Stories
Stories, Gedichte und mehr
Blaues Licht
Teil 4
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.
Informationen
- Story: Blaues Licht
- Autor: Nero
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery, Krimi, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
- Platzverweis
- Flashback
- Unerwartete Liebe
- Licht, Sound und eisige Kälte
- Dagger in the Dark
- Verknüpfungspunkte
- Frühstück
- Ralf
- Eine langweilige Ebene
- Transformation
- Der große Waschtag
- Einsatzplanung
- Tobis private X-Akte
- Mission Impossible
Platzverweis
Worin man einen ungebetenen Partygast entfernt und sich alte Erinnerungen in Erinnerung bringen.
»Hey Leute, seht euch diese scheiß Schwuchteln an!«
Damit waren wir gemeint. Sprich: Ralf und meine Wenigkeit, denn von Johannes und seiner neu entdeckten Neigung zum eigenen Geschlecht wusste Carsten bisher nichts.
Ralf war gerade dabei mir meine Mandeln im Hals genüsslich abzulecken -- man kann der Kerl fantastisch küssen -- als Carsten, Nils Kofferträger und Muskeln, diese sinnliche Erfahrung mit seiner nervigen Schreierei unterbrach.
Carstens asoziales Verhalten war doppelt ärgerlich. Nicht nur, dass er Ralf und mir einen sehr erotischen Moment von Zweisamkeit zerstörte, er torpedierte damit auch eine wichtige Demonstration.
Johannes, ein Mitschüler, hatte uns soeben gebeichtet, dass er vielleicht ... oder möglicherweise ..., er war sich da noch nicht so sicher, aber es könnte halt sein, dass ..., sicher ist es auf jeden Fall nicht, man weiß ja nie ... Er sei schwul!
Schwere Geburt und auch nicht ganz freiwillig. Svenja, ihres Zeichens weiblich und mit dem festen Dogma gesegnet, niemals von einem Typen den Laufpass zu bekommen, sondern umgekehrt nur Typen den Laufpass zu geben, hatte öffentlich starke Zweifel an Johannes Heterosexualität geäußert.
Dass sie keine Antwort erwartete und sich sofort vom Acker gemacht hatte, verstand sich von selbst. Johannes, den armen Kerl, ließ sie mit dem Vorwurf sitzen. Ganz im Sinne: »Wenn du mit mir nix anfangen kannst, musst du einfach schwul sein.« Pikanterweise hatte sie damit wohlmöglich sogar recht.
Ihr Opfer, also Johannes, reagierte betroffen auf den Vorwurf (was er nicht sollte) und stürzte in ein tiefes Loch (wozu er keinen Grund hat). Soll heißen: Er beichtete einem ihn wildfremden Menschen (nämlich mir), dass Svenja möglicherweise Recht haben könnte, also vielleicht ... man weiß ja nie ... und überhaupt (siehe oben) ...
Auf jeden Fall empfand Johannes es als gar fürchterlichen Makel, schwul zu sein. Von diesem Irrglauben musste man ihn natürlich heilen, womit Ralf und meine körperliche Interaktion, eben jener bereits geschilderte Kuss, ins Spiel kam.
»Hey Leute, seht euch diese scheiß Schwuchteln an!«
Die Szene wiederholt sich, so wie Carsten. 1
»Du, der meint uns, oder?«, Ralf hatte bedauerlicherweise seine Zunge aus meinem Hals sowie Mund entfernt, so dass ich mich verständlich ausdrücken konnte. Es wäre ausgesprochen unhöflich von mir gewesen, mit vollem Mund zu sprechen. Das sagte schon meine Großmutter.
»Meinst du?«, Ralf stieg drauf ein. »Siehst du hier die Schwuchteln?«
»Klar, sie dich an!«
»Mann, du hast Recht. Du, ich glaub du bist auch eine.«
»Echt? Aber nur eine Schwuchtel, keine scheiß Schwuchtel. Wir haben schließlich vorhin noch geduscht!«
Johannes hörte uns zu, beobachtete dabei aber ganz genau, wie Carsten reagierte, sah, dass der zu kochen begann, und musste schließlich laut losprusten (Johannes, nicht Carsten).
In diesem Moment betrat Anja die Szene. Anja, die Gastgeberin und ... Anja die auf 180 Grade geladene?
»Wer hat dich denn eingeladen?«, fauchte sie Carsten an.
Der Angesprochene, gut ein Kopf größer als sie, sah mit angeätztem Blick auf Anja hinab und meinte: »Was willst du denn?«
»Was ich will?«, fragte Anja gereizt zurück. »Ich möchte wissen, wer dich eingeladen hat? Ich war es nämlich nicht! Da ich aber die Gastgeberin bin, würde ich gerne wissen, was du auf meiner Party treibst?«
Mit einer wegwerfenden Handbewegung, einem Kopfschütteln und einem Gesichtsausdruck, der sagen wollte: »Was brabbelt die Alte da eigentlich?« ging Carsten über Anja hinweg. Ihm trieb etwas ganz anderes um: wir, also Ralf und mich.
»Hey, hörst du mir überhaupt zu?«, versuchte es Anja erneut und blieb weiterhin erfolglos. Mir drängte sich das Bild eines Zwergpinschers auf, der einen tumben Bernhardiner ankläffte. Wobei das Bild ein schiefes war: Carsten war kein gutmütiger Bernhardiner, eher ein maulkorbpflichtiger Kampfhund. Und Anja? Sie fiel bestimmt nicht unter die Gruppe der Zwergpinscher. Aus heterosexueller Sicht war Anja eine Traumfrau. Aus schwuler Sicht war sie eine Göttin! Die Einzigen, die mit ihr wahrscheinlich überhaupt nichts anfangen könnten, wären wahrscheinlich die meisten Lesben gewesen. Da ich aber keine Lesbe zur Hand hatte, ließ sich die These ad hoc nicht verifizieren.
»Kann die nicht mal jemand abstellen?«, fragte Carsten rhetorisch in die Runde. Offensichtlich gehörte er auch zu der kleinen Gruppe von Leuten, die mit Anja nichts anfangen konnten. Er hielt sich auch nicht länger mit ihr auf, sondern kehrte zu seinem eigentlichen Thema zurück: »Ich glaub' ich seh' und hör' nicht richtig? Ihr zwei Zauberelfen wagt es hier in aller Öffentlichkeit ... Ich glaub, man sollte euch mal Manieren beibringen. Es ist schon widerlich genug, sich vorzustellen, was ihr so miteinander treibt, aber es ist absolut das Letzte, wenn ihr einem zumutet, das mit ansehen zu müssen.«
Hat jemand Carstens Maulkorb gesehen?
»Carsten, verschwinde!«, Anja ließ nicht locker.
»Tante, halt's Maul!«
Ralf warf mir einen fragenden Blick zu. Ich blickte zurück und nickte.
»Carsten, hast du gehört was Anja eben zu dir gesagt hat?«
»Wenn interessiert was die Tussi sagt? Hey, ich sag euch Warmduscher, dass ihr aufhören sollt euch abzulecken, wenn normale Leute im Raum sind! Ich will noch was Essen und nicht Kotzen!«
»Er hat nicht zugehört!«, meinte Ralf und schüttelte dabei gespielt bedauernd seinen Kopf.
»Nein, hat er nicht ...«, pflichtete ich bei. »Ich glaub, da hilft nur eins ...«
»Genau!«
Ralf und ich stürmten auf Carsten zu, packten ihn, trugen ihn bis zur Haustür und warfen ihn raus. Kaum hatten wir die Tür hinter uns zugeschlagen, wurde mir unheimlich, woher hatte ich plötzlich so viel körperliche Kraft? Vom Mut gar nicht zu sprechen. Bisher war ich immer eher ein Schwächling gewesen.
***
Ganz im Gegensatz zu Carsten. Carsten war ein Brecher. Wenn ich ihm mit einem Kampfhund verglich, dann war das keine leichtfertig dahingeworfene Pointe, sondern bitterer Ernst. Carsten war ein massiges Kraftpaket, mit einem Kreuz, hinter dem sich eine ganze Schulklasse verstecken könnte. Seine Oberarme machten in ihrer Mächtigkeit den meisten Oberschenkeln normaler Menschen Konkurrenz.
Aber Carsten musste so aussehen. Schließlich war er Nils Vollstrecker. Bei ihrem professionell aufgezogenen Schutzgelderpressungsprogramm hatten sich Nils und Carsten die Rollen untereinander aufgeteilte. Nils übernahm grundsätzlich das Reden. Nicht, dass er nicht ebenfalls sehr kräftig war. Ich hatte in meiner armseligen Vergangenheit ein paar Mal schmerzhafte Bekanntschaft mit seiner Faust gemacht.
Es war einfach so, dass Nils der bessere Dramatiker war. Aus der Erinnerung betrachtet wirkte Nils zwar abgrundtief lächerlich mit seinem Einschüchterungsgerede, aber sie hatten immer gewirkt. Und darauf kam es schließlich an. Ihr, also Nils und Carstens, Geheimnis bestand in der potentiellen Drohung, Carsten als Vollstrecker einzusetzen.
Die schiere Andeutung nicht mehr von Nils zusammengeschlagen zu werden, sondern von Carsten, reichte bei 99% aller Opfer aus, sich vor Angst in die Hose zu machen. Lieber zahlten wir 50 Mark mehr Schutzgeld, als von Carsten auseinandergenommen zu werden. Damit niemand auf die dumme Idee kam, dass der Einsatz von Carsten nur eine leere Drohung sei, wurde von Nils, Carsten und den restlichen Mitgliedern dieser feinen Gesellschaft regelmäßig ein Exempel statuiert.
Es traf nicht irgendwen. Nils wusste genau, welchen Effekt er erreichen wollte. Das Opfer war dabei als Person egal, es kam darauf an, was dieses Opfer symbolisierte. Nils betrieb eine Art Psychoterror. Jedem sollte deutlich werden, dass es eben auch jeden treffen konnte. Zu diesem Zweck hatte man seine Methoden und die Auswahl des Opfers über die Jahre verfeinert. Waren es zu Anfang einfach schwächliche Typen, die meistens auch noch mit ihren Schutzgeldzahlungen hinterher hinkten, traf es in den letzten Jahren ganz andere Leute.
Zum Beispiel Eike. Eike war ein kräftiger Typ. Neben der Schule war er Mitglied in einem Rudersportverein. Dementsprechend sahen auch seine Arme aus. Allerdings waren sie immer noch jämmerlich im direkten Vergleich zu denen von Carsten. Eike zahlte pünktlich und er zahlte viel.
Es war im Mai dieses Jahres, direkt nach der Schule. Ich ging damals noch in die 10. Klasse. Nils wollte etwas Publikum dabei haben. Nicht zu viel, aber ausreichend, um die Botschaft des Terrors zu verbreiten.
