zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Article 29

Kapitel 2 - Empfang beim Bürgermeister

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

2. Kapitel - Empfang beim Bürgermeister

Stephen kletterte das Fallreep empor, stieg durch die Pforte und nun war es an ihn ihm, um Erlaubnis zu bitten, mit seinen Männern an Bord kommen zu dürfen.

»Erlaubnis erteilt, Mr. Bennett. Lange nicht gesehen«, sagte Leutnant Andrews und grinste Stephen an.

»Danke, Sir!«, erwiderte Stephen, grüßte zum Achterdeck, um den Respekt vor dem Schiff auszudrücken und lächelte zurück. »Hat man Sie gleich wieder für die Wache eingeteilt, Sir? Sie sind doch kaum wieder zurück.«

»Nein, nein! Leutnant Salesbury hat Wache. Aber ich wollte Sie wieder zurück an Bord begrüßen.«

Stephen wusste gar nicht, was er sagen sollte… aber bevor er sich deswegen hätte Gedanken machte können, kam die näselnde Stimme von Leutnant Salesbury dazwischen. »William, wenn Sie erlauben? Mr. Bennett soll sich bei Leutnant O' Connor melden.« Der etwas dickliche Sir Richard Salesbury gehörte dem niederen Adel an, bildete sich aber unheimlich etwas darauf ein und war eigentlich ein unfähiger Seeoffizier, achtete aber peinlichst auf die Einhaltung von Dienstvorschriften.

»Erm…. Natürlich… natürlich, Sir Richard, Mr. Bennett wird sich sofort auf den Weg machen«, bestätigte Leutnant Andrews, der schlagartig auch aufgehört hatte, Stephen anzulächeln.

»Aye, aye, Sir! Beim ersten Leutnant melden!«, bestätigte Stephen, machte eine schneidige Wende und ging zum Achterdeck zu Leutnant O' Connor.

»Midshipman Bennett, wie befohlen, Sir!«, meldete sich Stephen bei Leutnant O' Connor.

»So, da Sie nun wieder an Bord sind, gilt die normale Wacheinteilung wieder. Die kennen Sie ja, oder?«

»Aye, Sir! Ich habe Morgenwache, Sir!«

»So wie ich gesehen habe, klappten Ihre Segelmanöver in den letzten zwei Tagen ja einwandfrei, weshalb ich es Ihnen erlasse, den versäumten Unterricht beim Master und beim Bootsmann nachzuholen. Um vier Glasen der Nachmittagswache melden Sie sich beim ersten Leutnant der Seesoldaten zum Fechttraining. Heute Abend nehmen Sie zusammen mit allen wachfreien Offizieren und Midshipmen an einem Empfang des Bürgermeisters teil. Sie sehen zu, dass Sie um 7 Glasen der Dog Watch fertig an Deck sind. Noch Fragen?«

»Keine, Sir!«

»Gut, weggetreten. Normaler Dienst!«

»Aye, aye, Sir!« meldete Stephen, grüßte, und verließ das Achterdeck und ging erstmal in in die drei Decks tiefer liegende Unterkunft der Midshipmen. Gleich war es 8 Glasen der Vormittagswache und Stephen hatte schon richtig Hunger. Das Essen auf der Phaeton war trotz der Umstände auf einem Segelschiff vergleichsweise gut.

»Na, da kommt ja auch der erste Offizier der Liberté wieder und mischt sich unter das einfache Fußvolk«, spottete Christian.

»Ja, ja, spotte nur, Chris. Ich kann doch nichts dazu, dass der Kapitän gemerkt hat, dass du nichts kannst«, frotzelte Stephen zurück.

So etwas warfen sich die beiden ständig an den Kopf.

»Freust du dich schon auf den Empfang heute Abend?«, fragte Christian. »Endlich wieder Landgang…«

»Oh ja. Du weißt ja, wie gern ich an Bord bin, aber etwas Abwechslung ist auch mal nicht schlecht. Aber es wird nicht so prunkvoll sein, wie der Ball auf Barbados. Wir sind ja wieder in England.«

»Schon allein das Wetter ist anders. Guck dir dieses grau doch nur mal an. Aber dafür werde ich diesmal das hübscheste Mädchen zum Tanzen finden und nicht wieder du«, grinste Christian.

