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Blaues Licht
Teil 3
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Informationen
- Story: Blaues Licht
- Autor: Nero
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery, Krimi, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
- Abstoßung
- Fliegende Comix
- Der Colombo-Effekt
- Kopfwäsche
- Shadowrunner
- Kartentricks
- Die Englischstunde
- Nicht für das Leben, für die Schule lernen wir
- Bankgespräche
- Kraftprobe
- Monster unter sich
- Der Anfang
- Anjas Party
- Johannes
Abstoßung
Worin sich Fragen durch Fragen klären und am Ende der Teppich nass wird.
»Du hast ...?«, ich konnte die Frage nicht vollenden. Es mag banal klingen, aber ich verstand Ralf nicht. Entweder wollte ich nicht verstehen, weil ich die Konsequenzen nicht wahrhaben wollte, oder ich konnte es nicht verstehen, weil mir die Vorstellungskraft dafür fehlte.
Ralf hatte mich getötet?
»Ja!«, Ralf sah mich an: dunkel, traurig und verzweifelt. Das Funkeln in seinen Augen fehlte jegliche Farbe. Das sonst so brillante und faszinierende Strahlen war erloschen. Nur ein mattes, graues Glimmen war übrig geblieben.
»Aber müsste ich dann nicht tot sein?«
Ich versuchte, der Sache mit Logik beizukommen. Nicht, dass meine bisherigen Erlebnisse irgendetwas mit Logik zu tun gehabt hätten, aber man konnte es ja mal versuchen.
Ralf senkte seinen Blick: »Ja, müsstest du ... eigentlich ...«
Ralf hob seinen Kopf und sah mich direkt an. Feucht glänzende Spuren liefen seine Wangen herunter: »Aber das ist nicht mein Verdienst! Verstehst du mich nicht? Ich-habe-dich-getötet! Oder, es immerhin versucht! Dich, den ich liebe, wollte ich auslöschen.«
Tobi und seine lange Leitung. Nein, ich begriff nicht, worauf Ralf hinaus wollte. Für Ralf war die ganze PSI-Kiste ein alter Hut. Etwas, mit dem er schon eine ganze Weile lebte. Ralfs Panik bestand darin, mich als Freund zu verlieren. Wenn ich damals in der Lage gewesen wäre, klar zu denken, dann wäre mir wohlmöglich ein Licht aufgegangen, aber ich dachte eben nicht klar. Ich hing einfach an den rein technischen Aspekt: Wieso lebte ich?
»Primitiv ausgedrückt, weil du Energie absorbiert hast.«, Ralf zuckte mit den Schultern. »Es ist einer meiner Gaben. Eine, auf die ich nicht stolz bin und vor der ich Angst habe. Ich kann Leben nehmen.«
»Ja, aber du kannst auch Leben schenken, oder?«
»Ja!«, Ralfs Augen strahlen auf; blau-silbern und glücklich, »Woher weißt du das?«
Ich zeigte auf meinen Arm: »Du hast ihn doch geheilt, oder? Kannst du etwa sowas wie Lebensenergie abgeben.«
Ralf nickte.
»Das trifft es ziemlich genau. Der Begriff ist etwas kitschig und geht mir zu sehr in die Esoterikecke, aber man könnte es so ausdrücken. Diese Fähigkeit die Leben und Heilung schenkt, ist gleichzeitig auch die, die Leben vernichten kann.«
»Muss sie das? Musst du nehmen, um zu geben?«
»Ja und nein. Es ist wirklich das totale Klischee. Hast du mal Fantasy-Storys gelesen oder Rollenspiele gespielt? Es läuft wirklich genau so: In dem Maße, wie ich heile, schwächt es mich selbst. Ich erhalte zwar nicht die Krankheit oder die Verwundung, die ich heile, aber es zehrt an mir. Ich muss mich anschließend erholen. Immerhin, es verbraucht mich nicht.«
»Und wenn jemand tödlich verletzt ist, dann ...?«, die Frage war unvermeidlich.
»Du kennst die Antwort.«
Ja, ich kannte sie.
»Umgekehrt geht es aber eben auch. Ich kann jemanden auch seine Energie nehmen und sie sogar auf andere übertragen.«
»Kann sich derjenige davon erholen, dem du die Energie nimmst?«
»Ja, aber es dauert wesentlich länger als bei mir. Allerdings nicht so lange, wie eine entsprechende Verletzung oder Krankheit brauchen würde, um von selbst zu heilen.«
»Aber das heißt, dass bei einer unheilbaren Krankheit ...«
»Ja!«, Ralf nickte müde, »Ich kann auch alles Leben nehmen.«
»So wie du es bei mir versucht hast?«
Ralf zuckte zusammen. Er hatte diesen Gedanken schon längst wieder verdrängt.
»Nein, so wie ich es bei dir getan habe!«, Ralfs Augen wurde wieder feucht. »Und ich schäme mich dafür. Ich weiß nicht, ob ich damit hätte weiterleben können. Aber ich musste es tun. Tobi, bitte glaub mir. Es gibt Dinge, die übersteigen in ihrer Bedeutung unsere Existenz.«
»Das wage ich zu bezweifeln. Aber, nochmal, wieso lebe ich dann noch?«
»Die Frage ist falsch gestellt. Warum lebst du wieder?«, Ralf seufzte. »Du erinnerst dich noch, was passiert ist?«
»Dunkel. Ich traf dich im Invalidenpark. Du hast mich an der Stirn berührt und ein blauer Funken schlug über. Dann war da dieses, ja, wie soll ich es ausdrücken, ,Absolute Nichts`. Ich weiß nicht, wo ich da war, aber ich fand einen Weg dort raus. Obwohl, ... ein ,dort`gab es an diesem Ort nicht. Es war wirklich ein totales ,Nichts`. Danach hatte ich tierische Kopfschmerzen und habe eine sehr merkwürdige Unterhaltung gehört, die ich nicht verstand. Später bin ich dann in meinem Bett aufgewacht.«
»Ok, um es klar zu sagen: Wir wissen nicht, was passiert ist! Niemand hat die geringste Ahnung, warum du wieder lebst. Denn du warst Tod!«
»Hey, ich kann aber nicht übers Wasser wandeln ...«
»Tobi, das ist nicht witzig!«, warum grinste Ralf dann?
»Sorry, ich mein ja nur.«
»Ok, wie ich schon erzählte, warst du ja in Wirklichkeit hier. In diesem Raum.«, Ralf machte eine ausladende Bewegung mit seinen Armen. Wir hockten immer noch in diesem hypermodernen grau-weiß-diffus ausgeleuchteten Raum, »Als ich tat, was ich tuen musste, bist du sofort zusammengebrochen. Ich habe dich aufgefangen und gehalten ...«
Ralfs schmerzverzerrtes Gesicht sagte mir, dass ihm die Sache wohl wirklich nicht leicht gefallen war.
»Mir war nicht erlaubt dich zu halten, aber ich tat es trotzdem. Ich wollte dich so wie du warst in Erinnerung behalten. Und so hielt ich dich. Mehrere Minuten. Ich wollte dich gerade wieder zurückbringen und in dein Bett legen, als du plötzlich anfingst, transparent zu werden.«
»Was?«, vor Schreck sah ich auf meine Hände und Arme und versicherte mich davon, dass ich auch wirklich nicht durch sie durchsehen konnte.
»Du wurdest durchsichtig! Ich brachte dich sofort hierher. Im gleichen Moment wurde hier jede einzelne Lampe dunkel, als wenn du die Energie direkt aufsaugen würdest. Wir sind hier gut einen Kilometer unter der Erde. Im Umkreis von 500 Metern gab es nicht eine leuchtende Lampe, keine Kaffeemaschine, die röchelte, oder einen MP3-Player, der Pieps sagte. Selbst die Notbeleuchtung blieb dunkel. Du hast dir wirklich jedes Milliwatt genommen, dessen du habhaft werden konntest.«
»Wow!«
»Ja, wow!«, Ralf schüttelte seinen Kopf, als wenn er seiner Erzählung selbst nicht ganz glauben wollte. »Und dann, Plopp, war alles wieder da. Der Strom, das Licht und du. Stöhnend und jammernd, aber am Leben. Und dafür bin ich dankbar!«
»Du, ich auch!«
***
»Und, wie geht es jetzt weiter?«
Ich sah Ralf verblüfft an. Sollte das nicht meine Frage sein?
»Hä, dass fragst du mich? Shit, Ralf, ich warte gerade darauf, dass ich endlich meinen Nervenzusammenbruch bekomme, damit man mich dann in eine Klappsmühle einweisen kann. Ich fühl mich, als wenn ich mehr Persönlichkeiten habe, als für einen einzelnen Menschen gut ist! Da ist klein Tobi, das Oberweichei und der Megaloser der Schule, dann ist da Tobi, der Halbwaise, Tobi, das Mordversuchsopfer, Tobi der Getötet- und Wiedergeborene, Tobi, der X-Men ... Hab' ich noch was vergessen?«
»Ja, Tobi, der Junge den ich liebe ...«
Schwupps, Ralf zog mir den Teppich unter meinem Verstand weg und ich legte eine mentale Bauchlandung hin. Mit offenem Mund und heruntergeklapptem Kiefer glotzte ich ihn an. Ralf, mein dunkler Prinz -- mein Prinz des Todes?
»Nein, denke sowas nicht. Ich will kein Todesprinz sein. Ich möchte, dass du ... dass du mir verzeihst ...«
Es machte Klick und 2500 Watt Halogenlicht entflammten das Innere meines Schädels. Der Euro hatte es wirklich sehr schwer, bis er fiel. Ralf hatte Angst, ich würde ihn nicht mehr lieben. Nun ja, so absurd waren seine Befürchtungen eigentlich nicht. Ich meine, wer liebt schon jemanden, der einen schon mal umgebracht hatte?
Ich spreizte die Finger meiner Hände und betrachtete sie. Ich folgte den Linien meiner Handinnenfläche, ich betrachtete die Falten meiner Haut, musterte die Bewegungen meiner Finger. Ist dies real? Bin ich real?
Ich zögerte eine Antwort zu geben. Mir und Ralf.
»Bitte, bring mich zurück. Ich will nach Hause.«
Ralf sah mich traurig an. Ein Blick zwischen Hoffen und Bangen traf mich und ich musste Schlucken. Ralf seufzte, sagte aber nichts. Die Welt um mich herum begann sich wieder zu drehen und morphte zurück in das Arbeitszimmer meines Vaters.
Wir standen uns gegenüber. Ralf sah mich an, forschte in meinen Augen, die seinigen dunkel-rot funkelnd. Ich wich seinem Blick aus und schaute auf den Boden.
»Bitte geh.«
Ralf zuckte zusammen. Er schrumpfte, er zerbrach. Leise, ohne einen Laut, verließ er den Raum und mich.
Ich war alleine.
Mitten im Arbeitszimmer meines Vaters.
Ich stand in der Mitte von Nichts.
Ich spürte, wie sich meine Nerven auflösten, und ließ es einfach geschehen. Tränen tropften auf die Auslegeware und hinterließen kleine Pfützen. Es war mir egal ...
Fliegende Comix
Worin sich unser Held etwas unwirsch gebiert,
aber man ihn nicht vom Haken lässt.
»Tobi?«
Michis Kopf schob sich vorsichtig durch einen geöffneten Spalt meiner Zimmertür. Ich hockte trotzig auf meinem Bett und haderte mit Gott und der Welt.
Seid dem Vorfall mit Aushilfsmörder Kleist und Todesengel Ralf war knapp eine Woche vergangen. Mein Arm begann inzwischen wie wild unter seinem Gips zu jucken, was natürlich extrem nervte und meine Laune nicht verbesserte. Es nervte fast so extrem, wie die Sache mit Ralf und mir. Glücklicherweise wollte ich darüber nicht nachdenken und ließ meinen Verdrängungsreflexen freien Lauf. Es war überhaupt nichts passiert. Ich ignorierte den Computer meines Vaters, insbesondere den Inhalt zweier ganz bestimmter CDs. Kleist ließ sich auch nicht mehr sehen. Und Ralf? Wer war eigentlich Ralf. Ich bin auch früher ohne viele Freunde ausgekommen, also was? Wo war das Problem?
Alles war wunderbar -- Solange ich nur nicht anfing nachzudenken, war alles eigentlich supergut.
Warum hatte ich dann trotzdem megamäßig schlechte Laune?
»Was?«, zischte ich den unwillkommenen Besucher an.
»Oh Mann, was ist dir denn über die Leber gelaufen?«, Michi enttäuscht.
»Ahh, nichts! Sollte es denn?«, ich gereizt.
»Ich weiß nicht? Sag du es mir!«, Michi diplomatisch.
»Michi¸ bitte keine Spielchen!«, ich gereizt.
»Ich mache keine Spielchen, ... nur Sorgen. Wenn du es genau wissen willst ...«, Michi fürsorglich.
»Nein will ich nicht!«, ich greitzt.
»... mach ich mir Sorgen über dich.«, Michi meinen Einwand übergehend.
Sendepause. Michi betrat -- unaufgefordert und unwillkommen -- mein Zimmer und setzte sich rückwärts, die Rückenlehne vor seinem Bauch, auf meinen Drehstuhl, der vor meinem Schreibtisch stand. Schweigend musterte er mich, sagte aber kein Wort. Demonstrativ nahm ich einen Comic und begann darin zu lesen. Lustlos blätterte ich von Seite zu Seite. Shit, ein Spidermann-Comic. Noch so ein verkrachter Superheld. Entnervt pfefferte ich das schuldlose Teil in die Ecke. Michi hatte gewonnen.
»Ok, ich gebe mich geschlagen. Was willst du?«
»Wissen¸ warum du dich seit einer Woche von uns zurückziehst. Tobias ...«, Schreck lass nach. Michael nannte mich nur Tobias, wenn er es bitterernst meinte. »Seit ich dir geholfen habe, in die Daten deines Vaters einzubrechen, hast du dich nicht mehr gemeldet. Du rufst nicht an, du gehst nicht ans Telefon, du öffnest nicht mal die Tür. Ich bin nur zu dir durchgekommen, weil deine Mutter da ist und sich ebenfalls Sorgen um dich macht.«
Mich packte ein Panikanfall: »Du hast ihr doch nichts von den CDs erzählt!«
»Nein! Natürlich nicht! Verdammt Tobi, für was für einen Idioten hältst du mich?«
Mein Herzschlag beruhigte sich wieder etwas.
»Gut ...«, sagte ich beim Ausatmen.
»Verdammt noch mal, nichts ist gut! Was ist mit dir los? Was hab' ich getan, dass du nichts mehr mit mir zu tun haben willst? Und was dir hat Ralf getan? Der arme Junge scheint nur noch ein Schatten seiner selbst zu sein. Er hängt wie der totale Trauerkloß im Unterricht rum. Dämmert apathisch vor sich hin. Habt ihr euch getrennt, oder was?«
»Eher ,Oder was?` Ich bin mir da nicht so sicher. Ich weiß nicht, ob ich ihn nochmal wieder in die Augen sehen kann.«
»Oh no, bitte sag' mir, dass ihr jetzt keine Beziehungskrise habt. Ihr passt so gut zusammen. Ich bin zwar kein Profi, was schwule Pärchen betrifft ...«
Unfreiwillig musste ich kichern: »Nee, bist du wirklich nicht ...«
Michi war das genaue Gegenteil: Profi in Heterobeziehungen, denn davon hatte er mehr als genug. Manchmal mehrere gleichzeitig. Aber er bekam sowas immer sehr elegant koordiniert.
»Oh, du kannst ja noch lachen. Halleluja, es geschehen noch Wunder!«
»Michi, dafür hasse ich dich! Warum lässt du mich nicht einfach sauer sein. Warum darf ich mich nicht in mein Zimmer verkriechen und die Welt da draußen vergessen? Scheiße drauf sein, wenn ich scheiße drauf sein will!«
Meine Verteidigung war am bröckeln. Ich fühlte mich hin- und hergerissen. Ich wollte, dass Michi mich aus der Reserve lockte. Ich wollte, dass er mich dazu brachte, zu reden. Ich wollte, dass er mir half. Soweit man mir überhaupt helfen konnte und er dazu in der Lage war. Aber noch stand ich mir selbst im Weg. Ich und mein Ego -- Und die Unvorstellbarkeit der Wahrheit.
»Sorry Tobi, aber ich werde nicht gehen, bevor du mir nicht gesagt hast, was zwischen euch los ist! Ist es was sexuelles? Wollte Ralf was mit dir machen, was du nicht wolltest? Wenn er an dir rummachen wollte und du es nicht wolltest, schlag ich ihm die Zähne ein.«
Ich musste laut lachen: »Sexprobleme? Nein, wirklich nicht. Darüber haben wir uns noch keine Gedanken gemacht!«
»Wie? Ihr habt noch nicht miteinander ... Dann weiß ich, was euer Problem ist!«
»Michi! Also wirklich!«
»Was denn? Du bist 17 und du hast noch nicht einmal gestöpselt. Das ist doch nicht normal. Da muss man ja trübsinnig werden?«
»Du musst es ja wissen?«
Da wird immer behauptet, die Schwulen wären promiskuitiv. Ständig mit jemand anderem im Bett. Nun, die Leute, die dies behaupteten, kannten Michi nicht. Michi und seine jeweiligen Freundinnen hatten immer sehr viel Spaß miteinander. Und Mut zum Risiko, was Orte und Zeitpunkte betraf. Ich musste grinsen, als mir die Sache mit Peggy einfiel. Sie und Michi hatten nachts heftig gepoppt. Im Garten! Im Garten seiner Eltern bei uns nebenan. Im Garten seiner Eltern, die nichts ahnend nur wenige Meter weiter im Wohnzimmer Fernsehen glotzten. Die Angelegenheit wäre fast eskaliert, als Peggy laut und deutlich begann zu stöhnen. Michis Vater, durch merkwürdige Geräusche beim TV-Genuss gestört, riss plötzlich die Terrassentür auf, nahm einen Stein und warf ihn mit dem Kommentar »Diese Scheiß rolligen Viecher! Sollte man alle kastrieren!« in Richtung des Gebüsches, aus dem das Gejaule kam -- Am nächsten Tage kam Michi humpelnd zur Schule.
»Ok, dann leg' jetzt los.«, Michi wurde sachlich und jeglicher Spaß wich aus seiner Stimme, »Ich weiß, dass es eine sehr ernste Sache sein muss. Aber, Tobias -- verdammt noch mal -- ich bin dein Freund! Ich steh' zu dir, egal was es ist. Verstanden?«
Ich nickte, wiegte meinen Kopf hin- und her, um ihn schließlich resigniert zu schütteln. Was soll's, irgendwann würde er es sowieso mitbekommen. Warum dann nicht jetzt. Ich stand von meinem Bett auf, ging zur Tür und drehte den Schlüssel im Schloss.
»Ok, du hast es nicht anders gewollt. Am besten ich zeige es dir ...«
»Zeigen? Was denn?«
»Wart's ab!«, ich zögerte, »Eins noch ...«
»Was?«
»Du darfst niemandem, wirklich absolut niemandem, nicht mal deinen Guppys im Aquarium etwas davon erzählen!«
»Ja, nu laber nicht rum!«, Michi wurde ungeduldig.
»Scheiße, Michi!«, ich fauchte ihn an. »Das ist wirklich kein Scheiß. Ich mein das ernst -- todernst!«
Entweder hatte ich den richtigen Ton oder die richtige dramatische Geste gefunden. Michi kuschte und wurde zahm.
»Ok, sorry. Ich verspreche es. Niemandem. Ok?«
»Ok!«, ich zeigte auf mein Bett. »Sie da hin!«
Ich stand mit dem Rücken zur Tür. Mit meinen Augen fixierte ich einen der Comics, die auf dem Bett lagen, formte einen Gedanken und ließ ihn los. Das Heft fegte vom Bett und flatterte unkontrolliert durch den Raum. Als es schließlich am Boden landete, war es in einzelne lose Blätter zerfetzt worden.
»Ich kann es nicht richtig kontrollieren ...«
Michi hockte da und starte auf das verwuschelte, am Boden liegende Comicheft, oder besser dem Häufchen Altpapier, der von dem Heft übrig geblieben war.
»Warst du das?«, Michis Mund blieb offen stehen. Seine Augen waren weit aufgerissen. Es schien, als wenn die Grimmasse, die Michi mit seinen Gesichtsmuskeln formte, eingefroren waren.
»Ja!«
Michi schluckte. Er starrte mich an, dann das Heft und schließlich wieder mich. Ich ließ ihm Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Während Michi Müller krampfhaft nach Worten suchte, japste er nach Luft, glotzte mich blöd an und begann nach einer Ewigkeit stammelnd Worte zu einem Satz zu formen.
»Du kannst Telek...«, Michi brach ab.
»Ja, irgendwie schon!«, meine Niedergeschlagenheit kehrte zurück.
»Krass!«
»Hmm ...«
Michis normale Denkmuster kehrten zurück. Dumm war er ja nie. Man sah regelrecht, wie ein Gedanke in seinem Schädel aufflammte. Ich meinte sogar, es bei ihm Klick machen zu hören.
»Dann ... dann ...«, Michi zögerte bei diesem Gedanken. »Dann hatte ich Recht? Der Wagen ... Der Wagen, der in das Juweliergeschäft gebrettert ist ... Du hast ihn weggeschleudert, oder? Ich hatte dir gesagt, dass ich eine Kraft gespürt habe ... Das warst du?«
»Ja ...«, ich ließ meine Schultern hängen. Warum fühlte sich diese Begabung nur wie eine Belastung an.
»Das ist ein Hammer ...«, Michi flüsterte.
»Ja ...«, ich schloss mein Zimmer wieder auf, bevor meine Mutter noch zufällig etwas merkte.
Ich hockte mich wieder auf mein Bett. Deprimierter als vorher. Michi zu erzählen, dass ich schwul war, war eine Befreiung. Aber dieser Psi-Scheiß ... Ich fühlte mich eher wie ein Krüppel. Eine Missgeburt. Eine Laune der Natur. Was weiß ich? Ich fühlte mich Scheiße. Aber so richtig!
In dieser Superdepristimmung tat Michi etwas ausgesprochen Merkwürdiges. Er nahm mich in seine Arme und streichelte mich. Oder besser, er versuchte es, denn mein Gips war eine echte Behinderung. Zumal er ja total von unnötig war. Ralf hatte meinen Arm geheilt. Aber wie hätte ich das erklären sollen? Also trug ich nach wie vor den Gips, der jetzt Michis Bemühungen im Weg stand.
»Tobi, es ist gut. Ich werde niemandem etwas sagen. Wirklich niemanden. Mann, das ist wirklich, wirklich der totale Hammer!«
»Ja, ist es ...« Michi löste sich wieder von mir und ich sah ihn dankbar an. »Danke, Alter!«
»Hey, wofür denn? Bin ich dein Freund oder bin ich dein Freund?«
»Beides!«, ich musste schmunzeln, obwohl mir nicht danach war.
»Was ich nicht verstehe, ist, warum du so mies drauf bist. Wenn ich deine Kräfte hätte ... Wow!«
Er verstand es nicht. Na ja, wie auch? Ich begann es ja auch erst zu verstehen. Natürlich, wenn man Comics oder SciFi las, kam der PSI-Kram immer cool rüber. Wer würde das nicht können wollen: Teleportieren, Gedanken lesen, Dinge schweben lassen. Der totale Traum. Die Realität wirkte weit weniger schön. Die Gabe entpuppte sich als Fluch und der Traum als Belastung.
»Michi, denk doch mal nach ...«, ich hockte mich wieder in auf mein Bett. »Erstmal, du weißt noch nicht alles ...«
»Die CDs deines Vaters?«
»Teilweise ... Da ist noch mehr.«
»Ralf?«
Ich nickte: »Der auch. Aber davon mal abgesehen. Was denkst du, würde passieren, wenn ich diese Kräfte benutzen würde. Du hast doch schon gesehen, was bei dem Unfall los war. ,Ein Wunder`, ,Rettung von Geisterhand`, ,Die Grenzen der Physik`. Soll ich weiterreden? All das stand in den Zeitungen. Wie lange würde es dauern, bis man auf mich aufmerksam werden würde?«Eigentlich war man das ja schon, aber ganz anders. »Was würde man mit mir machen? Aufschneiden? CT, NMR, EEG, endlose Tests? Würde das irgendwann aufhören? Und was ist mit meiner Umgebung? Werden die Menschen vor mir Angst haben. Du hast gesehen, was mit Nils ...«
Ich biss mir auf die Zunge. Verdammt, das wollte ich doch gar nicht erzählen.
»Was? Die Sache mit Nils Hand? Das warst du?«
Ich nickte und erzählte ganz kurz, was passiert war.
»Aber Tobi, das war Notwehr. Du hast reflexartig gehandelt. Du wusstest doch noch nicht mal, dass du das warst.«
»Hmm, mag sein, aber trotzdem ... Wenn ich es nicht kontrollieren kann? Ich könnte jemanden verletzen, obwohl ich das nicht will. Ich kann diese Kraft nicht nutzen.«
»Nix da! Du musst! Und zwar aus genau dem Grund, den du eben gebracht hast! Du musst deine Fähigkeit trainieren. Das ist wie Laufen lernen oder Fahrradfahren. Als du vor vier Jahren deinen ersten Computer bekommen hast, wie viel Ahnung hattest du davon? Null! Und jetzt? Du musst lernen diese Sache zu beherrschen, sonst beherrscht sie am Ende dich!«
»So hab ich das noch gar nicht gesehen ...«, Michi zeigte mir einen Aspekt, den ich vorher so nicht gesehen hatte.
»Ich sag' ja nicht, dass du die Kraft benutzen sollst. Zu mindestens nicht öffentlich, da geb' ich dir Recht. Wer weiß, was für dunkle Gestallten sonst noch hinter dir her sind.«
Wenn er doch nur ahnte, wie dicht er dran war.