»Du bleibst hier!«, waren die drei Worte, die mich festfrieren ließen. Außer mir waren noch drei weitere Weicheier anwesend. Und dann kam Eike. Nichtsahnend und gut gelaunt: »Hi Nils!«
Nils setzte sein bestes und feinstes mitfühlendes Lächeln auf.
»Eike, es tut mir leid.«, war alles, was er sagte. Nils schnippte mit den Fingern und Carsten legte los. Langsam und genüsslich zog sich Carsten seine Lederjacke aus (Die er einem aus der 12. Klasse abgezogen hatte. Carsten kaufte sich niemals etwas selbst.) und ging auf Eike los. Jener verstand die Welt nicht. Schließlich hatte er doch immer pünktlich bezahlt. Das Einzige, was Eike noch rausbrachte, war: »Warum?«, dann hatte Carsten ihn gepackt und hielt ihn hoch, eine Hand fest auf seinen Mund gepresst.
»Eike, es ist nicht persönliches gegen dich, aber du musst das verstehen. Gelegentlich muss man einfach dem Rest seine Überlegenheit demonstrieren. Als Vorsorge, bevor noch jemand auf dumme Gedanken kommt. Wie gesagt, es ist nichts persönliches ...«
Eike verstand nichts. Er wusste nicht, was man von ihm wollte, bis Nils seinen letzten Satz aussprach: »Ich geb' dir einen Tipp: Wehr dich nicht, dann ist Carsten schnell mit dir fertig!«
Nils nickte und ihm gleichem Moment landete Carstens erster Faustschlag in Eikes Nierengegend. Der Schmerz muss so groß gewesen sein, dass Eike nicht mehr schreien konnte, er sackte zusammen, rappelte sich dann aber wieder auf und beging einen, wenn auch entscheidenden, Fehler: Er wehrte sich.
Ich bin mir sicher, dass ich in Carstens Augen in jenem Moment so etwas wie Freude, aufblitzen sah. Ja, absolut, Carsten genoss es, Eike zusammenzuschlagen. Er faltete den nicht gerade schwächlichen Eike wie einen Pappkarton zusammen. Nach 20 Minuten war fast alles vorbei. Eike kniete schon am Boden, Blut lief ihm aus Mund und Nase, seine Augen waren von den Schlägen zugequollen, dass man sich fragen musste, ob er überhaupt noch etwas sah, als er eine unglückliche Bewegung mit seiner Hand machte und damit etwas Rotz und Blut auf Carstens weißes T-Shirt schleuderte.
Der kekste prompt aus: »Ey du Wichser, kannst du nicht aufpassen!« Carsten trat einmal kräftig mit dem Hacken seines rechten Fußes zu und Eike war alle. Bis auf den letzten Blutflecken war Carsten sauber geblieben. Eike hingegen lag dreckig und blutverschmiert im Staub.
»Ok, dass war's. Abmarsch!«, die ganze Truppe um Nils rückte ab. Und wir, die wir als Zeugen zusehen mussten? Außer mir flüchteten alle. Ich wär auch gerne geflüchtet, nur war Eike einer der Typen, für die ich heimlich immer geschwärmt hatte. Ich holte Wasser und versuchte ihn damit etwas von seinem Blut abzuspülen bzw. ihn überhaupt erst wieder wach zu bekommen.
Das Wasser tat seine Wirkung. Eike berappelte sich, hustete etwas Blut, schlug die Augen auf, sah mich und meinte: »Tobias?«
»Ja, willst du etwas trinken?«
Eike trank, versuchte sich zu sammeln und meinte schließlich: »Tobias, verschwinde, schnell. Du weißt, wenn du mir hilfst, könntest du der Nächste sein! Los, hau endlich ab!«
Ich tat was er sagte. Es war ein wenig unheimlich, denn dies war das erste Mal, dass mich jemand nicht als Freak betrachtete. Eike, zusammengeschlagen wie er war, schien aufrichtig dankbar gewesen zu sein, dass ich ihm geholfen hatte. Er lächelte mir sogar zu. Doch seine Worte wirkten, ich bekam Panik und rannte weg.
Eike fehlte die nächsten zwei Wochen in der Schule. Mit seinem Rudertraining musste er drei Monate aussetzen und verpasste damit die Qualifikation für die Landesmeisterschaft. Eike sprach mich nie wieder an, er wich mir von da an sogar aus.
Bereits am Tag nach Nils' Demonstration hatte niemand mehr Schulden bei ihm. Alle hatten bezahlt. Pünktlich. Nils hatte gewonnen.
***
Mir fiel diese Geschichte wieder ein, als Ralf die Tür hinter Carsten zu zog. Wir zwei, Ralf und ich, hatten Carsten, das Tier, das Muskelmonster, rausgeworfen und waren noch am Leben?
Ralf ahnte meine Frage, blinzelte mich golden an, lächelte und meinte: »Später! Lass uns wieder zu Johannes gehen!«
Flashback
Worin man sich seiner eigenen Vergangenheit erinnert und feststellen muss, dass das man auch zu den Trampeltieren gehörte.
Im Esszimmer befanden sich nur Johannes und Anja. Als wir den Raum betraten, schauten die beiden zu uns hoch und waren fast sprachlos.
»Ihr lebt noch?«, staunte Johannes.
Anja erläuterte: »Ihr ... Ihr ... Ihr habt Carsten rausgeworfen?«
Ich sah Ralf an, Ralf sah mich an, wir nickten: »Ja!«
»Seid ihr den wahnsinnig?«, kreischte Anja uns an, um ihre überschwängliche Freude darüber Ausdruck zu verleihen, dass wir sie von einem uneingeladenen Partygast befreit hatten.
»Wollt ihr mich umbringen? Und ich hatte gedacht, ihr seid nette Jungs!«, Anja hatte eine merkwürdige Art einen zu danken. »Mein Gott, Kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn Nils davon erfährt?«
Anjas Nerven begann sich aufzulösen, wie ein nasses Blatt Klopapier.
»Ich glaube, dass wir vor Nils keine Angst haben müssen.«, seitdem wir ein Krankenhauszimmer miteinander geteilt hatten, hatte ich jeden Respekt vor Nils verloren.
»Was?«
Anja, die Traumpowerfrau, entwich das einzelne Wort, als wenn es das Letzte war, was sie jemals sagen würde. Glücklich sah sie nicht so aus, als wenn sie in naher Zukunft von uns gehen würde. Eigentlich sah sie nur hoffnungslos verzweifelt aus. Ganz anders Johannes. Seit dem Eintreten und wieder Verschwinden von Carsten hatte Johannes nichts mehr gesagt, vielmehr hatte er Ralf und mich genau beobachtet.
»Ihr habt keine Angst vor Carsten, oder?«, war das Erste was er sagte. Johannes hatte uns offensichtlich messerscharf beobachtet.
Ralf meinte kurzerhand: »Nö, keine!«
Johannes nickte und richtete seinen Blick auf mich: »Von Ralf hätte ich auch nichts anderes erwartet, er ist noch nicht lange auf unserer Schule und kennt Carsten noch nicht. Aber du, Tobi, du warst doch dabei als Carsten Eike zu Mus verarbeitet hatte. Du weißt ganz genau, zu was er fähig ist. Aber trotzdem scheinst du nicht die geringste Angst vor ihm zu haben.«
Was sollte ich dazu sagen? Er hatte recht, ich hatte keine Angst. Ich wusste ganz genau, wozu ich fähig war. Eine monströse und erschreckende Gewissheit keimte in mir auf. Ich wusste plötzlich, was ich mit Carsten hätte veranstalten können. Dieses Wissen war so unheimlich, wie es eisig kalt war. Mit der Klarheit von Eiskristallen sah ich das Bild einer Möglichkeit. Ich sah, wie ich Carsten jeden einzelnen Knochen in seinen Körper brach. Und das ohne ihn auch nur berühren zu müssen. Ein kurzes Gedankenzucken und Carstens Armknochen würden in sich zerbröseln. Ein Gedankenschlag mit meinem Gehirn, und sein Schädel hätte aufgehört zu existieren. Ich ... Mir wurde schwarz vor Augen. Diese Bilder von Möglichkeiten waren so entsetzlich real und gleichzeitig so überaus verlockend. Es war, als wenn diese Bilder mir sagen wollten: »Komm Tobi, tu es! Er hat es nicht besser verdient! Denk an Eike! Denk an all die anderen, die er gequält hat! Es ist gerecht! Tu es! Setz' dem Quälen ein Ende!«
Ich begann zu zittern. Mir entglitt die Realität. Johannes und Anja schienen optisch wegzudriften, so als wenn man durch eine Kamera mit Gummilinse schaut und bei dieser dann der Zoom von Tele auf Weitwinkel gezogen wird. Im gleichen Moment hatte ich das Gefühl, als wenn mein Schädel in eine eiskalte Stahlklammer eingespannt worden wäre, deren Kälte sich auf meinen Kopf übertrug, meine Gedanken hart, mitleids- und erbarmungslos werden ließen und sich über meinen Hals in den ganzen Körper ausdehnte. Flehend blickte ich zu Ralf, ich sah seine Augen, sie funkelten blau. Als er sah, in welcher Situation ich war, einer Situation, die ich mir selbst nicht erklären konnte, wechselten seine Augen schlagartig auf neon-grün. Eine unheimliche Farbe. Als hätte man Textmarker in seine Augen geschraubt.
Ralf handelte. Er legte seine Hand auf meine Schulter. Mehr nicht. Aber im Moment des Kontaktes wurden seine Augen zu warmen Sonnen. Die eisige Kälte meiner Gedanken wichen von mir, die eben noch so klaren und abartigen Möglichkeiten verdampften zu einer wagen Erinnerung, Anja und Johannes kehrten aus dem Weitwinkelbereich zurück.
Das Ganze schien nur wenige Sekunden gedauert zu haben, denn weder Anja noch Johannes machten den Eindruck, als wenn sie etwas an mir bemerkt hätten. Vielmehr warteten sie immer noch auf meine Antwort.
»Ich weiß nicht, ob ich vor Carsten Angst habe. Ich hab' vorhin nicht drüber nachgedacht. Er hat Anja beleidigt ...«
Anja! Sie hatte jetzt Angst. Angst vor Vergeltungsmaßnahmen. Ich sprang auf sie zu und kniete vor ihr nieder. Schließlich saßen Anja und Johannes, während Ralf und ich den Raum erst betreten hatten.
»Anja, es tut mir Leid. Ich wollte deine Party nicht versauen. Ehrlich nicht. Nur, so wie der Typ dich behandelt hat ... Da ist es mit mir durchgegangen! Ich versprech dir, Carsten wird dich nie wieder belästigen.«
Anja schmolz dahin. Hilfe, eine Frau schmolz vor mir. Vor mir, Tobi, dem ewigen Außenseiter und Schulfreak. Wenn mir das jemand vor einem halben Jahr gesagt hätte, ich hätte ihn für dringend behandlungsbedürftig gehalten.