»Wir werden es sehen«, grinste Stephen zurück. Aber irgendwie verspürte er nicht wirklich den Wunsch, mit einem hübschen Mädchen zu tanzen.

»Ist etwas nicht in Ordnung, Stephen? Du guckst auf einmal so komisch?«, fragte dann auch gleich Christian.

»Nein, alles bestens. Ich lese noch ein wenig, und dann müssen wir ja auch schon los zum Training.«

Christian nickte nur und schaute etwas besorgt. Irgendetwas stimmte nicht mit Stephen. Was war auf einmal los? Christian beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Immerhin ist Stephen sein bester Freund.

»Christian, beeil dich. Wir sind zu spät«, rief Stephen, der sich im Gehen den Holzsäbel schnappte.

»Bin ja schon unterwegs«, antwortete der Gerufene und die beiden rannten den Niedergang hinaus an Deck.

»Ah, wie schön, die Herren Bennett und Summer haben sich entschlossen, dem Unterricht doch noch beizuwohnen«, grummelte Leutnant Reeves.

Der junge, etwas dickliche zweite Leutnant der Seesoldaten stand da unförmig wie immer in seinen roten Rock gepresst. Um ihn herum waren die anderen Midshipmen der Phaeton versammelt.

»Entschuldigen Sie unsere Verspätung, Sir! Haben wir nicht bei Leutnant Peake Unterricht?«, fragte Stephen.

»Offensichtlich bin ich nicht Leutnant Peake, also nein!«, grummelte Reeves.

»Leutnant Peake hat die Grippe und Reeves ist wie immer mies gelaunt«, flüsterte Oliver Picken Stephen zu.

»Wenn wir jetzt vollzählig sind, können wir ja, wenn es den Gentlemen nichts ausmacht«, stichelte Reeves.

Stephen verdrehte die Augen. Er liebte das Fechttraining und Leutnant Peake war ein exzellenter Lehrer. Was man von Leutnant Reeves nicht gerade behaupten kann. Stephen musste sich zusammenreißen um nicht zu lachen, als der wohlgenährte Leutnant die Übungen vormachte. Man begann mit einem Training der Beinarbeit und dann wurden sie in Paare aufgeteilt und übten verschiedene Angriffe und Paraden.

Leichtfüßig bewegte sich Stephen über das Deck und parierte problemlos den Bauchhieb seines Gegners und setzte zu einem Hieb auf die Schulter an. Oliver Picken, der beim Training Stephens Partner war, stellte die richtige Parade, aber Stephen umging sie mit einer blitzschnellen Bewegung aus dem Handgelenk und hieb Oliver den Holzstab auf die Brust.

»Das ist ja gar nicht mehr schön, wie triffst du nur andauernd?«, fragte Oliver.

»Ich muss auch ausnahmsweise Sie einmal loben, Mr. Bennett. Sie scheinen ja wenigstens in meinem Unterricht etwas gelernt zu haben«, bemerkte Leutnant Reeves.

»Auf jeden Fall bei dir, du Trottel«, dachte sich Stephen und grummelte ein »Vielen Dank, Sir!«

Und weiter ging es. Angriffe, Paraden, Beinarbeit, Hiebe, Stiche… Stephen lief der Schweiß in Bächen das Gesicht herunter.

Leutnant Andrews kam den Niedergang hinaus und sah zu den Midshipmen hinüber. Wie hypnotisiert blickte Stephen zu ihm hinüber. Ein Lächeln kam auf das Gesicht des Leutnants.

KLATSCH!

»Au!«, rief Stephen erschrocken. Er war so abgelenkt, dass er das herannahen von Oliver Picken nicht sah und der Hieb ihm mit seinem Holzstab auf den Rücken.

