßen. So wollte ich noch nie auf andere wirken.

Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich einfach auf Distanz zu ihm bleiben wollte.

„Und wieso?“ wollte er wissen.

Ich atmete tief durch. Sollte ich ihm gestehen, dass ich mich voll in ihn verknallt hatte und daher wohl schwul war? Wenn ich mir andererseits seine Reaktion vorhin im Schwimmbad unter der Dusche nochmals vor Augen führte, war er es denn nicht auch? Das war doch eindeutig, oder nicht? Ich blieb stehen. Augen zu und durch, dachte ich noch.

„Raphael, ich bin schwul und habe mich in dich verknallt.“

Erwartungsvoll, dennoch skeptisch schaute ich zu ihm auf. Unweigerlich grinste ich, denn mir wurde in diesem Moment klar, dass er mich zwar um etwa 15cm überragte, ihm diese 8% aus seiner Sicht an anderer Stelle fehlten. Prompt fragte er mich, wieso ich jetzt grinsen würde.

„Hm“, brummte ich, „aber nicht böse sein, okay?“

„Warum sollte ich jetzt plötzlich böse sein?“, fragte er überrascht.

„Nun, es ist mir bewusst geworden, dass ich etwa 15cm kleiner bin als du, aber du hast an anderer Stelle diese 8% von dir aus gesehen weniger“, grinste ich ihn vorsichtig an.

Raphael lachte laut heraus.

„Genau das habe ich gerade auch gedacht, nur umgedreht! Ist das ein Problem?“

„Nee, sicher nicht. Jetzt sag schon, was ist mit dir?“, wollte ich endlich wissen.

Raphael zögerte eine ganze Weile.

„Miguel, ganz ehrlich, selbst als du mich immer angepflaumt hast, habe ich gedacht, dass du ein süßer Kerl bist und habe deine ablehnenden Reaktionen nie verstanden. Irgendwann habe ich dann alles in Richtung Freundschaft mit dir ad acta gelegt.“

„Scheiße“, rutschte es mir heraus und ich spürte, wie meine Augen feucht wurden.

„Aber deine Reaktion vorhin unter der Dusche?“, fragte ich leise.

„Miguel, pass auf, gib mir ein wenig Zeit, weißt du, Oliver, mein Orgellehrer ist ein ganz toller Mensch, so einer ist mir im Leben noch nie begegnet.“

Das war zu viel, ich rannte los ohne mich noch einmal umzusehen.

Völlig außer Puste kam ich im JHP-Internat an und verzog mich sofort auf mein Zimmer, das ich nicht vorhatte, kurzfristig wieder zu verlassen.

Mit meiner vorlauten Schnauze hatte ich wieder einmal alles kaputt gemacht, wieso auch musste ich Raphael von Anfang an den unnahbaren Arsch vorspielen? Gut, ich wusste tatsächlich von vorneherein nicht, dass ich je etwas mit ihm zu tun haben wollte. War ich zu arrogant, mich mit ihm wenigstens normal zu unterhalten? Spätestens nach unserer ersten Begegnung im Musikkabinett?

Mit derartigen und noch wirreren Gedanke bin ich dann eingeschlafen. Mitten in der Nacht wurde ich wach und merkte, dass ich ja noch komplett angezogen war. Da ich sowieso auf Toilette musste, habe ich mir gleich noch meinen Schlafanzug angezogen.

Noch vor dem Wecker wurde ich wach, schleppte mich in den Waschraum unter die Dusche, wo ich zu dieser frühen Stunde noch alleine war. Auch beim Frühstück war ich der Erste und konnte es gar nicht erwarten, bis ich mir den Teller vollladen konnte, hatte ich doch seit gestern Mittag nichts mehr gegessen.

Gesättigt, aber lustlos machte ich mich auf den Weg in den Unterricht. Zwangsläufig würde ich hier neben Raphael sitzen. Ich beschloss, mir nichts anmerken zu lassen, sondern auf der gewohnten Distanz zu bleiben, was jedoch auf Grund der gestrigen Ereignisse schwer werden dürfte. Noch dazu hatten wir an diesem Tage eine Doppelstunde Sport. Ich fragte mich immer wieder, wie das wohl gehen würde. Am besten würde ich mich mit allgemeinem Unwohlsein abmelden. Zwar wollte ich mir den Anblick meiner nackten Klassenkameraden seit einiger Zeit nicht mehr entgehen lassen, doch das sollte heute besser zurückstehen, wollte ich mich nicht vor der ganzen Klasse zum Deppen machen.

Also, dann mal los, sprach ich mir Mut zu.

Als einer der Ersten in der Klasse, setzte ich mich auf meinen Platz und harrte der Dinge, die da kommen mochten.

Raphael

Miguel war auf und davon als ich Oliver erwähnte.

Jetzt saß ich wieder einmal zwischen sämtlichen Stühlen.

Oliver.

Dieser Mann war mir innerhalb ganz kurzer Zeit zu einem geliebten Freund geworden. Er hatte mein Herz buchstäblich im Sturm erobert, mit seiner herzlichen, offenen Art, auf einen zuzugehen. Wie könnte ich ihm je wieder unter die Augen treten, wenn ich jetzt mit wehenden Fahnen zu Miguel überlaufen würde?

Die Faszination, einschließlich der Schmetterlinge im Bauch, die von Miguel ausging, war selbstverständlich immer noch da. Sie war ehrlicherweise nie weg. Durch das perfekte Verhältnis zu Oliver konnte ich Miguel jedoch vergleichsweise leicht ausblenden. Die letzten Wochen waren in jeder Hinsicht die intensivsten meines Lebens: Alles schien perfekt. Ich lernte so gut und so viel wie nie zuvor. Und das nicht nur in der Schule sondern auch auf meinen beiden Instrumenten.

Nein, ich konnte Oli nicht einfach zur Seite schieben, gleichwohl sollte ich dringend mit ihm sprechen.

Vor solchen Situationen hatte ich schon immer Angst. Schon als Kind, auch und gerade in der Pubertät. Wenn ich merkte, dass ich etwas falsch gemacht hatte und das geradebiegen wollte, schwang immer die Befürchtung mit, dass mich fortan keiner mehr mögen würde und sich alle von mir abwenden würden.

Gleich würde ich Miguel beim Abendessen wiedersehen.

Doch Miguel kam nicht. Zunächst dachte ich: ‚auch gut‘, allerdings beschlichen mich bald etliche Zweifel.

Bis spät in der Nacht wechselten meine Gedanken ständig zwischen Miguel und Oliver hin und her. Ein Wunder, dass ich trotzdem irgendwann eingeschlafen bin.

Relativ spät quälte ich mich am nächsten Morgen aus dem Bett.

Auch zum Frühstück war von Miguel nichts zu sehen. Meine Unruhe und Sorge wuchs ins Unermessliche. Sollte er auch zum Unterricht nicht erscheinen, würde ich Alarm schlagen.

Als einer der Letzten betrat ich knapp vor Unterrichtsbeginn das Klassenzimmer. Miguel saß auf seinem Platz, als wenn nichts wäre. Allerdings würdigte er mich keines Blickes.

Mein „Guten Morgen“ erwiderte er nur mit einem Kopfnicken.

Immerhin unterließ er fortan seine Sticheleien.

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, wie das in vernünftigen Bahnen weitergehen sollte.

Ich beschloss zunächst, ihn einfach in Ruhe zu lassen.

Das fiel mir sehr schwer, denn je intensiver ich (jetzt wieder) an Miguel dachte, umso mehr spürte ich eine Verbundenheit mit ihm, auch ohne dass wir miteinander sprachen.

Ich glaubte zu wissen, ja zu spüren, wie es ihm geht. Sekunden bevor er einen Gedanken äußerte oder etwas tat, wusste ich schon was jetzt kommt. Konnte das sein, oder bildete ich mir das ein, denn sein Denken und Handeln war vielleicht allgemein absehbar, oder?

Was wir allerdings in der anstehenden Sportstunde erlebten, war für mich ebenso faszinierend wie unerklärlich.

Miguel

In der großen Pause lief mir Herr Kramer über den Weg und sprach mich an:

„Miguel, hast du gerade Zeit für mich?“

„Klar, Herr Kramer, um was geht es?“, fragte ich zurück, obwohl ich es mir schon denken konnte.

„Miguel, ich weiß nicht, ob Raphael schon mit dir gesprochen hat, er ist doch dein Banknachbar, soweit ich weiß. Es ist da die Idee aufgekommen, von einem Duett mit Klavier und Orgel.“

Nach dieser Formulierung grinste ich in mich hinein.

„Das ist mir schon zu Ohren gekommen“, antwortete ich mit gleichem Understatement,

„Raphael hat mir schon davon erzählt. Ich glaube, das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Oh, das wäre sehr schade. Ich kenn Dich nun schon einige Zeit, von daher kann ich deine Fähigkeiten auf dem Klavier sehr gut einschätzen, denke ich jedenfalls. Auch weiß ich, wie du dich mit deinem Zusammenspiel mit dem Orchester einzufügen vermagst. Ihr beide könntet ein tolles Duo ergeben.“

„Wenn ich aber nicht will?“

„Das wäre höchst bedauerlich“, wobei er seine Enttäuschung nicht verhehlen konnte.

„Wissen Sie, Herr Kramer, ich fühle mich ein wenig überfahren“, begründete ich meinen Unwillen.

Doch der Musikpädagoge gab sich damit nicht zufrieden:

„Oh, das war nicht meine Absicht, denn als ich Raphael neulich habe Orgelspielen hören, bist du mir sofort in den Sinn gekommen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass ihr Beide hervorragend harmonieren würdet. Machen wir es doch einfach so: Du schläfst eine Nacht drüber und gibst mir morgen bis Mittag Bescheid. Was meinst du?“

Ich zögerte mit der Antwort. Dass Raphael sehr gut Klavier und Orgel spielte, war mir klar. Aber dieser Oliver verursachte irgendwie eine Blockade in mir, obwohl das ja sachlich überhaupt nichts miteinander zu tun hatte. Das gemeinsame Musizieren hätte zweifellos seinen Reiz.