»Oh, Tobi, warum musst du nur schwul sein? Du bist so süß. Kein anderer Junge hätte das jemals gewagt!«
Mit diesen Worten zog sie mich zu sich hoch, umarmte mich und versuchte mich zur Heterosexualität zu bekehren, indem sie mich küsste. Das war jetzt die zweite Mandelpolitur an einem Abend. Die Teile müssten eigentlich angefangen haben, zu glänzen.
»Ey, Leute, seht mal: Anja mit ...Wow! Mit Tobi unserem Oberfreak! Respekt Alter!«
Eine Horde Nachspeisensüchtiger hatte das Esszimmer genau in dem Moment gestürmt, als Anja mich halb verschlang.
»Ich denk' der Typ ist schwul?«
»Schwul? Tobi? Küsst so eine Schwuchtel?«
Einer nach dem anderen warf mir einen hochachtungsvollen Blick zu und klopfte mir respektvoll auf die Schulter.
Ralf und Johannes brachen in schallendes Gelächter aus.
***
»Und, wie küsst Anja?«, Ralf knuffte mich in die Seite.
Anja musste schließlich auch loslachen. Obwohl ihr Lachen einen anderen, leicht hinterhältigen Unterton besaß. Sie schien wohl insgeheim zu hoffen, dass ich mich dann doch für Frauen im Allgemeinen und für sie im Speziellen entscheiden würde.
»Nicht schlecht. Ich bräuchte natürlich nochmal eine Vergleichsmöglichkeit.«, zog ich Ralf auf.
Nachdem ich Anja vor die Füße gefallen war, schien sie die Sache mit Carsten deutlich lockerer zu sehen. Sie dankte mir und Ralf und meinte, wir wären echte Schätze. Eigentlich wollte sie noch gerne etwas länger mit uns plaudern, aber ihre anderen Partygäste dürfe sie natürlich auch nicht vernachlässigen. Womit sie uns fürs Erste verließ.
Inzwischen hatte es sich rumgesprochen, dass ich (»Tobi, war das nicht dieses Weichei?«) Carsten rausgeworfen hatte, weil ich in Anja verliebt sei und er sie angemacht hatte. Man war allgemein davon überzeugt, dass ich in den nächsten Tagen meinen Weg ins Kranken- respektive Leichenschauhaus finden würde, dass ich ausgesprochen gut zu Anja passen täte und dass Anja und ich unsere Zeit nutzen sollten, bis Carsten aus mir Püree machen täte.
»Und, wie fühlt man sich jetzt als Hetero?«, zog mich Ralf auf.
»Frag' nicht. Das sind ganz neue Gefühle, die ich erstmal bewältigen muss.«, wir hatten uns mit Johannes in den Chill-Out-Bereich zurückgezogen
»Hey, Jo, wie geht's dir jetzt?«, versuchte ich Johannes unterbrochenes Coming-Out fortzusetzen.
»Ich weiß nicht?«, Johannes machte einen unsicheren Eindruck. Er stand wohl irgendwo zwischen totalem Glück, totaler Verwirrung und totalem Nervenzusammenbruch, »Die Party entwickelt sich anders als ich erwartet hab'!«
»Was hat du denn erwartet?«
»Na, so wie jede Party! Tanzen, flirten, baggern, abschleppen?«
So laufen Partys ab? Hm, mir fehlten dafür ausreichend Vergleichsmöglichkeiten. Ich und Partys waren in meiner bisherigen Vergangenheit zwei Dinge, die nie zusammen auftraten. Ich wusste, dass Michi bei Partys genau das tat, was Johannes gerade beschrieben hatte: »Baggern, flirten, tanzen, abschleppen« Apropos Michi? Wo steckte der eigentlich? Schließlich war er auch eingeladen.
»Baggern?«, Ralfs Tonfall klang skeptisch.
Johannes wiegte abmildernd seinen Kopf:»Ok, Tanzen und, manchmal, flirten ... Mit den Mädels. Habt ihr das nie getan?«
»Hallo, Johannes? Du weißt, mit wem du redest? Looser-Toby und Mädchen? Du kennst doch meinen Ruf als Freak.«
Johannes musterte mich von oben bis unten: »Ja, du warst früher n' ziemlicher Ätzer. So'n Einzelgänger, der mit niemanden was zu tun haben wollte.«
»Ach, interessant. Ich dachte immer, die Leute wollten mit mir nix zu tun haben und behandelten mich deswegen wie Luft ...«, ich gab mir wenig Mühe nicht sarkastisch zu klingen.
»Mag' sein. Es gibt genug Sachen, die ich getan habe, auf die ich heute nicht mehr stolz bin.«
»Ich könnte jetzt nicht sagen, ob du mich schlecht behandelt hast. Ich sag dir aber eins. Es ist nicht unbedingt ein tolles Gefühl, wenn man jedes Mal bei der Mannschaftsauswahl im Sportunterricht als letztes oder vorletztes ausgewählt wird. Du kennst das doch bestimmt. War doch bei eurem Sportlehrer nicht anders als bei unserem. Die Topleute der Klasse wählen wechselweise Leute in ihre Mannschaft ...«
»Hm ...«, Johannes zuckte mit den Schultern, Ralf hörte interessiert zu.
»Du«, und damit meinte ich Johannes, »bist doch bestimmt einer von denen, der die Leute für die Mannschaft auswählten, oder?«
Johannes nicktet: »Ja, dass könnte schon hinkommen.«
»Und, was hast du bei den letzten zwei Leuten gedacht?«
»Pest oder Cholera. Das waren bei uns Kurt-Peter und Norbert. Allein die Namen waren schon Scheiße ...«
Immerhin Johannes war ehrlich.
»Hast du dir mal Gedanken gemacht, wie die sich gefühlt haben?«
»Nee, nicht wirklich. Ich sag' ja, ich bin nicht stolz drauf. Mann, das war 7. bis 10. Klasse! Und weißt du was? Die beiden haben sich gegenseitig verachtet. Kurt-Peter, Mann, der Typ war wirklich ein Megapenner. Wenn einer vor den Lehrern 'ne Schleimspur hinlegte, dann Kurt-Peter! Sitzplatz: 1. Reihe, Mitte, direkt vor dem Lehrertisch. Wie soll man so jemanden respektieren?«
Ok, wo Johannes recht hatte, hatte er recht. Auch in meiner Klasse gab es einen »Kurt-Peter«. Bernd war sein Name. Au weia. Auf den hab' selbst ich rumgehackt. Ich hasste es, in den Pausen alleine zu sein. Bernd liebte es. Bernd war schließlich etwas Besonderes, etwas Besseres, sein Vater hatte einen Doktortitel. Hatte meiner auch, nur hab' ich das nie jemanden erzählt. Warum auch? Am Ende war Bernd dann sowas von intelligent, dass er die 10. Klasse wiederholen durfte.
Wenn ich's mir recht überlege, ich habe Bernd nicht nur verachtet, ich hab' ihn regelrecht gehasst. Seine schleimig, ölige Art, wenn er willfährig dem letzten Arsch von Lehrer in den selbigen kroch. Er merkte nicht einmal, dass sogar die Lehrer sich vor ihm ekelten. Einige von unseren Bildungsvermittlern waren ganz Ok. Susanne zum Beispiel, unsere Mathepaukerin, war echt klasse. Wir waren ihre erste Klasse nach ihrem Referendariat. Eigentlich hieß sie Sommer, Susanne Sommer, aber wir nannten sie alle Susanne, auch wenn das eigentlich nicht Ok war. Obwohl sie recht zierlich und klein war, ein laufender Meter, konnte sie sich gegen uns durchsetzen. Bei einer 8. Klasse gar nicht so einfach. Die 8. Klassen sind die schlimmsten, gerade wenn viele Jungs in der Klasse sind.
Wenn ich jetzt so drüber nachdenke. Wir waren echt die Pest. Wir, die Jungs der 8b. Doch wo andere Lehrer untergingen, behielt Susanne Oberwasser. Zurück zu Bernd. Bernd war -- natürlich -- der Einzige, der bei unseren »Späßen« nicht mitzog. Viel schlimmer, Bernd war der Typ »Frau Sommer, ich weiß was. Der Toni hat ...«
Natürlich: Frau Sommer. Niemand nannte Susanne Frau Sommer, nur Bernd. Was Bernd nicht begriff, war, dass selbst Susanne ihn nicht ausstehen konnte. Die Frau war, obwohl Lehrerin, auch nur ein Mensch und konnte, nichts gegen ihre Antipathie. Wenn Bernd ein Fehlverhalten eines Schülers petzte, dann musste Susanne das ahnden, aber es war ihr zuwider. Bernd war ihr zuwider.
So sehr mir von Bernd übel würde und ich ihn nicht ausstehen konnte, insgeheim war ich dankbar das er da war. Mit ihm gab es schließlich jemanden, der in der Hackordnung noch weiter unter mir stand. So hatte ich auch jemanden, den ich treten konnte.
Ok, Tobi hat also auch Dreck am Stecken. Hatte ich da noch das Recht Johannes anzumachen?
Ich grübelte gerade über diese Frage, als sich Ralf zu Wort meldete: »Hier seht ihr ein Bild von mir. Das ist jetzt drei Jahre her, so 7. oder 8. Klasse. Eher 8.«
Ralf reichte das Bild rum. Es zeigte einen fetten Kerl, der Ralf sein sollte. Ralf? Es war kaum zu glauben. Er trug eine 70iger Jahre Kassengestellbrille, für seine Fettleibigkeit ein viel zu enges T-Shirt, seine Haare wirkten ungewaschen und ölig, die ganze Erscheinung war Bäh!
»Das warst du?«, ich musste dreißigtausend Mal zwischen Ralf in Natur und Ralf auf dem Foto hin- und herblicken.
»Yap, ich sah echt Scheiße aus, was?«
»Du untertreibst maßlos!«, ich war platt und auch Johannes musste lachen: »Was hast du gemacht? Fettabsaugen?«
Von Ralfs Übergewicht und ungepflegten Äußeren war nichts mehr übrig geblieben. Man brauchte sich nur seinen ersten Auftritt im Unterricht und die Reaktion unserer Mädels darauf zurück ins Gedächtnis zu rufen.