»Aber du meinst, ich sollte lernen, damit umzugehen?«
»Auf jeden Fall!«, Michi war sehr überzeugend. »Hast du ungefähr eine Ahnung, wie stark du bist?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich weiß nich'. Ich stell mir vor, dass, wenn ich die Kraft nutze, dass irgendwie anstrengend sein müsste. So, als wenn ich deine Langhanteln stemmen würde. Ich spüre Form, Schwere, Struktur und solch Zeug.«
»Und?«
»Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich die Sache mit deinem Unfall schwer angestrengt hätte. Es war so, als wenn ich ein Taschenbuch vom Schreibtisch kicken würde. Fast federleicht. Verstehst du jetzt einen Teil meiner Bauchschmerzen?«
»Federleicht sagst du?«
Ich nickte.
»Wow!«, Michi taxierte mich ungläubig, »Bist du sowas wie 'ne Atombombe?«
Der Colombo-Effekt
Worin man erneut Besuch von der Staatsmacht erhält
»Tobias? Kommst du bitte mal runter?«
Die Stimme meiner Mutter schallte durch das Haus. Ich sah Michi fragend an, aber der zuckte auch nur mit den Schultern.
»Kein Wort!«
»To-bi!«, Michis Stimme klang warnend. Und er hatte Recht. Wenn ich mich auf irgendjemanden verlassen konnte, dann auf ihn. Er würde nichts sagen, niemals.
Wir trabten, laut polternd, die Treppe herunter: »Ja-ha!«
Die sich verdrehenden Augen meiner werten Frau Mama waren mal wieder über deutlich: »Jungs, ihr seid zu laut!«, und gleichzeitig: »Ach, nochmal 17 sein, wäre auch ganz nett!«
Unten angekommen deutete die Erziehungsberechtigte in Richtung Wohnzimmer und flüsterte uns leise zu: »Da ist wieder dieser Schulz! Der will was von dir wissen. Was kann der von dir wollen?«
»Schulz?«, ich blickte wechselweise zu Michi und zu meine Mutter, »Wer ist Schulz?«
»Der Bull..., äh, Kriminalkommissar ...«
»Oh!«, KHK Schulz, was wollte der denn von mir?
Zögerlich und etwas unsicher ging ich ins Wohnzimmer und fand dort KHK Schulz, sowie seinen niedlichen kleinen PM z.A. Jansen auf dem Sofa sitzen.
»Sie haben Fragen an mich?«, ich versuchte möglichst verblüfft zu wirken, schließlich, war ich dass ja auch.
»Ah, Herr vanBrüggen. Nett, dass Sie uns nochmal Ihre Zeit opfern.«, nanu, mich hatte noch nie jemand als Herr vanBrüggen angeredet. Das war mein Vater, nicht ich.
»Nun, ja ... ähm, wenn Sie meinen, dass ich Ihnen irgendwie helfen kann ...«
»Wer weiß? Wer weiß?«, Schulz spielte wieder den genervten, gelangweilten Cop, den eigentlich alles anätzte und der nur -- widerwillig -- seinen Job machte. Fast devot unterbreitete er mir ein Foto. Allerdings beobachtete er mich dabei ganz genau und versuchte jede meiner Reaktionen auf das Foto mitzubekommen. Es war ein Bild von Herrn Kleist.
»Das ist Herr Kleist, der Chef meines Vaters.«, und der Typ, der mich umbringen wollte, den ich dann aber fast telekinetisch zu Mus verarbeitet habe.
»Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«
Shit, was war das für eine Frage? Ich hatte das Gefühl, dass die Sache gefährlich wurde. Was sollte ich antworten? Die Wahrheit? Oder ein klein bisschen davon?
Eine Gegenfrage, das war die Lösung: »Hat Herr Kleist etwas mit dem Tod meines Vaters zu tun?«
»Das können wir nicht sagen. Die Ermittlungen laufen noch und selbst wenn, dürften wir natürlich auch nichts sagen. Also, Tobias, wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«
Tobias? Nicht mehr Herr van Brüggen? Interessant!
»Ich weiß nicht mehr genau ...Vor einem Jahr!«, ich versuchte vage und unsicher zu klingen...
»Nicht vor ein paar Tagen?«
Erwischt! Shit, Schulz wusste von meinem Treffen mit Kleist.
»Ja, doch! Natürlich! Auf dem Weg vom Supermarkt! Herr Kleist hielt an und lud mich auf einen Cappuccino ein.«
»Was wollte er?«
»Ach nichts wichtiges ...«, jetzt nur nicht rot werden. »Sein Beileid ausdrücken.«
»Noch was?«
Wie weit sollte ich gehen? Schulz wusste etwas. Nur was wusste er und wie viel?
»Er fragte mich, ob ich mal in Arbeitszimmer meines Vaters nach Unterlagen sehen könnte. Wichtigen Unterlagen, die der Firma gehören und die sie dringend brauchen würden. Sowas in der Art ...«
»Sowas in der Art ...«, wiederholte KHK Schulz meinen Satz mehr zu sich selbst. PM z.A. Jansen hockte die ganze Zeit schüchtern und schweigsam daneben und verfolgte unser Gespräch wie ein Tennismatch. Seine Augäpfel hüpften von mir zu Schulz und wieder zurück, ohne dass sich dabei sein Kopf merklich bewegte.
»Was waren das für Unterlagen?«
»Wie meinen sie das?«
»Na ja, welcher Art waren die Unterlagen? Hefte, Zettel, Bücher, Tonbänder, Disketten?«
»Zwei CDs. Moment mal ...«, ich demonstrierte den massiv nachdenklichen kleinen Jungen, »eine sollte rot die andere blau sein. Irgendwas mit GEM oder ZEM oder so sollte darauf stehen.«
»Und, hast du die CDs Herrn Kleist gegeben?«
Oh-Oh, böse Frage: »Nein!«
»Und warum nicht?«
»Sie sind nicht in Arbeitszimmer meines Vaters.«, nein, die liegen nämlich bei mir oben im Zimmer.
»Ach so ... Hm, interessant ...«, KHK blickte zu PM, »Ja, dass war's schon. Danke Tobias, du hast uns sehr weiter geholfen.«
»Hab' ich?«, ich war echt überrascht.
»Ja, ja, auf jeden Fall!«
Die beiden Beamten erhoben sich vom Sofa, der eine sportlich elegant, der andere schwerfällig schnaubend und gingen in Richtung Haustür.
»Wir werden sicherlich noch einmal miteinander sprechen. Bis jetzt erstmal noch vielen Dank und tschüss.«
PM Jansen war schon aus der Tür, als sich KHK Schulz mitten im Türrahmen zu mir umdrehte und fast das Türblatt ins Gesicht bekommen hätte: »Geht's dem Arm eigentlich besser?«
Schon wieder so eine merkwürdige Frage. Schulz verunsicherte mich total: »Ach was. Der Gips juckt wie verrückt. Ich könnte wahnsinnig werden!«
»Na, der bekommt bestimmt bald ab. Tschüss!«
KHK Schulz machte sich endgültig auf den Weg und ließ mich verwirrt und verunsichert zurück.
***
Kaum hatte ich die Tür geschlossen, wurde ich gleich dem nächsten Verhör unterzogen: »Von deinem Treffen mit Kleist hast du mir überhaupt nichts erzählt.«
Ich sah meine Mutter direkt in die Augen: »Ich hab's vergessen.«
Normalerweise wusste sie sofort, wenn ich nicht die Wahrheit sagte. Sie musste es wissen, aber sie sagte nichts sondern nickte nur mit dem Kopf: »Ok?«
»Ich ...«, Mum sah mich an, aber mein Mut verließ mich. »Nicht so wichtig.«
Verwirrt und völlig verunsichert trottete ich zurück in mein Zimmer. Dass Michi mir gefolgt war, bemerkte ich erst, als er mich fragte: »Du hast nicht alles erzählt, oder?«
Ich seufzte: »Nein ...«
»Ok!«, Michi demonstrierte wieder einmal, dass er ein super Freund war. Er beließ es bei seinem »Nein«, drehte sich um und wollte gehen.
»Warte ...«, ich schüttelte den Kopf, selbst an mir zweifelnd, was ich gerade tat, und deutete auf meinen Schreibtischstuhl, »Setz dich. Wenn du die ganze Geschichte hören willst, bitte. Vielleicht kannst du dir einen Reim drauf machen. Nur ...«
Ich zögerte. Teilweise, weil ich nicht wusste, wie ich die Sache anpacken sollte, teilweise, um meinen Worten mehr Bedeutung zu verleihen.
»Nur was?«
»Ich will nicht dramatisch klingen, aber ... Wissen kann gefährlich sein. Wenn du verstehst, was ich meine ... Möglicherweise lebensgefährlich ...«
Michi warf mir einen amüsierten und gleichzeitig resignierten Blick zu.
»Und wenn schon!«
»Du weißt nicht, wovon du sprichst?«
»Mag sein. Aber das ist egal. Wenn es für dich gefährlich ist, dann auch für mich. Wir sind Freunde und das weiß fast jeder. Also, an wen wird man sich wenden, wenn man etwas über dich in Erfahrung bringen will. Wen wird man fragen, wenn man wissen will, was du weißt.«
»Oh ...«, soweit hatte ich noch gar nicht gedacht. Als mein bester Freund war Michi in Gefahr. Ich schaute zu Michi, der entgegen meines Wunsches sich nicht auf meinen Schreibtischstuhl gesetzt hatte, sondern verträumt aus einem der Dachfenster schaute.
»Schau einer an. Die Bullen sind bei meiner Mutter. Wetten, dass die zu mir wollten?«
Ich trat ebenfalls ans Fenster. Frau Müller redete mit KHK Schulz. Wie es so ihre Art war, redete sie mit Händen und Armen. Ich brauchte nicht hören, was sie sagte. Ihr ausgestreckter Arm in Richtung des Hauses meiner Eltern und ihr zu meinem Fenster deutender Zeigefinger waren genauso deutlich wie das gesprochene Wort.
KHK Schulz und PM z.A. Jansen drehten fast synchron ihre Köpfe und folgten der Richtung von Frau Müllers Finger. Sie sahen uns am Fenster und wir sahen sie. Schulz schien uns argwöhnisch zu mustern. Schulz, was denkst du? Was vermutest du? Und was weißt du?
Nach ein paar Sekunden kratzte sich der Polizist nachdenklich am Kinn, wendete sich wieder Frau Müller zu, schien sich zu verabschieden und verließ zusammen mit PM-Schnuckel Jansen das müllersche Anwesen.
Kopfwäsche
Worin ein Freund erst aufgeklärt wird und anschließend seine persönliche Einschätzung der Lage darlegt.
Zum Schluss sind die Printmedien noch für eine Überraschung gut.
»Jungs? Ich muss nochmal für drei Stunden weg! Macht keinen Unsinn.«
Meine Mum schallte die Treppe herauf. Es waren gerade zwei oder drei Minuten vergangen, dass die beiden Staatsdiener in ihren Wagen gestiegen und davon gefahren waren.
»Ok, wir sind brav.«
»Möglicherweise wird es noch etwas später. Haut euch was Ungesundes in die Welle wenn ihr Hunger habt!«
Die Haustür fiel ins Schloss. Man hörte den Wagen meiner Mutter. Wir waren allein.
Mir kam eine Idee: »Komm mit! Einen Teil der Geschichte solltest du besser mit eigenen Augen sehen.«
Mit diesen Worten schnappte ich mir die zwei CD-Rs samt Coderechner und zog Michi die Treppe abwärts in Richtung Arbeitszimmer meines Paps. Nach wenigen Minuten hatte ich den Rechner gestartet und das Versuchslogbuch aufgerufen.
»Lies selbst!«
Mit diesen Worten stand ich aus dem Chefsessel meines Vaters auf, platzierte Michi in selbigen und schob in vor den Bildschirm.
Michi begann zu lesen. Ich setzte mich ihm gegenüber auf einen der Besucherstühle und beobachtete ihn. Ich sah, wie seine Augen Zeile für Zeile aufsogen. Immer hektischer, nervöser, fahriger studierte Michi das Protokoll. Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn. Seine Lippen waren zu einer dünnen Linie zusammengepresst. Mit wilden Bewegungen bewegte Michi Maus und Scrollrad und blätterte von Bericht zu Bericht. Als er zur zweiten CD kam, wurde Michi blass. Seine Bewegungen vor Aufregung zittrig. Schließlich, nach mehr als zwei Stunden Textstudiums, warf er mir einen traurigen, mitfühlenden, aber auch fragenden Blick zu.
»Ja, es ist wahr. Ich war das Versuchskaninchen meines Vaters!«
»Du meinst, deine telekinetischen Fähigkeiten kommen von diesen Experimenten? Das steht hier aber nicht so drin. Danach war das Experiment doch gescheitert.«
»Das sagte Ralf auch.«
»Ralf? Was hat der denn damit zu tun?«
Michis Verstand arbeitete, in Gegensatz zu meinem, messerscharf. Ich hatte Ralf bisher nicht in Verbindung mit der PSI-Geschichte erwähnt. Michi kombinierte sofort richtig und wartete auf meine Antwort.
»Er ist auch so einer. So ein PSI-Mensch. Wenn er denn überhaupt ein Mensch ist ...«
»Ach?«, Michi wirkte nicht sonderlich überrascht, was mich überraschte.
»Allerdings sieht Herr Kleist die Sache ganz anders ...«
In dem Moment, in dem ich seinen Namen erwähnte, wurde mir mal wieder die ganze Ausweglosigkeit meiner Situation deutlich. Niedergeschlagen und ausgepowert ließ ich meine Schultern hängen und mich tiefer in den Stuhl sacken.
»Kleist?«
Ich nickte und begann diesen Teil der Geschichte zu erzählen. Michi hörte zu und ließ mich reden. Er unterbrach mich selten und dann auch nur, wenn ihm eine Sache nicht recht klar war, etwa wenn ich etwas schief erklärte oder von Voraussetzungen ausging, die er noch nicht hatte.
»Wollen wir nicht in der Küche weiterreden? Deine Mum sagte 'was von etwas ,Ungesundem`, dass wir uns in die Mikro werfen sollten!«
Ich setzte also meine Erzählung in der Küche fort und wir warfen zwei Tiefkühlpizzen in den Backoffen statt in die Mikrowelle. Während wir darauf warteten, dass sich der Käse an die Zubereitungsanleitung hielt und goldgelb zerlief und Blasen warf, lehnte ich am Kühlschrank und erzählte weiter. Michi saß auf einer der Arbeitsplatten und hatte wechselweise einen Blick auf mich und auf den Ofen gerichtet.
35 Minuten später waren die Pizzen fertig und ich immer noch am erzählen. Michi aß und schwieg, ich aß und nuschelte. Schließlich hatten wir unsere letzten Bissen mit einem Schluck Cola runtergespült, als auch meine Story zu Ende war.
Wir saßen am Esszimmertisch und schwiegen uns nachdenklich an.
»Du hast also Ralf den Laufpass gegeben?«
»Na ja, ich vermute mal, dass ich das hab'? Mehr oder weniger. Schließlich wollte er mich umbringen, oder?«
»Nein, von wollen kann keine Rede sein. Er sollte dich umbringen. Das hast du selbst so erzählt. Aber er hat es nicht geschafft. Gut für euch beide.«
»Ok, gut für mich. Aber für ihn ...!«
Michi lächelte mich ernst an: »Ich habe ihn erlebt. Ich habe mit ihm gesprochen ... Nein, nicht darüber! Sondern ganz allgemein. Übers Wetter, die Schule, unfähige Lehrer, über ihn, über dich. Ich denke ich habe etwas Menschenkenntnis ...«
»Na, ich weiß ja nich' Was war mit der grünhaarigen Tante in Paris letzten Sommer?«
»Ok, formulieren wir es anders. Mit meiner Menschenkenntnis liege ich meistens nicht daneben, Ok?«
»Ok!«
»Also ... Ralf ist das Beste, was dir je passieren konnte. Der Typ ist wirklich nett, sieht ganz gut aus. Natürlich reicht er nicht an mein Aussehen ran ...«
»Natürlich nicht!«, ich schüttelte mitleidig meinen Kopf. Michis Charakterfehler war eindeutig seine unendliche Bescheidenheit.
»Ralf passt zu dir! Und er liebt dich! Du solltest ihn sehen, wenn von dir gesprochen wird. Wie dann seine Augen funkeln. Und ...«, Michi senkte seine Stimme und sprach langsam und leise weiter, »du solltest ihn jetzt sehen! Dass du ihn zurückgewiesen hast, macht ihn fertig. Er versucht es zu verbergen, aber das gelingt ihm eher schlecht.«
Michi machte eine Pause und fuhr danach noch ein paar dB leiser fort: »Wenn er Erfolg gehabt hätte und du wirklich tot wärst ... Das hätte ihn zerbrochen. Es wäre auf einen seelischen Selbstmord rausgelaufen.«
»Hm ...«, Michi ergriff Partei für Ralf.
»Nix hm! Der Junge liebt dich! Verdammt!«, Michi wurde wieder laut. »Ist dir überhaupt klar, wie sehr dich dieser Mensch anbetet? Es bricht ihm das Herz, dass du ihn abweist! Und ich bin mir fast sicher, dass dir Ralf auch nicht völlig egal ist.«
Shit, nein, natürlich war er das nicht. Sonst hätten die Gedanken an ihn nicht dermaßen geschmerzt.
»Michael Müller, Sie sind ein Arschloch!«, mehr fiel mir im Moment nicht ein. »Du machst einem das Leben auch nicht viel leichter.«
Ich stützte meinen Kopf auf meinen Arm und blickte ernüchtert über den Esszimmertisch. Zwei leere, benutzte Teller, Pizzateigkrümel, schmutziges Besteck und zwei halbvolle Gläser Cola gruppierten sich zu einem Stillleben. Etwas prollig entwich mir ein sonorer und satter Rülpser.
Ich seufzte: »Sorry ... Und was soll ich jetzt deiner weltmännischen Meinung nach tun? Zu Ralf gehen und so tun, als wenn nix gewesen wäre?«
»Zu ihm gehen? Ja! So tun, als wenn nix gewesen wäre? Nein!«
»Du machst dir die Sache sehr einfach!«
»Die Sache ist einfach!«
»Knurrr!«
Es hatte sich schon wieder etwas Gas in meinem Magen angesammelt. Diesmal versuchte ich, die Sache geräuschloser abzuwickeln. Schließgeräusche an der Haustür kamen mir zu Hilfe und kündigten das Eintreffen meiner Mutter an.
»Hallo, Schatz! Ich bin wieder da!«, hallte es aus dem Flur. Und von nahem: »Und, habt ihr euch was zu Essen gemacht? Ah, ich seh' schon! Na, lasst mal alles stehen, ich räum das nachher ab.«
Ich sah Michi an. Michi sah mich an. Wir zuckten wechselweise mit unseren Schultern, grinsten uns begeistert an und waren uns einig, wieder nach oben in mein Zimmer zu gehen. Auf dem Weg dorthin stolperte ich, und das war wörtlich zu nehmen, über die Einkaufstüten meiner Mutter, die diese mitten im Flur stehen gelassen hatte. Ein paar Orangen, einige Dosen mit Kidneybohnen, eine Tüte Tiefkühlbrätchen und die Abendzeitung purzelten heraus.
»Mama! Musst du die Tüte mitten im Flur stehen lassen?«
Ich kämpfte mit dem ehemaligen Inhalt der Tüte, der auf Teufel komm raus nicht wieder in die selbige hinein wollte. Außerdem kämpfte ich mit weiteren Gasentwicklungen in meinem Magen. Dabei hatte ich nur eine Dose Cola getrunken.
»Oh, entschuldige. Ich war mit meinem Kopf ganz wo anders.«, schallte es diesmal aus der Küche.
Ich schnappte mir die Tüte, stopfte alles wieder herein und brachte sie zu meiner Mutter. Während Michi schon mal vorging, half ich noch kurz beim Auspacken. Wobei mir die Abendzeitung ein weiteres Mal entgegen fiel. Sie rutschte aus der Tüte, fiel von der Arbeitsplatte, auf der ich den Einkauf abgestellt hatte und landete auf dem Boden. Ich wollte die Zeitung gerade aufheben und wieder zusammenlegen, als mein Blick auf einen Artikel und ein Bild fiel.
Ich rülpste. Vor Schreck und vor Gas.
Kleist!
Etwas benommen hob ich das Printmedium auf, begann zu lesen und gleichzeitig in Richtung erster Stock zu meinem Zimmer zu laufen, wobei ich mir noch schnell eine Flasche stilles Wasser schnappte. Nicht nur, dass der Drank zum Aufstoßen nicht weniger wurde, mir war auch leicht gammelig. War die Pizza nicht mehr ganz in Ordnung?
Mein Mutter, verblüfft von meiner Reaktion auf die Zeitung, rief mir noch hinterher: »Was denn? Willst du mir jetzt beim Auspacken helfen oder nicht?«
»Später, Mumi!«
»Tssss, Kinder ...«
***
»Hör' dir das an. Das ist aus dem Wirtschaftsteil: ,Erneuter Schicksalschlag für NextChem ... Wie erst heute bekannt wurde, ist der Vorstandsvorsitzende der Chemiedesignfirma NxChem AG, Dr. rer. nat. Joachim Kleist, vorgestern in den späten Nachtstunden bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Dies ist der zweite Verlust eines hohen Funktionsträgers innerhalb von 6 Wochen. Trotz einer sofortigen ad hoc Meldung seitens des Unternehmens, dass das operative Geschäft von diesen Vorfällen nicht beeinflusst werden würde, sank heute die Aktie bereits im vorbörslichen Handel um 36 Prozentpunkte, worauf der Handel vorübergehend ausgesetzt wurde. Nachbörslich konnte der Wert einen großen Teil des Kursverfalls wieder gut machen. Analysten vermuten, dass eine unbekannte Investorengruppe ..., Kleist ist tot! Glaubst du an einen Unfall?«
Michi schüttelte den Kopf. Mir fröstelte. Außerdem war mir leicht übel. Wo war ich da nur rein geraten?
Shadowrunner
Worin ein Freund fast alles opfert und man nebenbei erfährt, dass es eine andere Seite gibt.
Außerdem hat unser Held erneut mit den Tücken einer feindlichen Umwelt zu kämpfen.
»Dieser Arsch wusste das!«
Das Kleist nicht mehr zu Aldi ging, ging mir nicht sonderlich nah. Dass mich aber Kriminalhauptkommissar Schulz für dumm verkaufte, machte mich wütend.
»Wie jetzt?«
Ich hatte gerade die Wasserflasche aus der Küche am Hals und trank einen riesigen Schluck.
»... Dieser Bulle von vorhin ...«
»Du meinst ,Dieser Polizist'«, nicht das Michi sonderlich viel Respekt vor der Staatsmacht hatte, aber sein Vater war selbst Polizist, Sonderdezernat Wirtschaftskriminalität, deswegen war er bei dem Wort »Bulle«immer etwas sensibel.
Mir war nicht danach auf Michis Animositäten einzugehen, dazu fühlte ich mich zu unwohl. Ein Ansatz von Kopfschmerz machte sich breit.
»Dieser Bulle hat mich vorhin über Kleist befragt. Er hat nicht ein Wort darüber verloren, dass dieses Arschloch tot ist.«
»OOPS!«, Michi traf es auf den Punkt.
»Ja, genau, OOPS! Schulz vermutet etwas. Und diese Vermutung hat etwas mit mir zu tun. Das gefällt mir nicht. Er hat auch schon merkwürdige Fragen zu meinem Vater gestellt. Er konstruiert einen Zusammenhang zwischen dem Tod von Kleist und dem meines Vaters. Und das schlimmer ist, er hat wahrscheinlich recht.«
»Du vermutest es geht um das PSI-Experiment, stimmt's?«
Ich war schon wieder am Wasser saufen -- trinken konnte man das nicht mehr nennen.
»... Ja, worum denn sonst? Das Experiment und insbesondere seine Ergebnisse. Hundertprozentig! Kleist hatte angedeutet, dass er nicht alleine ist, dass es Leute gibt, die hinter ihm stehen, und dass diese Leute weniger zimperlich sind als er es sei.«
»Klingt wie aus einem schlechten Film.«, Michi kratzte sich an seinen Kinn. »Und wer könnte das sein, der hinter Kleist steht ..., ähm stand?«
Ich zuckte mit den Schultern: »Keine Ahnung ...«, ich zögerte, teilweise, weil ich überlegte, teilweise, weil die leichte Übelkeit in eine starke Übelkeit übergegangen war, »wer weiß? Vielleicht die unbekannte Investorengruppe aus der Zeitung. Was weiß ich denn?«
Ich stand völlig neben mir. Mir war nicht nur speiübel. Ich fühlte mich auch seelisch angegriffen. In mir waberte eine Unruhe, eine Nervosität und Angespanntheit, dich ich nicht begreifen konnte, weil ich ihre Ursache nicht kannte. Zusammen mit meinem körperlichen Unwohlsein produzierte es Panik.
»Mensch, Michi, wo bin ich da bloß reingeraten? Sag' es mir? Bitte!«
Ich hockte in mich zusammen gesunken auf meinem Bett, die Arme auf die Knie gestützt, den Kopf nach unten hängend. Ich fühlte mich schlapp und matt. Ich war völlig fertig. Ich fing am ganzen Körper an zu zittern. Ich kam mir lächerlich, peinlich, ja geradezu peinlich vor, dermaßen die Kontrolle zu verlieren. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Es passierte. Einfach so. Ohne, dass ich es beeinflussen konnte.
Deswegen fuhr ich vor Schreck zusammen, als mich Michi vorsichtig umarmte.
»Hey, ist schon gut. Ich bin ja bei dir. Was ist los?«
»Shit, ich habe Angst, Michi.«, bibbernd ließ ich mich halten. Hoffentlich platzte jetzt nicht meine Mutter ins Zimmer.