„Also gut, ich überlege es mir und gebe Ihnen morgen Bescheid.“

„Gut, Miguel, dann bis morgen.“ Und schon war er wieder im Schulhaus verschwunden.

Mit Raphael wechselte ich weiterhin keinen Ton, was mir zugegebenermaßen sehr schwer fiel. Ich hatte das Gefühl, dass er mich einerseits zwar in Ruhe ließ, andererseits jedoch sehr genau im Auge behielt, bereit, das Gespräch sofort aufzunehmen, sowie ich es ihm signalisieren würde. Eine derartige Verbundenheit zu irgendjemanden kannte ich bisher nicht.

Entgegen meines ursprünglichen Plans nahm ich doch am Sportunterricht teil, denn ich verspürte einen ungeheuren Bewegungsdrang. Dass heute Basketball gespielt werden sollte, kam mir gerade recht. Wie es der Zufall wollte, spielten Raphael und ich in derselben Mannschaft. Ich war der Kleinste im Feld, doch dafür etwas flinker. Wieder spürte ich Raphaels Achtsamkeit, mit der er mich immer wieder ins Spiel brachte. Wegen seiner Körperlänge (Sorry, dass mir dabei gleich wieder unanständige Gedanken durch den Kopf gingen) und seiner Präzision beim Korbwurf, gab ich ihm mehr als nur einmal eine Vorlage, die er fast immer zu einem drei-Punkte-Wurf verwertete. Ja, mit der Zeit entwickelten wir ein schon fast blindes Verständnis füreinander und ließen unseren Gegenspielern nicht den Hauch einer Chance. So endete das erste Spiel mit 58:17, was unseren Sportlehrer dazu veranlasste, uns zu trennen, in dem er mich mit Kevin aus der anderen Mannschaft tauschte. Danach lief allerdings nichts mehr zusammen. Ziemlich unkoordiniert und zäh verlief das weitere Spiel. So beendeten wir die Sportstunde ziemlich erledigt und außerdem äußerst unzufrieden.

Unter der Dusche bemerkte dann KF an Raphael und mich gewandt: „Das war echt blöd von dem Scheibner, dass er euch nach der ersten Hälfte getrennt hat. Ihr habt echt Klasse zusammen gespielt. Auch wenn ich in der Gegenmannschaft war, es war toll, euch zuzusehen, das muss man euch lassen.“

Und Fabian ergänzte: „Ihr seid wie Nitro und Glycerin. Einzeln völlig ungefährlich, aber gemeinsam explosiv und unschlagbar.“

Dieser Spruch führte zu lautem Gelächter und meistens auch Zustimmung. Jeder glaubte, uns auf die Schulter klopfen zu müssen. Das lenkte mich zwar etwas ab, denn ich hatte mit dem Strom meines Blutes zu kämpfen, besonders, wenn ich mit Raphael Blickkontakt hatte.

Und Kevins Bemerkung „Echt geil, Mann“, machte es auch nicht leichter. Ich weiß nicht, ob unsere Klassenkameraden über die, zum Glück nur leichten Veränderungen in meiner und übrigens auch Raphaels unterer Körperregion, einfach großzügig hinwegsahen, oder sie gar nicht registrierten, oder ob sie uns gar als „Dream-Team“ akzeptierten. Jedenfalls war mir diese Doppelstunde Sport einerseits überraschend angenehm, andererseits auch unheimlich.

Auch wenn wir weiterhin nicht miteinander sprachen, gingen wir immerhin zusammen zum Mittagessen.

Ich war schon so weit, dass ich Herrn Kramers „Duett-Vorschlag“ doch annehmen würde, als mich in der Nacht wieder die wildesten Träume heimsuchten. Immer wieder funkte dieser Oliver dazwischen, so dass ich keinen Draht zu Raphael fand. Völlig gerädert wachte ich vom Getöse meines Weckers auf und es bedurfte mehrerer Anläufe das kuschelige Bett zu verlassen. Auch während des Frühstücks und des gesamten Vormittags wälzte ich das Für und Wider eines Duetts mit Raphael hin und her. Im Unterricht trafen mich die mitleidig-spöttischen Blicke meiner Mitschüler, wenn mich ein Lehrer wieder kalt erwischte. Dabei fiel mir sehr wohl auf, dass Raphael dabei eher sorgenvoll drein schaute. Wieder spürte ich diese Verbundenheit, auf die ich mich „nur“ einlassen müsste.

So beschloss ich, um Raphael zu kämpfen.

Meine Zustimmung zu diesem „Projekt“ meines Klavierlehrers wäre sicher ein einfacher Einstieg.

Also gab ich Herrn Kramer grünes Licht, worüber der sich sichtlich freute, allerdings nur sagte:

„Gut, Miguel, dann sei bitte nächsten Mittwoch um drei in der Sankt-Nikolaus-Kirche. Wir verlegen deine Klavierstunde einfach dorthin.“

Raphael informierte ich erst mal noch nicht.

Raphael

Nach wie vor herrschte Funkstille zwischen Miguel und mir.

Trotzdem gelang es mir, so einigermaßen konzentriert sowohl meine Schulaufgaben zu erledigen, als auch konsequent an meinen beiden Instrumenten zu üben.

Am Montag fasste ich mir schließlich ein Herz und sprach Miguel morgens in der Schule einfach an:

„Guten Morgen Miguel. Und was denkst du? Sollen wir am Mittwoch das Experiment wagen, das sich Herr Kramer da ausgedacht hat?“ Ich vermied absichtlich zu erwähnen, dass Oliver ja maßgeblich mitbeteiligt war.

Als ob er auf meine Frage gewartet hätte, antwortete er, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt:

„Ja klar. Wird sicher lustig.“

Verblüfft schaute ich ihn an.

„Weißt du was, komm doch heute mit zu meinem Klavierunterricht bei Carsten.“

Zunächst noch verblüffter brachte ich keine Antwort zustande. Jetzt lachte er mich an.

„Also, abgemacht, halb drei im Musikkabinett. Ich informiere Carsten.“

Endlich fand ich meine Sprache wieder, auch dieser letzte Satz war mir im Wortlaut klar, Sekunden bevor er ihn aussprach.

„Klasse, Miguel, das freut mich. Bin ja schon gespannt, was das wird“, lachte ich nun zurück.

Es gelang uns sogar, dem morgendlichen Unterricht aufmerksam zu folgen.

Schon beim Mittagessen steckten wir die Köpfe zusammen und tauschten uns über unsere Repertoires aus. Mir fiel ein, dass Herr Kramer Beethovens Fünfte hören wollte. Im weiteren Gespräch kamen wir auch darauf, dass wir beide an Gershwins “Rhapsody in Blue“ übten.

Allgemein stellten wir fest, dass wir exakt dieselben Vorlieben an Musikstilen und Komponisten hatten.

Punkt halb drei betrat ich das Musikkabinett.

Zum ersten Mal sollte ich jetzt unter den kritischen Ohren von Carsten von Feldbach zusammen mit Miguel Klavierspielen. Miguel hatte Carsten schon darüber informiert.

Der war die Ruhe in Person, während mir schon ein bisschen die Düse ging.

„Okay, Jungs, dann lasst mal hören“, forderte er uns auf.

So setzten wir uns an die beiden Instrumente und Miguel begann mit seinen Fingerübungen, was mir exakt so sehr bekannt vorkam. Anscheinend mühelos setzte ich zu diesen Fingerübungen ein. Nach kurzem Parallelspiel begannen wir quasi ein Frage- und Antwortspiel: Der Eine gab eine Tonfolge vor, der Zweite wiederholte sie. Jede „Antwort“ wurde dabei mehr oder weniger variiert. Auch wurden die Sequenzen immer komplizierter und umfangreicher bis wir schließlich, ohne uns abgesprochen zu haben, beim „Maple Leaf Rag“ landeten.

Diese „Fingerübung“ geriet zu einem viertelstündigen, improvisierten Ragtime, zwar mit ein paar handwerklichen Fehlern, aber mit einer sagenhaften, nonverbalen Abstimmung, was nicht nur mir ungeheures Vergnügen bereitete. Wir spielten, als hätten wir nie etwas anderes gemacht. Nachdem wir geendet hatten, klatschte Carsten nach einer kurzen Pause anerkennend Applaus.

„Wann habt Ihr das geübt?“, fragte er.

Wir sahen uns ungläubig an und antworteten wie aus einem Munde:

„Nie, wir haben gerade zum ersten Mal überhaupt zusammen gespielt.“

„Das glaube ich euch nicht. Ihr veralbert mich.“

„Nein, Carsten, wirklich. Es ist so“, bekräftigte Miguel.

„Also dafür war es phantastisch, ich nehme deshalb auch an, dass ihr die Fehler selbst bemerkt habt, die ausschließlich eurer unvollkommenen Spieltechnik geschuldet waren. Wollen wir daran arbeiten?“

„Ja sicher, deswegen sind wir ja hier!“, kam es wieder zeitgleich von uns.

Wie immer steckte auch hier der Teufel im Detail, so schloss sich eine arbeitsreiche, anstrengende und recht kurzweilige Stunde an.

Als Carsten die Stunde beendete, waren alle mit dem Ergebnis sehr zufrieden.

Wir berieten kurz, ob wir wohl auch meinen Unterricht bei Herrn Kramer gemeinsam bestreiten sollten. Doch wollten wir uns gegenüber dem Musikpädagogen etwas zurückhalten. So verabredeten wir uns erst wieder zum Abendessen.

Miguel

So sicher, wie ich gegenüber Raphael auftrat, war ich mir keineswegs.

Der gemeinsame Unterricht bei Carsten war, im Nachhinein betrachtet, die beste Idee, die ich je hatte.

Raphael und ich harmonierten in einer Weise, wie ich es mir nie und nimmer vorzustellen gewagt hätte.

Die Zeit verging einmal mehr viel zu schnell. Danach war ich diesem Typen endgültig hoffnungslos verfallen. Dennoch versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen.