»Nope! Ich habe nur akzeptiert, wer ich wirklich bin ...«, meinte Ralf mit dem Brustton felsenfester Überzeugung und fügte leise hinzu: »Außerdem wurde mir klar, dass ich kaum einen Freund abbekommen würde, wenn ich schlecht rieche. Ich lief damals wirklich ziemlich ungepflegt rum ...«
»Warum?«
»Ich fand's auf eine gewisse Art cool. Der Schmuddellook war bei uns an der Schule 'ne Zeitlang total angesagt. Da wollte ich natürlich mitziehen. Allerdings war ich kein Typ, wie dieser Bernd, trotzdem trampelte alles auf mir rum ...«, Ralf zuckte mal wieder mit seinen Schultern. »Ich glaube, dass andere Menschen das riechen können?«
»Was, wenn man sich nicht wäscht? Bestimmt!«
»Nein, wenn man kein Selbstwertgefühl hat. Wenn man sich selbst nicht achtet, dann achten einen auch andere nicht.«
In dieser Deutlichkeit war mir das bisher gar nicht so klar gewesen. Doch Ralf hatte Recht. Damals, als ich noch einer der »Untouchables« war, mochte ich mich nicht. Ich wünschte mir immer, so wie Michi zu sein. Selbstbewusst, schlagfertig, sportlich, gutaussehend. Das Übliche halt. Dass das alles bereits in mir steckte, wusste ich nicht. Attraktivität ist schließlich relativ und entsteht erst im Auge des Betrachters. Es gibt massenweise Typen und Mädels auf unserer Schule, die sich als gutaussehend bezeichnen würden, die sogar andere als »rattenscharf« oder einfach »geil« bezeichnen würde. Andere sehen das völlig anders. Edward zum Beispiel, sein Paps kam aus dem Vereinigten Königreich, daher der Name, den finden 'ne ganze Anzahl der Mädels »niedlich« und »süß«. Ich finde er hat ein typisches britisches Pferdegesicht. So what? Haben die Mädels jetzt unrecht?
Doch diese Erkenntnis, das Wissen über die eigene verborgene Persönlichkeit, war mir damals noch verschlossen. Ich war der Typ, den man nach Strich und Pfaden verarschen konnte, zum Beispiel hatte man es geschafft, mich dreimal zum Direx zu schicken, obwohl der nichts von mir wollte. Wurde ich angemacht und zugetextet, schwieg ich. Drei Stunden später fiel mir dann die passende und schlagfertige Entgegnung ein. Wenn ich mich zu Leuten an einen Tisch setzte, konnte man darauf wetten, dass die Leute plötzlich alle aufstehen würden. Je krampfhafter ich versuchte irgendwo Anschluss zu finden, desto mehr zog man sich vor mir zurück. Nein, das ist falsch, man flüchtete vor mir!
Sowas verletzt natürlich. Ich hätte eine super Laborratte abgegeben, denn ich lernte schnell, diesen Verletzungen zu entgehen. Um nicht verarscht zu werden und um nicht zu erleben, dass ich eh geschnitten werden würde, begann ich mich in eine Art innere Isolation zu begeben. Ich zog mich von allen Leuten bis auf Michi zurück.
Stattdessen begann ich meine Mitschüler zu beobachten. Still und heimlich. Mit der Zeit stellte sich raus, dass ich eher die Jungs und weniger die Mädchen beobachtete. Die Zeichen wurden sogar noch deutlicher: Ich beobachtete die geilen Jungs am intensivsten. Dabei passierten merkwürdige Dinge. Zuerst konnte ich dieses Gefühl nicht richtig deuten. Ich spürte nur aufkeimenden Hass, wenn ich sah, dass einer der Jungs mit ihren Freundinnen rumknutschte. Umgekehrt feierte ich innerlich eine Party, wenn sich der Typ von seiner Freundin trennte.
So richtig schlimm wurde es dann beim Sport, oder genauer: nach dem Sport im Umkleideraum. Die Duschen. Was für ein Fest. Ein paar Typen waren in Sportvereinen. Handball, Fußball und auch Schwimmvereine waren sehr angesagt. Diese Typen waren es gewohnt sich immer intensiv zu duschen, was sie auch ausgiebig taten. Was für Körper! Ich duschte immer in der hintersten Ecke des Raums, um möglichst nicht aufzufallen, aber die Befürchtung war unbegründet. Die Typen merkten nicht mal, dass ich da war. Viel schlimmer, die Jungs alberten in der Dusche pausenlos rum.
»Na, habt ihr schon mal so ein Prachtexemplar von Schwanz gesehen?«
»Nett, aber nicht so nett wie meiner! Das ist ein echter Frauenbeglücker!«
Schwanzvergleiche. Sie stellten Schwanzvergleiche an! Ich hätte mich damals fast am Duschwasser verschluckt. Aber es wurde schlimmer noch schlimmer.
»Ihr habt mein Teil noch nicht gesehen!«
»Das mickrige Ding nennst du Teil? Das ist bestenfalls ein Teilchen!«
»Ihr habt ihn noch nicht gesehen, wenn er steif ist!«
»Beweisen!«
Und was taten die Typen? Sie begannen unter der Dusche zu wichsen. Natürlich jeder für sich. Ein paar Momente später war es soweit, sie verglichen ihre steifen Schwänze miteinander. Und wie? Sie stellten sich einander gegenüber und hielten ihre Latten aneinander. Das sie sich dabei berührten, schien diese Heteros nicht sonderlich zu interessieren, sie schienen es sogar ganz geil zu finden.
»Wer zuletzt kommt hat verloren!«
Mit diesem Kommando holten sich die Typen einen runter. Ich stand unter Dusche, mein Herz hämmerte, nur zu gern hätte ich mitgemacht, nur ...
»Ey, schaut euch Tobi an. Der hat 'nen knallroten Kopf und 'nen Ständer. Tobi, bist du etwa 'ne Schwuchtel, die echten Kerlen beim Duschen zusieht?«
Unerwartete Liebe
Worin man Johannes eine überraschende Information enthüllt.
Warum fiel mir dieses Erlebnis gerade in dem Moment ein, als ich mit Ralf und Johannes auf Anjas Party war? Ich hatte an die Geschichte seit Jahren nicht mehr gedacht und sie total verdrängt. Damals wäre ich fast tausend Tode gestorben, aber es war der Tag an dem mir klar wurde, dass ich schwul war. Gleich nach der Schule war ich nach Hause gerannt und hatte mir fünf Mal hintereinander einen runtergeholt. Ich brauchte nur meine Augen schließen und mir die Typen unter der Dusche vorstellen.
Allerdings war ich in meiner Vorstellung nicht mehr passiver Beobachter. Ich war mitten drin. Meine Jungs taten es auch nicht für sich alleine. Man war sich gegenseitig behilflich.
Nachdem ich das fünfte Mal nur noch trocken gekommen war, durchzuckte mich plötzlich eine erschreckender Gedanke: »Was hatten die Typen gesagt? Ich sei' doch wohl nicht schwul?«
Ich öffnete auf meine Augen. Sah auf meine Hand, die immer noch meinen Schwanz in der Hand hielt, sah den langsam eintrocknenden weißen Saft und dachte: »Shit, Toby, du bist schwul!«
Für ein paar Minuten herrschte Sendepause in meinem Schädel. Absolute Funkstille. Doch schließlich brach sich eine Entscheidung ihren Weg frei: »So what? Dann bin ich eben schwul! Schlimmer kann es auf der Schule für mich auch nicht mehr werden!«
Zur Feier des Tages holte ich mir ein sechstes Mal einen runter.
***
»Woran denkst du?«, Johannes weckte mich aus meinen Gedanken auf. Wir lagen auf einer großen Matratze in einem der Chill-Out-Zimmern und lauschten den psychodelischen Klängen eines Goa-Ambient-Trance-Tracks.
»An mein Coming Out. Nicht gegenüber meinen Freunden. Sondern mir selbst gegenüber.«
»Und wie war das?«, Johannes klang neugierig.
»Willst du das wirklich wissen?«
»Ja, gerne!«, Johannes war richtig eifrig bei der Sache.
»Ich übrigens auch!«, fügte Ralf hinzu.
»Du?«
»Klar, ich muss doch wissen, wie sich mein Schatz für das richtige Leben entschieden hat!«
Mein Schatz! Dafür hätte ich Ralf auf der Stelle verschlingen können. In aller Öffentlichkeit sich so unmittelbar zu mir als Freund zu bekennen. Mir blieb nichts anderes übrig, ich musste einfach meine Geschichte erzählen.
»Na ja, nachdem mir klar war, dass ich schwul bin, wurde erstaunlicherweise vieles einfacher. Ich glaube es fing so vor knapp einem Jahr an. Die Hänseleien ließen nach. Ich wurde sogar beim Sport deutlich früher ausgewählt. Nichts mehr mit Pest oder Cholera. Ich galt zwar immer noch als merkwürdiger Typ, Freak und Außenseiter, aber es klang nicht mehr abwertend wie früher.«
»Hattest du einen Freund vor Ralf?«
»Oh, ein ganz wunder Punkt. Bevor Ralf nervös wird: Nein, ich hatte keinen! Ich wusste zwar, dass ich schwul war, aber das war dann auch schon alles. Ich kannte sonst niemanden, der das auch war. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass ein anderer auf unserer Schule schwul sein könnte. Und wenn doch, dann wahrscheinlich nur so ein merkwürdiger Typ wie ich. Ich blieb also beim Gaffen und Bewundern. Allerdings dehnte ich mein Jagdgebiet aus. CD- und Klamottenläden, Sportplätze, am besten diese Fußballkäfige und natürlich Freibäder und Schwimmhallen ... Da gibt's viel zu sehen. Ich hab' sogar 'ne Jahreskarte für die Schwimmhallen. Das hat sogar einen interessanten Nebeneffekt gehabt. Ich gaffe nicht nur, ich zog sogar regelmäßig meine Bahnen durchs Becken.«
Was im Nachhinein auch die Ursache für meinen sich verbessernde Figur gewesen sein dürfte.
»Tja, und dann wurde ich beim Gaffen erwischt!«
»Echt? Wie peinlich ... Ist dir was passiert?«
Was sollte ich darauf antworten. Sollte ich Johannes sagen, dass Ralf mich umgebracht hatte?
»Nein, so schlimm war es nicht. Tobi zog mich nur mit seinen Augen aus. Ich bemerkte es nur, weil ich das Gleiche mit ihm tat.«
Ralf rettete mich. Dabei war seine Antwort nicht mal gelogen. Er ließ nur einen unbedeutenden übersinnlichen Aspekt unter den Tisch fallen.
»Liebe auf den ersten Blick? Ihr zwei seid ja richtig romantisch!«, Johannes kam ins Schwärmen, »Wenn mir sowas doch auch passieren würde ...«
»Gibt es denn jemanden, der dir gefällt?«
Johannes sah schweigend an die Decke: »Ja und nein. Es gibt einen Typen, den find' ich rattenscharf. Er hat nur einen Nachteil. Er ist ein Psychopath, ein Schwein, ein Arschloch, ein Typ, den man eigentlich umbringen müsste ...«
Umbringen? Davon hatte ich eigentlich in letzter Zeit genug von gehabt. Aber wenn meinte Johannes?