»Tobi!«, Michi nahm meinen Kopf in seine Hände und richtete mich so aus, dass ich ihm in die Augen schauen musste. »Alles wird gut!«
Plötzlich stutzte Michi. Seine Stirn kräuselte sich und warf sich in Falten. Er sah mich besorgt an und tastete mich ab, insbesondere meine Wangen und Stirn.
»Mit dir stimmt etwas nicht. Du scheinst Fieber zu haben.«
Jetzt merkte ich es auch. Hitzewallungen, kalter Schweiß und Schüttelfrost. Ich bibberte. Die Übelkeit war fast an dem Punkt angelangt, an dem ich mich übergeben musste.
»Mir ist schlecht! Ich fühl' mich beschissen!«
»Wahrscheinlich die Pizza! Hast du auf das Haltbarkeitsdatum geschaut? Mein Gott, du brauchst Hilfe, du bist kreidebleich und ein bischen grün im Gesicht. Ich ruf einen Arzt.«, Michi schnappte sich eine Decke und legte sie um mich.
»Nein, keinen Arzt! Auf keinen Fall! Verstehst du mich? Auf keinen Fall einen Arzt! Das ist etwas anderes! Nicht die Pizza! Sonst müsstest du auch befallen sein. Wir hatten sie geteilt! Jeder eine Hälfte!«, ich wusste nicht wieso, aber ich wusste, dass mir kein normaler Arzt helfen konnte.
»Ruf eine andere Hilfe. Du weißt von wem ...«
»Ralf«, Frage und Antwort zugleich. Ich nickte. Mir war schwach, übel und tatterig. Ich hatte mächtig Probleme mit meinen Augen einen beliebigen Punkt zu fixieren, sprich, halbwegs geradeaus zu sehen. Langsam aber sicher begann sich die Welt leicht um mich zu drehen. Mir wurde schwindelig. Und so bekam ich auch nur am Rande mit, dass Michi mein Zimmer verlassen, Ralf angerufen und das Zimmer wieder betreten hatte.
»Ralf kommt sofort.«
***
Ralf braucht weniger als eine halbe Stunde zu mir. Nachdem Michi ihn angerufen hatte, war er mit seinem Fahrrad sofort aufgebrochen. Er muss wie ein Berserker gefahren sein, denn selbst wenn man schnell fuhr, brauchte man mindestens 40 Minuten für die Strecke.
Ich bekam von all dem natürlich nichts mit. Auch nicht, wie die beiden es geschafft hatten, meine Mutter aus der Sache raus zu halten. Ich dämmerte in einem merkwürdigen Fieberwahn halb wach halb ohnmächtig dahin, von dem nur unheimliche, dunkle Erinnerungsfetzen zurückblieben.
Mir war, als wenn es einen Moment gab, an dem Michi kurz davor war, die Nerven zu verlieren und doch meine Mutter und einen Arzt zu rufen. Auch, dass Ralf schließlich eintraf und sofort auf mich zustürmte, blieb mir schemenhaft in Erinnerung. Doch am Ende war ich völlig weggetreten.
Das Erste, was ich sah, als ich erwachte, waren die goldfunkelnden Augen von Ralf. Ein Ausdruck von Erleichterung war in seinem Gesicht. Aber auch ein Schatten dunkler Ahnungen.
Ich drehte meinen Kopf und sah, dass Michi neben mir lag. Für einen schrecklichen Moment wirkte er leblos und bleich.
»Michi! Was ist mit ihm ...?«, ich fuhr auf, dass heißt ich versuchte es, doch wurde ich von einem Schwächeanfall zurück aufs Bett geworfen.
»Es geht im gut. Er erholt sich.«
»Was hast du getan?«, meine wütende Reaktion ließ Ralf verlegen und traurig seinen Blick senken. Ich hatte ihn tief getroffen und so klang seine Stimme verletzt, ein klein wenig zumindest: »Ich habe getan, was getan werden musste.«
Ralf strich mir übers Gesicht und für leise und sanft fort: »Michi wusste, was ihm geschehen würde. Er wollte es. Er bestand darauf. Er hat dir das Leben gerettet.«
»Was?«, ungläubig sah ich zu Michi hinüber.
»Es geht ihm wirklich gut. Ich habe Lebensenergie übertragen. Das war es doch, was du wissen wolltest.«
Ich antwortete nicht. Das Thema gefiel mir nach wie vor nicht.
»Er wird es überstehen. Er wird sich erholen und wieder der Alte sein. Er meinte nur, dann wärt ihr quitt.«
Michi! Typisch! Ich hatte ihm bei dem Verkehrsunfall das Leben gerettet, aber musste er unbedingt das Gleiche für mich tun?
»So ein Arsch!«, lächelnd ließ ich meinen Blick auf Michi ruhen. »Was ist überhaupt passiert? War es doch die Pizza? Eine Lebensmittelvergiftung?«
Ralf wurde schlagartig ernst, seine Stimme hart: »Nein. Ein Telepath ist in dein Gehirn eingedrungen.«
»Vom Gedankenlesen wird einem schlecht?«
»Nein, er wollte deine Gedanken nicht lesen. Denn das hättest du sofort bemerkt. Er hat sich an deinen vegetativen Funktionen zu schaffen gemacht. Hast du mal etwas von Giftgas gehört?«
»Ja, natürlich, wer nicht? Aber, was hat das mit mir zu tun?«
»Manche Gase töten, indem sie verhindern, dass bestimmte Botenstoffe im Hirn abgebaut werden. Die Folgen sind Übelkeit, Sehstörungen, Nervenlähmungen, schließlich Atemlähmung und Herzstillstand. Kommen dir die Symptome bekannt vor?«
Ich nickte.
»Mit dir hat man etwas ähnliches versucht. Man hat ebenfalls das Gleichgewicht der Botenstoffe in deinem Hirn gestört. Ganz langsam, so, dass es wie eine Lebensmittelvergiftung aussah. Eine typische Mordmethode der Schattenläufer. Ziemlich heimtückisch. Normalerweise wird ein normaler Arzt gerufen, weil niemand etwas ahnt. Der Arzt stellt dann prompt die falsche Diagnose und therapiert zwangsläufig auch falsch. Da man später nichts Auffälliges findet, kein Gift oder so, wird man die Sache als zwar tragischen und geheimnisvollen, aber doch als natürlichen Todesfall abtuen.«
»Schattenläufer?«
»Es sind Assasin, Meuchelmörder, die für ... sagen wir, für die andere Seite kämpfen.«
»Für die dunkle Seite der Macht!«, ich äffte die Stimme Darth Vaders nach.
»Das ist nicht witzig!«, warum grinste Ralf dann.
»Und, warum versuchen sie es jetzt nicht weiterhin mich, dich oder Michi umzubringen?«
»Oh, dass hatten sie. Übrigens war es nur einer. Richte dich mal auf und sie dich in deinem Zimmer um.«
Vorsichtig setzte ich mich auf. Einmal war mir noch recht weich in den Knien und ich wollte nicht riskieren, wieder umzukippen. Zum anderen befürchtete ich, in einer Zimmerecke eine dunkle Gestalt mit schwarzen Umfang und diabolisch leuchtenden Augen zu entdecken. Beides traf nicht zu. Ich war kräftig genug und die Zimmerecken waren leer. Statt dessen schienen die Wände grünlich zu flimmern. Es war, als hätte jemand ein phosphoreszierendes Material auf die Tapeten gestreut.
»Ein PSI-Schutzschirm für uns ...«
»Aha ...«, was es nicht alles gab.
»Das ist auch der Grund, warum ich dir nicht mit meinen Kräften helfen konnte. Dich heilen und gleichzeitig den Schutzschirm aufbauen, wäre zu viel gewesen. Dafür ist Michi eingesprungen. Während ich Energie von Michi auf dich übertrug, hab ich mit meiner Kraft den Schirm aufgebaut und den Angreifer vertrieben. Wenn er es nochmal versucht, wird er sich ein paar Synapsen verbrennen. Schmerzhaft, aber nicht weiter schädlich, solange er es unterlässt, hier weiter einzudringen.«
»Hm, du siehst nicht aus, als wenn du mit der Lösung glücklich wärst.«
Ralf hielt seinen Kopf schief, legte sich neben mich mit dem Rücken aufs Bett, starrte an die Decke und seufzte: »Na ja, ich hätte genau so gut eine Leuchtreklame an euer Haus schrauben können: ,Psionisch geschützt von Ralf Antonides`. Wohlgemerkt mit hell, strahlenden Neonröhren!«
»Kannst du mir verraten, warum mich alle umbringen wollen? Erst du ...«
»Hey ... bitte ... lass das, ja?«
»... dann Kleist ...«
Ralf schwieg.
»... und jetzt deine Schattenfuzzies.«
»Schattenläufer.«, wurde ich verbessert.
»Wie auch immer. Meinetwegen auch Teppichläufer. Ich will nur eins wissen: Warum? Ich bin gerade mal ein 17 jähriger, mäßig begabter, mäßig beliebter, mäßig interessanter, schwuler Junge. Vor 2 Monaten war mein Leben zwar eher trüber bis beschissen, lief aber dafür in halbwegs normalen Bahnen ab. Jetzt sterben Leute um mich herum, Freunde nehmen Schaden, und mir will man permanent auch an den Kragen. Warum? Warum wollten zum Beispiel deine -- wie hießen die noch gleich? Wächter? -- Warum wollten diese Wächter meinen Tod? Wo sie doch angeblich die Guten sind. Ich meine, das vermute ich mal, weil ich dich zu den Guten zähle. Wer sind die? Und wer sind die Bösen? Und wie komm ich zu einem normalen Leben zurück?«
»Darf ich deine letzte Frage zuerst beantworten darf?«
»Wenn's hilft!«
»Du willst dein normales Leben zurück? Vergiss es!«
»Shit!«, nicht, dass ich Ralfs Antwort nicht vorher, und ganz ohne Gedankenlesen, gekannt hätte. »Deine Offenheit ist erfrischend!«
»Hey, Tobi! Was willst du von mir hören?«, Ralf wurde fast sauer. Seine Augen funkelten grün-weiß. »Das alles, was du in letzter Zeit erlebt hast, ein Traum war und nicht die Realität? Soll ich dir vorlügen, dass du ab sofort wieder dein normales Leben weiterführen kannst? Gut, da sind ein paar merkwürdige Kräfte hinzugekommen, aber was macht das schon. Willst du sowas von mir hören?«
Ich sah Ralf wütend an und wollte etwas sagen. Mein Mund öffnete sich, aber kein Laut kam hinaus. Ich hielt die Klappe und beschränkte mich darauf möglichst unwirsch und sauer drein zu schauen.
»Tobi ...«, Ralf seufzte. »Glaubst du, ich weiß nicht, was du gerade durchmachst? Glaubst du wirklich, du wärst der erste Mensch, der feststellen muss, dass er etwas anders ist?«
Was meinte er jetzt? Psi oder schwul?
»Beides!«, Ralf konnte definitiv Gedanken lesen. »Ich meine beides. Du bist schwul. Ok, möglicherweise ist das nicht so einfach und wird nicht von allen akzeptiert, auch wenn sie das Gegenteil behaupten. Aber, du bist nicht der Erste, nicht der Letzte und du bist vor allen Dingen auch nicht allein. Du hast Freunde. Du hast Michi, der alles für dich tun würde, und du hast auch mich. Und selbst, wenn du mich nicht mehr lieben kannst oder willst, was ich verstehen würde, so bin ich nach wie vor dein Freund.«
Kurze Pause zum Luftholen. Bevor Ralf weitersprach, sah er kurz zum friedlich schlafenden Michi rüber: »Und dann die andere Sache. Du besitzt diese PSI-Kräfte. Das ist ein Faktum, das sich nicht ändern lässt. Es sind Kräfte, von denen du nichts geahnt hast, die dir sogar Angst machen. Aber auch dabei stehst du nicht allein da. Mir haben meine Kräfte auch Angst gemacht. Eine Scheißangst! Was meinst du, wie man sich fühlt, wenn man plötzlich merkt, dass man die Gedanken seiner Mitschüler hören kann? Dass man hört, wie sie über einen denken. Ich sah nicht immer so aus wie jetzt. Ich war dick, hatte massenweise Pickel, war schüchtern und unsicher, trug eine fiese, fette Glasbausteinbrille und war, wie du, ein Außenseiter. Was denkst du, wie man sich fühlt, wenn man hört, wie einen die anderen verachten und hinter deinem Rücken auslachen? Was denkst du, wie man sich fühlt, wenn man schließlich unkontrolliert und aus purer Wut, ohne nachzudenken, jemanden seine Lebensenergie herausreißt, dass er ins Koma fällt? Denn genau so habe ich meine Kräfte das erste Mal erlebt. Nämlich als fast tödliche Waffe! Was denkst du jetzt?«
Ich konnte nicht denken. Nicht richtig. Ralf deutete Dinge von sich an, die ich vorher so noch nie gehört hatte. Ich wusste viel zu wenig über ihn und der Anschein trog. Traummann Ralf, die Ursache für schlaflose Nächte bei unserer weiblichen Schülerschaft und ebenso bei mir, war also nicht immer so ein Traumjunge gewesen. Er war mir ähnlicher als ich dachte. Die Art und Weise, wie er seine Kräfte entdeckt hatte, muss fürchterlich gewesen sein. Traumatisch.
»Ich weiß nicht, was ich überhaupt noch denken soll.«, ich kippte von Wut nach Resignation und war gespannt, zu welchen Stimmungsumschwüngen ich noch fähig war.
»Gut! Das ist ein Anfang.«, Ralf begann kryptisch zu werden. »Ich sag' es noch mal. Ich kann dir helfen, aber nur, wenn du es auch wirklich willst. Und, wenn du mir vertraust?«
Ralf vertrauen? Eine interessante Idee. Ich war hin- und hergerissen. Jetzt, wo mir Ralf seit Wochen das erste Mal wieder gegenübersaß, spürte ich erneut diese ultimative, erotische Ausstrahlung. Er war absolut mein Traumtyp. Er war einfach eine geile Schnitte. Peng! Was soll ich sagen? Es war so. Aber da war mehr. Er war nicht nur körperlich ein Traumtyp. Wäre es nur das gewesen, pure optische Anziehungskraft, ich denke ich hätte ihn aus meinem Hirn verdrängen können. Aber es war eben mehr an ihm dran. Ralf als Ganzes. Seine Art zu reden, seine Bewegungen, sein Blick, wenn er mich ansah. Sein Lächeln. Das magische Funkeln seiner Augen. Sein ganzes Wesen. Es wirkte merkwürdig vertraut und gleichzeitig fremd. Mir war, als wenn ich Ralf schon ewig kennen würde und gleichzeitig entdeckte ich ständig Neues an ihm.
Aber da war auch diese dunkle Seite. Eine tödliche Seite mit tödlichen Geheimnissen. Ralf war auch eine Art dunkler Prinz, oder besser, dunkler Ritter. So sehr mich diese Seite faszinierte, so sehr bereitete sie mir auch Furcht und Angst. Liebte ich ihn? Schwer zu sagen. Oder auch nicht. Ja, ich liebte ihn, sogar abgrundtief -- leider. Denn ich wusste nicht, was für eine Liebe dies sein würde.
»Liest du gerade meine Gedanken?«
»Nein`, Ralf lächelte. «Das brauch ich nicht. Ich kann mir denken, was du denkst. Du fühlst dich zerrissen. Du ...»
Ich fiel ihm ins Wort: »Liebst du mich noch?«
Ralf zuckte zusammen. Seine Augen funkelten blass silbern, irgendwo zwischen Hoffen und Bangen. Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Stumm, mit feucht glänzenden Augen und gesenkten Blick, gab mir ein Nicken die Antwort.
Wenn er hoffte, dass ich ihn in diesem Moment umarmen würde und seine Zweifel und Ängste zerstreute, dann musste er enttäuscht sein. Ich umarmte ihn nicht. Statt dessen strich ich mir übers Kinn, betrachtete aus den Augenwinkeln mein Zimmer, Michi, wie er auf meinem Bett lag und Ralf, wie er traurig-schweigend neben mir hockte.
»Das kann ja noch lustig werden ...«
Kartentricks
Worin man diverse Überlegungen zur Zukunft anstellt und bei einem altem Freund ungeahnte Qualitäten entdeckt werden.
»Gott verflucht! Welcher Panzer hat mich überfahren?«
Es war unverkennbar Michis Stimme, die, etwas krächzend und schwächelnd, das Ende seiner Bewusstlosigkeit verkündete.
»Ah, weilst du wieder unter uns?«
»Ich weiß nicht? Sagt ihr zwei es mir.«, Michi packte seinen Kopf und massierte seinen Schädel. »Verdammt, Ralf, was hast du mit mir gemacht! Mir tut jeder einzelne Knochen weh.«
»Das geht vorbei ...«, Ralf musterte Michi und nickte befriedigt, als er sicher war, dass alles in Ordnung war.
Etwas unsicher sah ich Michi an: »Danke, Alter!«
Der Angesprochene grunzte: »Vergiss es. Massier mir lieber mein Kreuz. Hölle tun die mir Knochen weh. Ich merke Stellen, von denen ich nie geahnt hätte, dass die weh tun können. Ralfi-Baby, mit dir sollte man sich wohl lieber nicht anlegen. Wer es trotzdem versucht, dürfte hinterher ziemlich gefickt sein.«
Ralf ging es gut. Nach seiner kultivierten Wortwahl zu urteilen, war er absolut der Alte. Den kleinen Gefallen ihm seine schmerzenden Knochen zu massieren, übernahm ich natürlich gern.
»Wie geht's denn jetzt weiter?«, diese Frage beschäftigte mich. Also, warum sollte ich sie nicht auch stellen?
»Was?«, kam es zeitsynchron von Ralf und Michael.
»Alles!«
»Was alles?«
»Na, einfach alles! Wie geht es jetzt weiter? Muss ich jetzt meine Sachen packen und vor meinen Verfolgern fliehen? Was ist mit dem Tod von meinem Vater und von Kleist? Wie geht es mit dem PSI-Kram weiter? Halt einfach alles.«
»Ach so ...«, Ralf schmunzelte verschmitzt. »Du gehst wieder zur Schule und lebst dein normales Leben weiter.«
»Wie bitte?«, ich wurde lauter. »Eben hast du mir hochdramatisch erklärt, dass ich sowas, wie ein normales Leben nicht mehr hätte ...«
»Hey, keep cool! Schön geschmeidig bleiben ...«, Stimme und Gestik passten zum Inhalt des Satzes.
»Ok ...«, ich wurde ruhiger. Meine Stimme ebenfalls: »Ganz, ganz ruhig. Was machen wir?«
»Nichts!«, Ralf hatte so ein bläuliches strategisches Funkeln in den Augen: »Wir lassen erstmal dein Leben so weiterlaufen wie bisher. Unauffällig. So, wenn nichts gewesen wäre -- nach außen! Nach innen ... Nun, wir brauchen Zeit. Du brauchst Zeit. Da du deine Kräfte beherrschen lernen musst. Wir brauchen Zeit, da wir erstmal rausbekommen müssen, was du eigentlich auf dem Kasten hast. Unsere lieben Feinde werden sich vorerst ruhig verhalten. Dank meines blödsinnigen weithin strahlenden Schutzschirms weiß jetzt wirklich jeder Aushilfstelepath, dass du nicht allein bist. Man wird dich vorerst nicht antasten und vorsichtig die nächsten Schritte planen. Das gibt uns immerhin etwas Zeit, um mehr über dich, deinen Vater und die Firma von Kleist raus zu bekommen. Denn das, hängt alles miteinander zusammen.«
Ralf überlegte einen Moment, bevor er lächelnd weitersprach: »Aber das weißt du ja alles schon oder vermutest es längst.«
***
Und so ging es weiter. Ralf und Michi besuchten mich von nun an regelmäßig. Die beiden versorgten mich wechselweise mit dem Schulstoff und dem aktuellen Klatsch aus unserer Bildungsanstalt. Ich wollte während meiner Abwesenheit nicht all zu viel verpassen. Weder vom Stoff noch vom dem, was sonst noch so los war. Während sich Michi sehr viel Mühe gab, mir den Stoff zu erklären, beschränkte sich Ralf darauf, die entsprechenden Wissenskomplexe in meinem Hirn freizuschalten. Hatte ich erwähnt, dass er mir ganze Bibliotheken von Enzyklopädien ins Hirn geladen hatte? Nicht? Ralf hatte. Und zwar noch während ich im Krankenhaus lag. Die Sache mit den Myriaden von Wissensfragmenten war quasi ein Megadownload an Daten, Fakten und Informationen. Aus allen Bereichen -- Kunst, Kultur, Wissenschaft, Technik, Sprachen -- hatte er mir Wissen in meinem Hirn abgelegt, aber leider auch den Zugriff darauf gesperrt.
Auf meine Frage, warum er mir nicht einfach alles zugänglich machte, meinte Ralf nur, dass ich das weder mental noch körperlich verkraften würde, mir außerdem pures Wissen sowieso nichts nützen würde, weil Wissen nicht gleich Verstehen sei (»Du wärst nur ein blöde babbelndes Lexikon.«), und ich schlussendlich ja nicht auffallen wollte. Denn wenn ich plötzlich der total wissende Eierkopf wäre, würde das auf jeden Fall auffallen. Ihm selbst seien, genauso wie mir, weitere Bereiche des Wissens in seinem Kopf verwehrt. Das sei sicherlich nicht sonderlich befriedigend, aber ich würde mich dran gewöhnen. Na, träum weiter, Baby!
Immerhin, die Zeit, die wir mit dem Lernen des Schulstoffs sparten, investierten wir in das Training meiner Fähigkeiten. Wobei Training es nicht richtig beschreibt. Ralf versuchte mit mir erst ein Mal zu erkunden, mit welchen Kräften ich überhaupt ausgestattet war.
Wie wir sehr schnell feststellten, war Telepathie nicht mein Ding. Ralf machte den berühmten Kartenversuch mit mir. Bei diesem Versuch geht es darum, Symbole auf Pappkarten zu »sehen«. Ralf hielt mir die Rückseite einer Karte entgegen und ich sollte sagen, was für ein Symbol sich auf dem Vorderseite befand, indem ich seine Gedanken las.
Es war der totale Reinfall. Mit weniger als einem halben Prozent lag ich weit unter dem statistischen Durchschnitt, den man schon durch pures Raten eigentlich erreichen müsste. Völlig überraschend entpuppte sich Michi, der nur aus Spaß am Experiment teilnahm, als hellseherisches Talent. Er erreichte eine erstaunliche Trefferquote von fast 80 Prozent. Ralf war überrascht.
»Das ist seltsam. Ich müsste eigentlich spüren, wenn Michi Gedanken lesen könnte, aber ich spüre nicht das Geringste. Das ist sehr, sehr merkwürdig.«
Michi grinste wie ein Honigkuchenpferd und ich ahnte auch wieso. Seit Ralf und ich uns intensiv mit dieser PSI-Geschichte beschäftigten, drohte Michi etwas ins Abseits zu geraten. Es tat mir leid, denn dafür war mir Michi ein zu wichtiger Freund. Mit der überraschenden Entdeckung von Michis vielleicht vorhandenem Potential war dies kein Thema mehr. Ganz im Gegenteil. Michi bemerkte es nicht; ich bemerkte es sofort. Ralf beobachtete ihn. Wenn er Michi bisher wie einen guten Freund behandelt hatte, und das tat er, dann behandelte er ihn jetzt noch ein klein wenig aufmerksamer. Dabei war Michi aus einem ganz anderen Grund anwesend. Ich wollte einen Anstandswauwau bei mir haben. Ralf und ich allein zusammen, das wäre für mich eine Situation mit zu vielen Unbekannten gewesen.
Rein aus Spaß, probierten wir den Kartenversuch auch mit Ralf. Ich nahm die Karten auf und Ralf sagte das Symbol. Meistens sogar Sekunden, bevor ich selbst erkannt hatte, um was für ein Symbol es sich überhaupt handelt. So gesehen erreichte Ralf 110 Prozent. Ralf war ein Telepath, ganz eindeutig.
»Wie stark bis du wirklich?«, ich war neugierig.
Ralf wiegte seinen Kopf hin und her, gab aber keine Antwort: »Michi, misch bitte die Karten!«
Michi zuckte mit den Schultern und mischte die Karten.
»Jetzt gib sie bitte Tobi.«
Ich hielt die Karten in der Hand, die oberste Karte lag noch verdeckt auf dem Stapel.
»Ein Kreis.«
Ich hob die erste Karte auf: ein Kreis.
»Drei Wellenlinien.«
Drei Wellenlinien.
»Ein Dreieck.«
Und natürlich ein Dreieck. Ralf sagte jede Karte richtig voraus und das, bevor ich sie vom Stapel abhob und ansah.
»Ist das ein Trick? Oder hast du einen Röntgenblick?«
»Nein, ich kann in deinem Hirn das Bild der Karten sehen, bevor du sie abgehoben hast. Ich kann sehen, was du sehen wirst.«
»Wow!«, Michi mischte sich ein. »Kannst du mir dann nicht sagen, welche Aufgaben morgen in der Matheklausur dran sein werden?«
Ralf schüttelte den Kopf und lächelte: »So funktioniert das nicht. Schön wär's. Das funktioniert nur so für ein paar Sekunden in die Zukunft. Je weiter ich versuche voraus zu sehen, desto mehr Möglichkeiten kann ich sehen. Die Zukunft steht nicht fest. Die Reihenfolge der Karten stand fest, da du sie gemischt hast. Und da ihr beiden wissen wolltet, wie der Versuch ausgeht, gab es wenige alternative Varianten der Zukunft.«
Dieses Konzept musste ich erstmal verdauen. Hätte ich mich spontan entschieden, eine Karte nicht aufzuheben, dann ... Ich bekam Kopfschmerzen und überließ das Denken anderen.