Als wir beim Abendessen saßen, schlug Raphael vor, ob wir nicht am folgenden Dienstag in der Kirche schon mal gemeinsam üben wollten.

„Oh, das ist eine super Idee. Kommen wir denn da überhaupt rein?“

„Jep, kein Problem“, meinte er und klingelte mit dem Schlüsselbund.

„Das ist gut, dann können wir das in aller Ruhe mal ausprobieren“, bestätigte ich, musste allerdings gleich einräumen, erst ab etwa vier Uhr Zeit zu haben, worauf mich Raphael nur anlächelte: „Morgens oder nachmittags?“

„Mensch, Raphael!“

„Ja, schon gut, dann lass uns am Nachmittag hin gehen. Also Abmarsch hier um vier.“

„Das sollte ich schaffen, bis morgen dann“, verabschiedete ich mich von ihm.

Dass ich jetzt noch mit Kopfhörern an meinem Keyboard üben wollte, verschwieg ich ihm. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich noch an der „Rhapsody“ gesessen habe, irgendwann nach Mitternacht meinte Fabian, ob ich nicht mal ins Bett wollte, auch wenn ihn mein – für ihn – lautloses Spiel nicht stören würde. Tatsächlich war ich hundemüde, wie ich in diesem Moment registrierte und fiel fast schon schlafend ins Bett, gerade, dass es mir noch gelang, meinen Pyjama anzuziehen.

Ich fiel in einen tiefen Schlaf voller Musik in meinen Träumen.

Obwohl es am Ende nur etwa fünf Stunden Schlaf waren, wachte ich noch vor dem Wecker auf und fühlte mich fit wie selten zuvor.

Auf dem Weg zum Waschraum begegnete ich Carsten und Andreas.

„Guten Morgen, ihr beiden. Habt Ihr gut geschlafen?“

„Man, Miguel, wie bist du denn heute schon drauf?“, brummte Andreas.

„Hihi“, lachte ich, „ich habe so gut geschlafen, wie noch nie. In einer Traumwelt voller Musik.“

„Oh“, kam es daraufhin von Carsten, „es ist lange her, dass ich das von mir sagen könnte. Und so wie du klingst, war es schön und erholsam.“

„Ja das war es“, erwiderte ich jetzt ein wenig melancholisch.

„Wenn ich von Musik träume, dann wälze ich meist irgendwelche schwierigen Spielstellen hin und her.“

Auch unter der Dusche unterhielt ich mich weiter mit Carsten über die Welt der Musik.

„Boa ihr zwei! Eure gute Laune am frühen Morgen ist ja nicht zum Aushalten!“ Dieser Satz von Andreas wurde von einigen weiteren Morgenmuffeln sofort bestätigt, was Carsten und mir allerdings nur ein mitleidiges Lachen entlockte. Aus Rücksicht auf unsere armen Mitschüler hielten wir uns ab da mit der weiteren Diskussion zurück. Dafür erhielt Carsten einen flüchtigen Kuss von seinem Andreas.

Und niemand nahm Anstoß daran.

Mir fiel ein, dass ich meinem Nachhilfelehrer ja noch gar nicht gesagt hatte, weshalb wir gestern zu zweit bei ihm aufgetaucht waren. Nach kurzer Überlegung beließ ich es auch dabei.

Jetzt sollte ich mich tatsächlich etwas beeilen, um rechtzeitig zum Frühstück und zum Unterricht zu kommen.

Raphael

Meine Klavierstunde eröffnete Herr Kramer mit der Frage:

„Hallo Raphael, wo ist Miguel?“

„Äh“, war alles, was ich heraus brachte.

„Ihr habt doch eben bei Carsten so phantastisch zusammengespielt.“

„Woher …“, weiter kam ich nicht, denn Herr Kramer empörte sich: „Na, hör mal. Glaubst du, hier kann man zu zweit an zwei Flügeln anderthalb Stunden einen derartigen Radau veranstalten, ohne dass es im Haus bemerkt wird?“

„War es so schlimm?“, erkundigte ich mich kleinlaut. Und schon hatte er mich da, wo er mich haben wollte.

Er lachte laut heraus: „Man, Raphael, du solltest mir als deinem Musiklehrer schon zugestehen, dass ich sehr wohl unterscheiden kann, wer da hinter verschlossener Tür Klavier spielt. Mir war sofort klar, dass der zweite Pianist ausnahmsweise mal nicht Carsten war, und nur du derjenige welcher sein konntest. Im Übrigen war es im Flur ganz schön eng: Ihr hattet jede Menge begeisterte Zuhörer.“

„Echt jetzt? Das ist mir aber unangenehm.“

„Wie bitte? Raphael, das ist nicht dein Ernst, oder? Ein Künstler braucht doch sein Publikum.“

„Naja, ein Künstler vielleicht … “

„Stopp, Raphael, du solltest dich gleich daran gewöhnen, auch Zuhörer zu haben, denen es vor allem gefällt, was du spielst. Und jetzt lass hören, was sich seit letzter Woche getan hat.“

Noch immer etwas verwirrt von dem Wirbel, den Miguel und ich da unabsichtlich verursacht hatten, setzte ich mich an den Flügel und begann wie selbstverständlich die „Rhapsody in Blue“ zu intonieren.

Zwar würde ich die und zunächst wohl Beethovens Fünfte morgen auf der Orgel spielen, was ja schon ziemlich anders zu bewerkstelligen ist. Freilich wählte ich den Orchesterpart.

Herr Kramer saß ruhig auf seinem Stuhl, nickte anerkennend und hatte nur mehr wenige Details zu verbessern. Allerdings nichts in Bezug auf die Spieltechnik, was wohl daran lag, dass diese Feinheiten nicht so ohne weiteres auf die Orgel übertragbar wären.

„Als Klavierstück klingt das richtig gut, ich bin sehr gespannt, wie das übermorgen auf der Orgel und in der Kombination mit Miguel am Flügel wird. Bitte denke jetzt nicht mehr an die Orgel, sondern konzentriere Dich aufs Klavier. Lass uns an Scott Joplin weiterarbeiten.“

Auch das hatte ich fleißig geübt. So konnte ich Herrn Kramer mit nicht wenigen Fortschritten überraschen. Als ich geendet hatte, herrschte erst einmal Stille. Vorsichtig lugte ich zu ihm hinüber. Er nickte anerkennend: „Raphael, Respekt. Da hast du wirklich gut gearbeitet. Keine Einwände von meiner Seite, lass uns zum Abendessen gehen“, lachte er gelöst und zufrieden.

Im Speisesaal angekommen, herrschte dort schon reger Betrieb. Ich sah mich nach Miguel um, der schon an einem Tisch in einer ruhigen Ecke saß. Nachdem ich mein Tablett beladen hatte, setzte ich mich zu ihm.

„Herr Kramer hat gleich zu Beginn der Stunde nach dir gefragt. Unsere gemeinsame Stunde bei Carsten hat wohl einigermaßen für Aufsehen gesorgt.“

Er grinste mich nur schelmisch an.

„Das hab ich auch schon mitbekommen.“

Wir verabredeten, dass wir uns um vier Uhr am Nachmittag gemeinsam auf den Weg machen wollten.

Miguel verabschiedete sich dann relativ schnell für heute, was mir die Gelegenheit verschaffte, noch ein wenig auf meinem neuen Keyboard zu üben, damit die Blamage nicht allzu groß ausfallen würde. KF hatte heute „Spätausgang“, denn er engagierte sich bei der freiwilligen Feuerwehr. So hatte ich bis 23 Uhr meine Ruhe. Trotzdem verwendete ich freilich meine Kopfhörer, um die Nachbarn nicht zu stören, die Wände waren ja einigermaßen dünn. Zunächst versuchte ich mich am Orchesterpart für Beethovens Fünfte, der ja extra für die Orgel arrangiert war. Zumindest mit den einfachen Klangfarben und dem ähnlichen Anschlag sollte ich mich damit einigermaßen auf unser Experiment vorbereiten können. Ich war so vertieft, dass mich KF regelrecht erschreckte, als er unvermittelt um viertel nach elf ins Zimmer rumpelte.

„Boa eh, musst du mich so erschrecken, was machst du denn hier?“

„‘tschuldigung, ich wohne hier“, grunzte er und ich lachte. Schuldbewusst blinzelte er mich ziemlich schräg an. Ich merkte wohl, dass er ein bisschen was geladen hatte. Grundsätzlich streng verboten, schlug KF eigentlich nie über die Stränge.

„Ist was passiert? Geht es dir gut, KF?“, fragte ich ihn schon etwas besorgt.

Er glotzte ein wenig glasig in meine Richtung

„Alls gut“, nuschelte er, „isch geh im Bett“, verkündete er und schon lag er flach.

„Oh Mann, zieh wenigstens deine Schuhe aus.“

„Was?“, fuhr er hoch

„Warte, ich helfe dir.“

„Neiin, nischt anfassen, olle Schwuppe“, kam es unerwartet und schrill von ihm.

Geschockt ließ ich von ihm ab. Keine Ahnung, wie er jetzt darauf kam, oder ob das nur so ein Spruch war. So ein homophober Idiot fehlte mir jetzt gerade noch. Ich sagte erst mal nichts, das hätte in seinem Zustand ohnehin keinen Wert. Trotzdem nahm ich mir vor, erstens auf der Hut zu sein und ihn zweitens am anderen Tag sehr wohl darauf anzusprechen. Nach einer gefühlten halben Stunde hatte er endlich seine Stiefel und immerhin seine Cargohose ausgezogen. Diese Prozedur an sich war amüsant zu beobachten, wäre da nicht diese feindliche Äußerung gewesen. Kaum hatte er sich hingelegt, schnarchte er schon vor sich hin. Wenn das so war, konnte ich mich auch noch ein wenig mit meinem Keyboard beschäftigen. Als ich irgendwann zufällig auf die Uhr sah, war es tatsächlich schon nach eins.

Oje, jetzt aber schnell ins Bett.

Trotz des Geschnarches meines Mitbewohners schlief ich rasch ein, so hundemüde war ich.