»Und wer soll das sein?«
»Nils! Ich weiß, der ist Hetero und würde mich, wenn er wüsste, dass ich ihn geil finde, wahrscheinlich von Carsten zerlegen lassen. Aber er sieht schon scharf aus, oder? Außerdem hab' ich ihn mal alleine erlebt. Ohne seine Gang ... Quasi ,privat`, wenn ihr versteht, was ich meine. Der Typ kann richtig süß sein. Ich weiß auch nicht ... Es war auf einer Party. Wir saßen zufällig zusammen in einem Raum, in dem sonst niemand war. Da war er ein völlig anderer Mensch. Total locker drauf. Intelligent, belesen, er konnte zuhören, man konnte sogar mit ihm reden. Doch kaum waren andere Leute im Raum ... Peng! Aus! Nils das Oberarschloch!«
Süß war nicht unbedingt ein Wort, dass ich mit Nils so direkt in Verbindung gebracht hätte. Auch war Nils nicht unbedingt mein Typ. Vom Charakter sowieso nicht und vom Körpertyp her ... Nee, nicht wirklich. Aber Geschmack ist bekanntlich verschieden und nicht diskutabel.
»Nils ist schwul!«, ich hatte Nils nichts versprochen. Ich hatte nur gesagt, dass ich es nicht rumtrompeten und gegen ihn verwenden würde.
»Wie bitte?«
»Nils ist schwul. Kein Scheiß. Er hat es mir selbst gesagt. Als ich im Krankenhaus mit meinem Arm lag. Er lag im gleichen Zimmer.«
»Wow!«, Johannes war platt.
»Freu dich nicht zu früh. Nils ist ein Psychopath. Es macht ihm Spaß, Macht über andere Leute zu haben. Denk an Eike. Oder denk an Carsten, der macht nur, was Nils sagt. Ich will mir gar nicht vorstellen, was der sich unter Sex oder 'ner Beziehung vorstellt ...«
»Hmm ... Du hast sicherlich Recht. So wie Nils zurzeit ist, ist er niemand, mit dem ich etwas anfangen möchte. Aber wer weiß, du hast dich auch entwickelt. Warum sollte das bei Nils nicht möglich sein?«
Ich blieb skeptisch, sagte aber nichts. Johannes musste selbst wissen, was er wollte. Auf der anderen Seite ... Wer weiß? Hätte Nils erstmal einen Freund, vielleicht ...
»Und was wirst du jetzt tun?«
Die Frage kam überraschend, denn sie kam von Ralf. Er hatte sich bisher deutlich zurückgehalten und wenig gesagt. Ich vermutete, dass er einfach nichts sagte, weil er die meisten Leute auf unserer Schule noch nicht so gut kannte. Um so verblüffter war ich über seine direkte Frage. Das seine Augen dabei cyanfarben glitzerten ließ mich aufmerken. Dies war Ralf offenbar sehr wichtig.
Johannes nahm Ralfs Frage einfach als normale Frage. Er wiegte seinen Kopf hin und her und meinte schließlich: »Weiß nicht ... Wahrscheinlich werde ich gar nichts machen. Ich will nicht im Krankenhaus enden. Außerdem bin ich noch nicht geoutet, oder bin ich es?«
Diese Frage ging an uns: »Nein, bist du nicht. Von uns erfährt niemand etwas, wenn du es nicht willst. Es ist deine Entscheidung.«
»Danke.«
»Ah, hier steckt ihr!«, eine laute Stimme zerriss die ruhige Stimmung. Sie klang wie Michi, aber der Sprecher sah nicht wie Michi aus. Jedenfalls nicht auf dem ersten Blick.
»Himmel, wie siehst du denn aus?«, brach sich meine Verblüffung Bahn. Aufgebrezelt wäre eine schamlose Untertreibung für Michis Outfit gewesen, denn Michi hatte mehr als nur einen Vogel abgeschossen. Es fing bei seinen Haarspitzen (zur perfekten Igelfrisur aufgezwirbelt) an und endete erst bei seinen Schuhsohlen (Metallic-Look mit LED-Leuchteffekten). An ihm war einfach alles ein Stück weit über perfekt hinaus gestylt.
»Da fragt man sich ernsthaft, wer hier eigentlich die Tucken sind?«, kommentierte Ralf Michis überirdische Erscheinung. »Du musst ja Stunden fürs auftupfen gebracht haben.«
»Und das nur für eine Frau!«, konnte ich mir eine kleine Stichelei nicht verkneifen.
»Ach ihr ...«, entgegnete Michi an dem unsere Bemerkungen abprallten, wie am Schutzschild eines Raumschiffs. »Ihr habt halt keine Ahnung. Aber wollt ihr eigentlich die ganze Party mit Quatschen verbringen? Unten geht die Post ab. Nicht hier!«
»Tanzen?«, ich blickte zu Ralf.
»Tanzen!«, funkelte Ralf gold-silbern lächelnd zurück.
Licht, Sound und eisige Kälte
Worin man sich hedonistischen Gelüsten hingibt, dann aber von etwas Kaltem dabei empfindlich gestört wird.
Wir stiefelten also in den Keller. Keller? Sauna! Schon an der obersten Schwelle der Kellertreppe, schlug uns der Dampf einer frenetisch abhottenden Jugend entgegen. Fünf Stufen weiter konnte man die Luft fast greifen. Wie ein schwerer feuchter Vorhang hingen die Ausdünstungen in der Luft. Es roch nach Schweiß -- nach frischem Schweiß wohlgemerkt, also einer Substanz, die sich noch nicht begonnen hatte zu zersetzen und somit auch noch nicht fies roch. Ganz im Gegenteil! Dieser Schweißdampf roch nach Trieb, Spaß, Körperlichkeit, Geilheit und Energie.
Kein Wunder, denn die Musik, die uns entgegenschallte, war spitzenmäßig. Tom hatte sich warmgespielt und mischte Platten, CDs und MP3s wie ein junger Gott. In Anjas Keller tobte eine Mini-Loveparade. Anders konnte man jene Eruption nicht nennen. Fette, warme 60 Hz Bässe massierten unsere Körper. Tranceartige Klanggewebe kämpften mit hammerharten, treibenden Beats. Wessen Körper bei solch einem Sound nicht sofort mittanzen wollte, musste einfach tot sein.
Wir hatten die Tanzfläche erreicht. Ein großer Raum voller dampfender Körper -- soweit man das erkennen konnte. Denn Erkennen war hier ein eher relativer Begriff. Zum einen hatte die Luft eine Dampfdichte erreicht, die bei einem Autofahrer zum sofortigen Einschalten der Nebelschlussleuchte geführt hätte. Zum andern ließ die Beleuchtung nur selten einen intensiveren Blick auf die tanzende Masse zu. Denn nicht nur die Musikanlage war vom feinsten, die Lichtanlage war es ebenfalls. Hier hatte jemand Profiequipment aufgefahren. Blaues Licht war wirklich tiefblau, fast schon violett, grün war richtig grün und rot war richtig rot. Keine Schlaffifarben wie von Onkel Herberts Lichtorgel. Diese Lightshow zeckte und zwar mächtig gewaltig.
Davon war ich spätestens überzeugt, als ultrabrutale Powerstrobes loslegten und im Takt der Beats das Zucken der Tanzenden in starre Skulpturen verwandelte. Die Tanzfläche war ein Tempel und DJ Tom sein Hohepriester. Yeah! Die Musik packte mich. Ich war noch nie auf solch einer Party gewesen. Selbst die rührenden Versuche Michis mich in seine Clubs mitzuschleppen, waren bisher gescheitert. Aber wahrscheinlich wäre nichts so genial gut gewesen, wie dieser Event.
Ralf hatte bereits der Tanzvirus gepackt. Im Blitzgewitter der Strobes sah ich ihn neben mir tanzen. Tanzen? Die Blitze der Stroboskope fingen seine Bewegungen ein und verwandelten sie in traumhafte Körperstudien. Ralf hatte seinen Oberkörper entblößt, sein T-Shirt hing in seinem Hosenbund. Sah dieser Kerl heiß aus. Mir lief schon beim Ansehen der Sabber im Mund zusammen. Aber als wenn das nicht reichte, kam er auch noch auf mich zu und zog mir meine Sachen ebenfalls aus.
Im ersten Moment war es mir unangenehm, so halbnackt vor all den Leuten rumzutanzen. Schließlich war es das erste Mal und ich fühlte mich immer noch unsicher. Aber als ich mich umsah, erkannte ich, dass die meisten der Tanzwütigen sich ihrer Klamotten oberhalb der Gürtellinie entledigt hatten. Ralf stopfte mir noch mein Hemd in den Bund und begann dann mit mir zu tanzen. Er drehte mich um, so dass ich ihm meinen Rücken zuwandte, hielt mich mit seinen Händen an meinen Hüften und gab die Bewegungen vor.
Die Musik. Die dampfende Luft. Das Licht. Ralfs Berührungen. Es war betäubend. Es vernebelte die Sinne und ließ mich abtauchen in einen trancehaften Zustand. Die Beats kamen schnell. Tom, der DJ, war von den oberen 140iger BPMs in ein langsames und softes Tempo herabgeklettert. Die Bässe wurden weicher, etherischer. Sie trieben uns fort, jenseits von Zeit und Raum. Ich spürte Ralf, er hatte sich mit seiner Brust an meinen Rücken geschmiegt, seine Hände und Arme umschlangen meine Brust. Es war fantastisch. Wir ließen uns Fallen und glitten mit der Musik dahin. Dass alle Welt sehen konnte, dass ich und Ralf mehr als nur befreundet waren ... Tja, wen's stört, der sollte halt wegsehen. Wir genossen gleichzeitig unsere Zweisamkeit als auch die elektrostatische Energie der Masse um uns herum.
Und die Masse war energiegeladen! Bewegungsfreiheit war ein Wort, dass am diesem Ort ungefähr so deplatziert war wie ein Eisbär in der Sauna. Mann hatte Körperkontakt. Frau auch. Und wenn mich nicht alles täuschte, suchte man diesen auch.
Soweit die Lichtverhältnisse es zuließen, konnte man erkenne, dass auf der Tanzfläche einiges abging, von dem die Erziehungsberechtigten der Beteiligten besser nichts erfahren sollten. Nicht, dass die Leute am Poppen gewesen wären, aber sie waren kurz davor. Es gingen Hände auf Wanderschaft, Münder pressten sich aufeinander, Körper berührten sich so eng, dass kein Blatt Papier dazwischen Platz gehabt hätte. Und das ganz leider vorwiegend heterosexuell. Gelegentlich rückte der eine oder andere Strobeblitz den einen oder anderen Jungen in eine gut sichtbare Position und ich verfiel in mein altes Laster: Ich gaffte.
Was für eine Verschwendung! Wie konnten so süße Jungs nur hetero sein? Aber wahrscheinlich war es wie mit den verbotenen Früchten, man begehrt immer das, was man nicht haben kann. Siehe Anja, die den Tag verfluchte, an dem sie erfahren hatte, dass weder Ralf noch ich für sie zu haben war.
Aber woran dachte ich da eigentlich? Ich hatte meinen Traumprinzen! Ralf! Er hielt mich immer noch eng umschlungen, seine heiße und schweißnasse Brust an meinen Rücken gepresst. Ich drehte mich um, und sah Ralfs strahlendes Gesicht mit seinen silbern-golden glitzernden Augen.