Zum Schluss mischte Michi die Karten erneut und hielt nun Ralf die Rückseiten hin. Er wollte wissen, wie gut Ralf Michis Gedanken lesen konnte. Wenn Michis 80 Prozent nicht schon merkwürdig genug waren, dann war das Ergebnis dieses Versuches es auf jeden Fall. Ralf erreichte bei Michi gerade mal 45 Prozent. Weit mehr als der statistische Durchschnitt (es gab 10 verschiedene Symbole), aber deutlich weniger, als es bei Ralfs Fähigkeiten sein dürfte.
»Er blockt mich ab und gleichzeitig auch nicht. Ich spüre nichts. Eine mentale Barriere würde ich sofort merken. Aber bei Michi ist es so, als wenn ... tja, als wenn die Karten leer wären. Michi, du bist unheimlich.«
»Wieso? Ihr seid doch die PSI-Fuzzies? Ich mach doch nur mit, weil ich neugierig bin.«
»Du irrst. Du hast auch Talente, allerdings habe ich keine Ahnung was für welche.«
Und sowas von Ralf?
Der erste Nachmittag, der der Erkundung meiner Fähigkeiten dienen sollte, endete also mit einer handfesten Überraschung. 2:0 für Michi.
Die Englischstunde
Worin man den Unterricht verdöst dafür aber unerwartet zu einer adelnden Einladung kommt.
Der Arzt, der meinen Arm nach meinem Klinikaufenthalt ambulant weiter behandelte, war mit dem Heilungsprozess meines Arms sehr zufrieden. Etwas anderes hätte mich auch überrascht, schließlich war das Teil ja längs von Ralf geheilt worden. Da aber nicht sein kann, was nicht sein darf und die abrechnungsfähigen Behandlungen noch nicht voll ausgeschöpft waren, galt mein Arm weiterhin als pflegebedürftig. Ich wurde mit Attesten und Bescheinigungen eingedeckt, die der Arzt selbstverständlich der Krankenkasse in Rechnung stellen konnte, und durfte eine Krankengymnastin aufsuchen, die die absolut notwendigen Rehamaßnahmen durchführen sollte.
Viel früher als erwartet fand ich mich jedenfalls in der Schule wieder. Ralf, Michi und ich hatten nur noch Zeit für einen weiteren PSI-Trainingstermin bei mir geschafft, bevor ich wieder am öden Schulunterricht teilnehmen musste. Dieser letzte Termin verlief für uns alle ergebnislos. Es ging um Teleportation. Unter Mutanten ein wohl sehr begehrtes, aber auch extrem seltenes Talent. Es gibt zwei Varianten. Teleportation von Dingen und Teleportation der eigenen Person.
Ralf winkte gleich ab und meinte nur: »Ich hab's schon so oft versucht ... Ich bekomm davon nur Kopfschmerzen.«
Diese Erfahrung musste auch Michi machen. So sehr er hoffte, sich aus meinem Zimmer in sein Zimmer teleportieren zu können, so sehr benötigte er später Kopfschmerztabletten.
Mein erster Versuch war ein Zuckerwürfel, den ich von einem Ende meines Schreibtisches zum anderen Ende teleportieren wollte. Ich konzentrierte mich. Ich fokussierte meine Gedanken. Ich baute eine Energiekonzentration auf und ...
Peng! Der Zuckerwürfel zerplatzte zu feinstem Puderzucker und Michi, Ralf und ich hatten schneeweiße, zuckerverkrustete Gesichter.
»Ok, dass war Grobschnitt!«, Ralf machte sich eine Notiz in seinem Kopf, »Keine Teleporter, nur ein Zuckerwürfelkiller. Tobi, wenn du mal später einen Job brauchst, versuch es doch mal in einer Puderzuckerfabrik.«
»Sehr witzig!«, ich wollte gerade schmollen, als Ralf mir mit seiner Zunge zärtlich den Zucker von der Wange schleckte: »Hmm, du bist süß!«
»Warte ...«, ich zahlte es ihm heim, indem ich seine Nase abschlabberte.
Ralf nahm sich nun im Gegenzug meine Nase vor. Ich seinen Mund und ...
Wir stocken und erstarrten. Wir waren dabei, uns gegenseitig näher zu kommen.
»Ihr braucht wegen mir nicht aufzuhören.«, Michi schielte scheinheilig in die Ecke. »Ich gehöre hier zwar nur zur heterosexuellen Minderheit, aber ich bin ja tolerant. Also lasst euch nicht abhalten.«
Ralf blickte mich hoffend und bangend an. Innerlich ballte ich eine Faust. Ja, Ralf, ich will dich. Ich könnte über dich herfallen. Jetzt, sofort! Ich könnte dir die Kleider vom Leib reißen und...
»Ich wasch mir nur kurz das Gesicht ab.«, ein anderer Teil meines Hirns, ein Teil, den ich verfluchte, hatte die Notbremse gezogen. Ich ging ins Badezimmer und wusste, dass ich einen enttäuschten und frustrierten, schnuckeligen Jungen zurückließ.
***
»Ach, schön Sie wieder bei uns zu haben, Tobias.«
Frau Dr. Hildegard Engel, unsere Lehrerin im Grundkurs Englisch, begrüßte mich persönlich und erreichte damit, dass sämtliche Augen sich sofort auf mich richteten. Ich hätte mir eine weniger geräuschvolle Wiederkehr bevorzugt, aber diese Hoffnung wurde soeben auf pures Wunschdenken reduziert.
Ich nuschelte etwas in der Art: »Danke, Frau Dr. Engel«(Ihren Titel zu vernachlässigen führte zu Abzügen in der B-Note) und schlüpfte, verschmitzt lächelnd, auf einen Platz in den hinteren Bänken.
Der Unterricht lief ereignislos an mir vorüber. So dachte ich jedenfalls. Der elektronische Pausengong war noch nicht verklungen, als zwei Mitschüler auf mich zusteuerten. Genaugenommen waren es Mitschülerrinnen; fantastische junge Frauen, Mädchen konnte man sie unmöglich mehr nennen, nach denen sich jeder Hetero ein Körperteil für ausreißen würde.
»Mensch, Tobi!«, Anja, eine der beiden, sah mich mit einem bewundernden Blick an, »Ich wusste gar nicht, dass du so gut Englisch kannst. Man, du hast die Engel ja mächtig beeindruckt!«
Wovon sprach sie? Ich sah sie fragend und leicht genervt an: »Was? Hä, ich ...Wie jetzt? Verarscht mich nicht ...«
»Hey, jetzt stapelst du aber tief! Als dich vorhin die Engel meinte beim Dösen erwischt zu haben ...«
»Hä?«, ich verstand immer noch nicht. Ich konnte mich nicht mal erinnern, dass mich die Engel überhaupt angesprochen hatte. Genaugenommen konnte ich mich an eigentlich nichts aus dem Unterricht erinnern. Nur dass ich da war und leise vor mich hingedöst habe.
»Na, du hast doch im absolut perfektesten Englisch die Schreckschraube zugetextet.«
»Hab ich?«
»Ja! Hast du!«, Kirsten, die andere Traumfrau: »Ich hab' ja gesagt, der hat das gar nicht gemerkt!«
Der letzte Satz ging an Anja, die sich wieder mir zuwendete.
»Ich wollte dich noch etwas fragen ...«, mich? Schreck lass nach. Frauen wie Anja und Kirsten wollten mich noch nie etwas fragen. Was hatte ich verbrochen. Und warum schaltete Anja auf Männchenlockmodus. Provozierender schüchternen Blick nach unten, etwas unsicher den Kopf wiegend: »Ich wollte dich fragen, ob du nicht Lust hättest ... Ich geb' am Freitagabend 'ne Party und wollte fragen, ob du nicht auch kommen willst?«
Ich? Sie konnte unmöglich mich meinen. Oder doch?
»Du willst mich einladen?«
Wollten die beiden Hühner mich verarschen? Einem Typen wie mir Hoffnungen machen und wenn ich dann ja sagen würde, mich auslachen und sagen: »Du hast doch nicht wirklich gedacht, dass ich einen Warmduscher wie dich einlade?«Allerdings war weder Anja noch Kirsten der Typ für solch eine Verlade. Die gehässigen Schlampen waren völlig andere.
»Ähm ... Also ... ich weiß nicht, ob ich sollte.«, ich fühlte mich natürlich geschmeichelt, keine Frage, aber auf der anderen Seite, es waren zwei Mädels und ich hätte einen Besen gefressen, wenn die zwei nicht gerade auf Männerfang waren. Anja war es auf jeden Fall, sie war hinter mir her. Bei Kirsten war ich mir nicht sicher. Sie schien mir Sympathie entgegen zu bringen, aber in letzter Instanz war eine gewisse Zurückhaltung zu spüren.
»Och, bitte, Tobi! Ich weiß, wir haben früher nie viel Kontakt miteinander gehabt ...«, stimmt, hatten wir nicht. Ich war schließlich Luft für euch. Reste meiner alten Verbitterung konnte ich nicht unterdrücken. Unwillkürlich versteifte ich mich und nahm Abwehrhaltung ein.
Frauen, sie wittern sowas sofort. Anja registrierte, wahrscheinlich total unbewusst, dass ich begann zu blocken und veränderte sofort Gestik und Sprache: »Ich weiß, wir waren nicht immer nett zu dir. Aber jeder macht mal Fehler und es war ein Fehler, dich nicht schon früher kennen zu lernen. Bitte komm doch ...«
Hilfe! Was soll ich mit einem Mädchen? Anja war nett. Eine wirklich tolle Frau. Wenn ich ein Sexist wäre, dann würde ich sagen, sie vereinte drei absolut diametrale Gegensätze in sich. Sie war eine Frau, sah geil aus und war intelligent. Aber glücklicherweise bin ich ja kein Sexist. Mit dieser Feststellung hatte ich die mir selbst gestellte Frage immer noch nicht beantwortet. Was sollte ich mit einer Frau? Ich war schwul. Ich hatte sogar eine Beziehung. Die war zwar komplexer als erwartet, und nahm sich im Moment eine Auszeit, aber latent war sie vorhanden.
Anja wartete immer noch auf eine Antwort.
»Ich bin schwul!«
Hatte ich das wirklich gerade gesagt? Ich war mir nicht sicher.
Ich sah Anja an.
Ich hatte es gesagt. Wie konnte das denn passieren?
»Nein, verdammt, dass darf nicht war sein!«
Wo es schon raus war, warum leugnen: »Doch Anja, wirklich. Ich find dich total nett. Du bist eine fantastische Frau, aber ... Ich bin schwul!«
Triumphierendes Lachen von der Seite. Kirsten: »Ich hab' es dir gesagt! Anja, hab' ich es dir nicht vorher gesagt?«
Anja regelrecht zerknirscht: »Ja, hast du. Verdammt, warum müssen die niedlichen und intelligenten Kerle immer schwul sein?«
Ich hakte mit dem rechten Zeigefinger hinter den Kragen meines T-Shirts, um etwas mehr Luft zu bekommen. Mir wurde nämlich warm und mein Kopf wohl heftig rot.
»Tobi, oh, sorry. Es muss dir nicht peinlich sein. Ich hab' mich blamiert dich anzubaggern.«
»Nein hast du nicht. Ich ...«
Anja wechselte erneut ihre Stimmung. Zuerst knurrte sie Kirsten an: »Freu' dich nicht zu früh! Wir werden noch sehen, ob du mit deinem Typen mehr Glück hast.«
Dann wandte sich Anja wieder mir zu. Den Männerjagdmodus hatte sie abgeschaltet. Sie war jetzt deutlich aufgeräumter, aber immer noch sehr freundlich, eigentlich sogar freundlicher als vorher. Als sie mit mir sprach, war das so, als wenn sie mit einem Freund und nicht mit einer potentiellen Sexobjekt sprach: »Kommst du trotzdem? Ich würde mich wirklich freuen. Hey, und wenn du einen Freund hast, bring ihn mit. «
Warum eigentlich nicht? »Ich komme gern und werde vielleicht auch jemanden mitbringen.«
Anja und Kirsten wollten noch unbedingt von mir erfahren, wer es denn sein würde, aber ich sagte nichts. Zum einem wusste ich nicht, ob Ralf überhaupt Lust hatte mit zu kommen. Zum anderen hing mir unsere Beziehung einfach noch zu sehr in der Luft, als dass ich wusste, ob ich ihn überhaupt dabei haben wollte.
»Sag' mal, dein Freund Michi, ist nicht auch schwul, oder?«
Die, die dies fragte, war Kirsten.
»Nein, ist er nicht. Michi ist einhundertzehnprozentig hetero!«
Für ihren triumphierenden Blick erntete Kirsten von Anja einen Rempler in die Seite. Aber Kirsten war noch nicht fertig.
»Ist er ... Also, hat er ... Hat er gerade eine Freundin?«
»Nicht dass ich wüsste. Doch muss ich dich warnen. Michi ist nicht der Typ für was Langfristiges.«
»Oh, dass lass mal meine Sorge sein.«
Die Frau machte mir Angst. Sie war der Typ, bei dem man sich ernsthafte Sorgen um Michi machen musste.
***
»Sag' mal, was hast du eigentlich mit mir gemacht?«
Ich war auf dem Weg zum nächsten Unterrichtsraum, als ich Ralf entdeckte. Ich packte ihm am Kragen, zog ihn in eine weniger frequentierte Ecke des Ganges und drückte ihn gegen die Wand.
»Was meinst du?«
»Dieses Lexikon in meinem Kopf. Ich soll vorhin meine Englischlehrerin vollgetextet haben. Im perfektesten Oxford-English. Die Alte soll völlig sprachlos gewesen sein. Und das Beste: Ich hab' davon rein gar nichts mitbekommen. Mir ist, als wenn ich die ganz Stunde durchgedöst hätte.«
Ralf nahm meine Hand von seiner Schulter, lächelte mich entwaffnend süß an, funkelte silber-blau mit seinen Augen und meinte: »Tja, dann muss ich dein Hirn noch etwas umprogrammieren.«
»Wie bitte? Du willst was?«, ich fand den Gedanken das jemand an meinem Hirn rumprogrammiert etwas beunruhigend.
»Keine Panik. Es ist nur eine kleine Einstellung.«, Ralf sah mir direkt in Augen. »Ich könnte dir nie etwas Böses antun.«
»Ach nein?«
»Grrr! Ich könnte dir nie wieder etwas Böses antun. Ok? Es geht nur um Folgendes. Das Wissen in deinem Hirn ist so konfiguriert, dass es dir zugänglich wird, sobald das Thema gelernt werden soll. Zum Beispiel in Physik. Ihr nehmt Schwingungsgleichungen durch und im gleichen Moment wird das dazugehörige Wissen auch in deinem Schädel freigegeben. Dosiert freigegeben. Offensichtlich stimmt die Dosierung nicht ganz und es kommt zu viel Wissen auf einmal. Um das zu verarbeiten, isoliert sich dein Bewusstsein von der Realität und deine autonomen Hirnfunktionen übernehmen. Deswegen hast du von all dem auch nichts mitbekommen.«
»Kannst du das ändern?«
»Klar. Sofort ...«, Ralf konzentrierte sich. Das Funkeln in seinen Augen wurde stärker, leuchtender, faszinierender. Die Strahlen schienen aus seinen Augen herauszuschießen und mich zu durchdringen. Für einen Moment löste sich die Realität auf und wir verwandelten uns in zwei kristallene Körper. Leuchtende und funkelnde Sterne umkreisten uns. Mit einem Plopp kehrte die Wirklichkeit zurück.
»So, dass müsste passen. Die nächste Stunde haben wir zusammen. Ich werd' auf dich aufpassen, dass du nicht wegdöst.«
»Ich bin dir ja sowas von dankbar!«, ich grinste Ralf provozierend an, blinzelte frech mit meinen Augen und ließ die Bombe platzen, »Ach ja, noch eine Kleinigkeit: ich wurde von Anja am Freitag zu einer Party eingeladen«
» Der Anja?«, Ralf zog seine Augenbrauen hoch. Anja war auch außerhalb heterosexueller Kreise ein Begriff.
»Genau, der Anja. Sie findet mich süß!«
»Bist du ja auch.«, Ralf, frech grinsend. »Die Frau hat Geschmack. Und gehst du hin und wirst ihr Herz brechen?«
»Das mit dem Herz ist schon passiert. Ich weiß nicht, wie das passiert ist, aber ich hab' einfach gesagt: ,Ich bin schwul!`.«
»Cool!«, Ralfs freches Grinsen machte echter Verblüffung Platz. »Und, wie hat sie es aufgenommen?«
»Sie war enttäuscht.«
»Aus ihrer Sicht verständlich ...«
»Aber ich soll trotzdem kommen. In Begleitung ...«
Nicht für das Leben, für die Schule lernen wir
Worin Ralf sich verdrückt, eine unerwartete Hand zur Schulter greift, und unser Held fast wieder für Aufsehen sorgt.
Am Ende erntet er aber noch eine Sechs.
»In Begleitung?«, Ralfs Augen schimmerten rot.
»Von weiblicher Seite wurde vermutet, dass ich über einen Freund verfügen könnte und den dürfe ich durchaus mitbringen.«
»Hast du was von mir gesagt?«, Ralf mit immer noch rot leuchtenden Augen.
»Nein ...«, sagte ich gedehnt und sag Ralf fragend an. Sein Ton gefiel mir nicht. »Ich habe nichts gesagt. Darf ich denn nicht?«
»Das musst du schon selbst wissen ...«, Ralf klang sehr merkwürdig. Seine übliche Fröhlichkeit war verschwunden. Er macht auf mich einen gleichzeitig gereizten und traurigen Eindruck.
»Was denn? Hab' ich irgendwas Falsches gesagt? Hab' ich irgendwas falsch gemacht?«
Ralf schwieg und starrte mich nur mit zusammengepressten Lippen und mit gekräuselter Stirn an.
»Ralf, verdammt, was ist?«, ich war fast am verzweifeln. Eben war er noch gut drauf und jetzt so ein Absturz?
»Wenn du das nicht weißt, kann ich dir auch nicht helfen ...«
Er drehte sich um und rannte weg. Ralf rannte weg! Ich konnte es kaum fassen. Ich wollte ihm gerade hinterrennen, als sich eine Hand auf meine Schulter legte und mich nicht nur fest hielt, sondern auch herumdrehte: »Verdammt! Welcher Idiot ...«
Direktor Baumann hatte sich vor mir aufgebaut: »Tobias, Tobias, Tobias ...«
Herablassend, gönnerhaft, tief enttäuscht, seufzend. All dies vereinte H.W.B. in der dreifachen Wiederholung meines Namens.
»Hatte ich Sie nicht gebeten sich anzupassen? Sich in unsere Schulgemeinschaft zu integrieren? Empfinden Sie sich denn gar nicht als Teil, dieser ...«
Oberstudiendirektor Heiner W. Baumann ließ das letzte Wort unausgesprochen, als wenn es etwas Edles, Heiliges ja geradezu Göttliches wäre, dass seinen Glanz verlieren würde, wenn man es wahrlich aussprach. Stattdessen formten seine Hände eine Geste, als wenn er eine Kugel oder Sphäre umfassen wollte, um mir die Gesamtheit dieser sakralen Institution namens Penne zu verdeutlichen.
Ich war im falschen Film. Ganz eindeutig. An diesem ersten Schultag liefen mir nur Spinner und Bekloppte über den Weg. Erst die Engel, dann Anja und Kirsten, der auskeksende Ralf und als Sahnehäubchen auf dem Kuchen auch noch H.W.B.
»Herr Baumann, ich weiß nicht was sie meinen? Ich bin heute das erste Mal wieder hier.«
»Ja, ja, Sie waren krank. Sie hatten sich den Arm gebrochen. Oder sollte man besser sagen, ihnen wurde der Arm gebrochen?«
Ich schwieg. Ein Fehler, ich weiß. Aber was sollte ich sagen?
»Ah, ich sehe ich habe den Nagel auf den Kopf getroffen. Lassen sie sich das eine Warnung sein! Wer Gewalt sät, wird Gewalt ernten. Das haben Sie jetzt am eigenen Leib erfahren. Mensch Junge! Geh' in dich!«, Baumann schlug mir aufmunternd auf die Schulter. Es tat weh, »Du bist doch nicht dumm! Also, pass dich an und alles wird gut!«
Sprachs und stampfte von dannen. Ich stand da und fragte mich, was das nun wieder sollte. Ich wusste, dass ich sauer war. Baumann hatte es wieder fertiggebracht, Opfer und Täter zu vertauschen. Im Geiste schrie ich ihm daher hinter: »Ich war das Opfer, Sie Vollidiot! Ich!«
Schade, dass ich nicht über Ralfs telephatische Fähigkeiten verfügte, dann hätte ich es Baumann wohl ins Gehirn meißeln können.
In diesem Moment gongte der elektronische Gong. Die nächste Stunde fing an und ich würde, zwei Trakte entfernt vom Kursraum, zu spät kommen. Na Klasse!
***
»Direktor Baumann hat mich ...«, möglichst unauffällig war ich zur Klassentür reingeschlüpft und bin trotzdem frontal auf den vernichtenden Blick Hans-Peter Jenninger gelaufen. Unser Lateinpauker war ein absolutes Arschloch. Er war so ein Typ, der felsenfest davon überzeugt war, dass seine sprachwissenschaftlichen Fähigkeiten mit der Tätigkeit als Lehrer einer gymnasialen Oberstufe total vergeudet wurden. Entsprechend war sein Unterricht: unfair, dogmatisch, zwanzig Stufen und mehr zu schwer und tödlich langweilig. Wäre Latein nicht Wahlpflichtfach und eine Zwangsläufigkeit bei bestimmten Fächerkombinationen, er hätte keine Schüler gehabt. Ich hatte vom Bruder einer Mitschülerin gehört, der bei Jenninger auf 7 Punkte stand und quer in den Lateinleistungskurs gewechselt war. Dort stand er dann bei 14 Punkten.
Jenningers Waffen waren seine Augen und Blicke. Sie konnten zuschlagen wie Peitschen. Sie konnten abstrafen, abkanzeln, demütigen und herabsetzen. Jenninger war ein Arsch.
Meine Entschuldigung für mein zu spät kommen wurde mit einem Knurren und einem moderat bösartigen Blick geahndet. Mir war sofort klar, dass das dicke Ende noch nachkommen würde.
»Tobias, wo Sie schon so schön ihr Textbuch aufgeschlagen haben, könnten Sie doch gleich mal den nächsten Absatz übersetzen.«
Er sagte Absatz! Nicht Satz! Mir lief es heiß und kalt über den Rücken, als ich den Absatz sah. Es war ein Absatz, für den wir normalerweise eine ganz Unterrichtsstunde benötigen würden. Der Arsch wollte mich also die kompletten 45 Minuten foltern.
Unsicher sah ich mich um. Die Blicke meiner Mitschüler sprachen eine deutliche Sprache: »Das arme Schwein!«
Ich wollte mich gerade wieder dem Text zuwenden, als ich entsetzt feststellte, dass Ralf fehlte.
»Tobias, wir warten!«
Jenninger ließ mir keine Zeit, darüber weiter nachzudenken. Ich zwang mich, meinen Kopf wieder dem lateinischen Text zu zuwenden. Und während meine Gedanken noch völlig auf Ralf fixiert waren, begann ich zu lesen. Es war bei uns üblich, dass wir zuerst den Text auf Latein vorlasen, wobei Oberarschloch Jenninger penibelst darauf achtete, dass jede Betonung auch korrekt gesetzt wurde.
»Auch wenn man bei eurem Niveau keine Wunder erwarten kann, so sollte ein Zuhörer doch wenigstens ansatzweise das Gefühl bekommen, ihr würdet verstehen, was ihr vorlest«, dies waren Jenningers Worte. Wobei es noch eine der freundlicheren Formulierungen war. Jenninger wurde nicht müde, uns regelmäßig unsere Inkompetenz und Unfähigkeit zu attestieren.
Ich war gerade mit dem letzten Satz des Absatzes fertig, als mir eine lauter werdende Unruhe im Raum auffiel.
Ich sah mich fragend um. Ich sah meine Mitschüler mit entgleisten Gesichtszügen zurückstarren. Ich sah zu Jenninger und Jenninger sah mich wiederum mit einer Mischung aus Verzückung und Entsetzen an.
»Hab' ich etwas Falsches gesagt?«, ich verstand den Grund für die Aufregung nicht. Wuchsen mir Antennen aus dem Kopf? Hatte ich ein Schild um mit der Anschrift: »Achtung Alien! Sofort Fox Mulder rufen!«
»Nein, deine Übersetzung war ...«, Jenninger sprach leise und zögerlich. »Sie war ... perfekt.«
Meine Übersetzung? Oh, nein, bitte nicht schon wieder. Ralfs Abstimmung meines Hirns war wohl nicht ganz perfekt. Ich begann zu ahnen, was passiert war. Ich hatte den Text vorgelesen -- auf Deutsch. Ich hatte ihn während des Vorlesens übersetzt. Einfach so.
»Entschuldigen Sie, Herr Jenninger, aber ich habe mich während meiner Abwesenheit mit dem Stoff beschäftigt. Ich erkannte den Text und hab' mich an ihn erinnert.«
Nur nicht auffallen. Ein Desaster am Tag reichte. Es genügte, dass ich im Englischunterricht schon aufgefallen war. Eine Erfahrung hatte ich in meinem bisherigen Schülerleben verinnerlicht: Lehrer hassen schlaue Schüler!
In den unteren Klassen galt meine These nicht ganz so krass. Aber seit der Oberstufe war es völlig klar: Ein Schüler durfte niemals offen zeigen, dass er wirklich etwas auf dem Kasten hatte, denn unser Lehrkörper bestand aus haufenweise verkrachten Existenzen, die konkurrierende Intelligenz als eine direkte Bedrohung ihrer Position empfanden. Sie fürchteten die Kontrolle über uns zu verlieren und setzten daher alles daran, uns möglichst klein zu halten.