»Nicht aufgepasst? So etwas passiert dir doch sonst nicht?«, grinste Oliver. »Aber egal, ich habe getroffen. Warum interessiert nicht!«, kicherte er vergnügt. Und weiter ging es, Stephen konzentrierte sich nun etwas besser.

»Hoffentlich hat niemand etwas bemerkt, wovon ich abgelenkt war«, dachte er erschrocken. Kurz darauf erlöste ihn die Schiffsglocke, die zum Wachwechsel rief. Er bemerkte aus den Augenwinkeln, dass sein Freund Christian ihn kurz ansah.

»Sie haben es überstanden, meine Herren. Wider erwarten bin ich doch relativ zufrieden mit Ihnen. Ich werde es so Leutnant Peake berichten« sagte Reeves und entließ die verschwitzen Midshipmen, die sich eilig unter Deck verzogen um die Kleidung auszuwechseln.

»Mir geht langsam die Kleidung aus, ich muss dringend zum Schneider«, sagte Christian. »Die Hälfte meiner Hemden kann ich eigentlich nicht mehr benutzen.«

»Geht mir ähnlich, vor allem spannt mein älterer Uniformrock. Den kann ich in einem Gefecht nicht mehr anziehen, da kann ich mich ja gar nicht bewegen«, antwortete Stephen, als er in seine Kniebundhose schlüpfte.

»Und Gott sei dank müssen wir im Dienst nur die normale Hose tragen. Diese Kniebundhosen sind ja schlimm«, äußerte Christian, als er in die seine stieg.

»Nun nörgele nicht herum, komm lieber her und binde mir diese Halsbinde richtig. Bei mir sieht das immer unmöglich aus. Und wir wollen uns ja schließlich nicht lächerlich machen«, grinste Stephen und Christian tat wie gewünscht. Dann noch die Weste drüber, das gute paar Schuhe und der beste Uniformrock und die beiden waren ausgehfertig.

Ein wenig zu früh kletterte Stephen den Niedergang hinauf. An Deck setzte er den Zweispitz auf das frisch gepuderte Haar, dass er sorgfältig zu einem Nackenzopf zusammen gebunden hatte, zupfte noch kurz die schwarze Halsbinde und die Weste zurecht und schritt auf ein paar Offiziere zu, die sich bereits jetzt für den Empfang an Deck versammelt hatten.

Kapitän Stevenson stand auf dem Achterdeck neben dem Master. Die goldenen Litzen seiner Uniform blitzen in der Abendsonne, der Master sah daneben richtig schäbig aus. Aber er hatte freiwillig die Hafenwache übernommen, weil er sich aus Empfängen nichts macht und lieber die Ruhe genießen möchte, wenn außer der Wache fast alle von Bord sind. Da trug er natürlich nur eine ganz normale Alltagsuniform. Leutnant Salesbury stand in seiner blau/weißen Gala-Uniformen auf der anderen Seite des Achterdecks und unterhielten sich angeregt mit dem Schiffsarzt. Auch einige der anderen Midshipmen standen in der Nähe. Hauptmann Adair, Leutnant Peake und Leutnant Reeves brachten mit ihren roten und weißen Uniformen einen Farbtupfer in das blau. Stephen gesellte sich zu den anderen Midshipmen, und plauderte ein wenig mit. Der Kapitän blickte missmutig hinüber. Er mochte es gar nicht, wenn sich alle auf seinem Achterdeck versammelten und nutzlos herumstanden. Aber hier im Hafen konnte er ja nicht wirklich etwas dagegen sagen. Einige Zeit später gesellte sich auch Christian Summer hinzu und die anderen Captain's Servants guckten neugierig hinüber.