Ralf blinzelte mir zu. Ich lächelte zurück. Wir gaben uns der Musik hin und ließen uns treiben, fallen, fließen ...
***
Ich weiß nicht, wie lange wir am Tanzen waren. Minuten? Stunden? Inzwischen hatten wir uns gelöst und tobten uns richtig aus. Die totale Verausgabung. DJ Tom hatte das Tempo wieder angezogen und ließ Hardcore-Techno aus den Boxen knallen. Ralfs Körper glänzte vor Nässe, kleine Rinnsale liefen an ihm hinab, und als ich an mir hinuntersah, erkannte ich, dass ich einen ähnlichen Transpirationsgrad erreicht hatte, wie alle anderen auch, die in Anjas Partykeller am Tanzen waren, wie mir ein Blick in die Runde bestätigte.
Die dampfende Atmosphäre hatte meine Sinne gleichermaßen berauscht und benebelt. Allerdings nicht so sehr, dass ich es nicht spürte. Es, dass war eine Kraft. Eine Kraft, die fast etwas Substanzielles an sich hatte. Sie schien etwas oder jemanden zu suchen. Als wenn hunderte Tentakel einen unbekannten Ort abtasten würden. Zuerst war dieser Eindruck sehr schwach und ich hielt ihn für eine Einbildung, doch mit der Zeit wurde er stärker und dämpften meine restlichen Wahrnehmungen. Die Musik schien leiser und die Lichteffekte blasser zu werden. Es machte mich nervös, insbesondere, weil diese tastenden Tentakel Kälte verströmten. Eisige Kälte.
Ich wollte gerade mit tanzen aufhören, als ich Ralfs Mund an meinem Ohr spürte. Er hatte sich wieder an mich geschmiegt, aber offenbar weniger aus tanz- oder liebestechnischen Gründen: »Hör' nicht auf! Lass dir nichts anmerken! Ich habe es auch bemerkt.«
»Es ist kalt!«
»Ich weiß ... Tanz weiter und konzentrier dich auf die Musik!«
Ralfs Stimme war zwar kaum zu hören, doch die Wichtigkeit seiner Anweisung kam glasklar rüber. Ich tat, was er mir sagte. Er war sehr schwierig. Ich tanzte weiter, konzentrierte mich auf die Musik, beobachtete aber Ralf und folgte ihm. Er steuerte langsam an den Rand der Tanzfläche, wo man nicht tanzte, sondern nur im Rhythmus der Musik leicht wippte und die tanzenden beim Tanzen betrachtete. Wir durchbrachen die Reihe wippender Leute und steuerten eine der dunklen Ecken des Kellers an. Anjas Eltern hatten ein sehr großes Haus. Der Raum mit der Tanzfläche hatte an den Wänden gepolsterte Sitzbänke, auf denen die Erschöpften neue Energie sammeln konnten.
Oder anderes taten ...
Auf der Suche nach einem freien Platz kamen wir an einer ganzen Anzahl Heteropärchen vorbei, die heftig am Fummeln waren. So interessant das auch war, ich hatte anderes im Kopf. Die Eistentakel tasteten immer noch im Raum umher. Ichwusste, dass sie weder mich noch Ralf berührt hatten, und ich wusste irgendwie auch, dass dies auf keinen Fall unvorbereitet passieren durfte. Warum ich das wusste, wusste ich nicht ...
Ich war noch am grübeln, als mich Ralf zu sich auf eine Bank zog.
»Frag' nicht warum, tu es einfach. Schmus und fummel mit mir rum. Lass dich voll drauf ein! Du darfst nur mich im Kopf haben!«
Ich stellte keine Frage. Ich tat es. Ralf und ich taten, was die anderen auf den Bänken ebenfalls taten. Heftig fummeln und intensiv küssen. Wie konnte Ralf nur in solch einem Moment mit mir rummachen? Oder ...
Ich begriff. Ich sollte mich meiner Geilheit ergeben, den Verstand durch meine animalischen Triebe ausschalten und damit die Gedanken an die Eistentakel überdecken. Ich versuchte es. Ich ließ mich also voll auf Ralf ein und ... es klappte -- gerade eben! Ralfs Zunge in meinem Hals ließ mich alle Eistentakel dieser Welt Eistentakel sein und nur den Moment der Leidenschaft genießen. Wie unsere Zungen gingen auch unsere Hände auf Wanderschaft. Es war dunkel genug, als dass man Angst haben müsste, erwischt zu werden, außerdem waren eh alle mit der gleichen Tätigkeit beschäftigt.
Mir fiel plötzlich ein, dass ich mit Ralf noch nie ... Na ja, noch nie so richtig Sex gehabt hatte. Bisher war es immer nur beim wilden Rumfummeln geblieben. Und dieses Rumgefummel hatte sich obendrein bisher nur auf den Bereich oberhalb unserer Gürtellinien beschränkt. Ziemlich blöd eigentlich, aber es hatte sich nie die Gelegenheit zu mehr geboten. Es hatten sich auch genügend Unerfreulichkeiten zwischen uns gestellt: mein gebrochener Arm (wer treibt es schon im Krankenhaus?), dann das lange ungeklärte Verhältnis zu Ralf und schließlich, als wir soweit waren und es tuen wollten, war Michi dazwischen geplatzt.
Komischerweise vermisste ich bisher nichts. Entweder hatte ich keine Ahnung, weil ich nicht wusste, was ich vermissen würde, oder es lag einfach daran, dass es uns bisher reichte, was wir taten. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich noch Jungfrau war und einfach unbewusst angst vor dem nächsten Schritt hatte. Und Ralf? Wie erfahren war er in solchen Dingen? Mit seinem aussehen müsste er doch massenweise ...
Doch diese Überlegungen waren müßig. Zur Zeit saßen wir auf der Bank und Ralf streichelte meine Brust, was einschloss, dass er hin und wieder mein Brustwarzen zwirbelte und mit seinen Zähnen daran knabberte und leckte. Eine Tätigkeit, die ich früher niemals für geil gehalten hätte, aber man lernt ja nie aus.
Ich weiß nicht, wie lange wir miteinander zugange waren, jedenfalls hörten wir nach einer Weile auf. Ich hatte das Gefühl der tastenden Kälte fast vergessen, als Ralf es wieder in Erinnerung brachte: »Es ist weg.«
Ralf stand auf und zog mich mit sich. Wir verließen den Keller und suchten einen ruhigeren Ort, um miteinander reden zu können.
»Was war das?«
Ralf sah sich unsicher um. Seine Augen hatten wieder diese Cyanfärbung: »Ich bin mir nicht sicher ... Es war auf jeden Fall eine PSI-Kraft, eine telephatische Kraft, aber von ungewöhnlicher Art und Ausprägung. Irgendwer schien etwas zu suchen, oder jemanden.«
»Uns?«
Ralf überlegte einen Moment und schüttelte schließlich verneinend seinen Kopf: »Nein, keinen von uns. Es suchte ganz gezielt. Das ist auch der Grund, warum es uns nicht entdeckt hat. Wir waren nicht in seinem Suchraster. Doch hätten diese psionischen Fühler uns tatsächlich berührt, hätte der oder diejenige sofort gewusst, dass zwei Telepathen anwesend sind. Und das durfte auf keinen Fall passieren ...«
»Warum wäre das so schlimm ...«
»Hast du nicht die Kälte gespürt?«
»Doch schon ... Du meinst ...«
»Genau, das war die dunkle Seite unserer Kraft. Du hast sie heute schon einmal erlebt ...«
Im ersten Moment wusste ich nicht, was Ralf meinte, bis mir mein Erlebnis mit Carsten wieder einfiel. Der Tagtraum, in dem ich ihm sämtliche Knochen zersplittern ließ. Kaum dachte ich wieder daran, fing ich an zu frösteln.
»Tobi, dass ist wichtig! Diese Versuchung ... Sie ist real! Es sind mächtige Kräfte, die uns zur Verfügung stehen. Man kann sie für gute Dinge einsetzen, man kann sie aber auch ...«
Ralf braucht nicht weiterreden. Ich verstand auch so. Und ich begriff noch etwas anderes. Ich hatte Ralfs Kräfte verurteilt, ihn »Meinen Todesengel« genannt. Wie ahnungslos ich doch gewesen war. Standen meine Kräfte seinen in ihrer potentiellen Abartigkeit und Monstrosität in irgendetwas nach? Nein, ich konnte mindestens genauso gut wie Ralf ein Todesengel sein. Nein, kein Engel, eher ein Dämon. Ein Mensch gewordener Disruptor, der alles mit einem einzigen Gedanken zerfetzen konnte.
Mir wurde schlecht.
Ralf sah meinen emotionalen Absturz und schüttelte amüsiert seinen Kopf: »Hey, Kleiner, willkommen im Club!«
Ich sah ihn an und musste lachen. Mit Ralf an meiner Seite würde ich meine Kräfte niemals missbrauchen.
»Eins ist mir aber noch nicht klar. Warum die Knutscherei?«
Ralf grinste fies: »Aus drei Gründen: Einmal, um die Heten um uns herum zu provozieren! Dann, weil ich scharf auf dich war und dich fühlen wollte. Und drittens, um unsere Gedanken zu maskieren.«
»Ok, Grund eins sei dir gegönnt. Grund zwei sollten wir anderswo vertiefen. Aber Grund drei musst du mir erklären.«
»Diese Kraft suchte etwas. Ich wollte nicht, dass sie zufällig etwas fand. Zum Beispiel einen Gedankenfetzen von uns, in dem wir uns als Telepathen verraten hätten. Unsere Gehirne mit Lustgedanken zu überfluten hielt ich in der konkreten Situation für die schlauste Idee.«
»Du hast aber ein kluges Köpfchen!«
»Nicht war?«
»Musst du immer das letzte Wort haben?«
»Wieso, hab' ich das?«
»Ständig!«
»Kann gar nicht sein!«
»Is' aber so.«
»Ist doch gar nicht wahr!«
»Ich geb's auf.«
»Besser ist es!«
»Argh ...«
»Hast du was?«
Dagger in the Dark
Worin das Partytreiben ein sowohl vorzeitiges als auch unschönes Ende findet.
Ein markerschütternder Schrei beendete unsere Kabbelei ums letzte Wort. Jemand, dem Klang nach eine weibliche Person, hatte geschrien, als wenn sie den Leibhaftigen gesehen hätte. Der Schrei, der erneut angeschlagen wurde, kam aus dem Keller. Ralf und ich stürmten hinab.
Es war immer noch dampfig, betäubend und heiß, doch fehlte die Partyatmosphäre. Die Lust an Musik, Bewegung und Körpern, war Panik und Angst gewichen. Tom hatte die Musik aus und eine helle Raumbeleuchtung eingeschaltet. Wir trafen als Erstes auf einen Pulk von Menschen, der kreisförmig um etwas auf der Tanzfläche herum stand. Ralf bahnte uns einen Weg durch diese Menschenmauer und blieb plötzlich selbst entsetzt stehen. Er erstarrte, wie Wasser zu Eis. Eine Sekunde später sah ich warum.