Wie hatte es noch unser scheidender Direktor, Baumanns Vorgänger, so treffend ausgedrückt? »Unsere Schülerschaft sollte so gepflegt sein, wie ein englischer Rasen.«
Genau, alles was aus der Schnittlinie herausragte, wurde umgenietet.
Jenninger war der typische Vertreter dieser Gattung Lehrer. Deswegen war es auch so überaus wichtig, dass er eine für ihn plausible Erklärung für meine plötzlichen Übersetzerqualitäten erhielt. Und zwar eine, die sein Weltbild vom kleinen, mäßig begabten Tobi wieder herstellte.
Meine Erklärung schien Jenninger zufrieden zu stellen, jedenfalls lichtete sich seine Mine und sein übliches penetrantes, gehässiges Grinsen kehrte zurück: »Na, ich hatte mich schon gewundert, woher ihre plötzliche Begeisterung für die Lateinische Sprache gekommen war. Nun, das gibt dann wohl ein ungenügend!«
»Ungenügend?«, Jenninger hatte wohl nicht alle Tassen im Schrank.
»Natürlich! Tobias, Sie wollen mir doch wohl nicht allen Ernstes einreden, Sie hätten diese Übersetzung selbst erarbeitet, oder? Sie haben fertige Übersetzungen verwendet und versucht, mich damit über Ihre wahren Fähigkeiten zu täuschen. Sie wissen ja, wie Täuschungsversuche bei Leistungstests bewertet werden. Ungenügend.«
Dieses Arschloch. Dieses scheiß Arschloch. Ich kochte. Ich war kurz davor zu platzen oder ... Nein, nur das nicht! Ich durfte nicht meine Beherrschung verlieren. Auf keinen Fall.
»Looser!«
Da war es wieder. Mein alternativer Vorname. Es war Kai-Uwe, der ihn durch den Raum zischte. Natürlich, wer sonst? Eigentlich hieß er Spei-Uwe, oder umgekehrt. War auch egal. Kai hatte nichts begriffen, noch nie. Er dachte immer noch, dass er bei Jenninger punkten konnte, indem er eine besonders breite Schleimspur hinter sich herzog. Er war der Typ, der immer dann auf einen einschlug, wenn man schon am Boden lag. Jenninger freute sich über Typen wie Kai. Mann konnte sie treten, schlagen, verachten und demütigen und sie freuten sich auch noch darüber und Begriffen jede Schmähung als Zeichen der Anerkennung.
Mit einem besonders süffisanten Grinsen spitzte Jenninger seine Lippen: »Kai-Uwe, sein Sie doch bitte so nett und zeigen Tobias anhand des nächsten Satzes, wie sich eine gute eigenständige Übersetzung sich anhört.«
Mann mag es kaum glauben, aber allen Anwesenden bis auf einen einzigen war klar, dass Jenninger Spei-Uwe soeben einen eleganten Tritt in den Arsch versetzt hatte. Und natürlich musste jeder im Raum grinsen, als sich der Getretene auch noch dafür bedankte: »Ja gern, Herr Jenninger.«
Wichser!
Bankgespräche
Worin wechselweise unser Held und sein Freund Ralf die Untiefen der Beziehungsgefühle durchwaten.
Der restliche Schultag quälte sich so dahin. Ich vermied weiter unangenehm aufzufallen und beteiligte mich am Unterricht daher eher mäßig. Trotzdem, wurde ich gefragt, waren meine Antworten immer richtig. Eigentlich wollte ich das nicht, aber meisten kam ich mit einer Antwort rüber, bevor ich überhaupt darüber nachgedacht hatte, was man mich gerade gefragt hatte.
Ich war nicht bei der Sache. Meine Gedanken lagen bei Ralf und seiner durchgeknallten Reaktion. Mir war völlig unklar, was mit ihm los war und warum er weggerannt war. Es muss etwas gewesen sein, dass ich gesagt hatte. Dabei hatte ich gar nicht viel gesagt.
Ich zermarterte mir den Kopf, dass mir der Schädel dröhnte. Die Schule war längst vorbei, doch ich hockte immer noch auf einer Parkbank vor dem Schulgelände. Zuerst hatte ich noch ein paar Mitschüler angesprochen, ob sie Ralf gesehen hatten, aber außer »Nein.«und nichtssagendem Schulterzucken kam kein Feedback. Ralf war verschwunden und ich glaubte auch nicht wirklich, dass er so schnell wieder auftauchen würde.
»Hast du auf mich gewartet?«
Michis Stimme weckte mich aus meinen Gedanken auf.
»Was ...? Ich ... Nein ...«, ich sah zu Michi auf, der sich vor mir auf seinem Skateboard aufgebaut hatte. »Ralf ist abgehauen. Ich muss was Falsches gesagt habe, und da ... Hey, Moment mal ...«
Ich musterte Michi von oben bis unten.
»Wie heißt sie?«
Michi tat ahnungslos: »Wer?«
»Die Frau für die du dich aufgebrezelt hast!«
Michi lief im totalen Partylook rum -- in der Schule! Seine beste Baggy, die »ultra-coole«Metallkette links von der Gürtelschlaufe in die Hosentasche, sein allerbestes Schlabber-Skate-Shirt und massenweise Gel in den Haaren, die igelstylemäßig verzwirbelt waren. Und obendrein: neue, blonde Spitzen! Michi sah richtig lecker aus -- na ja, es war nicht unbedingt der Style, der mich schwach machen würde, aber Michi sah scharf aus. Und total überstylt für die Schule!
»Sie heißt Kirsten!«, leugnen war bei mir eh zwecklos, weswegen Michi es auch gar nicht erst versucht, »Und sieh mich nicht so an, als wenn du gleich über mich her fällst.«
»Och, hast du Angst vor mir? Michi, du sieht wirklich süß aus, aber ... Was sagst du? Kirsten?«
»Ja! Lach' nicht so ungläubig! Oder traust mir nicht zu, dass ich auch bei solch einer Braut landen könnte?«
»Kirsten ist Weißgott keine Braut!«
»Nein, ist sie sicher nicht. Aber sie ist total toll ... Sie ist ... die perfekt Frau!«
Oh, den hatte es ja erwischt. Volle Breitseite der Hormone.
»Tobi, hör' auf so blöd zu grinsen. Ich kann auch eine ernsthafte Beziehung eingehen!«
»Beziehung? Ernsthaft? Du? Hast du sie mal gefragt, ob sie überhaupt was mit dir zu tun haben will?«
Da bekam aber einer weiche Knie. Michi stieg von seinem Skateboard ab und ließ sich neben mir auf die Parkbank fallen: »Nein, hab' ich nicht. Ich hab' mich nicht getraut. Sie hat mich ein paar Mal angelächelt. Sogar hinterhergeschaut. Und jetzt weiß ich nicht, ob sich mich nur aufziehen will, oder sie ernsthaft an mir interessiert ist ... Du, ich glaube, ich bin verliebt. Ich denke nicht mal an Sex!«
Die Welt war verrückt geworden. Jetzt hatte sie auch noch Michi in den Wahnsinn getrieben. Wenn Michi Müller, lange Zeit mein bester und einziger Freund, bei einem Mädchen nicht primär an Sex dachte, dann war etwas passiert. Denn Michi definierte Sex gleich Liebe und Liebe gleich Sex. Für ihn gab es da nie einen Unterschied. Und jetzt auf einmal diese Worte? Den armen Kerl muss es aber heftigst erwischt haben. Er trennte Sex und Liebe? Er erkannte einen Unterschied, wo für ihn nie einer war? Er war verloren! Wir hatten ihn an die Frauen verloren und er wusste es noch nicht mal. Armer Michi!
»Ich weiß ja nicht, ob es gut oder schlecht ist ...«, warum sollte ich nicht ein bischen mit seinen Nerven spielen.
»Was denn, Tobi? Red' nicht in Rätseln.«
»Ich habe heute mit Kirsten gesprochen ...«, diesen Moment musste ich einfach auskosten. Schließlich war ich sein Freund, und Liebesqualen gelten ja als die schönsten Qualen überhaupt. Da wäre es einfach unfair gewesen, seine Qualen nicht noch etwas zu steigern und möglichst zu verlängern.
»Du? D-D-D-Du hast mit Kirsten gesprochen?«, Michi starrte mich entgeistert an, als ob ich gerade gesagt hätte, dass unser Direktor eine Geschlechtsumwandlung planen würde.
»Ja, ich. Anja und Kirsten kamen nach dem Englischunterricht auf mich ...«
Michi fiel mir ins Wort: »Anja? Die Anja?«
»Ja, die Anja. Was ist denn?«, ich tat so, als wenn das Zusammentreffen mit Anja für mich die selbstverständlichste Sache der Welt war. »Sie wollte mich zu einer Party am Freitag einladen.«
Das haute Michi vollends von den Socken: »Sie wollte dich zu einer Party einladen? Dich?«
»Ist hier irgendwo ein Echo?«
»Dich?«
»Ja, mich!«, ach war das schön. Endlich wurde ich mal beneidet. Dieses Gefühl, dieser Moment machte sehr viele Dinge der Vergangenheit gut. Entbehrungen, Schmähungen, Geringschätzungen, all dies gehörte von nun an einem fernen und abgeschlossenen Leben an.
»Na ja, wir haben auch etwas über dich gesprochen ...«, ich ließ diesen Satz ganz beiläufig fallen. Michi verhaspelte sich beim Luftholen und musste husten.
»Über mich?«
»Ja ...«, es war genug, er hatte die Erlösung verdient, »Kirsten findet dich wohl ganz nett.«
»Wie? Nett!«
»Na ja, sie meinte, du wärst süß. Ich glaube, sie möchte dich vielleicht etwas näher kennen lernen.«
Beng! Das war zu viel des Guten. Michi trat vor Schreck auf das eine Ende seines Skateboards, das vor seinen Füßen lag. Vom Impuls seines Fußes angestoßen, sprang das Board in Luft, drehte sich um 180 Grad und fiel mit lauten Knall auf den Boden zurück. Michi wurde rot. Langsam drehte er sich zu mir um und strahlte mich überglücklich an: »Ist das wahr?«
»Yap!«, ich nickte. Michi wusste, bei diesem Nicken sagte ich immer die Wahrheit.
***
Michi schwebte auf »Wolke Sieben«. Ich freute mich für ihn. Warum sollte es Michi nicht mal so richtig erwischen. Man hätte es auch »ausgleichende Gerechtigkeit«nennen können.
Michi verliebt zu sehen, war richtig süß. Ich konnte mir ein gewisses Schmunzeln einfach nicht verkneifen. Für ein paar Augenblicke hatte ich meine eigenen Beziehungsprobleme verdrängt. Bis Michi seine Wolke verließ, die Schwerkraft einschaltete und mich auf den Boden der Realität zurückwarf, in dem er fragte: »Das war aber nicht der Grund, warum du auf der Bank sitzt? Du hast nicht auf mich gewartet, oder?«
»Nein ...«, Trübsinn ich hab' dich wieder. Wie schön.
»Was ist los?«
»Ich bin mit Ralf aneinander geraten. Ich weiß gar nicht, was da schief gelaufen ist. Ich hatte ihn nur erzählt, dass ich von Anja eingeladen worden bin.«
»Und? Das kann doch nicht alles sein?«
»Na ja, nicht ganz ...«, so wortgetreu es eben ging, gab ich mein Gespräch mit Ralf wieder. Gespräch? Was für eine Übertreibung. Wir hatten bestenfalls drei Sätze miteinander gewechselt und dann war Ralf weggerannt. Ich schaute Michi fragend an.
»Kannst du dir einen Reim darauf machen, was mit Ralf los ist?«
»Ich denke schon.«, Michi stand auf stellte sich auf sein Skateboard und rollte langsam vor mir hin und her. Das machte er immer, wenn er über etwas nachdachte. Andere Leute laufen kreuz und quer durch ein Zimmer, Michi rollte hin und her.
Michi dachte laut nach: »Ihr habt euer Verhältnis noch immer nicht geklärt, oder?«
»Was für ein Verhältnis?«
»Eben!«, Michael Müller sah mich strafend an.
»Du hast Recht. Unser Verhältnis ist ungeklärt. Ralf liebt mich! Das hat er mir gesagt und ich glaub' ihm ... Ach was, ich glaub ihm nicht nur. Man kann es sehen. Wenn er mich anblickt ... Ich bekomm jedes Mal eine Gänsehaut, wenn ich sehe, wie er sich nach mir verzehrt. Nur ...«, ich zögerte, wiegte meinen Kopf hin und her, »ich weiß nicht, ob ich ihn liebe.«
»Quatsch!«
Ich sah Michi wütend an: »Was Quatsch?«
»Mit Soße! Natürlich liebst du ihn!«
»Tu ich nicht!«
»Und ob! Du bist nur zu feige, das zuzugeben!«
»Hey, hast schon vergessen? Er wollte mich umbringen!«
»Und wenn schon? Außerdem stimmt das ja wohl so nicht! Das hast du mir ganz anders erzählt. Er wollte es nicht. Er war dazu gezwungen.«
»Haarspalter! Wollen oder müssen? Wo ist da der Unterschied?«
»Woher nimmst du nur diese Anmaßung zu meinen, dir könnte das nicht passieren?«
»Mir? Michi, du machst dich lächerlich!«, es war soweit. Michi hatte es geschafft, dass ich anfing mit den Händen zu reden. Bei dem Wort »mir« deutete ich mit beiden Händen auf meine Brust, um ihm zu zeigen, wie absurd seine Argumentation war. »Hallo Michael! Aufwachen! Ich bin es! Dein Loserfreund, Tobias!«
»Weißt du was dein Problem ist?«
»Nein, du Profi, sag' es mir!«
»Du hast Angst!«
»Ich hab keine Angst! Träum weiter!«
»Doch du hast die Hosen gestrichen voll. Du hast Schiss davor, ein paar wichtige Entscheidung zu treffen! Du redest dich ständig raus: ,Ralf wollte mich umbringen! Ralf hat dies! Ralf hat das!` Ey, Alter! Alles Ausflüchte!«
»Ach ja? Und wovor?«
Keine Angst. Wir redeten immer so miteinander. Michi und ich. Hatte ich schon erwähnt, dass wir die besten Freunde waren? Ok. Nur, was sind beste Freunde? Interessante Frage. Es hat uns auch nur Jahre gekostet, das herauszubekommen. Manchmal hilft auch eine Trennung. Und genau die brachte uns fester zusammen. Nachbarskinder wie wir es waren müssen ja noch lange nicht befreundet sein. Ganz im Gegenteil, wir konnten uns auch schon mal verdammt gut zoffen. Eigentlich ging es ständig darum, wer den Längeren hatte. Also, nicht wirklich -- mehr im übertragenen Sinne. Wessen Papa das bessere Auto hatte. Wer von uns die geileren Spielsachen und als wir älter wurden, das heißere Bike, den schnelleren Compi hatte. Und schließlich war es dann so weit. Wir zeckten uns so sehr, dass wir danach 8 Wochen kein Wort mehr miteinander sprachen.
Ich war mit dem Thema Michi durch. Ein Freund oder keinen Freund zu haben, war für mich ein eher marginaler Unterschied. Was für eine Fehleinschätzung! Tja, und dann kam Michi an und entschuldigte sich bei mir. Bei mir! Ich war mindestens genau so schuldig an unserem Streit wie er. Doch Michi war anders geworden. In den acht Wochen war etwas passiert, ich weiß bis heute nicht, was ihn verändert hatte. Nicht viel, denn im Prinzip kamen wir ja miteinander klar, doch war es so viel, dass sich von da an unsere Beziehung zueinander, von einer bloßen Nachbarskinderfreundschaft zu einer echten Freundschaft veränderte. Was das auch immer sein mag.
Immerhin änderte sich die Art, wie wir miteinander umgingen. Was vorher immer eine Art Wettbewerb oder Konkurrenzkampf zwischen uns war, wurde jetzt von einer gemeinsamen Betrachtung der Dinge ersetzt. Oh, wir hatten und haben durchaus unterschiedliche Meinungen -- aber hallo -- Nur machen wir daraus keinen Glaubensstreit, sondern respektieren den anderen. Der Vorteil: Wir konnten uns alles sagen. Auch wenn es für Außenstehende wie die brutalste Wortschlacht aller Zeiten aussah.
»Du flüchtest vor dir selbst.«, Michi wurde ernst, denn er stieg von seinem Skateboard ab und setzte sich wieder neben mich, »Tobi, du bist kein Loser. Du warst es nie und bist es jetzt garantiert nicht mehr.«
Spielregeln -- unsere Spielregeln: Wenn Michi so mit mir sprach, dann galt es zuzuhören. Der Junge war nämlich nicht blöd, war er nie.
»Tobias, du bist ein ... Mutant? ... Klingt blöd. Du hast Fähigkeiten, besondere Fähigkeiten. Ich denke, dass verändert eine ganze Menge. Ralf hat auch diese Fähigkeiten. Nein, warte, lass mich ausreden. Ich weiß, was du sagen willst! Und du hättest Recht: Dass ihr zwei schwule Mutanten seid, heißt noch lange nicht, dass ihr zusammengehört.«
»Was dann?«, Michi hatte meine Neugierde geweckt.
»Ich wage es kaum auszusprechen, aber dass ihr euch begegnet seid ... Ich glaube nicht, dass das Zufall war.«
»Du meinst Ralf hat mir aufgelauert?«
Michi schlug sich mit der flachen Hand gegen sein schmerzverzerrtes Gesicht: »Arghhh, Tobi, nein, du Depp! Ich rede von Schicksal. Das mag beschissen kitschig klingen, aber ich bin davon überzeugt, dass ihr euch einfach treffen musstet.«
»Hmmm ...«
»Es zwingt dich ja niemand, mir zu glauben.«
»Nein, nein ... Aber!«
»Aber, ich denke, du solltest noch etwas anderes berücksichtigen.«
»Und das wäre, Doctor Freud?«
»Das du in Ralf genauso verliebt bist wie er in dich.«, Michi schob mit einem Fuß gedankenversungen sein Skateboard vor sich hin und her, » Es ist so. Wenn du ehrlich zu dir bist, weißt du, dass ich die Wahrheit sage. Du liebst ihn.«
Scheiße, ja, nein, ja, Mist. Meine Augen wurden feucht: »Ja ...«
»Du hast keine Angst vor Ralf. Ganz im Gegenteil, du hast Angst vor dir. Vor dem, wer du bist und was du bist. «
Meine Augen waren nicht mehr feucht, sondern nass. Ich fuhr herum und starrte Michi, der sich mir seinerseits zugewandt hatte, direkt in die Augen: »Was soll ich denn jetzt tun?«
»Akzeptieren wer du bist! Ralf reicht dir seine Hand. Er will dir helfen, weil er das selbst wohl alles schon mal durchgemacht hat und weil er dich liebt.«
»...«, ich schwieg, Michi sollte weiterreden.
»Du reitest immer auf der Geschichte rum, dass er dich umbringen wollte. Klar, wenn ihr normale Menschen wärt ...«
»Ich bin ein normales Mensch!«
»Ja doch! ...wenn ihr normale, psifähigkeitsfreie Menschen wärt, dann hätte ich dir Recht gegen. Man müsste Ralf einbuchten und den Schlüssel wegwerfen. Aber erstens habt ihr diese Fähigkeiten und zweitens ist auch die ganz Situation alles andere als normal. Stell dir nur mal eins vor: Ralf hätte Recht mit dem, was er sagte: ,Wenn du an meiner Stelle gewesen wärst, du hättest genau so gehandelt wie ich.` Tobi, stell dir dass mal vor! Du müsstest Ralf umbringen, obwohl du ihn liebst! Abgrundtief liebst!«
Ich versuchte es mir vorzustellen. Mir wurde erst schwindelig und dann übel: »Das kann ... will ich nicht.«
»Ralf hat es getan. Er musste! Das hast du selbst gesagt. Du hast sogar gesagt, dass du ihm das glaubst!«
Ich begriff. Wenn Ralf auch nur ansatzweise das für mich empfand, was ich für ihn empfand ... Und es machte Klick! Ich wusste, was ich wollte.
»Danke Michi!«, ich stand auf und begann in Richtung meines Elternhauses loszulaufen.
»Wohin willst?«
»Nach Hause! Mit Ralf reden!«
»Bei dir zu Hause?«
»Wo sollte er sonst sein?«
Ich sah es nicht, aber Michi schüttelte den Kopf und murmelte: »Was für ein Psychopath. Muss Liebe schön sein ...«
Die Strafe für diesen Satz folgte auf dem Fuße. Michi fiel Kirsten ein. Er seufzte, stieg auf sein Board und rollte mir hinterher: »Warte, wir verliebten Torfnasen sollten zusammen bleiben ...«
Kraftprobe
Worin unser Held den Versuch einer Versöhnung startet, was aber nicht unbedingt zum gewünschten Ergebnis führt.
Es war, wie ich dachte. Ich rief bei Ralfs Eltern an, aber Ralf war noch nicht zu Hause. Und wenn er es wäre, so vermutete ich, würde er nicht mit mir sprechen wollen. Nein, mir war klar geworden, warum Ralf mich stehengelassen hatte. Er wollte mich. Er liebte mich. Abgrundtief und unerbittlich. Aber nicht zu jedem Preis. Das war die Lehre, die ich begreifen sollte.
Es war ein Test und ich hatte ihn nicht bestanden. Ich hätte Kirsten gleich sagen sollen, dass ich mit Ralf kommen würde. Ich hätte nicht erst darüber nachdenken sollen, ob es ihm recht gewesen wäre, dass Kirsten erfahren würde, dass er schwul sei. Es war ein Tritt in den Arsch, den er mir verpasst hatte. Und ich hatte ihn verdient. Natürlich war es ihm recht. Was ihn ärgerte, war, dass ich ihn vorgeschoben hatte, um meine eigene Unsicherheit zu verdecken. Das war im Gespräch mit Michi klar geworden. Das Schlüsselwort hieß Selbstbewusstsein! Tobi, du bist schwul, ja und! Sei stolz drauf. Mach' was draus!
Natürlich, schwul zu sein ist weder Selbstzweck noch ein Wert an sich. Aber es ist auch kein Grund seine Gefühle zu verstecken.
Ich hatte wohl noch viel zu lernen.
Das war eine Sache, die mir Ralf eingetextet hatte.
Die andere Sache war die ganz PSI-Kiste. Ich hatte diese Fähigkeiten immer noch nicht akzeptiert, insbesondere Ralfs Fähigkeiten nicht. Und damit hatte ich ihn an einer sehr empfindlichen Stelle getroffen. Ich glaub man könnte Ralf jedes beliebige und noch so geschmacklose schwulenfeindliche Wort an den Kopf werfen, es würde an ihm abperlen, wie Wasser auf frisch gewachsten Lack. Aber seine PSI-Fahigkeiten in Frage zu stellen ...
Das ging ihm an die Nieren. Es traf ihn an seinem wunden Punkt, denn, so meine Vermutung, er hatte selbst arge Schwierigkeiten mit seiner Begabung.
Und ich hatte deutlich durchblicken lassen, dass ich ebenfalls Probleme damit hatte. Nicht sehr nett. Und nicht sehr taktvoll.
Dafür war mir jetzt aber klar, wie ich Ralf erreichen konnte. Ralf zu suchen, zum Invalidenpark laufen, zu seinen Eltern fahren, es wäre sinnlos. Ich würde Ralf nicht finden. Ich könnte jeden Stein der Stadt umdrehen, ich hätte keinen Erfolg.
Nein, Ralf wollte, dass ich ein Bekenntnis für ihn ablegte. Nun ja, irgendwie hatte er ein Recht darauf.
Ich stand vor meinem Schreibtisch und zögerte nur wenige Sekunden. Doch, ich war mir jetzt sicher, absolut sicher.
Ich öffnete die oberste Schreibtischschublade.
Da lag sie. Weiß schimmernd lag sie neben Stiften, einem Radiergummi und anderem Schreibkram. Ralfs Karte, die er mir im Krankenhaus gegeben hatte.
Ich nahm sie an mich. Ich sah nicht sofort drauf, sonder legte mich auf mein Bett, schloss für einen Moment die Augen, hielt die Karte vor mich hin.
»Bitte!«, dachte ich, »lass mich jetzt nicht irren. Ralf, es ist mein absoluter Ernst. Ich liebe dich! Ich war mir nicht sicher, ob ich es kann, aber jetzt bin ich es!«
Ich öffnete meine Augen und fokussierte meinen Blick auf die Pappkarte.
Zuerst war sie noch absolut makellos weiß. Doch plötzlich bildeten sich Linien. Zuerst feine, dann immer deutlicher entstand eine Schrift. Wie mit einem fetten Filzstift stand da schließlich: »Wir haben dich!«
***
Im ersten Moment verstand ich nicht, was mir die Karte sagen wollte. Doch dann begriff ich. Es war nicht Ralf, den ich an der Leitung hatte. Der Kontakt war mit jemand ganz anderem aufgebaut worden. Verwählt? Wenn das so einfach gewesen wäre. Eine telepathische Verbindung ist kein Telefongespräch. Ich konnte nicht einfach auflegen. Ich versuchte es, aber es gelang mir nicht. Ralf hätte es gekonnt, aber er war auch ein Telepath, ich aber nicht.
Dem ersten Schrecken machte der Panik Platz, als mir allmählich klar wurde, wen ich angewählt hatte. Ich hatte mich unmittelbar meinen Gegnern ausgeliefert. Was auch immer dies für Gegner sein mögen.