Mit dem siebten Schlag der Schiffsglocke tauchten auch aus dem Niedergang die zwei letzten Köpfe auf. Leutnant O' Connor und Leutnant Andrews kamen an Deck. Stephen blickte kurz hinüber und gleich blieb sein Blick an Leutnant Andrews hängen. Die engen Kniebundhosen mit den Seidenstrümpfen unterstrichen seine muskulösen Beine und die nun weiß gepuderten Haare, die auch er zu einem Nackenzopf zusammengebunden hatte und die weißen Aufschläge seines Uniformrockes bildeten einen Kontrast zu seinem gebräunten Gesicht. Spät, wie sie waren, eilten die zwei Offiziere direkt zum Kommandanten und die Gruppe bestehend aus dem Kapitän, den drei Leutnants, dem Schiffsarzt und den sechs Midshipman setzte sich in Richtung Fallreep in Bewegung, unter dem schon ein Boot der Phaeton auf sie wartete. Die Midshipmen zuerst, der Kommandant zuletzt, so wollte es das Protokoll. Als Kapitän Stevenson das Fallreep betrat, schrillten die Pfeifen der Bootsmannsmaate los und erstarb erst, als sein Kopf auf Höhe des Decks war. Das Boot legte ab und die Offiziere der Phaeton wurden dem Empfang beim Bürgermeister entgegen gerudert.

Als Stephen den Saal betrat, konnte er alles erblicken, was in diesem Ort Rang und Namen hatte. Die Ratsmitglieder und reichen Bürger mit ihren Frauen und Töchter auf der einen Seite, Offiziere der Schiffe und der Armee auf der anderen Seite. Alles sah nach Reichtum aus und Stephen konnte nur staunen. Seine eigene Familie war nicht sonderlich wohlhabend. Sein Vater war Kaufmann in einem Vorort von London und sein älterer Bruder wird später das Geschäft erben, und für beide war es nicht groß genug. Also entschieden seine Eltern, dass er zur See gehen müsste. Zwar war der Anfang sehr hart, doch Stephen ist mittlerweile sehr froh, dass seine Eltern ihn damals als Servant zu Kapitän Stevenson gegeben hatten.

Die Offiziere der Phaeton mischten sich unter die Leute, auch Stephen und Christian.

»Stephen, guck mal, sieht die nicht reizend aus?«, fragte Christian und deutete mit dem Kopf auf eine junge Dame, so um die 18. Sie sah von den anwesenden Gästen wirklich am besten aus. Sie hatte lange schwarze Haare, leuchtende Augen und feingezeichnetes Gesicht. Das weiße Ballkleid betonte ihre gute Figur und rundete ihre Erscheinung ab.

»Mhm… ganz nett«, äußerte Stephen. Er konnte dem Anblick überhaupt nichts abgewinnen. Er war sich mittlerweile sicher, dass er sich mehr für das männliche Geschlecht interessierte als für Frauen. Es machte ihm Sorgen. Die Navy sah es überhaupt nicht gern, wenn Offiziere und Mannschaften sich dem gleichen Geschlecht zugeneigt fühlten. Es drohten sogar schwere Strafen, wenn es aufflog. Dazu kam noch, dass er sich anscheinend in Leutnant Andrews zu verlieben begann.

»Sag mal, was ist denn mit dir los? Die schönste Frau im ganzen Saal und dir fällt nicht mehr ein als ‚Mhm… ganz nett'? Bist du krank? Du benimmst dich schon so komisch, seit du von der Liberté zurück bist«, stellte Christian fest und musterte seinen besten Freund besorgt.

»Nein, glaub mir, es ist alles in Ordnung!«, sagte Stephen leicht erschrocken. Wenn er sich weiter so auffällig verhielt, dann konnte er schon fast mit seiner Kriegsgerichtsverhandlung rechnen. Er musste sich unbedingt zusammen reißen.

»Bist du sicher? Wenn irgendwas ist, du kannst immer mit mir darüber reden.«, sagte Christian, der immer noch ein wenig ungläubig und besorgt zu Stephen hinüber schaute.

»Ganz sicher, Chris! Alles bestens.«, antwortete Stephen. »Lass uns was zu trinken holen!«

Die zwei Midshipmen gingen zu dem Teil des Saales, wo Getränke und Snacks aufgebaut waren. Sie versorgten sich mit einem leichten Weißwein und plauderten ein wenig mit Gästen.