Diesmal war ich es, der KF unter größten Anstrengungen am nächsten Morgen aus dem Bett scheuchen musste. Er ließ sich von mir sogar unter die Dusche begleiten, um seinen Kater möglichst unauffällig zu bekämpfen. Als wir nach geraumer Zeit wieder in unserem Zimmer waren, bedankte er sich sogar für meine Unterstützung.

„Und, Rafi, bitte entschuldige. Ich hab das gestern Abend nicht so gemeint“, ergänzte er mit gesenktem Blick. Da ich sehr froh war, dass sich das auf diese Wiese auflöste, antwortete ich ihm mit einem Grinsen.

„Schon gut KF, hätte mich auch sehr gewundert. Du hattest wohl mehr geladen, als es den Anschein hatte.“

„Stimmt“, gab er zu und ich bemerkte Tränen in seinen Augen. Immer noch saß er nackt auf seinem Bett, mit den Gedanken weit weg.

„Hey, was ist los?“ Ich ging vor ihm in die Hocke.

Er seufzte tief: „Lilo hat Schluss gemacht.“

„Oh, das tut mir leid, wirklich.“ So hockten wir uns gegenüber, plötzlich ließ er sich nach vorne fallen und schlang seine Arme um mich. Ich nahm ihn wie selbstverständlich in den Arm und zog ihn in die Senkrechte.

„So schlimm, hm?“, fragte ich nach und hielt ihn weiter fest. Dass er mich nun auf der ganzen Länge berührte, schien ihm nichts auszumachen. Vielleicht war es ihm auch gar nicht bewusst. Nach einer ganzen Weile atmete er kräftig aus, löste sich von mir und sagte: „Danke, Rafi, das hat jetzt gut getan. Jetzt sollten wir uns besser anziehen und zum Frühstück gehen.“

Dann schob er mit einem schiefen Grinsen noch nach: „Sonst denken die Leute sonst noch was.“

Das brachte mich dann auch wieder zum Lachen.

„Also, mach hinne“, forderte ich ihn auf.

Gemeinsam gingen wir frühstücken, wenn auch nicht mehr viel Zeit blieb.

Zum Unterricht erschienen wir rechtzeitig.

Miguel saß bereits gut gelaunt auf seinem Platz.

Ein Englisch-Vokabel-Test war die einzige Überraschung an diesem Schultag. Nach dem Mittagessen gab es für Miguel von 14 – 15:40 Uhr noch eine Doppelstunde Informatik. Ich hatte frei und entschied mich eine Runde schwimmen zu gehen.

Kurz vor vier stand ich am Tor. Da kam Miguel auch schon und wir starteten Richtung St.Nikolaus.

Die Kirche war geschlossen, also würden wir alleine sein. Als wir eintraten, fiel mir sofort der Flügel auf, der am Altar auf der Seite gegenüber der Kanzel aufgestellt war.

„Soll ich wieder zusperren?“, fragte ich Miguel.

„Hm, ich weiß auch nicht. Eigentlich nicht, oder?“, gab er unsicher zurück.

Inzwischen hatte Miguel den Flügel einmal angeschlagen. Er war frisch gestimmt. Sogleich zog uns die Akustik dieses Gotteshauses in ihren Bann.

Nun erkannte ich einen Umstand, der sich möglicherweise als Problem darstellen könnte. Durch die „Geographie“ des Raumes hatten wir keine Chance auf einen Sichtkontakt. Das war freilich im Musikkabinett unserer Schule völlig anders; da standen die beiden Flügel ineinander geschachtelt genau gegenüber. Da bestand ständiger Blickkontakt.

„Wie sollen wir es angehen?“

„Wir spielen einfach drauflos, dann sehen wir schon“, schlug Miguel pragmatisch vor.

Ich stieg also die Empore hinauf, schaltete die Orgel ein und nahm am Spieltisch Platz. Ich hörte, wie Miguel eine kurze Sequenz seiner Fingerübungen absolvierte. Wie gestern setzte ich einfach ein. Und siehe da, es entspann sich wieder ein harmonisches „Frage- und Antwortspiel“, wie am Montag. In meinem Sichtfeld befanden sich nur der Spieltisch und die Registerknöpfe. Ich versuchte, mich auf Miguel zu konzentrieren und wieder konnte ich ihn tatsächlich fühlen, ahnen, was er vorhatte. Zwar variierten und improvisierten wir neu, trotzdem landeten wir wieder beim „Maple Leaf Rag“. Als wir endeten, war plötzlich der überbordende Applaus eines Händepaares zu hören. Ich drehte mich um und beugte mich über die Brüstung der Empore um zu sehen, wer sich da unbemerkt als Zuhörer hereingeschlichen hatte.

Es war Oliver.

Er ging Richtung Altar, was mir den Atem stocken ließ.

Miguel

Auch wenn ich Raphael nicht sehen konnte, konnte ich ihn fühlen. Geht das überhaupt? Je stärker ich mich auf ihn fokussierte, umso deutlicher glaubte ich zu ahnen, wie er als nächstes spielen würde. Nein, ich glaubte es nicht nur, ich spürte es tatsächlich. Es war ein überwältigendes, phantastisches Gefühl.

Niemals zuvor empfand ich eine größere Spielfreude, als bei diesem ersten Duett in der Kirche St.Nikolaus.

Wir waren, wie am gestrigen Montag, wieder beim Maple Leaf Rag gelandet, jedoch auf völlig anderem Wege. Wahrscheinlich weil es im Moment unser beider Lieblingsstück war, mit dem wir dann ebenfalls, ich will nicht sagen gänzlich, allerdings schon ziemlich anders improvisierten als gestern.

Ich bin mir nicht sicher, wir haben wohl eine knappe halbe Stunde gespielt und alles andere um uns herum völlig ausgeblendet.

So erschrak ich am Ende recht heftig, als plötzlich applaudiert wurde nachdem wir zu spielen aufgehört hatten. Ich hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass wir einen Zuhörer angelockt hatten.

Als ich mich orientierte, wer das war, sah ich schon diesen Oliver auf mich zukommen.

Ich muss nicht erwähnen, dass die Hochstimmung von eben schlagartig in sich zusammen fiel. Mit größter Mühe hielt ich den Fluchtreflex im Zaum, der mich aufspringen lassen wollte.

„Hallo, du bist wohl Miguel, oder. Ich bin der Kantor hier, Oliver Stotz. Entschuldige, dass ich hier so hereinplatze, aber das war eben ganz große Klasse, wirklich. Deine Virtuosität hat mich sehr beeindruckt, seit wann spielst du Klavier, wenn ich fragen darf?“

Zugebenermaßen hatte dieser Mensch eine sehr gewinnende Ausstrahlung, die trotz meiner Vorbehalte auch auf mich wirkte.

„Vielen Dank Herr Stotz, dafür dass wir hier heute zum ersten Mal zusammen üben, bin ich selbst angenehm überrascht. Ach so, ja, ich spiele seit etwa 12 Jahren Klavier.“

Herr Stotz nickte anerkennend.

Inzwischen war auch Raphael zu uns gestoßen.

„Hallo Oliver, was treibt dich hierher?“

„Na, horch, Raphael. Ich arbeite hier und wenn in dieser Kirche so großartig musiziert wird, dann muss ich mir das schon anhören.“

Herr Stotz hatte sich umgedreht und war ein paar Schritte auf Raphael zugegangen um ihn zu umarmen.

Das war zu viel für mich, ich musste hier weg. Fluchtartig verließ ich diesen Ort und sah zu, dass ich ins Internat zurückkam.

Raphael

Als mich Oliver zur Begrüßung umarmte, ahnte ich schon, was passieren würde. Miguel rannte aus der Kirche als ob der Leibhaftige hinter ihm her wäre.

Oliver sah sich erschrocken um und sank auf die nächststehende Kirchenbank.

Mir entwich ein tiefer Seufzer: „Rutsch mal bitte ein Stück“, forderte ich Oliver auf, so dass ich mich neben ihn setzen konnte. Es entstand eine längere Pause, in der ich mir überlegte, wie ich dieses Gespräch beginnen sollte, das ich schon vor ein paar Tagen hätte führen müssen, jedenfalls vor einem Zusammentreffen zwischen Miguel mit Oliver. Bevor ich anhob, kam mir Oliver zuvor:

„Raphael, ich weiß zwar nicht, warum Miguel jetzt davon gestürmt ist. Obwohl ich es mir denken kann. Es ist die Reaktion auf meine Umarmung. So reagiert man wohl, wenn der Kantor einer Gemeinde einen anderen Mann umarmt. So etwas ist einfach nicht vorgesehen. Meine Verbundenheit zu dir, die ja im Grunde genommen seit dem ersten Augenblick, als wir uns hier kennengelernt haben, besteht, ist für mich nach wie vor so einmalig und zugleich selbstverständlich, dass ich Schwierigkeiten habe, klar zu denken. Dabei habe ich eine liebe Frau.“

"WAS? Und ich dachte, du liebst mich."

"Hast du das so empfunden? Das habe ich so nicht gemeint. Bist du jetzt enttäuscht?"

"JA! Nein. Ich meine, ich empfinde sehr viel für dich. So ein Verständnis und eine solche Wärme, wie zwischen uns kenne ich nicht von zuhause. Ist das falsch?"

"Falsch nicht. Dass es zwischen mir und meiner Frau seit einiger Zeit kriselt, hat meine Gefühle bei der ersten Begegnung mit dir sofort Kapriolen schlagen lassen. Über die Musik und unsere gemeinsame Begeisterung für dieses Instrument“ , dabei deutete er in Richtung der Silbermann-Orgel, haben wir eine Ebene gehabt, auf der uns niemand stören konnte. So bildete ich es mir jedenfalls ein. Wenn ich hier mit dir sein durfte, in dieser wunderbaren Welt der Musik, habe ich mein übriges Leben mit all seinen Facetten, den schwierigen, und sogar den schönen, total ausgeblendet. Da gab es nur dich und dieses phantastische Instrument. Zuhause war es dann genau anders herum, ich konnte mich plötzlich wieder sehr leicht dem Alltag stellen und mich liebevoll um meine Frau kümmern. Es tut mir sehr leid, wenn ich da unbeabsichtigt in etwas ausgelöst und dir so wohl Hoffnungen gemacht habe. Das Fatale ist, dass ich anfangs gedacht habe, dass das sehr wohl parallel funktioniert, weil es für mich zwei Welten waren und sind, die nichts miteinander zu tun haben. Raphael, du bist mir auch sehr sympathisch. Aber du bist erstens sehr jung und zweitens bin ich so etwas wie dein Lehrer. Ich komme in Teufels Küche, der Herrgott möge mir den Vergleich entschuldigen. Bitte verzeih mir.“

Mit glasigen Augen sah er mich an.