Mir blieb keine Zeit weiter darüber zu spekulieren, denn in diesem Moment änderte sich dir Wirklichkeit. Mein Zimmer morphte. Es wurde dunkel und es blieb dunkel. Mehr oder weniger hatte ich eine ähnliche Umgebung wie bei meiner PSI-Reise mit Ralf erwartet. So etwas wie der große Raum mit den weißen Leuchtflächen und grauen Wandpaneelen. Aber diese Umgebung war einfach nur dunkel.
Ich versuchte mich zu orientieren. Ziemlich schwierig ohne Licht. Obwohl, ganz ohne Licht war die Gegend dann doch nicht. Entweder begann etwas schwach zu glimmen oder meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Jedenfalls begann ich schwache Konturen auszumachen. Es gab einen Fußboden. Er schien schwarz zu glänzen und sich über eine gigantische Fläche zu erstrecken. Ganz weit weg schien es so etwas wie Ränder zu geben. Von dort kam auch das schwache Leuchten.
Schwach? Es schien heller zu werden. Nein, es wurde heller. Je heller es wurde, desto klarer erkannte ich meine Umgebung.
Sie war bombastisch, fast sakral und auf jeden Fall furchteinflößend. Aber das war wohl auch so beabsichtigt.
Ich stand im Zentrum einer kreisrunden Fläche. Den Radius von mir bis zum Rand schätzte ich auf mehrere hundert Meter. Die Lichter waren Scheinwerfer, die die Wände des Raums bis zur Decke erleuchteten und dabei einen geschmacklosen Lichtdom formten. Ja, ich hatte im Geschichtsunterricht aufgepasst. Die Lichtkegel machten es schwierig eine genaue Form der Decke und Wände zu erkennen, aber ich vermutete, dass es sich um eine Halbkugel handelte. Ich befand mich genau im Zentrum einer gigantischen Halle.
Ich drehte mich um meine eigene Achse. Ich stand wirklich im Zentrum. Außer mir und dem Raum war niemand da.
»Das stimmt nicht!«
Ich fuhr herum. Hinter mir stand eine Figur. Ich hätte fast losgelacht. Der Typ sah aus, wie ein Jedi-Ritter, der zu dunklen Seite der Macht übergelaufen war. Er war in schwarze Gewänder gehüllt. Sein Gesicht war durch den Schatten seiner Kapuze nicht zu erkennen.
Angriff ist die beste Verteidigung. Keine Ahnung, was mich ritt, oder wo ich den Mut hernahm, jedenfalls meinte ich: »Ist das nicht etwas sehr dick aufgetragen?«
»Oh, Humor! Wie interessant.«, es war eine weibliche Stimme. Sie war merkwürdig, fast unheimlich. Sie war gleichzeitig freundlich, gefährlich, verbindlich, amüsiert, dominant und majestätisch. Die Person hinter der Stimme schien keinen Zweifel an ihrer haushohen Überlegenheit zu hegen.
»Gefällt dir diese Umgebung besser?«
Es blitzte kurz und die Halle schrumpfte auf Minibürogröße zusammen. Wir saßen uns gegenüber. Ein Tisch, auf jeder Seite ein Stuhl, ein grau-weißer Raum, brummende Leuchtstoffröhren hinter Kunststoffabdeckungen in der Decke, eine Tür.
»Was soll ich hier?«
Das Kapuzenwesen mit der weiblichen Stimme antwortete nicht. Obwohl ich ihr Gesicht nicht sehen konnte, spürte ich, dass ich gemusterte, geprüft, durchleuchtet und beobachtet wurde.
Gespanntes Schweigen. Minuten vergingen, in denen ausschließlich die Drosseln der Leuchtstoffröhren zur Unterhaltung beitrugen. Demonstrativ machte ich es mir in meinem Stuhl bequem, verschränkte meine Arme und lehnte mich zurück.
»Schönes Wetter heute ...«
Keine Antwort. Die merkwürdige Person saß mir gegenüber und schwieg. Obwohl der Raum sehr hell, fast unangenehm hell, erleuchtet war, konnte ich keine Konturen unter der tief heruntergezogenen Kapuze erkennen. Ich war mir nicht mal sicher, ob mir überhaupt noch das Wesen gegenübersaß, denn bewegen, tat es sich nicht.
Ich wartete.
Wie ich später noch lernen musste, kann man sich in telepathischen Verbindungen nicht auf sein Zeitgefühl verlassen. Ich wartete zwar gefühlsmäßig eine Ewigkeit, doch wusste ich nicht, ob erst 10 Sekunden oder bereits 10 Stunden vergangen waren.
Ich wartete.
War es ein Psychospiel? Ein Test? Hoffte man darauf, dass ich meine Nerven verlieren würde? Aber darauf können sie lange warten!
Ich drehte Däumchen. Ich hatte alle Zeit der Welt. Wenn man sich nicht mit mir unterhalten wollte, ich würde es auch nicht tun.
Obwohl ... Ärgern tat ich mich dann schon. Dieser Raum nervte. Das Kapuzenfrauchen nervte. Alles nervte. Ich stand auf, ging um den Tisch, stupste den Umhang von meinem Gegenüber an und ... glotzte blöd aus der Wäsche. Der Umhang fiel in sich zusammen.
»Was zum Teufel ...?«, ich hob das Gewand auf. Es war leer. Ich drehte mich um und der Tisch war weg. Ich drehte mich erneut um und alles war weg. Der Raum, die Lampen, die Tür, alles war verschwunden. Ich hielt nur den grauen Umhang dieser merkwürdigen Person in meinen Händen. Ansonsten befand ich mich in einem leeren, weißen Nichts.
»Was soll der Scheiß? Ihr wollt doch was von mir, also los?«
Keine Antwort. Wollte man mich zermürben? Sollte ich wahnsinnig werden? Wollte man mich aller sensorischen Wahrnehmungen berauben, damit ich durchdrehe? Denn außer der weißen und völlig strukturlosen Umgebung gab es nichts. Keine Geräusche, keine Farbe, kein Geruch, keine Temperatur, einfach nichts.
War ich wieder in diesem anderen absoluten Nichts gefangen? Nein! Dies hier war ein künstlicher Raum, in dem man mich festhielt. Nur weil nichts da war, befand ich mich noch lange nicht in einem Nichts.
Wurde ich gerade verrückt?
»Ja!«, Die weibliche Stimme zerriss die Stille. »Aber du kannst es verhindern.«
»Ach, und wie?«
»Rede mit mir!«
»Aber das tu ich doch gerade!«
»Rede mit mir! Sag' mir, wer du bist! Sag es mir!«
»Aus welcher Klapse haben sich dich denn entlassen?«, auf Zicken, die kryptische Sprüche los ließen, hatte ich nun überhaupt keinen Bock.
Die Zicke zickte und sagte erstmal nix. Die Gegend blieb leer und strukturlos. Ich setzte mich auf ... Ja worauf eigentlich? Mann muss sich das mal vorstellen. Ein weißer Raum, total diffus beleuchtet, dass es nirgends Schatten gab, wie soll man da einen Boden ausmachen können? Ich hockte mich also irgendwo hin und fing wieder an Däumchen zu drehen. Was soll's? Die wollten schließlich was von mir! Ralf, wenn er bei mir wäre, hätte wahrscheinlich bedeutungsvoll mit seinen Augen gefunkelt und irgendeinen schlauen, aber genau so kryptischen Satz wie die Alte vom Stapel gelassen. Das muss sowas wie eine Berufskrankheit von Telepathen sein. Sie sind einfach zu kopflastig.
Die nächste undefinierbar lange Zeitspanne beschäftigte ich mich damit, solchen und ähnlichen Gedanken nachzujagen. Ich fing sogar an, meine Beziehung zu Ralf mit mir selbst kontrovers und sehr emotional auszudiskutieren. Seitdem spricht ein Teil meiner Persönlichkeit nicht mehr mit einem anderen Teil. Immerhin, Ralf blieb siegreich. Ich gestand mir ein, dass man ihn einfach nicht mit normalen Maßstäben messen konnte. Wenn ich das tat, was war ich dann? Wenn er ein Monster, eine erschreckende und bedrohliche Mutation war, dann war ich es ebenfalls. So What?
Mir wurde langweilig. Ewig mit sich selbst zu streiten machte auf Dauer keinen Spaß. Ich versuchte mit meinen Fingern auf den Boden zu trommeln. Vergebens! Der Boden schluckte allen Schall.
»Ich kann dich befreien! Du musst nur mit mir reden.«
Da war sie wieder, diese Stimme. Ihr plötzliches Erscheinen war unangenehm. Ungefähr so, wie mein Radiowecker, der mich jeden Morgen viel zu früh aus meinen Träumen riss.
»Warum willst du mich befreien? Ist doch sehr gemütlich hier!«
Härte ich da ein mitleidiges Seufzen? Die Stimme hatte natürlich recht. Langsam begriff ich auch, dass ich diese perfide Art der Psychofolter nicht mehr lange durchhalten könnte. Und die Stimme wusste das. Und sie wusste auch, dass ich es wusste. Shit!
Ich sprang auf und lief umher. Gar nicht so einfach ohne sichtbaren Boden. Ein paar Schritte und ich packte mich auf die Schnauze. Shit, Tobi! Megashit!
Ich wurde mürbe. Ich wusste es. Dieses gottverfluchte diffuse Nichts nagte an mir. Es fraß sich durch die Haut in meinen Körper. Es begann von mir besitz zu ergreifen. Es vergiftete meinen Geist. Die Stille wurde erdrückend und damit immer lauter. Diese Stille wurde in meinem Kopf zu einem unerträglichen Lärm. Meine Gegner verstanden ihr Handwerk. Ich zwang mich, mich zusammen zu reißen. Mich auf abstrakte Dinge zu konzentrieren. Mathematik, Zahlenreihen aufsagen, irgendetwas denken, um diesem ätzenden Nichts zu entkommen.
Es gelang. Für eine Weile hatte ich mich wieder unter Kontrolle. Aber für wie lange? Es hatte Kraft gekostet. Ob es mir ein zweites Mal gelingen würde, einen drohenden Zusammenbruch abzuwenden? Ich wusste es nicht.
Ich ... schüttelte meinen Kopf. Mehr aus Frust und weniger aus Überlegung schnippte ich mit meinen Fingern ins Nichts. Ich hatte mich hingesetzt und mit meinen Händen am Boden abgestützt. Abgestützt ist gut, denn viel fühlen, dass da ein Boden war, konnte man nicht. Jedenfalls hatte ich meine rechte Hand gehoben und mit den Fingern vor mir in die Luft geschnippt. Wahrscheinlich war es der Anfang vom Ende meiner Beherrschung. Warum würde man sonst vor sich in die Luft schnippen?
Ich schnippte -- und es riss. Vor mir erschien ein Riss im Raum oder im Raum-Zeit-Kontinuum oder in Omas Kaffeekanne, egal! Entweder war ich übergeschnappt oder es war tatsächlich geschehen.
Ich starrte diesen Riss an. Es sah aus, als wenn vor einem eine riesige weiße Papierbahn hängen würde und man diese mit seinem Finger durchstoßen hätte. In dieser »Papierbahn«hatte sich ein Spalt geöffnet. Überrascht und verblüfft, glotzte ich den Riss an. Sollte ich glauben, was ich sah?
Besser war es. Vorsichtig und ungläubig zupfte ich an den Rändern der Öffnung. Sie ließen sich bewegen. Ich wurde mutiger und packte mit beiden Händen zu. Tatsächlich. Der Riss im Raum ließ sich aufweiten und vergrößern. Er war inzwischen gut 50 Zentimeter groß, auf jeden Fall groß genug, um hindurchzusehen. Es war mein Zimmer. Ich konnte in mein Zimmer sehen.
Meine Freude über diese Enddeckung wurde sofort beiseite gewischt. Die Stimme zerfetzte die Stille: »Bürschchen, so schnell entwischt du uns nicht!«
Da kannten sie mich aber schlecht. Ich wusste zwar nicht warum, aber ich wusste, dass dieser Riss nicht in ihre Planung passte. Meine Vermutung wurde sofort bestätigt, als ich sah, wie das weiße Nichts, in dem ich mich immer noch befand, an seinen äußersten Rändern zu kollabieren anfing. Es schien in sich zusammenstürzen zu wollen, jedenfalls konnte ich ringsrum in weiter Ferne einen schwarzen Rand erkennen, der schnell auf mich zu kam. Ich war mir hundertprozentig sicher: würde der dunkle Rand mich erreichen, war alles verloren.
Ich zerrte an meinem Riss. Es war mühselig. Er wurde größer, aber leider nicht schnell genug. Ich war zu unkonzentriert. Die Bedrohung durch die auf mich zustürzende Schwärze lenkte mich. Konzentrier dich! Ich schloss meine Augen, holte tief Luft, atmete aus und fokussierte all meine Kraft auf meine Öffnung. Ich muss es schaffen!
Ich ließ meine Energie frei. Die 75 cm große Öffnung wurde regelrecht zerfetzt. Ein mindesten 1,50m großes Loch klaffte im Raum. Ich zögerte keinen Moment und sprang hindurch. Im Springen konnte ich noch eine zornige, giftige Stimme kreischen hären: »Nein! Du bleibst hier! Wie sind noch nicht mit dir fertig!«
Ich spürte eine Kraft, die mich mit aller Gewalt zurückreißen wollte, doch sie schien mich zu verfehlen. Hinter mir krachte es. Ein grelles, gleißendes Licht flackerte auf und erstarb sofort wieder. Es gab ein fieses Geräusch, wie von einer elektrostatischen Entladung und einen Knall.
Monster unter sich
Worin man endlich Tacheles redet.
Allerdings spielen auch eine paar Haushaltsgeräte verrückt.
Ruhe
Dies war der erste Eindruck, der wieder zu mir durchdrang. Keine Totenstille, nur Ruhe, wie man sie in einem ruhigen Zimmer spürt. Aus der Ferne konnte ich das monotone Brummen des Straßenverkehrs hären. Vorsichtig öffnete ich meine Augen. Nicht, dass ich mich erinnerte, sie überhaupt geschlossen zu haben. Aber ...
Ich orientierte mich. Ich stand in meinem Zimmer. Puh! Immerhin ein Lichtblick. Ich war wieder zu Hause. Als Erstes fiel mein Blick auf meinen Radiowecker. Er zeigte keine Uhrzeit. Stattdessen blinkten nur drei rote Ziffern. 0:00. Ein Stromausfall?
Während ich noch über die Unzuverlässigkeit unseres örtlichen Stromversorgers nachdachte, bemerkte ich, dass ich immer noch diese ominöse Visitenkarte in der Hand hielt. Ich sah mich um. Soweit man diese beurteilen konnte, stimmte alles in meinem Zimmer mit der Situation vor meinem »Ausflug« überein.
Nur stimmte ich nicht überein. Ich stand mit dem Rücken zu meinem Schreibtisch. Als ich die Karte in die Hand genommen hatte und von meinen Gegnern entführt wurde, stand ich direkt vor dem Schreibtisch.
Bis dahin war ich mir nicht sicher, ob ich mein Zimmer überhaupt verlassen hatte, ob es real gewesen war. Es war real gewesen. Das wusste ich jetzt.
»Tobi, kommst du mal schnell runter?«, meine Mum rief nach mir.
Ich löste mich aus meiner Erstarrung und rannte zu ihr ins Erdgeschoss.
»Was ist los?«
»Ich weiß nicht, aber eben haben alle Geräte in der Küche gesponnen. Im Fernsehen liefen alle Programme gleichzeitig, alle Lampen flackerten, der Mixer ging los, selbst die Mikrowelle sprang kurz an und die Waschmaschine fing an zu Schleudern und ließ gleichzeitig Wasser zulaufen.«
»Echt?«
Ich sah mich unsicher um, nicht dass mich noch der Staubsauger ansprang. Aber alles war normal.
»Ich hab' nichts bemerkt. Ich hab' gelesen.«, flunkerte ich und tat ahnungslos, »Obwohl ... doch, mein Wecker blinkte vorhin, wie nach einem Stromausfall.«
»Ob das eine Stromschwankung war?«, mutmaßte meine Mutter.
Als wenn es eine Antwort auf ihre Frage war, klingelte es an unserer Haustür. Erna, Michis Mutter, stand im Eingang. Völlig konfus und hektisch prasselten krude und unzusammenhängende Satzfragmente auf meine arme Mutter ein.
»Mein Gott, mein Gott. Ich betrete nie wieder mit einem Fuß ... Ist bei euch auch ... Und die Waschmaschine, die ganze Wäsche -- ruiniert. Wenn doch Michi da ...Wo steckte der eigentlich ... Hattet ihr auch ... Ich mag Elektrizität nicht ...«
Bei ihr also auch. Die Störung aller möglichen elektrischen und elektronischen Geräte war nicht auf unser Haus beschränkt. Wie weit wohl die Auswirkungen reichten?
Ich überlegte. Warum ging ich eigentlich davon aus, dass die Ursache bei mir zu finden war? War das überhaupt eine realistische Annahme? Es hätte auch Zufall sein können, dass meine außersinnliche Entführung mit einer Stromschwankung zusammenfiel.
Junge, wem machst du eigentlich etwas vor?
Ich musste mir selbst recht geben. Ich, oder das, was mit mir gemacht wurde, war die Ursache, nichts anderes. Um so wichtiger war es mit Ralf zu sprechen.
Diesmal griff ich zum Telefon.
»Ralf?«
»Ja ...«, härte ich Zurückhaltung aus seiner Stimme?
»Bitte leg' nicht auf.«
»Warum nicht? Du scheinst doch jetzt ne' Freundin zu haben. Eine normale Freundin und kein Monster wie mich!«,
Es war, wie ich befürchtet hatte. Ralf war immer noch sauer und dieser Anruf schien ihn noch sauerer zu machen, als er ohnehin schon war. Seine Stimme war dermaßen eisig, dass ich Angst bekam, der Telefonhörer würde mir am Ohr festfrieren.
»Ralf, bitte, es ist wichtig...«
»Du nervst ... Vergiss es einfach ...«
»Verdammt, Ralf, es ist was passier! Ich hatte Kontakt mit den Anderen!«
»Du hattest was?«, Ralfs Stimme kippte unmittelbar von sauer auf entsetzt. »Ich bin sofort bei dir! Ist deine Mutter da?«
»Ja, warum? Sie weiß doch nichts von mir und ...«
»Stell' bitte keine Fragen. Mach' nur, was ich dir sage. Bleib in ihrer Nähe bis ich da bin.«
Klack. Ralf hatte aufgelegt. Irritiert glotzte ich den Telefonhörer an, schüttelte meinen Kopf und ging zurück ins Wohnzimmer, wo Erna und meine Mum munter am Quatschen waren. Ich blieb bei ihnen. Ralf hatte es so gesagt und ich folgte seiner Aufforderung. Warum auch immer.
***
Ralf brauchte rund 20 Minuten. Er hatte kaum einen Fuß über unsere Hausschwelle gesetzt, als er mich packte und in mein Zimmer zog.
»Los, rede, was ist passiert? Was für einen Scheiß hast du angestellt?«
»Was heißt hier Scheiß?«
»Vergiss es ...«, Ralf war immer noch stinkig. Ich musste ihn ziemlich getroffen haben. Nur wann und wo?
»Willst du jetzt wissen was passiert ist oder nicht?«, versuchte ich vorsichtig.
»Wenn's denn sein muss.«, Ralf war nicht nur stinkig, sondern auch genervt.
»Ok, es fing damit an, dass ich über uns nachgedacht habe.«
»Was gibt's denn da noch nachzudenken? Du hast deine Meinung über mich und über meine Fähigkeiten deutlich genug geäußert. Es stößt dich ab. Damit ist doch alles gesagt.«
»Quatsch! Du weißt ganz genau, dass das nicht so einfach ist.«
»Ach nein? Und warum schämst du dich dann meiner?«
»Wie bitte? Auf was für'n Trip bist du denn gelandet?«, bei dieser Art Wahnsinn konnte ich nur meinen Kopf schütteln: »Das ist Quatsch und das weißt du!«
»Ach ja? Und warum hast du Anja dann nicht gesagt, dass ich dein Freund bin? Bin ich solch ein Monster für dich?«
»Ach das denkst du? Du denkst, ich habe Anja nichts von dir erzählt, weil ... Junge, du hast wirklich 'ne Vollpanne. Weißt du das? Ich habe Anja nicht gesagt, wer mein Freund ist, weil ich dich vorher fragen wollte, ob es dir überhaupt recht ist.«
»Du meinst ...«, Ralfs Wut wackelte. Er wurde unsicher. Er hatte sich so eine schöne Schlussfolgerung zurechtgelegt. Nur passte diese Schlussfolgerung nicht zur Realität.
»Ja genau! Für was für einen Idioten hältst du mich? Ich kann doch nicht einfach ausposaunen, dass du schwul bist. Ich kann das für mich entscheiden, aber doch nicht für dich. Vor allen nicht, ohne dich vorher zu fragen.«
»Dann schämst du dich nicht, mit mir zusammen zu sein?«
»Nein, natürlich nicht. Warum denn? Ralf, ich versteh dich nicht. Warum sollte ich das tun?«
»Weil ich ein Monster bin ...«
Ralf zeigte Nerven. Seine Wut war längst verschwunden, inzwischen war er eher zusammengebrochen. Ralf sah müde, regelrecht fertig aus: »Tobi, du hattest Recht. Ich bin eine abartige Mutation. Meine Kräfte ... Sie sind widerlich ... abstoßend. Menschen die Lebensenergie zu rauben ... Du hast recht, wenn du dich von mir abwendest.«
Ralf, der mir bisher Stärke und Kraft gegeben hatte, war schwach geworden. Verdammt. Er wirkte immer so selbstsicher und überlegen. Wenn er einen Raum betrat, hielten die Weiber und alle Tucken die Luft an. Ralf war einfach nur ... Wow! Wer hätte gedacht, dass hinter dieser schönen Fassade, hinter all der Selbstsicherheit eine schüchterne, unsichere und von Selbstzweifeln gequälte Seele steckte? Ich nicht. Ich hätte es niemals für möglich gehalten.
Das heißt, Ralf war kräftig, belastbar, ausgeglichen. Aber eben nur bis zu einem gewissen Punkt. Und den hatte er überschritten.
Und ich war schuld! Natürlich war ich es, denn ich hatte ihn zurückgewiesen. Ich hatte ihn mit meiner dümmlichen und arroganten Ablehnung seiner Kräfte genau an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. Xenophobie, die Angst vor dem Fremden und Unbekannten.
In Wirklichkeit war es die Angst vor mir selbst und dem, was ich offensichtlich war. Eine Angst, die ich auf Ralf projizierte. Na super, Tobi. Dass hast du ja mal wieder perfekt hinbekommen.
»Du bist kein Monster. Und wenn du eins bist, dann bin ich auch eins ...«, mit einer entwaffnenden Schüchternheit sah mich Ralf an. Seine Augen waren völlig klar. Frei von jedem Funkeln und Glitzern. Sie waren leicht feucht und glänzend. Es war, als wenn ich Ralf in diesem Moment tief in seine Seele sehen konnte: »Als ich vorhin nach Hause kam, wollte ich es dir beweisen. Ich wollte dir beweisen, dass ich dich liebe. Ohne Einschränkungen und Vorbehalte. Ich nahm deine Karte. Wie hätte ich es besser zeigen können, als indem ich auf deine Gaben eingehe und sie akzeptiere!«
Ralfs Augen strahlten vor Freude. Ein Fingerzeig. Ralf brauchte mich genau so wie ich ihn. Nettes Konzept, warum war ich darauf nicht früher gekommen?
Der Traumjunge räusperte sich: »Aber, warum hast du es dann doch nicht getan?«
»Oh, ich habe. Allerdings ging jemand anderes ran.«
Ich schilderte, was passiert war, wie ich bei in dieser merkwürdigen Umgebung gelandet war und man versuchte, mich dort weich zu kochen. Ralf härte aufmerksam zu, wobei das übliche rote Funkeln in seinen Augen wieder auftauchte. Nachdem ich mit meiner Erzählung fertig war, meinte Ralf, dass ich ein Idiot sei. Er hatte nie darauf kalkuliert, dass ich ihm meine Liebe dadurch beweisen würde, in dem ich einer seiner telephatischen Karten folgte. Eigentlich, so Ralf, hatte er mit dem Thema Beziehung frustriert abgeschlossen. Um so gerührter war er von meinem Versuch.
»Du bist ein Idiot!«, Ralf lächelte. Endlich.
»Warum? Weil du mir nicht egal bist? Weil ich mich auch in dich verliebt habe!«
Mit diesem Satz brachte ich Ralf regelrecht in Verlegenheit. Er lief rot an: »Dann stört es dich nicht, dass ich ...?«
Ich ließ ihn nicht zu Ende sprechen. Ich legte ihm meinen Zeigefinger auf seine Lippen und rückte mit meinem Gesicht nur wenige Zentimeter dicht an seines ran. Leise, dass nur er es hären konnte, flüsterte ich ihm zu: »Nein! Mich' stärt an dir gar nichts. Du hast es mir doch erklärt: Wir sind nicht verantwortlich dafür, was und wer wir sind. Es geht nur darum, wie wir damit umgehen. Wie wir unsere Kräfte verwenden. Das hast du mich gelehrt. Im Zweifelsfall sind wir beide abartige Monster. Jeder eins auf seine Art. Ich wollte deine Gefühle nicht verletzen. Niemals. Wenn ich dich schlecht behandelt habe, dann nur, weil ich Angst vor mir hatte. Aber damit ist jetzt Schluss.«
Die letzten verbliebenen Zentimeter zwischen unseren Gesichtern reduzierte ich auf null. Glücklicherweise waren unsere Köpfe so positioniert, dass unsere Lippen aufeinandertrafen und die Kollision abfingen.
»Warte ...«
Die Lippenkollision war zur heftigen Küsserei ausgeartet. Ich hatte meine Zunge fast so tief in Ralfs Rachen gesteckt, dass ich seine Mandel ablecken konnte, als eben jener mich von sich weg schob. Er sah nicht glücklich aus, dies zu tun, aber er schien einen triftigen Grund dafür zu haben.