Auf der Tanzfläche lag ein Körper, männlich, 18 Jahre alt. Leblos lag er da, seine Augen waren gebrochen. Er war tot.
»Was ...«, wollte ich zu einer Frage ansetzen, doch Ralf gab mir ein Zeichen nichts zu sagen. Ich wusste zwar nicht, warum ich nichts fragen oder sagen sollte, doch schien es Ralf wichtig zu sein, weswegen ich mein Mundwerk vorerst geschlossen hielt.
Immerhin erkannte ich ein paar Dinge auch ohne zu fragen. Der Tote war Arne, ein unauffälliger Typ, der im Jahrgang über mir war. Arne war zwar keine graue Maus, aber er galt auch nicht als der totale Bringer. Halt ein unauffälliger Typ, so wie die meisten von uns. Jemand, der sich, wie ich bisher auch, versuchte, ohne Blessuren durchzuwurschteln.
»Er ist einfach neben mir zusammengebrochen!«, zwitscherte Bettina, ein Mädchen aus meinem Jahrgang, mit der ich aber -- glücklicherweise -- keinen Kurs teilte.
»Einfach so?«, kam es ungläubig aus der Masse der umstehenden.
»Ja!«, lallerte Bettina, deren Extasypegel so hoch war, dass man durch pure Osmose bei einfachen Körperkontakt high werden würde.
»Shit!«, kam es treffend aus der Masse.
***
Nach einer viertel Stunde schlugen in 5 Minuten Takt der Reihe nach ein Krankenwagen, Notarztwagen, die Polizei, die Kripo, die Spurensicherung, ein forensischer Pathologe und schließlich ein Leichentransporter bei Anja auf. Jene saß depressiv in einem Sessel und war kurz davor loszuheulen: »Warum müssen sich die Typen immer volldröhnen!«
In den vergangenen 30 Minuten hatte sich verschiedene Gerüchte über die Todesursache durch die Partygemeinde bewegt, wobei die Vermutung »Dehydration durch übermäßigen E Genuss« als wahrscheinlichste Ursache angenommen wurde.
»Das gibt einen scheiß Ärger!«, kommentierte Anja, wenig ladylike, diese Annahme und malte sich in dunkelsten Farben aus, wie sie wegen Förderung und Unterstützung von Verstößen gegen das BTMG vor dem Jugendgericht bei Dr. R. Hertz landen würde. Die Trennlinie zwischen Realität und RTL fand sie zu fortgeschrittener Stunde nicht mehr.
Meiner einer machte sich ebenfalls Sorgen. Dies allerdings weniger wegen Vergehen gegen das BTMG, sondern vielmehr wegen der Kripo. Der ermittelnde Beamte war ein alter Bekannter, nämlich seines Zeichens KHK Schulz, der mich auch prompt entdeckte und mir vielsagend zunickte.
Verfolgungswahn oder Vorahnung, aber ich wurde das Gefühl nicht los, als wenn KHK Schulz fast erwartet hatte, mich auf Anjas Party anzutreffen. Wo es Leichen gab, war Tobi van Brüggen nicht weit -- So in der Art? Doch wer kennt sich mit den Gehirnwindungen eines Kriminalhauptkommissars aus?
»Komm mit!«, Ralf funkelte mich an. Sowohl das cyanfarbene Flimmern in seinen Augen als auch die unterkühlte Sachlichkeit veranlasste mich keine Einwände zu erheben, sondern Ralf widerspruchslos zu folgen.
»Findest du es nicht seltsam, dass Schulz hier ist?«, Ralf kam direkt auf den Punkt, »Der Junge, der da gestorben ist ...«
»Arne.«, schob ich ein.
»Arne! Dieser Arne ...«, Ralf wirkte unsicher. »Hier stimmt was nicht! Hier stinkt etwas ganz gewaltig und ich habe das Gefühl, dass ich wissen müsste, was es ist!«
»Wie meinst du das?«
»Wieso wurde hier das ganz große Kaliber aufgefahren? Polizei seh' ich ja noch ein. Ein Notarzt und Krankenwagen sowieso. Aber was macht die Kripo hier? Und die Spurensicherung? Wieso waren die sofort da?«
»Stimmt! Du hast Recht. Ein Typ der wegen Extasykonsum umkippt ist zwar blöd und sicherlich tragisch, aber nicht so ungewöhnlich, dass man den kompletten Strafverfolgungsapparat auffahren würde. Da unten sieht es ja aus, als wenn es darum ging, den Mord an Kennedy aufzuklären.«
Wir hatten uns in eines der Zimmer im ersten Stock zurückgezogen. Es war leer und daher waren wir glücklicherweise ungestört.
»Was weißt du von diesem ... Arne?«
»Arne! Hm ...«, ich zuckt mit meinen Schultern. »Nicht viel. Er ist ... war im Jahrgang über uns. Ich fand ihn immer ganz sympathisch. Soweit ich das sagen kann, denn wir hatten selten Kontakt miteinander.«
»Freunde?«
»Ein paar, soweit ich weiß. Keine Freundin, aber wohl auch nicht schwul. Er war mehr der unauffällige Typ, ich hab' mal mit ihm auf einer Firmenfeier ...«
Mir stockte der Atem und ich wurde blass, nein, nicht blass, ich wurde kreideweiß. Mein Mund trocknete in Sekunden aus und wurde zur Wüste, in der es seit Jahren nicht mehr geregnet hatte. Ich musste mehrmals Schlucken, um genügend Speichel zu produzieren, bevor ich weitersprechen konnte. Weitersprechen? Nicht wirklich! Weiteflüstern traf es eher.
»Ich traf ihn auf einem Betriebsfest der Firma meines Vaters. Ich glaube sein Vater arbeitet ebenfalls bei Kleist ...«
***
Bevor Ralf etwas sagen konnte, wurde die Tür aufgerissen und KHK Schulz füllte den Raum aus, der eben noch vom Türblatt eingenommen wurde.
»Herr van Brüggen? Oder Tobi, wenn ich dich so nennen darf?«
»Ja, ähm, sicher!«, Schulz machte mich nervös. Außerdem hatte er die Tür dermaßen brutal aufgerissen, dass mir fast das Herz stehen geblieben war. Ralf hatte den Eindruck, dass KHK Schulz allein mit mir reden wollte, und machte Anstalten zu gehen, wurde aber von Schulz sofort gestoppt: »Herr Antonides, ich würde auch gerne mit Ihnen reden.«
Schulz trat in das Zimmer. Allein, PM z.A. Jansen fehlte. Und Jansen war nicht das Einzige, was fehlte. Schulz sonst so exessiv kultivierte Genervtheit, dieses »Mich kotzt der Job an!« fehlte ebenfalls. Schulz präsentierte sich so, wie er wahrscheinlich in Wirklichkeit war: hellwach und zu 200% angagiert. Schulz war ein Profi und dazu gehörten offensichtlich auch schauspielerische Talente im Umgang mit Zeugen. Oder Verdächtigen?
Im Moment hatte ich nicht den Eindruck, dass Schulz mich verdächtigte, irgendetwas Unrechtes getan zu haben. Möglicherweise täuschte ich mich, aber mir schien, als wenn Schulz sich eher Sorgen machte.
»Ich glaube, wir sollten mal ernsthaft miteinander reden ...«, begann Schulz die Unterhaltung. »Hast du den Toten gekannt? Er war einer deiner Mitschüler.«
»Ja, aber er war ein Jahr über mir. Wir hatten keine gemeinsamen Kurse. Ich kenn ihn nur vom Sehen. Das einzige Mal, dass ich länger mit ihm gesprochen habe, ist gut zwei Jahre her. Auf einer Betriebsfeier in der Firma meines Vaters. Sein Vater arbeitet auch dort.«
Schulz nickte: »Ja, dass stimmt. Arne Oppenheimer war Oskar Oppenheimers Sohn. Darf ich etwas Fragen? Etwas möglicherweise sehr Persönliches?«
Schulz blickte von mir zu Ralf und wieder zurück zu mir.
»Ja, sicher!«
»Bist du ... ähm, ...«, Schulz schien seine Frage ausgesprochen unangenehm zu sein. »Sind Sie ... bist du ... Homo...«
»Schwul? Ja!«
An Ralfs goldenen Funkeln sah ich, dass er in diesem Moment sehr stolz auf mich war. Schulz räusperte sich verlegen und presste sich ein verschmitztes Lächeln ab, das mir sogar als ehrlich gemeint erschien.
»Das mag jetzt eine merkwürdige Frage sein, aber kennst du folgende Namen? Marco Winter?«
Ich schüttelte verneinend meinen Kopf.
»Christian Hinrichsen ... Thomas und Andreas Otto ... Michael Thomas ... Sven Bischoff?«
Ich verneinte jeden einzelnen Namen, obwohl irgendwo ein kleines Glöckchen ganz weit hinten in meinem Hirn leise bimmelte.
»Jan Kochmüller? ... Sebastian Ortlieb?«
»Ja, den kenn ich! Der ist in meinem Alter. Seine Mutter arbeitet ...«
Ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke. Sebastian -- Basti -- ich kannte ihn gut. Er war ein unheimlich süßer Kerl und lange Zeit Ursprung vieler feuchter Träume gewesen. Die Ortliebs waren früher häufig bei uns zu Besuch. Ich glaube mich zu erinnern, dass meine Mutter mit Frau Ortlieb früher zusammen Tennis spielte. Aber in letzter Zeit war der Kontakt eingeschlafen. Außerdem war sie eine Kollegin meines Vaters bei NextChem.
»Ich möchte, dass du mir jetzt gut zuhörst.«, Schulz sah sehr ernst aus. Seine Augen sprachen Bände. Er hatte Angst. Angst um mich!
»Alles sind Namen von Jungen in deinem Alter, plus minus einem Jahr. Alle, bis auf Sebastian, sind tot oder liegen fast tot im Koma!«
Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken runter. Panisch, fast hysterisch, kreischte ich los: »Tot?«
KHK Schulze schluckte: »Ja. Allen Jungen ist in den letzten zwei Wochen etwas zugestoßen.«
»Wie? Was?«
Der Kriminalhauptkommissar seufzte müde: »Dem Anschein nach waren alles zufällige Vorfälle. Kein Fremdverschulden. Zum Beispiel im Bett. Abends eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Oder beim Sport umgekippt. Es sieht alles völlig natürlich aus. Doch das kann nicht sein, denn alle Opfer verbindet etwas.«
»Kleists Firma!«, ich wusste nicht, warum ich es sagte. Schulz zog erstaunt die Augenbrauen hoch: »Ja, mehr oder weniger eng stehen alle Opfer im Kontakt mit NextChem. Ich frag' dich jetzt nicht, wie du darauf kommst. Ich bitte dich nur, dass du sehr wachsam und vorsichtig bist. Wenn dir irgendetwas merkwürdig vorkommt, ruf mich an. Das Verflixte ist, dass ich dir nicht sagen kann, auf was du achten sollst.«
»Sie sind überzeugt, dass die Todesfälle kein Zufall sind?«, Ralf sprach zum ersten Mal.