Als mir die Tragweite seiner Worte klar wurde, schossen mir die Tränen in die Augen und ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Vorsichtig hatte er mir eine Hand auf die Schulter gelegt, die ich aber abschüttelte. Diese Worte trafen mich hart, allerdings kam mir dann doch Miguel wieder in den Sinn. Kann man zwei Menschen gleichzeitig lieben? Ich bekam das nicht auf die Reihe. Bildete ich mir doch zunächst ein, dass die Beiden nichts miteinander zu tun hätten, auch ich trennte die beiden Welten voneinander. Bei genauer Betrachtung war es jedoch so, dass ich Miguel ja nur deswegen „ausblenden“ konnte, weil der ja anscheinend nichts von mir wissen wollte. So konnte ich die Verbundenheit zu Oliver in vollem Bewusstsein annehmen und in vollen Zügen genießen. Allerdings hatte sich das Verhältnis zu Miguel in den letzten Tagen ja grundlegend gewandelt, so dass seine anscheinende Ablehnung tatsächlich nur scheinbar war. So gesehen war doch jetzt alles in Ordnung. Allerdings wollte ich weiter bei Oliver Orgelunterricht nehmen. Ob das ging?

„Weißt du, Oliver, Miguel hat deshalb so heftig reagiert, weil er sich in mich verliebt hat. Im Grunde war es so, dass ich mich schon bei unserer ersten, zwar etwas unerfreulichen Begegnung, sogar zuerst in ihn verschossen hatte. Allerdings hatte er mir zu dieser Zeit eine klare Ablehnung signalisiert.“

„Das verstehe ich jetzt nicht“, gab Oliver zu.

So erzählte ich ihm die Geschichte von Anfang an. Das führte dazu, dass sich dadurch auch für mich das ganze Bild nun klarer darstellte. Wo also war jetzt das Problem?

„Oliver, ich würde einfach gerne weiter bei dir Orgelunterricht nehmen und vielleicht tatsächlich die ein oder andere Vertretung übernehmen, meinst du, wir bekommen das hin?“

Oliver schaute mir nun in die Augen und antwortete:

„Raphael, das werden wir hinbekommen. Schließlich sind unsere persönlichen Verhältnisse ja jetzt geklärt und die stehen sich ja eigentlich überhaupt nicht gegenseitig im Wege.“

Dabei streckte er mir seine Hand entgegen, die ich dankbar ergriff.

Trotzdem atmete ich nun hörbar aus.

„Warum seufzt du jetzt?“

„Weil ich nicht weiß, ob es mir gelingt, Miguel damit zu erreichen.“

„Soll ich mit ihm reden?“, schlug Oliver vor.

„Keine Ahnung“, gab ich zu, „ich denke, da bin ich gefordert.“

„Gut, Raphael, dann hoffentlich bis morgen, gute Nacht.“

„Ach du Sch… schon so spät?“

Er lachte, „allerdings, sieh zu, dass du nachhause kommst“

Völlig abgehetzt lief ich im Speisesaal ein, die Jungs wollten gerade Feierabend machen. Als sie meinen gequälten Gesichtsausdruck bemerkten, hatten sie wohl Mitleid. Außerdem war noch viel zu viel übrig. Es gab noch jede Menge Käse- und Wurstteller, auch viel zu viel vorportioniertes „Mixed Pickels“, Brot sowieso. Also lud ich mir mein Tablett voll, denn ich hatte einen enormen Hunger und machte mich auf den Weg in mein Zimmer. Ich versprach, das Tablett zum morgigen Frühstück wieder zurückzubringen. Kaum saß ich an meinem Schreibtisch und wollte mein Abendessen verspeisen, flog die Tür auf und Fabian kam hereingeschossen.

„Raphael, du verdammtes Arschloch, was hast du mit Miguel gemacht, der liegt seit Stunden auf seinem Bett und heult sich die Augen aus dem Kopf.“

Darauf überhaupt nicht vorbereitet, schaute ich ihn nur vollkommen verdattert an.

„Jetzt bewege augenblicklich deinen Arsch und rede mit ihm!“, herrschte er mich an.

Unfähig zu einer Antwort, folgte ich ihm zu seinem Zimmer. Er schubste mich regelrecht hinein und schloss dann von außen die Tür hinter mir.

Miguel lag zusammengerollt mit dem Gesicht zur Wand auf seinem Bett und schluchzte vor sich hin. Dieser Anblick versetzte mir einen gewaltigen Stich. Vorsichtig setzte ich mich zu ihm und legte eine Hand auf seine Schulter. Sachte begann ich ihn zu streicheln. Er schien sich langsam zu beruhigen.

„Fabian, Danke, es ist gut.“

Wenn ich ihm jetzt sagen würde, dass ich es bin, und nicht Fabian, würde er wohl sofort ausflippen. So gut kannte ich ihn inzwischen. Also beschloss ich, mit der Tür ins Haus zu fallen.

„Oliver ist verheiratet. Mit einer Frau.“

Schlagartig drehte er sich um und starrte mich an. Ich sah förmlich, wie es in seinem Kopf arbeitete.

„Miguel, ich liebe dich. Hörst du? Nur dich!“

Er wischte sich die Tränen mit dem Ärmel aus dem Gesicht und starrte mich desorientiert an. Ich versuchte es mit einem aufmunternden Lächeln und wagte es zudem ihm über seine Wangen zu streicheln.

Das wirkte, er entspannte sich.

Miguel

„Wie das jetzt auf einmal?“, brachte ich leise hervor.

„Gar nicht auf einmal, Miguel, sondern vom ersten Moment an, als ich hier ankam. Aber das hatten wir doch schon, oder?“

„Das meine ich nicht. Wieso hat dieser Oliver plötzlich eine Frau?“

Raphael lachte kurz auf: „Auch nicht plötzlich, Miguel. Er hat es mir vorhin erst gesagt.“

„Boa, so ein Arsch“, entgegnete ich ärgerlich.

„Miguel, nein. So einfach ist es nicht. Schon etwas verzwickt, es hat eine, wie soll ich mich ausdrücken? Es hat eine ‚emotionale Logik‘. Also ich kann es zumindest nachvollziehen.“

Nun richtete ich mich auf und sah ihn fordernd an.

„Dann erzähl mal.“

„Hast du schon was gegessen?“, lenkte er vom Thema ab. Als wollte er selbst antworten, knurrte mein Magen ziemlich lautstark, was uns beide grinsen ließ.

„Okay, Miguel. Ich hole rasch mein Tablett, da hab ich mir ein paar Sachen aus der Küche besorgt, das reicht für uns beide.“ Und schon war er weg.

Mein Herz machte einen wahren Luftsprung, als mir DIE drei Worte wieder einfielen, die Raphael eben gesagt hatte. War es so einfach? Und ich heul mir hier die Seele aus dem Leib und erzähle Fabian allerhand wirres Zeug. Dabei hab ich mich wohl auch noch geoutet. Wie peinlich war das denn, ich hätte augenblicklich im Boden versinken können, wieder einmal war kein Loch da, wenn man es brauchte. Zu allem Überfluss kam er jetzt auch noch ins Zimmer. Vorsichtig peilte er die Lage.

„Hey, Miguel, geht es wieder?“, fragte er ohne jeglichen Spott oder ähnlichem in der Stimme.

„Ja, danke, Fabian. Raphael kommt gleich noch mal wieder. Er hat was zu essen besorgt.“

„Ah, okay. Kein Problem. Ich muss eh noch ein paar Hausaufgaben machen. Da stört es mich nicht, wenn ihr nebenbei was esst“, meinte er lachend.

Schon kam Raphael mit einem Tablett voller Wurst- und Käsebrote zurück.

„Oh, Fabian, stört es dich nicht, wenn wir dir hier was voressen?“, fragte er, als er Fabian bemerkte.

„Nein, wieso auch? Hab ich grad schon Miguel erklärt.“

Raphael stellte das Tablett vorsichtig aufs Bett, an meinem Schreibtisch hatte ich ja nur einen einzelnen Stuhl. So konnten wir uns gemeinsam über das verspätete Abendessen hermachen. Da wir beide ziemlich hungrig waren, machten wir mit den zehn Broten kurzen Prozess.

Dann erzählte mir Raphael von seinem Gespräch mit Oliver Stotz. Zusammen mit der Vorgeschichte dazu, insbesondere den Teilen, die ich nicht selbst mitbekommen hatte, klärte sich tatsächlich nun auch für mich die Situation. Mit spürbarem Gerumpel fiel mir der Stein vom Herzen, also eher ein Felsbrocken. Plötzlich war mir zum Jubeln zumute.

„Meine ganze Eifersucht war also völlig umsonst?“, erkannte ich und musste grinsen, „so viel vergeudete Energie.“

Nach einer kleinen Pause fragte ich unsicher: „Du nimmst aber weiter Orgelunterricht bei ihm?“

„Ja, Miguel. Warum denn auch nicht? Die Verhältnisse sind doch ganz klar geklärt. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Ich liebe nur dich.“

„Also bitte keine Sexszenen hier!“, kam es nun von schräg gegenüber.

Schlagartig lief Raphael dunkelrot an, als ihm bewusst wurde, dass er die Anwesenheit Fabians völlig ausgeblendet hatte. Doch dieser lachte sich nur scheckig, als er zu uns sah, denn auch ich hatte die Gesichtsfarbe ein wenig gewechselt. Ich glaube Tomaten waren im Vergleich eher rosa.