»Ah, Mr. Bennett, amüsieren Sie sich gut?«, wurde Stephen von jemandem angesprochen, der sich von hinten genähert hatte. Stephen erkennte den Sprecher als Leutnant Andrews und wirbelte herum.

»Leutnant Andrews, Sir!«, stammelte Stephen, als er in die strahlenden Augen des grinsenden Leutnants blickte.

»Jepp, das bin ich wohl. Zumindest war ich es vorhin noch«, kicherte dieser.

»Sehr komisch, Sir!«, grinste Stephen zurück. »Ich hatte mich ein wenig erschrocken, dass Sie auf einmal hinter mir standen.«

»Wir haben uns eigentlich nie so richtig mal privat unterhalten, Mr. Bennett. Wenn, dann immer nur dienstliches«, bemerkte Andrews. »Wollen wir das einmal ändern?«

Stephens grinsen wurde breiter und er stimmte nur allzu gern zu.

»Christian, du entschuldigst uns?«, fragte Stephen seinen Freund.

»Aber sicher, ich werde mir einmal eine Dame zum tanzen suchen«, antwortete er.

Stephen und Andrews zogen sich in eine der Sitzecken zurück, die für solche Zwecke bereit standen. Die beiden diskutierten über einige neuere Entwicklungen in der Navy, plauderten etwas über ihre Erlebnisse aus der Vergangenheit. Alles in allem verstanden sie sich prächtig.

»Mr. Bennett, ich würde es begrüßen, wenn wir außerhalb des Dienstes die Förmlichkeit etwas zur Seite schieben könnten und uns mit Vornamen anreden?«, schlug dann Leutnant Andrews vor.

»Sehr gern, Sir!«, antwortete Stephen mit einem Strahlen in den Augen, aus dem seine Freude über diesen Vorschlag gerade zu herausleuchtete.

»Ich heiße William, du kannst mich aber gern Will nennen«, sagte Andrews.

»Ich heiße Stephen!«

Sie unterhielten sich noch einige Zeit weiter, als der Kapitän zu ihnen trat. Die beiden sprangen förmlich von ihren Sitzen auf.

»Mr. Andrews, Mr. Bennett, ich muss ihr Gespräch leider unterbrechen. Der Hafenadmiral hat meine kommissionierten Offiziere und mich zu einer kurzen Unterredung gebeten. Leutnant Andrews, würden Sie mich bitte begleiten, wenn Sie es einrichten können?« richtete der Kapitän das Wort an die beiden.

»Aye, aye, Sir!«, sagte Andrews und folgte seinem Kapitän. Trotz der höflich formulierten Frage überlegte man in der Navy nicht, ob man es einrichten kann. Man muss es können, wenn der Kapitän fragt.

Stephen schaute Will hinterher.

»Wir reden uns mit Vornamen an. Und er ist so nett und intelligent« ging es Stephen durch den Kopf, als er ihm lächelnd hinterher blickte.

Jetzt, wo er allein stand, wurde er von einem Herren mittleren Alters angesprochen.

»Mein Name ist Richard Henley. Ich bin Agent der ehrenwerten Ost-Indien-Handelsgesellschaft«, stellte sich der Mann vor. Diese Organisation hatte ein Handelmonopol mit Indien und fuhr mit den großen, reich beladenen Ost-Indien-Seglern zur See und in Bombay hatte sie sogar eine eigene kleine Kriegsmarine, um den Handel zu sichern. Dem entsprechend ist sie immer am neuesten Klatsch und Tratsch aus der Navy interessiert, denn die Gerüchte verbreiteten sich innerhalb der Navy wesentlich schneller, und es war wichtig, Bescheid zu wissen, bevor irgendwann die offiziellen Berichte in der Gazette oder im Navy Chronicle zu lesen waren. Auf der anderen Seite kamen aus Indien die spannendsten Geschichten, so dass auch die jungen Navy-Offiziere nur zu gern plauderten. Die beiden diskutierten angeregt, als das schwarzhaarige Mädchen zusammen mit einer älteren Fassung ihrer selbst erschien.