»Was?«, meine Hormone wollten, nein sie verlangten, dass ich mich weiter um Ralfs Mandeln kümmern sollte. Möglicherweise auch um andere Körperregionen. Mit einem Blick, als hätte jemand tief in der Nacht die Zimmerbeleuchtung angeschaltet, sah ich meinen Liebsten fragend an.
»Wie müssen aufhören ...«, sein Blick wollte was anderes »Wir müssen noch die Sache mit deiner Entführung klären.«
Eiswasser! Oder sowas in der Art. Worte wie »Entführungen«sind nicht erotisch. Nicht im geringsten.
»Entführung?«
»Ja, was dachtest du denn?«, Ralf sortierte seinen verrutschten Klamotten.
»Ich weiß nicht? Ich dachte, es war einfach nur eine telephatische Verbindung. Wobei allerdings der Anschluss manipuliert war.«
Ralf schüttelte verneinend seinen Kopf. Sein ernster Blick machte mich nervös. Sein dunkles rotes Augenfunkeln wirkte auch nicht sonderlich beruhigend.
»Keine Telepathie?«, ich fragte vorsichtshalber nochmal nach. Ich könnte ja 'was missverstanden haben.
»Nein!«
Ok, kein Missverständnis. Ich musste schlucken. Ganz leise, damit es ja niemand hären konnte, flüsterte ich Ralf meine Frage zu: »Was denn?«
»Teleportation und geistige Einkerkerung. Man hatte dich physisch entführt. Ich spüre immer noch die Restenergie. Dort am Schreibtisch. Du hast am Schreibtisch gestanden, als sie dich geholt haben.«
Schluck! Ralfs Ortsangabe war ausgesprochen präzise: »Erklärst du es mir?«
Ralf erklärte es nicht sofort. Stattdessen nahm er die Visitenkarte, die mich erst in die Schwierigkeiten gebracht hatten, in seine Hand und konzentrierte sich.
»Ja! Sie haben die Karte manipuliert. Scheiße! Warum hab' ich nicht daran gedacht?«
»Wann?«
»Erinnerst du dich an den Schattenläufer?«
Wie könnte ich den vergessen? Mir taten jetzt noch alle Knochen weh, wenn ich daran dachte, wie er mich niedergeschlagen hatte: »Ja, mit Grauen!«
»Das war ein Ablenkungsmanöver. Die mussten bereits gewusst haben, dass du mit uns in Verbindung stehst. Ich hatte mich schon gewundert, warum sie dich so langsam vergiftet hatten. Du solltest gar nicht dran glauben. Ich oder einer von unseren Leuten sollte dich retten. Doch bis es soweit war, hatten sie alle Möglichkeiten der Welt hier einzudringen.«
»Hier? Ich lag zwar flach, aber Michi hätte doch jeden anderen im Raum bemerkt.«
»Wer sagt denn, dass die sichtbar sind?«
»Unsichtbar?«
»Phasenverschoben und damit faktisch unsichtbar. Allerdings nicht für dich, du hättest sie gespürt. Aber da du flach lagst ...«
»Ich verstehe. Jemand war hier und hat die Karte ausgetauscht. Aber warum?«
»Um dich auszuhorchen. Du hast es selbst gesagt, dass dich die Isolationsfolter fast um den Verstand gebracht hatte. Warte ...«
Ralf nahm meinen Schädel vorsichtig in seine Hände und sah mich an. Er konzentrierte sich und schloss dabei seine Augen. Unter den geschlossenen Lidern konnte man sehen, wie sich seine Augäpfel bewegten, als wenn sie sich in einer fernen Realität umsehen würden.
Ralf öffnete seine Augen wieder und zog beeindruckt seine Brauen hoch: »Du hast mehr als 25 Stunden durchgehalten. Das hat noch niemand geschafft!«
»Ich auch nicht. Ich war weniger als ein paar Sekunden weg.«
»Tobi, du denkst immer noch in den normalen dreidimensionalen Dimensionen. Nur weil du weniger Sekunden nach deiner Abreise hier wieder aufgetaucht bist, heißt das noch lange nicht, dass du nicht etliche Stunden woanders gewesen sein kannst. Dein Gehirn enthält Gedächtnismuster für mehr als 25 Stunden. Ich fass es nicht, wie du das ausgehalten hast. Aber noch viel beeindruckender ist, wie du geflohen bist.«
»Ich bin geflohen!«, ja doch. Ich bin geflohen. Ralf hatte Recht. Ich hatte das gar nicht so wahrgenommen. Doch es stimmte. Ich bin abgehauen, als sich vor mir dieser Riss im Raum aufgetan hatte.
»Wie hast du das gemacht?«
»Was gemacht?«
»Den Raum aufgerissen. Du hast den Raum gekrümmt. Man könnte sagen, du hast ein Wurmloch zwischen dem Ort, an dem du dich befunden hast, und deinem Zimmer aufgebaut.«
Cool? Welcher 17jährige hat schon ein Wurmloch in seinem Zimmer: »Du spinnst ... oder?«
Ralf sah nicht so aus. Schweigend schüttelte er seinen Kopf.
»Ich kann Wurmlöcher machen?«
Ralf schwieg und nickte.
»Ist das Teleportation?«
»Nein. Teleporter dematerialisieren an einem Ort und materialisieren an einem anderen. Doch so wie du dein Erlebnis beschrieben hast, war das etwas anderes.«
»Ach, und was war es?«
»Keine Ahnung ...«
»Hey, ich denk, du bist ein Profi auf dem Gebiet.«
Ralf wirkte ernüchtert: »Ich habe bestenfalls etwas Erfahrung ...«
»Ach, und so einer will mir helfen.«, ich musste Ralf einfach aufziehen. Er begriff auch, dass ich das nicht ernst meinte, doch sein gequältes Lächeln zeigte mir, dass die Sache ernster war als ich dachte.
»Tobi, ich will dir nichts vormachen. Ich kenne meine eigenen Fähigkeiten erst seit zwei Jahren. Seitdem habe ich viel, sehr viel gelernt über Unsereins. Und trotzdem stehe ich erst am Anfang. Bisher sind mir eigentlich nur zwei Dinge klar geworden. Erstens: Erwarte keine Antworten! Immer wenn ich dachte, ich hätte etwas begriffen, tauchten hinter der nächsten Wegbiegung ein neues Bündel Fragen auf. «
»Und Zweitens?«
»Erwarte das unmögliche.«
»Wie jetzt?«
»Ich habe schon recht extreme Dinge erlebt. Manchmal ist es gar nicht so einfach, in dem Geschäft nicht verrückt zu werden.«
»Extreme Dinge? Hat sich jemand in grünen Schleim verwandelt?«
»Er war nicht grün ...«
»Oh!«
***
Ralf wurde etwas lockerer. Nach der Sache mit dem nicht grünen Schleim, schien für einen Moment die drückende Stimmung gewichen zu sein. Denn die Stimmung war drückend. Mein Leben hatte sich erneut verändert. Mir war, als hätte mich eine unbekannte Kraft in einen Schraubstock gespannt und war dabei, die Zwinge mal fester mal lockerer zu drehen.
Innerhalb weniger Wochen hatte ich mir eine Sammlung von Gegnern zugelegt, die von der Polizei, über den verblichenen Ex-Chef meines Vaters und seinen Schergen bis zu Schattenläufern und ihren Auftraggebern reichten. Ralf ließ das alles kalt. Er lächelte mich an und meinte immer nur, dass ich mir viel zu viele Sorgen machen würde.
»Warum tun wir denn nicht was?«
»Was denn?«
»Na, irgendwas?«
»Zum Beispiel?«
»Sex?«
»Idiot!«
»Du könntest mir etwas von uns erzählen. Zum Beispiel seit wann es Meschen mit PSI-Fähigkeiten gibt oder wer die Wächter sind.«
Ralf zögerte einen Moment und überlegte.
»Ja ... Warum eigentlich nicht.«, murmelte er nach einer Weile. »Ich glaube, du bist inzwischen reif genug.«
Der Anfang
Wobei es sich um ein relativ langweiliges Kapitel handelt, in dem unser Held bestenfalls etwas über die Hintergründe erfährt.
Wie bei solchen Erzählungen, bleiben hinterher mehr Fragen als Antworten übrig.
Wir machten es uns auf meinem Bett gemütlich. Eng an mich gekuschelt, begann Ralf mir unsere Geschichte zu erzählen.
»Die Anfänge liegen im Dunkeln. Niemand weiß, seit wann es Menschen mit übersinnlichen Wahrnehmungen oder Fähigkeiten gibt. Sicher ist nur, dass es sie überall auf der Welt gibt. Vor 5000 Jahren in China und Japan genauso, wie zur Zeit der Pharaonen im alten Ägypten.«
»Warum hat man nie etwas von ihnen gehört? Nur wilde Spekulationen in SciFi-Geschichten!«
»Um zu überleben! Ganz einfach, um zu überleben. Was meinst du, wie die normalen Menschen auf uns reagieren würden, wenn sie wüssten, dass es uns gibt. Es gibt Überlieferungen, dass in manchen Kulturen alle Mutanten sofort getötet wurden, sobald man sie entdeckte. Was meinst du, was hinter den Hexenverbrennungen des Mittelalters wirklich stand?«
»Hat es nie jemand versucht mit unsere Fähigkeiten in die Öffentlichkeit zu gehen? Sie nutzbringend für alle zu verwenden?«
»Doch, hat es. Du kennst die Geschichte. Vor rund 2000 Jahren hat es einer in Palästina mit einer Gruppe von 12 anderen Jungs versucht ... Die Sache ging bekanntlich richtig in die Hose.«
»Du meinst doch nicht ...«
»Doch, genau der. Man hat ihn an's Kreuz genagelt. Dabei hat man ihn vorher gewarnt, was dabei rauskommen könnte. Die Idee war gut ... Seine Ideen waren brillant. Sie hat schließlich ganze Kulturen erst möglich gemacht. Leider hat es auch die falschen Leute stark gemacht.«
»Die falschen Leute!«
»Die Kirche, vorzugsweise die römisch-katholische. Ihr ganzer verlogener Mystizismus basiert auf uns. Nur, dass sie uns aufs aller Schärfste verfolgen. Gut, heute nicht mehr so wie früher. Es gibt Spezialeinheiten zum Aufspüren und Ausschalten von Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten.«
»Kein Scheiß? Ein Special Squad Team in schwarzer Sutane!«, der Gedanke war lustig. Als Kind war ich in Süddeutschland gewesen. Wir, meine Eltern und ich, hatten eine Tante besucht. Ein liebe, aber auch streng gläubige Seele. Der Besuch einer Messe war also Pflicht. Es war damals schon merkwürdig genug, wenn man aus einer eher säkularen und protestantischen Ecke des Landes kam. Aber der Gedanke des Pfarrers im Tarnanzug auf Mutantenjagd ... Nun ja ...
»Kein Scheiß.«, entgegnete Ralf. »Die Typen waren und sind exzellent ausgebildet. Ein Grund, warum du außer mir noch niemanden anderen kennen gelernt hast, liegt in der Existenz dieser PSI-Jäger begründet. Es gibt eine Regel, die unserem Selbstschutz dient. Ein neuer, wie du es bist, bekommt nur so viel Kontakt zu anderen, wie er bei einer Entdeckung am wenigsten Schaden anrichten kann. Würde man dich enttarnen und ausquetschen, dann würden die Spuren nur zu mir führen. Aber nicht weiter. Und ich kann mich verteidigen!«
Ralfs Augen funkelten eisig blau. Ein Schauer lief über meinen Rücken und ich bekam eine Gänsehaut. Ich glaubte Ralf - Er würde sich verteidigen können.
»Was hat die Kirche denn gegen uns?«
»Angst vor Machtverlust! Wie soll man seinen Alleinheitsanspruch auf alles Spirituelle aufrechterhalten, wenn die Wunder, die man predigt, plötzlich tatsächlich geschehen?«
»Oh, hm ... ja, also ...«, mir wurde mulmig, eine Befürchtung beschlich mich, »Du bist aber kein Satanist, oder? Keine schwarzen Messen und Blutopfer und solch Zeugs, ja?«
»Tobi, also wirklich!«, Ralf spielte den Empörten. »Ich schwäre, dass ich nichts mit dem Teufel am Hut habe, so war mir Satan helfe! Da fällt mir ein, ich muss mir ja noch ein neues schwarzes Huhn kaufen ...«
Ralf grinste und ich knuffte ihn: »Verarsch mich nicht. Ich habe schließlich überhaupt keine Ahnung.«
Ralf nahm mich fester in seine Arme und schmiegte sich dicht an mich: »Sei du selbst. Handle, so wie du es für richtig hältst. Lass dich von niemandem für seine Sache einspannen oder missbrauchen. Wenn du das tust, landest du auf der anderen Seite.«
»Der dunklen Seite der Macht?«
»Ich könnte Lucas dafür würgen. Er muss wirklich jemanden von uns gekannt haben ... Ja, es gibt so etwas wie die dunkle Seite. Wie ich schon sagte, unsere Fähigkeiten können extrem sein. Es gibt einige, die meinen, wir wären der homo superior, die nächste Stufe der menschlichen Evolution. Das mag vielleicht stimmen, doch leiten diese Leute daraus einen Legitimationsanspruch ab, die restliche Menschheit dominieren zu dürfen. Tja, da sind sie einem kleinen Denkfehler aufgelaufen. Nur, weil ich mich durch eine Wand bewegen kann oder in den Gedanken anderer Leute lesen kann wie jene ihre Tageszeitung, bin ich noch lange kein besserer Mensch. Man ist weder moralischer, noch ethischer.«
»Und?«
»Wir sind im Krieg. Einem stillen, heimlichen, unbemerkten, aber dafür sehr schmutzigen Krieg. Du hast es selbst erlebt.«
»Also so wie im Comic? Die guten Mutanten gegen die Bösen?«
»In etwa. Im Gegensatz zum Comic, in denen alles recht öffentlich ab geht, wissen beide Seiten, dass der Rest der Welt tunlichst nichts davon mitbekommen darf. Da wären wir nämlich wieder beim Selbstschutz. Übrigens, weißt du, warum früher Schwule verfolgt wurden?«
»Nein ... Naja, die Kirche war dagegen. Todsünde und so Zeugs. Die sind doch eh sexfeindlich.«
»Fast ... Die meisten Telepathen sind schwul oder lesbisch. Mehr als 90% ...«
»Wow!«
»Nicht war?«, Ralf grinste.
»Dann gibt es da noch andere Schnuckel außer dir?«
»Näh, die sind alle viel, viel hässlicher als ich ...«, Ralf grinste und begann mit seinen Händen unter mein T-Shirt zu gleiten. »Ich bin der süßeste und schnuckeligste von allen.«
»Das war einmal ...«, grinste ich Ralf an und zog ihm sein T-Shirt aus. »Das bin ich nämlich jetzt.«
»Du bist ganz schön eingebildet. Weißt du das?«, Ralf zog mir nun seinerseits mein T-Shirt aus. Unsere Oberkörper waren jetzt nackt. Wäre dies ein amerikanischer Film gewesen, dann hätten wir jetzt schon Sex, denn dort behalten die Schauspieler ja immer ihre Hosen an.
Ich umarmte Ralf. Sein Oberkörper schmiegte sich sanft, aber eng, an meinen. Er wollte noch etwas sagen, doch ich kam ihm zu vor: »Psscht! Nichts mehr ...Du gehörst jetzt mir. Mein allerliebster homo superior ...«
»Wie du meinst ... Ich kann dann aber für nichts mehr garantieren!«
»Das hoffe ich doch!«, auf diesen Satz antwortete Ralf mit einem wahren Feuerwerk in seinen Augen.
»Hallo Leute, ich ... Oh«
Ich war gerade dabei, die Gürtelschnalle von Ralfs schwarzer Nyloncargo zu öffnen, als eine unerwartete, aber dafür altbekannte Stimme die erotische Spannung in meinem Zimmer zerfetzte.
»Michi! Verdammt!«, ich knurrte, Ralf schüttelte amüsiert den Kopf.
»Ich komme wohl gerade etwas ungelegen ...?«, Michis Kopf wurde dunkelrot, so rot, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Sein Besitzer blieb angewurzelt im Türrahmen stehen und starrte mich und Ralf an, wie wir bereits mit nacktem Oberkörper uns auch noch unserer restlichen textilen Hüllen entledigen wollten.
»Etwas ...«, schmunzelte Ralf auf Michis Frage.
»Wolltet ihr gerade miteinander schlafen?«
»Deine Fragen waren auch schon mal intelligenter. Wonach sieht das hier aus? Oder warte, nein, ich wollte Ralf gerade meine Briefmarkensammlung zeigen.«
»Sorry, es tut mir Leid. Ich komme später nochmal wieder ...«, Michi wollte sich schon aus dem Staub machen. Ich sah Ralf fragend an. Doch der zuckte nur mit den Schultern und überließ mir die Entscheidung. Ich ließ mich mit dem Rücken auf mein Bett fallen und knurrte: »Bleib' hier. Das wird jetzt eh' nix mehr. Die Luft ist raus.«
Unsicher und vorsichtig tapste Michi ins Zimmer.
»Du könntest aber die Tür zu machen ...«
Noch unsicherer hechtete Michi zurück zur Tür, schloss sie und kam wieder näher. Michi glotzte uns an.
»Michael Müller, warum glotzt du wie ein Auto?«
Der Angesprochene schüttelte seinen Kopf, um sich aus einer eigenen Katatonie zu wecken und murmelte monoton: »Ich hab' nie gesehen, wie zwei Typen miteinander ...«
»Mehr wirst du auch nicht sehen. Wir werden kaum vor deinen Augen miteinander poppen.«
»Nein, sollt ihr auch nicht ...«
»Oh, danke!«
»... euch zwei so zu sehen ... Ich kann nicht glauben, dass ich das sage, aber es sieht geil aus.«, Michi schluckte: »Ich hab' n' Steifen!«
Jetzt musste ich auch grinsen. Ich warf Ralf einen Blick zu, der kicherte albern und ich konnte mich auch nicht zurückhalten. Um Michi noch etwas mehr zu quälen, umarmte ich Ralf von hinten, ließ meine Brust sich an seinen Rücken schmiegen und lehnte meinen Kopf an seinen, so dass sich unsere Wangen berührten. Schließlich flötete ich Michi lasziv zu: »Magst du es, attraktive junge Männer bei ihren Liebesspielen zu beobachten?«
Michi lief fast der Sabber aus dem Gesicht. Sein Kopf war fest eingerastet, er starrte uns monoton an. Als ich dann auch noch begann mit meinen Händen Ralfs Brust zu streicheln, wandte Michi seinen Blick mit aller Kraft ab: »Hört auf!«
Wir hörten auf. Wir gingen sogar so weit, dass wir uns wieder unsere T-Shirts anzogen. Sittsam gekleidet sprach ich Michi wieder an: »Du kannst dich wieder umdrehen.«
Vorsichtig, dass wir ihn auch ja nicht austricksten, drehte sich Michi zu uns um. Man konnte seine Erleichterung sofort sehen, als er entdeckte, dass wir wieder bekleidet waren.
»Leute, ich versteh dass nicht. Ich bin 200% hetero, aber euch zwei so zu sehen. Noch etwas mehr und ich hätte nach Hause gehen müssen, um mir neue Unterwäsche zu holen. Macht das ja nicht, wenn Mädchen im Raum sind. Die begehen sofort Selbstmord.«
»Du musst es ja wissen!«, mischte sich Ralf ein. »Aber was verschaffte uns eigentlich deinen spontanen Besuch?«
Jetzt, nachdem wir, Ralf und ich, unsere partielle Nacktheit bedeckt hatten, schien er wieder zur Normalität zurückgekehrt zu sein.
»Kirsten!«, Michi strahlte als er den Namen aussprach. »Sie hat mich gefragt, ob ich mit ihr zu Anjas Party komme. Jau, die Frau mag mich! Endlich mal eine mit Hirn in der Birne. Kirsten ist die totale Superfrau und sie will mit mir zu Anja! Mit mir!«
Ich grinste Ralf an, Ralf grinste mich an. Die Wolke Schmetterlinge, die Michi umschwirrte, war nicht zu übersehen.
Mir kam eine Idee. Ich grinste erneut, aber anders. Ich grinste mit zu kleinen hinterhältigen Schlitzen verengten Augen Ralf an: »Sag' einmal, würdest du mich zu Anjas Party begleiten? Als mein Freund!«
»Das muss ich mir erst noch überlegen ... Ja!«, Ralf strahlte.
Es war einfach unerträglich. Ein Zimmer voller frisch verknallter Jungs war einfach unerträglich. Einfach widerlich, diese Glückseligkeit. Also wirklich ...
Anjas Party
Worin man in einem rundum glücklichen Zustand an einer Party teilnimmt.
Eitel Sonnenschein? Es schien so. Für eine Weile war aller Stress vergessen. Oder besser: verdrängt. Wenn es auch immer noch nicht zu sexuellen Handlungen zwischen Ralf und mir gekommen war -- woran Michi nicht ganz unschuldig war -- schien sich Ralfs und meine Freundschaft endlich zu einer echten Beziehung gemausert zu haben. Vielleicht hatte ich einfach nur etwas Zeit gebraucht. Den eigenen Standpunkt bestimmen. Seine eigene Mitte finden. Etwas in der Art.
Natürlich -- Ralf war viel zu lieb, um mir meine anfängliche Zurückhaltung nachzutragen.
Natürlich -- Er war sauer gewesen. Er war bockig gewesen und hatte mich auflaufen lassen. Er wollte es drauf ankommen lassen, als er mich in der Schule stehen gelassen hatte.
Und?
Es hatte funktioniert. Ohne telephatische Tricks. Einfach nur das älteste Spiel seit es Menschen gab.
Liebe?
Ja, sicher. Möglicherweise klingt es etwas kitschig. Aber ich war verliebt. Bis über beide Ohren. Selbst meine Mutter grinste mich wissend an und murmelte etwas von: »Du glühst ja richtig. Muss Liebe schön sein.«
Sie war es.
Ich war froh Ralf zu haben. In jeder Beziehung: als Freund, als Lehrer, als Mensch und hoffentlich bald auch als Liebhaber.
In dieser glücklichen Verfassung rückte der Freitagabend unaufhörlich näher. Ralfs und mein erster gemeinsamer Auftritt als Paar.
Als klar war, dass wir hingehen würden, hatte ich Anja sofort angerufen und erzählt, dass ich tatsächlich in Begleitung kommen würde. Sie bohrte natürlich sofort nach und wollte wissen, mit wem ich denn aufkreuzen würde, aber ich beherrschte mich und meinte nur, sie solle sich doch einfach überraschen lassen. Die nächsten 15 Minuten versuchte Anja an mein Gewissen, meine Moral, mein Herz, meine Ehre, meine Liebenswürdigkeit, mein Vertrauen in ihre Verschwiegenheit (Träum weiter Mädchen!) und noch tausend andere Dinge zu appellieren. Ich blieb hart -- gerade so mal eben noch. Frauen sind eine extrem gefährliche Spezies.
Den unmittelbaren Nachmittag vor dem Event verbrachten Ralf und ich in diversen Klamottenläden. Schließlich wollte wir das Konto meiner Mutter schröpfen und uns ein paar nette Teile zulegen.
Für mich war das noch eine neue Erfahrung: die Entdeckung der eigenen Eitelkeit. Einem Laster, dessen ich mir früher nicht bewusst war, von dem ich mir nie vorstellen könnte, darunter zu leiden.
Aber ich konnte. Lustgewinn durch Shopping.
Mein bisheriger Außenseiterstatus hatte immer für eine recht eingeschränkte Auswahl an Stilen gesorgt. Zu cooles, angesagtes und möglicherweise sogar teures Zeug hätten eh nur dazu geführt, dass sie mir von Nils und Co. wieder abgenommen worden wären. Carsten betrieb einen lukrativen Handel mit der Ware. Abnehmer zu finden, war überhaupt kein Problem.
Als Außenseiter hatte man daher einfach nicht aufzufallen. Schlicht und unauffällig war angesagt.
Aber das war einmal. Von derartigen Bevormundungen befreit, langte ich zu. Ralf half mir bei der Auswahl. Der Junge hatte Geschmack. Das erste Mal gefiel ich mir. Wow, ich war wirklich mit mir, meinem Körper, einfach mit allem zufrieden.
»Hast du mir in der Schule irgendwas in den Kaffee getan?«
»Näh, wieso hätte ich!«
»Nein, nur ... ich hab' mich noch nie so gut gefühlt. Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, ich hätte was genommen. Hab' ich aber noch nie ...«
Wenn man von dem Zeug absah, dass mir mein Vater gegeben hatte.
»Genieß es!«
»Das werd' ich. Worauf du dich verlassen kannst. Übrigens ...«
»Ja?«, Ralf funkelte mich blau an.