„Das ist ja süß!“, gluckste er.

„Fabian!“, entfuhr es uns gleichzeitig. Was sein Lachen nur verstärkte, in das wir nun ebenfalls einfielen.

„Jungs, das ist doch heutzutage kein Problem mehr. Außerdem seid ihr hier nicht die Einzigen.“

Das allerdings schien Raphael eher traurig zu machen, er bekam ganz glasige Augen.

„Das sagst du so einfach, Fabian. Wisst ihr, warum ich überhaupt hier bin?“

Wahrscheinlich machte ich ein ebenso fragendes Gesicht wie Fabian.

„Weil mein Herr Vater ein homophobes Rindvieh ist!“

Dann erzählte er uns mit wenigen Worten seine Geschichte.

„Allerdings“, endete er, „bin ich letztlich sehr froh, hier gelandet zu sein. Völlig schleierhaft ist mir, wie ich das zuhause erklären soll.“

„Da sagst du was!“, rutschte es mir heraus, „ich habe auch keine Ahnung, wie ich das meinen Eltern erklären soll. Ich bin in einem streng katholischen Zuhause aufgewachsen!“

Fabian schaute uns völlig entgeistert an.

„Ich bin zwar nicht schwul, aber ich bin mir ganz sicher, dass meine Familie keine Probleme damit hätte, wenn ich es wäre. Fragt doch mal unseren Direx, ob er euch nicht helfen kann. Oder sonst jemand. Das kann doch nicht sein, dass ihr damit in der heutigen Zeit noch Schwierigkeiten bekommt.“

„Doch!“, kam es wiederum synchron von Raphael und mir.

So fand der Abend nach dem vielversprechenden Klärungsgespräch doch ein ermutigendes Ende, auch wenn es bezüglich unserer Familien erhebliche Zweifel gab.

Raphael

Fabian mahnte uns schließlich, doch so langsam schlafen zu gehen, war es doch kurz vor Mitternacht geworden und eigentlich sollten um 10 Uhr alle minderjährigen Internatsinsassen in ihren Betten liegen.

Entsprechend schwer fiel – nicht nur mir – der Neustart am nächsten Morgen. Wieder einmal musste KF alle Register ziehen, um mich zum Aufstehen zu bewegen.

So war ich der Letzte unter Dusche, also fast. Gerade als ich mein Handtuch ablegte, betrat Miguel den Waschraum und er stellte sich neben mich. Der Mann hatte einfach eine belebende Wirkung auf mich, was mein Blut in Wallung brachte. Zum Glück waren wir alleine. Er grinste mich nur frech an, was ich sofort erwiderte, als ich sah, dass es ihm genauso ging.

„Guten Morgen, Raphael, trotz allem sollten wir uns beeilen.“

„Da hast du wohl Recht, wir sind die Letzten hier“, seufzte ich.

„Wir sollten den anderen dennoch keine Angriffsfläche bieten, oder?“

„Ja, stimmt“, quittierte ich Miguels mahnende Worte, und beendete meinen Aufenthalt unter dem erfrischenden Nass. Es gelang uns sogar, uns einigermaßen unauffällig zum Frühstück zu begeben.

Dem Unterricht konnte ich aufmerksam folgen, auch wenn ich zunehmend unserem musikalischen Nachmittag entgegenfieberte.

Miguel und ich hatten uns für 14:30 Uhr verabredet, um uns gemeinsam auf den Weg nach St.Nikolaus zu machen. Dort angekommen, bemerkte ich Olivers erleichterten Gesichtsausdruck.

„Schön, dass ihr doch gekommen seid“, begrüßte er uns.

„Hallo Herr Stotz!“, grüßte Miguel gelassen zurück.

„Oh bitte, Miguel, nenn mich auch beim Vornamen.“

„Hallo Oliver“, kam ich Miguel zuvor, der dann in der Kirche zielstrebig auf den Flügel zusteuerte.

Ich erklomm die Empore und Oliver wollte noch auf Herrn Kramer warten.

Als ich die Orgel eingeschaltet und am Spieltisch Platz genommen hatte, hörte ich Miguel bereits spielen.

Erneut wiederholte ich einfach seine Fingerübungen mit leichten Variationen, die er mir quasi als musikalische Bälle zuwarf und dann ebenso weiter ausgeschmückt wieder zurückbekam.

Langsam tauchte ich in unsere Welt ab, in der ich erneut fühlte, was Miguel vorhatte. Diesmal gelangten wir spielerisch zu Beethovens fünfter Symphonie. Wie selbstverständlich übernahm Miguel das Thema, und ich verwandelte die Orgel in das begleitende Orchester. Nach einer halben Stunde waren wir durch und hatten gar nicht bemerkt, dass inzwischen auch Herr Kramer anwesend war. Dafür, dass wir uns nicht mehr abgesprochen hatten, empfand ich das Ergebnis als ganz brauchbar. Ich hörte die beiden Musikpädagogen miteinander diskutieren und stieg die Treppen in den Chorraum hinunter.

„Hallo Raphael, wann habt ihr das denn geübt?“, empfing mich Herr Kramer.

„Hallo Herr Kramer, gar nicht, dazu sind wir noch nicht gekommen.“

„Das kann ich fast nicht glauben, so kraftvoll und harmonisch, wie ihr das gespielt habt. Insbesondere eure Abstimmung ist erstaunlich. Andere bekommen das mit hundertmal üben nicht hin“, schüttelte er seinen Kopf.

„Volker, ich weiß nicht, wie sie das machen. Die beiden harmonieren in einer schon unheimlichen Weise. Sie haben gestern tatsächlich nur kurz zusammen gespielt. Noch dazu etwas völlig anderes. Ich bin absolut begeistert“, schwärmte Oliver.

Mit aller Bescheidenheit nickte ich leicht mit dem Kopf und sah im Augenwinkel, dass auch Miguel zufrieden grinste. Ich erinnerte mich an die Worte von Herrn Kramer, als er meinte, dass sich Miguel ‚hervorragend anpassen könne‘ und auch ich fühlte, dass ich sehr leicht auf Miguel eingehen konnte.

„Die minimalen Tempi-Wechsel und eure kleinen Variationen geben dieser Symphonie etwas Leichtes, was zwar nicht einer klassischen Aufführung entspricht, denn die Fünfte ist ja auch überhaupt nicht für Orgel und Klavier komponiert. Gleichwohl gibt es einige Stellen, an denen ihr noch arbeiten solltet.“

So besprachen und übten wir unter Anleitung von Herrn Kramer und Oliver Stotz an diesem Stück.

Die Zeit verging einmal mehr im Nu. Es war unglaublich, als Oliver plötzlich meinte:

„Leute, wir haben schon dreiviertel sechs. Ich glaube, ihr solltet euch langsam auf den Heimweg machen.“

Ungläubig sah Herr Kramer auf seine Uhr und schüttelte den Kopf.

Als wir locker plaudernd zu dritt die Mensa betraten, zogen wir einige neugierigen Blicke unserer Mitschüler auf uns. Einige wenige grinsten wissend.

Ich fühlte mich richtig wohl in meiner Haut. Das hätte ich vor wenigen Wochen absolut ausgeschlossen, als mein Herr Vater glaubte, mich unbedingt hier einliefern zu müssen. Etwas schadenfroh grinste ich innerlich darüber, dass dieser Schuss meines Vaters in seinem Sinne nach hinten losging.

„Raphael“, riss mich Miguel aus meinen Gedanken.

„Sollen wir noch ein wenig an die frische Luft?“

„Hm, ich muss noch ein paar Hausaufgaben machen“, erwiderte ich

„Oje, das sollte ich wohl auch. Magst du zu mir kommen? Fabian ist heute bis nach zehn unterwegs.“

„Ja gerne“, blinzelte ich ihn an. Ob er wohl dieselben Hintergedanken hatte? Trotz seines Pokerfaces, das er aufgesetzt hatte, war ich mir sicher, dass das mit Hausaufgaben wohl eher nichts werden würde.

Miguel

Ich glaube, Raphael ahnte, dass ich nicht nur Hausaufgaben mit ihm machen wollte.

Kaum hatte ich meine Unterlagen bereitgelegt, klopfte es auch schon.

„Ja, bitte“, sagte ich gewohnheitsgemäß, da stand Raphael auch schon im Zimmer.

„Komm, setz dich an Fabians Schreibtisch, ich hab ihn um Erlaubnis gefragt, deshalb hat er ihn auch freigeräumt. Normalerweise stapelt er sonst sämtliches Papier auf seinem Tisch. Ich glaube Mathe und Englisch sollten wir erledigen. Dr. Gabriel wird morgen wohl einen Vokabeltest schreiben.“

„Echt, meinst du? Okay, dann sollten wir damit anfangen, dann die beiden Matheaufgaben und zum Schluss fragen wir uns nochmal Englisch ab.“

„Guter Plan.“

So machten uns tatsächlich konzentriert ans Werk. Durch die gegenseitige Unterstützung fiel es mir viel leichter als alleine. Das sagte ich Raphael auch, worauf er mich regelrecht anstrahlte und mir bestätigte, dass es ihm auch so ginge. Dabei war ich mir nicht sicher, ob er das nicht einfach aus Freundlichkeit mir gegenüber sagte, denn ich wusste aus dem Unterricht sehr wohl, dass er in der kurzen Zeit zum Klassenprimus avanciert war. Und das ohne fremde Hilfe.

„Mach dir keinen Kopf, Miguel, zu zweit lernt es sich immer leichter. Vor allem, wenn man noch dazu auf derselben Wellenlänge liegt“, überraschte er mich. Kann der Gedanken lesen?

Raphael lachte auf, vermutlich weil ich grade einigermaßen doof aus der Wäsche geschaut hatte. Ich grinste und schüttelte meinen Kopf.

Tatsächlich gingen die Vokabeln wie auch die quadratischen Gleichungen leicht von der Hand, respektive in den Kopf, so dass wir uns nach einer Stunde unschlüssig-unsicher gegenüber saßen. Irgendwie hatte es uns die Sprache verschlagen.