»Ah, Mr. Bennett, darf ich Ihnen meine Frau Barbara und meine Tochter Susan vorstellen?«, sagte Stephens Gesprächspartner und wies auf die beiden Damen, die gerade erschienen waren.

»Ich bin sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Stephen höflich, und deutete eine Verbeugung in Richtung der beiden Damen an.

»Das Vergnügen ist ganz auf unserer Seite, so einen charmanten jungen Mann kennen zu lernen, der es offensichtlich schafft, Richard mit seinen Erzählungen so zu fesseln, dass er uns ganz vernachlässigt«, äußerte Barbara.

»Es war nicht in meiner Absicht, Ihren Gatten von Ihnen fern zu halten«, erwiderte Stephen das höfliche Geplänkel.

»Sie werden mich dann jetzt wohl entschuldigen müssen, Mr. Bennett. Ich werde meine Frau dann mit einem Tanz entschädigen müssen. Vielleicht wären Sie so nett, und unterhalten derweil ein wenig meine Tochter Susan?«

»Gern, Mr. Henley«, antwortete Stephen mit exzellent überspieltem Missfallen. Stephen tanzte sehr gern. Er hatte zwar eigentlich keine Lust, sich mit einer Frau auseinander setzen zu müssen, auf der anderen Seite hatte er eh nichts Besseres zu tun, Will war mit dem Kapitän beschäftigt, also konnte er auch durchaus ein wenig Spaß beim Tanzen haben.

»Darf ich Sie dann auch zu einem Tanz auffordern, Miss Henley?«, fragte Stephen und deutete wieder eine leichte Verbeugung an und bot ihr seinen Arm an.

»Sehr gern, Mr. Bennett!«, antwortete die Gefragte, lächelte Stephen an und gemeinsam schritten sie zur Tanzfläche.

Stephen tanzte nicht nur gern, er tat es auch noch recht gut. Und seine Tanzpartnerin war auch nicht gerade schlecht. Wider erwarten machten es Stephen sogar Spaß und er amüsierte sich durchaus. Eine halbe Stunde sicher schwebten die Zwei über das Parkett und Stephen nahm grinsend zur Kenntnis, dass Christian, der mit einer mittelmäßig aussehenden Rothaarigen tanzte, dauernd zu ihm hinüber sah. Zumindest über komische Kommentare von Christian, wieso er sich nicht um Mädchen kümmerte, musste er nun vorerst nicht mehr fürchten.

Einige Tänze später öffnete sich auch die Tür zum Büro des Bürgermeisters, der Hafenadmiral, Kapitän Stevenson und seine kommissionierten Offiziere traten wieder in den Festsaal des Rathauses. Sie alle hatten leicht gerötete Gesichter, was deutlich zeigte, dass der Bürgermeister nicht mit Wein geizte und die Offiziere gut versorgt hat.

William Andrews suchte mit seinen Augen den Saal ab. Als der Bürgermeister auf sei einredete und ihnen ein Glas Wein nach dem anderen anbot, war William schon nicht ganz bei der Sache, sehr zur Verärgerung des Kapitäns. Der war natürlich nicht so erbaut davon, dass bei einer Besprechung einer seiner Offiziere gar nicht bei der Sache war.

Aber William musste dauernd an Stephen denken. An die tiefgrünen, leuchtenden Augen, die ihn beim Reden anfunkelten dachte er, an die Art, wie der blonde Midshipman beim Lächeln die strahlend weißen Zähne blitzen ließ. Er hatte sich verliebt, das war William klar. Dass er schwul war, lieber von Jungs träumte als von Mädchen, war ihm schon einige Jahre bewusst. Aber er wusste auch, dass für diese Gefühle, diese Art der Liebe kein Platz in der Royal Navy war. Kam es heraus und irgendjemand würde es einem Vorgesetzten melden, wäre Williams Leben vorbei gewesen.