»Ich weiß nicht, ob ich es mir einbilde, aber ich hab' dass Gefühl, dass ich mich in letzter Zeit körperlich verändert habe. Es mag blöd klingen und ich wüsste auch nicht, wie das passiert sein könnte, aber ich hab' das Gefühl, ich hätte an Muskeln zugelegt. Außerdem fühl ich mich wacher, fitter, kräftiger und ... potenter.«
Ralf grinste breit: »Gut beobachtet ...«
»Wie jetzt?«
»Es stimmt ... Eine Folge deiner Kräfte ... Sieh mich an. Ich habe nie eine Hantel in die Hand genommen.«
Ungläubig starrte ich Ralf an: »Nie!«
»Na ja, vielleicht ein mal. Aber vorher.«
»Vorher?«
»Bevor ich meine Kräfte entdeckte.«, Ralf druckste etwas rum. »Es kommt in der Pubertät. Die meisten Telepathen, ich nehm das mal als Oberbegriff, entwickeln ihre Fähigkeiten während der Geschlechtsreife. Bei den meisten von uns bleibt es aber nicht dabei ... Ich hatte dir schon erzählt, die meisten sind schwul oder lesbisch und entdecken dies zur gleichen Zeit wie ihre Kräfte. Was ich dir noch nicht erzählt habe, ist, dass sich auch der Körper physisch verändert. Männer werden männlicher: Breiteres Kreuz, Fettgewebe bildet sich zurück und macht wohlproportionierten Muskeln platz, die Stärke und allgemeine Fitheit nimmt zu. Bei den Frauen ist es ähnlich nur etwas sexistischer: Sie werden femininer: Oberweite, Taille. Wer sich die Sache auch immer ausgedacht hat, muss krank im Kopf gewesen sein. Natürlich versucht uns alles anzubaggern, was auf zwei Beinen läuft und zum anderen Geschlecht gehört. Beim eigenen verursachen wir nur Neid und Missgunst.«
So endete unser Klamotteneinkauf mit einer weiteren Lehrstunde für angehende Telepathen. Wir fuhren mit dem Bus zu Ralf. Während er eine Sporttasche mit seinen Klamotten für den bevorstehenden Abend packte, lernte ich seine Eltern kennen. Nette Leute. Seine Mutter war meiner nicht ganz unähnlich in ihrer Art. Sie fragte mir tausend Löcher in den Bauch und konnte sich nicht verkeifen, Ralf zu seinem Männergeschmack zu gratulieren (Ralf wurde krebsrot -- Mütter eben). Sie fand mich »schnuckelig«! Na ja ...
Der Rest des Nachmittages und frühen Abends verlief unspektakulär. Fahrt zu mir. Kleiner Imbiss. Intensive Körperpflege. Rasieren, Duschen, mit Ralf schmusen, Föhnen, mit Ralf schmusen und nochmal das Haar föhnen, aufbrezeln.
Nach zweieinhalb Stunden waren wir fertig. Frauen brauchen auch nicht länger. Aber immerhin, wir waren mit uns zufrieden.
»Wem willst du eigentlich imponieren?«
»Jedem!«
»Wehe, wenn ich dich mit jemanden anderem sehe!«
»Eifersüchtig?«
»Tödlich eifersüchtig!«
»Süß!«
Es konnte los gehen.
***
Anja wohnte, wie wir alle, bei ihren Eltern. Diese schienen über einen gewissen Wohlstand zu verfügen, denn Anja wohnte in einem eher größeren modernen Einfamilienhaus. Strategisch geschickt hatte sie ihren Eltern für den Abend freigegeben, was diese nutzten, um sogar die Stadt für einen Kurzurlaub zu verlassen.
Als Ralf und ich an der Tür klingelten, härte man bereits von außen das monotone Basshämmern der Musik. Die Tür wurde aufgerissen und eine Typ glotzte uns an: »Ja?«
»Tobias«, sagte ich.
»Ralf«, sagte Ralf.
»Florian, ich bin Anjas Bruder, kommt rein.«, winkte uns Flo ins Haus.
»Niedlich isser ...«, flüsterte ich Ralf zu.
»In der Tat ...«, antwortete jener.
»Habt ihr was gesagt?«, fragte Flo, der unser Flüstern bemerkt hatte.
»Ähm, ach nix ... Nettes Haus ...«, versuchte ich die peinliche Situation zu überspielen. Ralf funkelte grün und schüttelte seinen Kopf.
»Anja ist in der Küche!«, wies uns Florian den Weg und drehte sich wieder der Haustür zu, das es soeben wieder geklingelt hatte.
Es war bereits recht voll und wir kämpften uns zur Küche vor, was gar nicht mal so einfach war. Der halbe Jahrgang schien auf Anjas Party zu sein. Ständig grüßten Leute und man grüßte zurück. Erneut bemerkte ich, dass sich etwas mir gegenüber geändert hatte. Vor einem halben Jahr hätte mich niemand gegrüßt. Die meisten hätten nicht mal bemerkt, dass ich im Raum gewesen wäre.
»Hallo Anja! Danke für die Einladung!«, wir hatten die Küche schließlich erreicht und fanden die Gastgeberin beim Einschenken von Sektgläsern.
»Und hier ist mein Freund: Ralf Antonides!«
Bevor ich genussvoll die Worte mein Freund ausgesprochen hatte, war Anja strahlend-fröhlich dabei, uns zwei Gläser des Schaumweines anzubieten. Unmittelbar nach meinem Satz wirkte sie gequält-ernüchtert und ließ ihre Hände zu Boden sinken. Der vergorene Rebensaft plärrte auf den Boden.
»Oh, nein Tobi! Sag', dass das nicht wahr ist! Nicht auch noch Ralf! Bitte, Ralf, sag du mir, dass es nicht wahr ist! Ihr könnt doch nicht alle schwul sein?«
Ralf antwortete doppelt: verbal und nonverbal. Er meinte: »Es tut mir Leid, Anja, aber es ist wahr. Tobi ist mein Mann!«Und zur Bestätigung schlang er noch von hinten seine Arme um eine Brust.
Anja zuckte resigniert mit den Schultern, griff sich drei neue Gläser und lächelte uns leicht enttäuscht an: »Trotzdem: Willkommen auf meiner Party ihr zwei Sahnestückchen. Kommt, stoßt mit mir an.«
Die Party ging sich nett an. Wir waren zwar nicht die ersten Gäste, aber auch nicht die letzten. Man hatte fast das ganze Haus okkupiert, was soviel hieß, dass sich Keller, Erdgeschoss und der erste Stock fest in den Händen der Partygäste befand. Die einzig leeren, weil gesperrten, Räume waren die Garage, der Dachboden, Heizungskeller und das elterliche Schlafzimmer.
Die Aufteilung der Räumlichkeiten war so praktisch, wie sinnvoll. Anjas Zimmer und das ihres Bruders lagen im ersten Stock und dienten als Rückzugs- und Chill-Out-Bereich. Dunkel oder schwach beleuchtet und weit weg vom restlichen lärmenden Geschehen, konnte man sich dort erholen.
Das Wohnzimmer lud zum Plaudern und gemütlichen Beieinandersitzen ein. Mit leichter Ambient-Music beschallt und einer kleinen Bar war es ein sehr gemütlicher Raum und auch schon entsprechend gefüllt. Wieweit die dort dargereichten alkoholischen Getränke die Zustimmung der Erziehungsberechtigten fanden, hinterfragte ich nicht. Das Esszimmer musste seinerseits mit seiner üblichen Aufgabe zufrieden sein.
Anja hatte zum Mitbringbuffet aufgerufen und alle hatten etwas mitgebracht. Sogar Ralf und ich. Wobei ich auf die Hilfe meiner Mutter zurückgegriffen hatte, die mich bei der Aufschichtung und Herstellung eines Tiramisus unterstützte. Ralf hingegen hatte auf sein griechisches Erbe zurückgegriffen und war mit einem selbstgemachten Pastizzio aufgekreuzt.
»Du weißt doch, meine Großeltern sind Griechen.«
Und dann der Keller: laut, schrill, feucht, dampfend. Muss ich mehr sagen? Das Partyvolk hatte seinen Spaß. Tom, einer meiner Mitschüler aus meiner alten Klasse, mit dem ich inzwischen nur noch einen Kurs teilte, hielt als DJ die Kids bei Laune. Er schien seinen Job gut zu machen, denn das Volk tobte.
Ralf und ich scannten die Lokalität ab und fanden uns schließlich im Esszimmer wieder, wo wir uns mit allerlei Fressalien versorgten. Der Abend war noch jung und wir hatten nicht vor gleich wieder zu gehen. Mit zwei gut gefüllten Tellern bewaffnet, steuerten wir vom Ess- in Richtung Wohnzimmer und versuchten dort zwei Plätze zu ergattern.
Wir fanden zwei. Allerdings nicht nebeneinander sondern jeweils am anderen Ende eines großen langen Tisches. Neben mir saßen Svenja und Johannes, beides Leute, die früher an mir vorbeigerannt waren. Nicht aus böser Absicht, aber schließlich war ich ein Niemand gewesen.
Johannes
Worin man zwischen die Fronten des Geschlechterkampfes gerät
»Tobi?«, Svenja hatte zur Seite gesehen, weil sie wissen wollte, wer sich da neben ihr niedergelassen hatte. Sie blickte, wandte sich wieder ihren Nudelsalat zu, blickte erneut, staunte und meinte dann, verblüfft und überrascht: »Tobi?«
»Ja ...«, ich simulierte intensives Nachdenken. »Doch, das ist mein Name.«
»Du hier?«
Ich konnte mir ein süffisantes Grinsen nicht verkneifen und spielte die Rolle des Ahnungslosen einfach weiter und schenkte ihr mein entwaffnetes Lächeln: »Ich glaube schon.«
Svenja war verunsichert: »Wie meinst du denn das?«
Und ich grinste: »Vergiss es ... Ich hab' nur rumgealbert. Anja hat mich eingeladen. Überrascht?«
»Ja, du bist doch ...«
»Ein Freak?«, Michi hatte mir mal erzählt, dass man mich dafür hielt.
»Ähm so würde ich das nicht ausdrücken ...«, Svenja fühlte sich ertappt.
»Schon Ok. Ich bin es gewähnt.«
Svenja musterte mich von oben bis unten. Zog sie mich etwa mit den Augen von oben bis unten aus: »Du bist gar kein Freak ... Du bist nett.«
Flirtmode?
»Danke, du auch.«
Warum musste ich den Mädels eigentlich immer Hoffnungen machen. Ich konnte eben nicht aus meiner Haut. Ich war viel zu gut erzogen, als dass ich Komplimente nicht zurückgeben musste.
»Bist du alleine hier?«, Svenja kam gleich zur Sache.
»Nein, mit Ralf.«, ich zeigte auf den mein Babe am anderen Ende des Tisches. Ralf bemerkte, dass ich auf ihn deutete und lächelte mir zu. In seinem Blick flackerte etwas von Panik auf. Er schien nämlich selbst gerade von einem weiblichen Wesen in Beschlag genommen worden zu sein. Corinna saß neben ihm und war dabei ihn regelrecht anzuhimmeln.
»Du kennst Ralf Antonides?«, Svenja war begeistert und mich beschlich das Gefühl eifersüchtig werden zu müssen.
»Ja, Ralf ist mein Freund.«, ich ging nicht davon aus, dass Svenja den feinen Unterschied zwischen Freund und Freund mitbekommen hatte.
»Ihr seid echt befreundet?«, jetzt wurde ich wieder von Svenja gemustert. Ihren Blick nach zu urteilen, schien ich mehrere Stufen in ihrem Ansehen zu steigen. Bei mir kämpften Stolz und unterschwelliger Ärger miteinander. Natürlich war ich auf Ralf, meinen Ralf, stolz und stolz darauf, mit ihm befreundet zu sein. Dass Svenja aber mich nach meinen Freunden beurteilte, stieß mir etwas sauer auf. Von daher hatte ich nicht die geringsten Skrupel, Svenja noch etwas zu verscheißern.
»Sind wir. Michi und Ralf sind meine besten Freunde.«
Svenja strahlte: »Tobi, ich glaub ich hab dich immer falsch eingeschätzt. Du scheinst echt ein toller Kerl zu sein.«
»Danke ...«, Na, kommt da noch was. Mädchen, du hast du noch was auf dem Herzen.
»Kann ich dich was persönliches über Ralf fragen?«
Ich lächelte in mich hinein. Mir war absolut klar, welche Frage kommen würde. Ich gefiel ihr ganz gut. Aber das Bessere ist des Guten Feind. Warum sich mit mir aufhalten, wenn die Chance bestand, sich Ralf zu angeln?
»Weißt du, ob Ralf eine Freundin hat?«, Svenja wurde sehr direkt.
»Eine Freundin? Nein, glaub' ich eigentlich nicht.«, das war die absolute Wahrheit. Svenjas Laune wurde immer besser. Sie blieb aber trotzdem vorsichtig.
»Du bist dir aber nicht sicher, oder?«
»Zu 99%!«
»Also ein Typ wie er und dann ohne Beziehung? Das kann ich mir echt nicht vorstellen.«
»Das er keine Beziehung hat hab' ich ...«
Weiter kam ich nicht. Neben mir wurden Messer und Gabel laut und nachdrücklich auf einen Teller geworfen. Johannes räusperte sich, stemmte seine Hände auf den Tisch und drehte sich Svenja und mir zu.
»Du musst aber auch jeden Typen angraben, der dir über den Weg läuft, oder?«, brummte Johannes mit seiner sonoren Bassstimme.
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht?«, eiste Svenja zurück.
»Glaubst du ein Typ wie der, interessiert sich für ein Zicke wie dich?«
Oh, Johannes gehörte zu den ganz Charmanten.
»Wenn ich bei eurer Unterhaltung störe ... Ich kann gehen ...«
Ich hatte keine große Lust direkt zwischen dem Geschlechterkampf zu stecken.
»Bleib ruhig sitzen, Tobi!«, quietschte Svenja. »Johannes wollte gerade gehen.«
»Träum weiter, Schätzchen. Falls du es vergessen haben solltest, wir sind nicht mehr zusammen.«
»Gott sei Dank!«
Ach, so unterhalten sich Expartner miteinander? Man lernt nie aus.
»Ich glaub', ich hol mir nochmal Nachschub.«, mit diesen Worten wollte ich mich gerade aus dem Kampfgeschehen entfernen, als mich Johannes an meiner Schulter packte und wieder auf den Stuhl hinab zog.
»Du bleibst. Ich muss dir ein paar warnende Worte zu Svenja erzählen, damit du weißt, auf was du dich bei ihr einlässt ...«
»Ach, was willst du den wieder für Lügen über mich verbreiten?«, Svenja zischte.
»Lügen? Mit wie viel Typen hast du gepoppt, als wir zusammen waren?«
»Püh! Wärst du nicht so ein Schlappschwanz im Bett, wär es nie dazu gekommen.«
Johannes lief rot an. Svenja hatte ihn an einem empfindlichen Punkt getroffen. Aber das reichte ihr nicht, sie musste noch einen obendrauf setzen: »Vielleicht stehst du ja auch gar nicht auf Mädchen? Vielleicht suchst du dir lieber einen Det-lev ...«
Nachdem sie jenen bewussten Namen eindeutig betont hatte, erhob sich Svenja und stolzierte von dannen. Neben mir saß Johannes, tief getroffen starrte er die Speisereste auf seinem Teller an.
»Vergiss sie! Gönn' ihr nicht den Triumph!«
Johannes fuhr herum: »Ich wüsste nicht, was dich das angeht? Hab' ich dich um deinen Rat gebeten? Nein! Also halt die Klappe!«
Seine Reaktion war heftig. Für meinen Geschmack zu heftig. Er wird doch wohl nicht ...? Die Chancen standen bekanntlich irgendwo zwischen 1 zu 10 bis 1 zu zwanzig, dass Johannes schwul war. Also nicht sehr wahrscheinlich.
»Sie hat also Recht?«
Meine Zunge war mal wieder schneller als mein Hirn. Fast erwartete ich, dass Johannes mir an die Gurgel springen würde und im ersten Moment sah es auch so aus. Johannes sprang auf, packte mich und wollte mich gerade hochreißen und mich an die nächste Wand klatschen, als Ralf plötzlich neben mir stand.
»Tobi, soll ich dir noch was vom Büffet mitbringen?«, funkelte mich Ralf golden an und zeigte sein fiesestes Blend-a-Med-Lächeln. Das brachte Johannes aus dem Konzept. Er ließ mich los und sich auf seinen Stuhl fallen.
»Ja, gerne. Nudelsalat und Frikadellen. Danke!«
Ralf musterte mich und zwickte mir schließlich in die Seite: »Bist du dir mit dem Nudelsalat ganz sicher? Nicht, dass es nachher anfängt zu schwabbeln.«
»Zisch ab!«
Wir grinsten uns kurz an und Ralf schob tatsächlich ab. Ich wandte mich wieder Johannes zu. Was war er für ein Typ? Johannes war ein Schrank von 1,90 Meter. 18 Jahre alt und breitschultrig, stämmig, ein Brecher, niemand, dem man gerne im Dunklen begegnen wollte. Solange man ihn nicht kannte. Johannes war normalerweise lammfromm. Soweit ich Johannes kannte, war er einer der fairen und netten Typen. Er war niemand, der viel sprach, ganz im Gegenteil schien er immer am Grübeln und Nachdenken zu sein. Im Moment war er aber alles andere als nachdenklich: Er hockte neben mir auf seinem Stuhl und schien den Tränen nah zu sein.
»Hey, was ist los?«
Johannes schien mich gar nicht wahrzunehmen. Er glotzte durch mich hindurch.
»Bodenstation an Johannes?«, ich stupste ihn in die Seite, er reagierte: »Ah, da bist du ja wieder.«
Johannes sah mich unsicher an: »Kannst du das bitte für dich behalten?«
»Was denn?«
»Was Svenja gesagt hat. Dass ich angeblich nicht auf Mädchen stehe ...«
»Kein Problem. Ich glaube nur, dass Svenja sich nicht zurückhalten wird. Sie ist ziemlich sauer auf dich.«
»Kein Wunder. Ich habe mit ihr Schluss gemacht. Vor vier Wochen war das. Niemand macht mit Svenja Schluss.«
»Die Frau hegt Rachegelüste!«
»Worauf du einen lassen kannst!«
»Und du meinst sie wird rumposaunen, dass du schwul bist?«
Als ich das Wort »Schwul«aussprach, zuckte Johannes zusammen, als hätte ihn etwas gestochen.
»Das bringt sie fertig ... Eiskalt!«, Johannes sah aus, als hätte man ihm sein Todesurteil verlesen. Sofort fühlte ich mich berufen ihn seelisch aufzubauen. Schließlich muss man als Mann zusammenhalten, egal ob schwul oder nicht.
»Lass sie doch!«
Johannes guckte mich an, als wenn ich ein Alien wäre: »Spinnst du? Sie erzählt rum, dass ich schwul bin!«
»Ja und? Hast du was gegen Schwule?«
»Ja ... nein, aber die anderen. Du weißt doch, was die immer für Witze machen und das die solche Typen aufmischen.«
Ich trat einen Schritt zurück und sah mir Johannes demonstrativ von oben bis unten an: »Ich seh' schon, es würde dir schwer fallen, dich zu verteidigen.«
»Du bist wirklich ein Freak, aber ein netter. Du kannst ja richtig cool sein. Ich schein dich irgendwie immer falsch eingeschätzt zu haben.«
Ich verdrehte die Augen: »Das bekomm ich in letzter Zeit häufiger zu hären.«
»Danke!«
»Wofür?«
»Weiß ich nicht. Aber ich fühle mich besser. Hm, weißt du, dass du der Erste bist, der nicht gleich über Homos ablästert.«
»Bin ich?«
»Ja, bist du. Du hast mich auch nicht gefragt, ob ich einer bin.«
»Nein, dass ist doch deine Privatsache. Ob du nun hetero-, bi-, homo- oder asexuell bist, ist ganz allein dein Ding.«
»Eigentlich weiß ich gar nicht, warum ich dir das alles erzähle. Wir kennen uns ja kaum. Ich hab' nur das Gefühl, dir vertrauen zu können. Kann ich dir was anvertrauen?«
»Ich denke ja.«, es war ein schlechter Moment, um mit meinen üblichen Scherzen fortzufahren. Johannes lag etwas auf der Seele und das wollte endlich raus. Ernst fügte ich hinzu: »Du hast Recht. Wir kennen uns kaum. Aber das ist für mich kein Grund jemanden zu hintergehen oder zu bescheißen. Wenn du mir etwas erzählen willst, tu es oder lass es. Ich dränge dich zu nichts.«
Johannes nickte. Er fasste Mut: »Ich weiß nicht, was ich bin. Hetero oder schwul! Ich weiß es einfach nicht. Ich hatte bisher vier Freundinnen. Es war Ok, aber ... körperlich lief es nie so, wie es sollte. Svenja hat Recht. Ich hab ihn wirklich nicht hochbekommen ...«
»Hey, dass bedeutet doch noch nichts. Es kann die Falsche gewesen sein. Oder der falsche Zeitpunkt.«
Johannes schüttelte seinen Kopf: »Nein, dass war es nicht ...«, er wischte sich über die Augen und legte seinen Kopf in den Nacken,. »Verdammt, jetzt leg ich vor einem wildfremden Typen mein Coming-Out hin. Es könnte sein, dass ich tatsächlich schwul bin.«
»Woran machst du das fest?«, fragte ich möglichst sachlich.
»Woran machst du fest, dass du eine Frau geil findest?«, Johannes wartete meine Antwort nicht ab, weswegen ich seinen Denkfehler nicht sofort korrigieren konnte. »Du fühlst etwas. Schmetterlinge im Bauch, weiche Knie, möglicherweise regt sich auch was zwischen den Beinen. Du kannst nicht aufhören, dem Mädchen hinterherzusehen. Die Distanz zu ihr ist unerträglich und es tut hier weh.«
Er schlug sich mit der Faust auf die Brust, wo das Herz lag. Ich nickte zustimmend, kam aber nicht zu Wort.
»Und das ist mein Problem, Tobi. Es passiert mir nicht bei Mädchen. Es passiert mir bei Jungs. Zuerst ist es mir gar nicht aufgefallen. Aber als mir Svenja mein Versagen vorwarf ...«
»Ich verstehe ... Aber ehrlich gesagt, ich seh da kein Problem.«
»Ach, du hast ja keine Ahnung wovon du redest. Dich betrifft das ja nicht. Was meinst du, wie schwer das ist, sich die Typen wieder auszureden. Sich klar zu machen, dass die eh alle hetero sind. Was denkst du würde dein Freund sagen, wenn ich zu ihm gehen und sagen würde, dass ich ihn attraktiv finde und mit ihm gerne mal was anfangen möchte!«
»Wen meinst du, Michi? Der würde sich glatt geschmeichelt fühlen und dir dann eine höfliche Absage erteilen. Michi ist hetero.«
»Den meinte ich auch nicht. Ich meine Ralf, den Typen der mit dir hergekommen ist, der von allen Frauen angehimmelt wird.«
»Und von ein paar Männern.«, Autsch! Johannes hatte Geschmack.
»Shit, ich wusste doch, dass man mit dir nicht reden kann.«, sein Vertrauen zu mir bröckelte.
»Warte. Ich wollte dich nicht verarschen. Ich meinte das ernst. Ralf wird auch von Jungs angehimmelt. Plural. Aber warte, da kommt er, fragen wir ihn doch einfach. Vertrau mir!«
In Johannes Gesicht leuchtete Panik auf. Er wollte wegrennen, aber seine Beine verweigerten ihren Dienst. Vorwurfsvoll schaute er mich an, wie ich ihn so verraten und sein Vertrauen missbrauchen konnte.
»Was wollt ihr mich fragen?«, Ralf kam lächelnd auf uns zu. »Hier, dein Teller. Nächstes Mal gehst du.«
»Ok!«
»Und, Johannes hat eine Frage an mich?«
»Hat er, er traut sich bloß nicht.«
Ralf funkelte mich an. Inzwischen meinte ich, seinen Blick zu kennen. Er war dabei, meine Gedanken zu lesen. Seine Augen funkelten rot.
»Wenn er nicht will, dann muss er nicht.«
Ich verstand Ralfs Hinweis: »Du hast Recht. Wenn du Ralf nicht fragen willst, dann lass es. Ich denke nur, du solltest es tun. Zwingen werde ich dich nicht. Vertrau mir, gerade weil du mich nicht kennst.«
Johannes wagte nicht Ralf anzusehen. So verpasste er allerdings Ralfs gütigsten Gesichtsausdruck. Er sah nur kurz zu mir hoch und knurrte: »Frag' du ihn, es ist eh alles egal. Scheiße, warum hab' ich überhaupt damit angefangen?«
Ich zögerte nicht. Je schneller ich Ralf Johannes Frage überbracht hatte, desto eher würde er erlöst werden.
»Johannes möchte wissen, was du antworten würdest, wenn er dir sagen würde, dass er dich körperlich anziehend findet und gerne was mit dir anfangen wollte.«
Ralf setzte sich zu Johannes und hob sein Kinn hoch, damit dieser in seine Augen sehen konnte. Obwohl er in der dritten Person antwortete, sprach er Johannes direkt an.
»Ich würde sagen, dass ich mich geschmeichelt fühlen würde, von einem so attraktiven und sympathischen Wesen wie ihn, begehrt zu werden. Ich müsste ihm aber leider auch sagen, dass ich meinen Freund nicht untreu werden könnte.«
»Du verarscht mich? Ihr beiden verarscht mich?«, Johannes war aufgeschreckt und blickte wechselweise Ralf und mich an.
»Nein, tun wir nicht. Ralf ist nicht nur mein Freund, er ist mein Freund.«
»Ihr seid ...«
»Yap, genau das!«
»Unmöglich!«, Johannes wollte es immer noch nicht glauben.
»Doch, wirklich! Sollen wir dir es beiweisen?«
Wir warteten Johannes Antwort nicht ab. Stattdessen machten Ralf und ich dass, was wir schon eine ganze Weile nicht gemacht hatten und weswegen man eigentlich auf Partys geht. Wir küssten uns und zwar ziemlich tief. Ralf kam mit seiner Zunge fast bis zu meinem Zäpfchen im Hals. Dass unsere Hände sich auf den Weg unter das anderen Hemd machten, braucht wohl nicht extra erwähnt zu werden.
»Hey Leute, seht euch diese scheiß Schwuchteln an!«
Es war nicht Johannes Stimme. Der saß glücklich, aber schweigend auf seinem Stuhl.
Die Stimme klang unangenehm und aufgesetzt. Sie klang bekannt. Sie kam aus der anderen Ecke des Wohnzimmers. Sie gehörte Carsten, dem Faktotum von Nils.
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