So gerne hätte ich Raphael jetzt einfach in den Arm genommen, doch plötzlich traute ich mich nicht mehr. Nervös spielte ich mit meinem Füller und betrachtete die Maserung meiner Schreibtischplatte. Nach gefühlten zwei Stunden wollte ich etwas sagen:

„Raphael…“, doch stockte ich, weil er gleichzeitig begann.

„Miguel…“

Auch er unterbrach sich gleich wieder.

„Du zuerst“, brachte ich ein bisschen schneller heraus und sah Raphael jetzt erwartungsvoll an.

Raphael

Nach der sehr effizienten Stunde mit Englisch und Mathe setzte plötzlich ein unsicheres Schweigen ein.

Zu gerne hätte ich Miguel jetzt einfach in den Arm genommen, wenn nicht gar meine Hormone nach mehr verlangten. Doch machte sich sehr schnell eine unbezwingbare Müdigkeit breit. So erfüllend und erfolgreich dieser Tag bisher war, so anstrengend war er auch.

„Miguel…“, hob ich an um gleich wieder abzubrechen, denn Miguel fand seine Sprache gleichzeitig wieder

„Raphael…“

„Du zuerst“, schob er unverzüglich nach und warf mir einen Blick zu, der mich förmlich dahinschmelzen ließ.

„Komm Mal rüber zu mir“, forderte ich ihn auf, denn meine Knie waren zu weich als dass ich aufzustehen in der Lage gewesen wäre.

Als wenn er darauf gewartet hätte, saß er eine halbe Sekunde später auf meinem Schoß und hatte seine Arme über meine Schultern gelegt. Nach kurzem Zögern drückte er seine Lippen auf die meinen. Ich öffnete sie leicht und sofort kam seine Zunge an. Ich schloss meine Augen und ließ ihn gewähren. Im Nachhinein wunderte ich mich, dass sich unsere Schleckwerkzeuge nicht hoffnungslos ineinander verknotet hatten. Doch für den Moment genoss ich einfach Miguels Zuneigung. Die Zeit verlor ihre Bedeutung. So kann ich heute unmöglich sagen, wie lange wir uns in diesem Kuss verloren hatten. Jedenfalls stoben wir auseinander als wir lauthals angesprochen wurden, offensichtlich nicht nur einmal:

„Was ist denn hier los? Hallo ihr zwei! Haallooo!“

Fabian war nachhause gekommen.

So schnell, wie sich Miguel auf mir niedergelassen hatte, so schnell sprang er jetzt davon.

„Mann hast du mich erschreckt“, fauchte er seinen Zimmergenossen an. Doch der lachte nur.

„He, ich hab euch mindestens fünfmal angesprochen, aber das habt ihr erst registriert als ich förmlich gebrüllt habe. Also keine unzulässigen Beschwerden, okay?“

Betreten schaute Miguel zu Boden. Auch ich brachte keinen Ton heraus.

„Jetzt schaut nicht so bedröppelt. Mann, euch hat es ganz schön erwischt“, äußerte Fabian seinen Eindruck. Doch wir waren noch immer nicht in der Lage zu reagieren.

„Keine Sorge, ich sage niemandem etwas. Wobei ich denke, dass ihr hinter vorgehaltener Hand längst das Hauptgesprächsthema an der Schule seid.“

„WAS?“, entfuhr es uns synchron, was Fabian einen Lachanfall bescherte.

„Wir wissen doch selbst noch nicht richtig, was mit uns los ist.“, erklärte Miguel, worauf ich ihn fragend anschaute.

„Das heißt, wir wissen schon was mit uns los ist. Es ist nur völlig neu für uns“, korrigierte er sich.

„Wie dem auch sei, Jungs, wir sollten zu Bett gehen, es ist nämlich Sperrstunde“, erwiderte Fabian und begann sich ungeniert auszuziehen, was wir unbewusst, aber interessiert verfolgten.

„Hört auf zu sabbern, seht lieber zu, dass ihr euch flachlegt. Aber bitte jeder in sein Bett“, ermahnte er uns mit einem Grinsen.

„Jawohl, Papa“, entwich es uns wieder zugleich. Mit einem Lachen verabschiedeten wir uns und ich sah zu, dass ich in mein Zimmer kam.

Es begann eine intensive Zeit, in der Miguel und ich immer mehr zueinander fanden. Wir übten mit großem Fleiß und noch größerem Spaß auf unseren Instrumenten und wie schon zuvor bei mir, wurden auch Miguels sonstigen schulischen Leistungen immer besser.

Ich kann das Glücksgefühl, das mich fortan umfing, gar nicht beschreiben.

Nur wie wir das unseren Eltern jemals beibringen sollten, war uns gänzlich schleierhaft, weshalb wir wohl die Gedanken daran eher verdrängten. Bei meiner Ausgangslage war eigentlich klar, dass ich schlicht mit meiner Familie brechen müsste, wenn ich mein Leben weiter so gestalten wollte, wie ich es derzeit tat. Dass aber auch Miguel zuhause überhaupt nicht mit Verständnis rechnen konnte, erschwerte unsere Lage enorm.

Miguel

Nach wie vor war mir schleierhaft, wie ich meinen Eltern beibringen sollte, dass sie einen schwulen Sohn und gleich noch einen ebensolchen Schwiegersohn haben würden. Diese Vorstellung war so absurd, dass ich im ersten Moment fast hysterisch darüber lachte und im nächsten Moment losheulte. Zum Glück war ich alleine, Raphael war bei seiner Orgelstunde und Fabian beim Sport. Dass ich ES meinen Eltern eigentlich erzählen wollte, ja musste, war mir inzwischen vollkommen klar. Erstens hasste ich das Versteckspiel der letzten Wochen und zweitens war mir klar, dass sie als meine Eltern das Recht hatten, zu erfahren, was mit ihrem Sohn los war. Öfter als sonst fragte meine Mutter schon bei jedem Telefonat, ob es mir gut gehe – und das mehrmals während eines Gesprächs. Sie schien zu merken, dass etwas nicht stimmte, jedenfalls nicht so, wie ich es bis dato vorgab.

Plötzlich kam mir eine Idee: Es heißt ja, dass Musik verbindet. Vielleicht könnte sich ja Raphael sozusagen in Ihre Herzen spielen? Traditionell fand am Samstag vor dem ersten Advent im Hause Hernandez die traditionelle Weihnachtsbäckerei statt. Das lief jedes Jahr nach demselben Schema ab: Mama lud immer vier bis fünf Freundinnen dazu ein. Das Kuriose dabei war, dass dabei immer irgend so in alter Film-Schinken nebenher lief, früher über einen Beamer, heute über unseren Riesenfernseher. Platzmäßig war das in unserem riesigen Wohn/Esszimmer mit der offenen Küche überhaupt kein Problem. Dass Papa dabei regelmäßig die Flucht ergriff, würde mein Vorhaben erleichtern, so konnte ich erstmal bei Mama „vorfühlen“. Komischerweise schreckte es mich überhaupt nicht, wenn dabei einige der Freundinnen meiner Mutter dabei waren. Die hatten nämlich allesamt einen Narren an mir gefressen, seit ich auf der Welt war. Einzig Elvira Bäumler, die Haushälterin des Pfarrers, könnte ein Problem darstellen.

Ich bildete mir ein, dass ich zusammen mit Raphael die Damenrunde einfach musikalisch unterhalten würde, und damit das Eis brechen könnte. So gut kannte ich meine Mutter, dass das zu 95% funktionieren könnte. Beim nächsten Telefonat mit ihr fragte ich etwas scheinheilig, ob Sie denn schon wisse, welche der Mädels denn zum Weihnachtsbacken kommen würden.

„Wieso interessiert Dich das auf einmal?“

„So halt…“

„So halt… aha. Miguel, was ist los?“

„Jetzt sag‘ schon, ist die Haushälterin vom Pfarrer zum Beispiel auch wieder dabei?“

„Ich weiß es noch nicht. Ja kommst du denn auch?“

„Hatte ich schon vor, wenn ich jemanden mitbringen darf.“

„So? Wen denn?“

„Einen Klassenkameraden.“

„Von mir aus. Ich hole Euch dann Freitagnachmittag ab.“

„Ich muss aber mein Keyboard mitnehmen.“

„Wieso das denn? Du hast doch unser Klavier, ich habe es grade stimmen lassen.“

„Ja schon, bloß wenn Ihr wieder so einen alten Schinken schaut, kann ich da nicht ran. Aber wir müssen ein Arrangement ausarbeiten und da ist die Midi-Schnittstelle des Keyboards ganz hilfreich.“

„Ja, gut, wenn du meinst. Wolltest du nicht, wenn du schon kommst, wieder deine Butter-S backen?“

„Mal sehen, Mama, kann ich noch nicht sagen. Kommt darauf an, wie wir vorankommen“

„Wir freuen uns jedenfalls auf Dich. Also bis Freitag.“

„Ja, okay Mama, dann bis Freitag. Gute Nacht, grüß bitte Papa von mir.“

„Mach ich, schlaf gut, mein Schatz“

Und schon hatte sie aufgelegt.

Jetzt sollte ich nur noch Raphael von meinem Plan überzeugen. Beim Abendessen wollte ich ihn gleich fragen. So machte ich mich auf den Weg zum Speisesaal und traf bereits unterwegs auf Raphael.

„Hey, Rafi, wie war’s?“

„Anstrengend, aber gut. Und bei dir?“

„Naja, der Unterricht ist mal wieder auf morgen verschoben.“

„Jetzt hab ich jedenfalls ordentlich Kohldampf!“

Ich lachte: „Wann hast du mal keinen Kohldampf?“

„Eigentlich nie“, lachte jetzt auch Raphael.

Als wir uns die Tabletts vollgeladen hatten, setzten wir uns wie immer in eine ruhigere Ecke.