»Mein ganzes Leben lang war ich allein«, dachte William. Noch nie hatte er einen Partner gehabt. Viel zu gefährlich wäre es gewesen, jemanden anzusprechen, mit einem Jungen zu flirten. Was, wenn der gar nicht schwul gewesen wäre? Nicht auszudenken. Aber nicht nur ein Partner fehlte ihm. Auch eine Familie. Sein Vater war Anwalt in Portsmouth, als er sehr jung war, hatte sein Vater nie Zeit für ihn, seine Mutter ist bei seiner Geburt gestorben. Als er etwa elf Jahre alt war, hatte sein Vater einen Unfall mit der Postkutsche und William war von da an völlig allein. Da das Geld, was sein Vater ihm hinterließ niemals ausgereicht hätte, ihn durchzufüttern, bis er alt genug gewesen wäre, auf eigenen Füßen zu stehen, ging er zur Navy. Ein Freund seines Vaters verschaffte ihm eine Position als Servant bei Kapitän Calder auf der Victory, dem Flaggschiff der Kanalflotte unter Admiral Sir John Jervis. Die Victory wurde seine neue Heimat. Er freundete sich mit den anderen jungen Offiziersanwärtern an und endlich hatte er Kameraden und Freunde. Aber als William das Leutnantsexamen abgelegt hatte, war kein Platz mehr für ihn. Damit er befördert werden konnte, brauchte er eine Kommission als Leutnant und die Victory hatte natürlich alle Stellen besetzt. Also musste er auf ein anderes Schiff, die Phaeton. Zuerst war er unsicher, ob er hier Freunde finden würde. Denn als einer der drei Leutnants war er praktisch der Vorgesetzte von fast jedem. Die Midshipmen blieben in der Regel unter sich und ob er sich mit seinen drei Leutnantskollegen verstand, war nicht sicher. Umso glücklicher war er, dass er sich mit Stephen anfreunden konnte, und noch glücklicher war er, dass der, nach all seinem Verhalten, auch schwul sein musste und etwas für ihn zu empfinden schien. Oder interpretierte William das Leuchten in Stephens Augen falsch? »Nein! Er mag mich«, war sich William sicher. Stephen war jemand, mit dem William den Rest seines Lebens verbringen konnte. Um mit ihm zusammen sein zu können, würde er auch das Risiko auf sich nehmen, entdeckt zu werden.

»Aber wo zum Teufel steckt er?«, fragte sich William. Er wollte so viel Zeit wie möglich mit Stephen verbringen, jetzt, wo er seine dienstlichen Pflichten erledigt hatte. Endlich erblickte er ihn. Aber was war das? William traute seinen Augen nicht. Stephen tanzte mit einer Frau, einer, objektiv gesehen, sehr gut aussehenden Frau. Und es sah nicht aus, als ob er das gezwungener Maßen machte. Stephen lächelte. Das versetzte Williams Herz einen Stich. Jetzt hörte er Stephen lachen, wegen etwas, was ihm das Mädchen erzählt hat. Tränen traten in seine Augen.

»William, suchen Sie jemanden?«, sprach ihn Leutnant Salesbury an.

»Nein, nein, Sir Richard! Ich suche niemanden.«, antwortete er mit belegter Stimme.

»Ist alles in Ordnung, William? Fühlen Sie sich nicht wohl?«

»Es ist nichts Besonderes. Ich gehe kurz an die frische Luft. Der Tabakrauch muss mir etwas zusetzen«, log William ihn an.

»OK, aber wenn ich Sie begleiten soll, oder Dr. Beatty nach ihnen senden soll, sagen Sie es mir bitte«, sorgte er sich.

»Danke, Sir Richard! Es wird schon gehen«, versicherte William, strafte seinen Uniformrock und eilte nach draußen, in den kleinen Park neben dem Rathaus. Er rannte den Weg ein wenig entlang, lief zu einer kleinen Baumgruppe und lehnte sich an einen Baum. Die Tränen liefen nur so die Wangen hinunter. Dabei war er sich so sicher, dass Stephen etwas für ihn empfand. Wie konnte er sich nur so täuschen? Eine Welt brach für ihn zusammen. So sehr hatte er gehofft, dass seine Einsamkeit vorbei sein würde.

Lesemodus deaktivieren (?)