„Sag mal, Rafi. Am Wochenende ist bei mir daheim die große Weihnachtsbäckerei angesagt, da bin normalerweise auch mit von der Partie.“

„Oh, das ist sicher schön“, erwiderte er und ergänzte traurig, „bei uns gibt es sowas nicht“

„Weißt du was, komm doch einfach mit! Dann stell ich Dich gleich meinen Eltern vor. Damit würde ich mich bzw. uns zumindest bei meiner Mutter endlich outen, das heißt nur wenn du einverstanden bist.“

„Puh, meinst du wirklich?“

„Ja, Rafi, es ist mir Ernst und ich hab das Versteckspiel einfach satt“, betonte ich fast schon flehend.

Raphael sah mich eindringlich an und sagte dann:

„Okay, Miguel. Bin dabei. Wie hast du dir das gedacht? Bislang klang das immer so unvorstellbar?“

„Das stimmt schon. Aber ich denke, dass wir meine Mutter über die Musik bekommen. Sie wird von dir begeistert sein. Dich muss man einfach mögen. Ich bin mir fast sicher, dass das funktioniert.“

„Und dein Vater?“, wollte Raphael wissen.

„Das ist ja das geschickte. Der wird wieder das Weite suchen.“

„Wieso das denn?“

„Naja. Es ist schon sowas wie Tradition, dass während der Backerei irgendein alter Schinken angeschaut wird.“

„Achso“, lachte Raphael, „und da haut dein Vater immer ab?“

„Ja genau. Hm, Raphael, da ist noch was…“

„So?“, fragte er skeptisch, „Was denn noch?“

„Es werden ein paar Freundinnen meiner Mama dabei sein“

„Nicht dein Ernst? Du willst uns vor allen outen?“

„Ich kenne die seit frühester Kindheit. Ich hoffe, dass diesmal Ingrid Neuhäuser dabei ist, die hat einen schwulen Sohn, der ist inzwischen 35, oder so. Jedenfalls kann ich mich erinnern, dass dessen coming out vor etlichen Jahren genau beim Weihnachtsbacken ein Thema war und es damals keinerlei negative Reaktionen gab. Von daher besteht eine gewisse Hoffnung.“

„Okay, Miguel, ich vertraue auf dein Gefühl und deinen Plan. Wie hast du dir das konkret vorgestellt?“

„Wir helfen zuerst beim Backen mit. Ich schau, dass es keinen allzu grausigen Film gibt. Hättest du vielleicht eine Idee?“

„Casablanca“, meinte Raphael spontan.

„Jaaa, gute Idee, den haben wir auf alle Fälle. Nach dem Film setzen wir uns einfach ganz harmlos an Klavier und Keyboard und spielen ganz locker auf. Zum Abschluss ein Weihnachts-Medley. Was meinst du?“

„Klingt einfach. Da sollten wir uns morgen noch einen genaueren Plan zusammenstellen und wenigstens einmal durchspielen?“

„Einverstanden, am besten nach meinem Unterricht bei Herrn Kramer.“

Jeder hing noch seinen Gedanken nach und wir beendeten unser Abendessen.

Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zu den Unterkünften.

„Miguel, ich freu mich jetzt richtig auf dieses Wochenende. Schlaf gut, wir sehen uns zum Frühstück“

„Ja, ich denke, das wird gut. Träum schön, bis morgen“

So trennten sich unsere Wege für heute.

Raphael

Miguel überraschte mich jeden Tag aufs Neue. War er vor wenigen Tagen noch völlig verzweifelt, weil er nicht wusste, wie er es seinen konservativen Eltern wohl beibringen könnte, dass er schwul ist. Jetzt wollte er sich gleich noch auch bei den Freundinnen seiner Mutter outen. Und mich dazu. Nicht, dass ich damit ein grundsätzliches Problem hätte, war ich doch zuhause längst „out“, wenn auch mit üblen Nebenwirkungen, wie wüsten Beschimpfungen und Drohungen seitens meines Vaters. Der wiederum erwartete von mir nicht mehr und nicht weniger, dass ich „wieder normal“ werden solle; andernfalls drohte mir wohl der endgültige Rauswurf einschließlich Enterbung. Dafür war ich auf dem besten Wege. Ich mochte gar nicht daran denken. Dabei war ich hier einfach nur glücklich. Endlich konnte ich nach Herzenslust musizieren und hatte dabei auch noch den liebsten Menschen der Welt kennengelernt. Ich würde es ihm so sehr wünschen, dass er zuhause einfach so akzeptiert würde, wie er nun mal ist. Was die Musik anging, war das schon so, im Gegenteil: Er war auf diesem Internat genau deswegen. Zum Glück waren da die Informationen meines Vaters über dieses Institut mehr als lückenhaft.

Jedenfalls verabredeten sich Miguel und meinereiner erneut zu einem gemeinsamen Übungsabend für ein Vorspiel in Miguels Elternhaus.

Noch am Vormittag im gewöhnlichen Schulalltag erreichte Miguel die Nachricht, dass Herr Kramer erneut keine Zeit hatte. Als Miguel daraufhin erklärte, dass er dann mit mir zusammen üben wollte, war Herr Kramer darüber mehr als froh.

So fanden wir uns bereits am Nachmittag im Musikkabinett ein und erarbeiteten ein „Mama-Eroberungs-Programm“ vom feinsten. Miguel hatte zu diesem Zweck sein Keyboard heran geschleppt, so hatten wir die gleichen Instrumente zum Üben, wie bei der „Aufführung“ zuhause bei Miguel. Wie schon öfters praktiziert, wollten wir mit einfachen Fingerübungen beginnen, bei denen wir uns wieder die musikalischen Bälle zuspielten und daraus spielerisch ein „Ragtime–Special“ entwickelten. Weiter wollten wir daraus zum Boogie-Woogie gelangen. Diese Übergänge erforderten die meiste Übung, um eine präzise Abstimmung zu erreichen. Schließlich wollten wir dann erstmals unsere Interpretation von Gershwins „Rhapsodie in Blue“ zum Vortrag bringen. Dazu würde ich auf Miguels Keyboard die Klangfarben der gesampelten Orgel und einiger Blasinstrumente benutzen. Abermals war ich darüber erstaunt, wie gut unsere Abstimmung funktionierte, ohne dass wir uns groß abgesprochen hatten, wenn ich mich nur intensiv auf Miguel konzentrierte. Unser „Ragtime-Special“ sollte ein Medley aus drei der berühmtesten Joplin-Stücke werden, „The Entertainer“, „Maple Leaf Rag“ und „Pine Apple Rag“, wie sie z.T. aus dem Film „der Clou“ bekannt waren. Für die Überleitung zum Boogie-Woogie machte es riesigen Spaß zu improvisieren, gleichwohl mussten wir genau das intensiv üben, denn so, wie wir es jetzt aus dem Stegreif spielten, sollte es nachher auch wieder klingen, wobei wir es eben dann nicht mehr ohne Vorbereitung spielten. Mit den einzelnen Titeln zu variieren, war weniger ein Problem, denn die einzelnen Passagen und Themen waren ja vorgegeben. Als Boogies einigten wir uns auf den „Swanee River Boogie“ und den „Honky Tonk Train Blues“. Mit wenigen Takten und Tonart-Wechseln landeten wir dann bei c-Dur, womit sich die allermeisten der bekannten Weihnachtslieder spielen ließen. Es war schon erstaunlich, dass wir in nicht einmal drei Stunden ein tolles Klavier-Duett-Programm zusammengestellt und auch geübt hatten. Manche Passagen funktionierten auf Anhieb und würden auch beim zehnten Male anders, und trotzdem harmonisch klingen. Andere Teile wollten sehr intensiv geübt werden.

Am Ende waren wir sehr zufrieden und zuversichtlich für unser Vorhaben, zumindest aus musikalischer Sicht. Ob daraus allerdings die von Miguel erhoffte Akzeptanz seiner Neigung erwachsen würde, war keineswegs klar. Schon aus purem Eigennutz wünschte ich es ihm inständig. Allerdings verloren wir darüber keinen Ton mehr.

Klar war, dass mich unsere Session außerordentlich glücklich, wie auch ziemlich müde gemacht hatte. Gerade, dass wir uns noch zu einem vergleichsweise übersichtlichen Abendessen durchringen konnten, bevor ich todmüde ins Bett fiel. Es gab keinen Zweifel, dass es Miguel ebenso ging.

Die Aufregung weckte mich an jenem Freitag noch vor meinem Wecker.

Erst zum Frühstück traf ich wieder auf Miguel, der noch nicht den muntersten Eindruck auf mich machte. Trotz allen Grübelns verging der Vormittag relativ schnell und nach dem Mittagessen konnte ich gerade noch meine Sachen fürs Wochenende zusammenpacken. Auf Miguels Anraten hielt ich mich in der Mensa zurück, denn es würde bei Hernandez‘, nach Kaffee und Kuchen, auch noch ein üppiges Abendessen geben. Kaum hatten wir unser Gepäck und Miguels Keyboard-Case samt Inhalt ins Foyer geschleppt, kam auch schon eine schlanke Frau mittlerer Größe und mittleren Alters förmlich hereingestürmt. Unverkennbar Miguels Mama, mit ebenso pechschwarzem Haar, zwischen dem sich das ein oder andere weiße Haar zeigte. Sie schien völlig uneitel zu sein, denn die weißen Strähnen trug sie mit Würde. Sie strahlte ein starkes Selbstbewusstsein aus. Sogleich schloss Sie ihren Filius in die Arme. Fast dachte ich, sie würde ihn erdrücken, doch er schien es gewöhnt und erwiderte die Umarmung.

„Hallo Mama, du bist ja überpünktlich.“

„Hallo Miguel, ja es lief erstaunlich gut für einen Freitagmittag.“

„Mama, darf ich dir Raphael vorstellen, meinen Klassenkameraden.“

Frau Hernandez drehte sich zu mir, scannte mich regelrecht einen Augenblick und reichte mir ihre Hand.

„Hallo Raphael, freut mich, dich kennenzulernen“

„Guten Tag, Frau Hernandez. Ich freue mich auch. Vielen Dank, dass ich bei Ihnen zu Gast sein darf.“

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