Schulz blickte ihn an: »Ja! 200% sicher! Das sind niemals Zufälle gewesen! Hier ist etwas oberfaul. Jemand bringt reihenweise Jungs in eurem Alter um oder zieht sie anderweitig aus dem Verkehr. Ich will wissen warum, ich will wissen wer, ich will wissen wie und ich will verhindern, dass es noch mehr Opfer gibt.«
Mit diesen Worten gab uns KHK Schulz seine Karte.
»Sie haben mir schon eine gegeben.«, wollte ich ihm die Karte zurückgeben.
»Diese nicht. Unter der zweiten Nummer könnt ihr mich Tag- und Nacht erreichen!«
Ich sah auf die Karte: »KHK Schulz, BKA Wiesbaden, Sonderermittler«
Verknüpfungspunkte
Worin sich ein Verdacht verdichtet und man unerwartet am falschen Ort ertappt wird.
Wie nicht anders vermutet, war die Luft aus Anjas Party explosionsartig entwichen. Die meisten waren von ihren Eltern abgeholt worden. Einige heulten. Allgemein war man sprachlos und entsetzt. Zum Glück bestätigte sich der Drogenverdacht nicht. Der anwesende forensische Pathologe ließ sich zwar ungern, aber schließlich doch zu einer Vermutung in Richtung einer schwachen Ader im Hirn, die durch die Anstrengung beim Tanzen geplatzt sei, hinreisen. So tragisch dies auch war, atmeten doch alle innerlich auf, da es sich ganz offensichtlich um eine »natürliche Ursache« handelte. Kein Fremdverschulden, keine Drogen. Anja hatte sich also nichts vorzuwerfen. Das tröstete zwar nicht, nahm aber immerhin die Drohung einer Strafverfolgung von ihren Schultern.
Ralf und ich waren fast die Letzten die Anja verließen: »Geht es dir auch gut?«
Anja lächelte gequält: »Dafür, dass ich als die Frau mit der ersten Partyleiche in die Geschichte unserer Schule eingehen werde, ja, halbwegs.«
»Gute Nacht, Anja!«
»Jungs?«
»Ja?«
»Danke!«
»Wofür?«
»Das ihr für mich heute Abend da ward!«
Wir, Ralf und ich, blinzelten Anja zu: »Das war doch selbstverständlich!«
Wir gingen zu Fuß. Es war spät, d.h. eigentlich war es fast schon wieder früh und Ralf hatte keine Lust mit einem Taxi für viel zu viel Geld nach Hause fahren zu müssen.
»NextChem ist oberfaul ...«, mir ging die ganze Sache nicht aus dem Kopf. Sieben, mit Arne acht, tote Jungen? Welche Perversität war da am laufen? NextChem und seine teuflischen Experimente! Ich verfluchte den Laden, ich verfluchte, dass mein Vater dort gearbeitet hatte.
»Shit! Das ist es! Wieso bin ich da nicht früher drauf gekommen? Ralf, schnell, ich muss an den Rechner meines Vaters!«
Ralf sagte nix. Er nickte. Ihm schien der gleiche Gedanke gekommen zu sein wie mir. Wir rannten nach Hause. Dort angekommen rannten wir sofort zum Computer im Arbeitszimmer meines Vaters. Ich hatte schon die CDRs im Laufwerk, bevor der PC zu Ende gebootet hatte, noch bevor wir unsere Jacken ausgezogen hatten. Kennwort, Passwortrechner, Kennwort und wir waren drin.
GEN/CHEM-I-XP-Objektliste
Adelt, Kai
Bischoff, Sven
Hinrichsen, Christian
Junghans, Erika
Kochmüller, Jan
Kornmüller, Peter
Oppenheimer, Arne
Ortlieb, Sebastian
Otto, Andreas
Otto, Thomas
Thomas, Michael
vanBrüggen, Tobias Christian Peter
Willhelm, Martina
Sie waren alle da. Alle Opfer und noch ein ganze Reihe weiterer Namen standen auf der Liste der Versuchsobjekte.
Mir wurde schlecht, denn ich begriff, was hier passierte: »Es ist das Experiment! Jemand beendet es und vernichtet alle Spuren.«
»Was für ein Experiment?«, ich zuckte zusammen. An meine Mutter hatte ich nicht gedacht. In einen Bademantel gehüllt stand sie im Türrahmen. »Ich denk ihr seid auf Anjas Party? Warum sitzt ihr hier im Mantel am PC deines Vaters? Morgens um halb vier?«
»Mami, bei Anja ist etwas sehr schlimmes passiert.«
»Was?«, fragte sie zögernd.
»Ein Mitschüler, Arne, ist gestorben!«
»Arne? Gestorben? Was erzählt du da?«, selbst im Halbdunkel das die Schreibtischleuchte verbreitete, sah ich, dass meine Mutter bleich wurde.
»Der Arzt meinte, dass eine Ader in seinem Hirn geplatzt ist.«
»Mein Gott, dass ist ja schrecklich.«
Mutter musste sich setzen. Da ich wusste, dass mein seliger Vater eine kleine Bar mit Hochprozentigem in seinem Arbeitszimmer verwarte, konnte ich meiner verstörten Frau Mama kurzfristig einen doppelstöckigen Cognac kredenzen, welcher dankbar angenommen wurde.
»Brrr!«, meine Mutter ist kein Cognactyp, hier mal ein Glas Wein (Rose'), Sekt, Prosecco oder mal einen Long-Drink, dass war's dann aber schon. Für harte Sachen war sie nicht zu begeistern, so dass der Doppelstöckige auch nur der Nervenberuhigung und ganz und gar nicht dem Genuss diente. Deutlich angewidert wurde das Glas geleert und zitterig auf den Schreibtisch gestellt. Meine Mutter, soviel war klar, war arg mitgenommen, mehr als ich vermutet hatte. Arne war sicherlich ein netter Typ und sein Tod war mehr als tragisch, aber trotz allem war er ein Fremder, bestenfalls ein ferner Bekannter. Ok, die Sache ließ mich natürlich nicht kalt, aber um in abgrundtiefe Trauer zu verfallen, kannte ich ihn viel zu wenig. Meine Mutter hingegen schien es heftig an die Nieren zu gehen. Mehr, als man erwarten würde.
»Und warum sitzt ihr am Rechner deines Vaters?«
***
Für eine Sekunde fror die Welt um mich herum ein. Die Frage meiner Mutter hatte mich kalt erwischt. Dabei war es weniger die Frage, die mir Sorgen bereitete. Es war die Antwort. Denn was müsste ich antworten, wenn ich zu meiner Mutter ehrlich sein wollte? Dass mein Vater, ihr Mann, unmoralische, kriminelle, unethische und vor allen gefährliche Experimente mit Menschen betrieben hatte? Dass man ihn deswegen wohl ermordet hatte? Dass sein Chef mich ermorden wollte? Dass er stattdessen ermordet wurde? Dass es für die Experimente handfeste Beweise in Form zweier CDs gab? Dass jemand anderes offensichtlich alle Spuren dieses Experimentes auslöschen wollte? Und schließlich, dass ich genau das geworden war, was diese unsäglichen Experimente erreichen wollten?
Wohl eher nicht.
»Ähm, nichts ...«, stammelte ich zusammen. »Wir hatten nur ...«
»Lass es gut sein. Wir reden später. Ich muss über ein paar Dinge nachdenken und ihr zwei solltet jetzt ins Bett gehen.«
Ich sah Ralf an, doch der zuckte nur mit seinen Schultern und war genauso verblüfft wie ich. Meine Mutter ließ mich so leicht vom Haken? Ich schnappte mir Ralf und die zwei CDs, knipste den PC wieder aus und warf meiner Mum noch schnell ein »Gute Nacht, Mami!« zu. Als Antwort kam zwar ein »Gute Nacht, Schatz!«, aber meine Mutter schien nicht wirklich bei der Sache zu sein. Sie hatte sich von der Sitzgruppe im Arbeitszimmer erhoben und stand mitten im Raum. Als mein Blick ihre Augen streiften, sah ich einen sehr merkwürdigen Ausdruck in ihrem Gesicht. Meine Mum schien mit ihren Gedanken weit, weit weg zu sein. Sie schien in eine weite Ferne zu schauen, eine, die weder ich noch Ralf sehen konnten. Etwas arbeitete in ihr. Es war unheimlich, denn ich hatte meine Mutter noch nie so gesehen. Gedankenverloren schüttelte sie ihren Kopf.
»Alles in Ordnung?«, ich begann mir Sorgen zu machen.
»Ja, ja ...«, kam es ton- und teilnahmslos.
Nun gut. Ralf und ich gingen nach oben in mein Zimmer.
»Hört das irgendwann mal auf?«, fragte ich meinen Schatz.
»Was?«, fragte er scheinheilig zurück.
»Diese ganze Sache. Alles. Die Gewalt. Die Geheimnisse und Geheimniskrämerei. Ich habe das Gefühl einen virtuellen Kampf zu kämpfen, dessen Regeln ich nicht kenne.«
»Dafür schlägst du dich aber ganz gut.«
Wir hatten uns für die Nacht, oder was davon übrig war, ausgezogen (bis auf die Unterhosen). Ralf hatte sich bereits ins Bett gelegt und funkelte mich sowohl mit seinen Augen als auch mit einem hinterhältigen Grinsen an.
»Du findest das alles komisch?«, meine Stimme klang schärfer als ich es wollte. Ralfs Lächeln verschwand sofort von seinen Lippen und machte einem müden, gequälten Ausdruck platz.
»Nein, tut es nicht. Wie könnte es? Dieser Kampf, wie du ihn nennst, er ist sehr real. Wir, du und ich, kämpfen wirklich. Und du hast absolut Recht. Wir kennen die Regeln wirklich nicht. Ich auch nicht. Keiner. Es passiert etwas. Etwas Großes. Etwas Gewaltiges. Ich fühle es in meinen Knochen. Irgendwie wurde ein Steinchen losgetreten. Dieses Steinchen ist dann einen Abhang heruntergefallen und hat andere Steine gelöst. Dieses Experiment. Die Firma, in der dein Vater gearbeitet hat. Die anderen Versuchsopfer. Dieser Polizist vom BKA, der weit mehr weiß, als er sagt. Du und deine außergewöhnlichen Fähigkeiten. Aber auch Michi. Selbst, das ausgerechnet wir beide uns getroffen haben. Das scheint mir alles zu zufällig, als dass es Zufall sein könnte. Nenn mich paranoid, aber ich habe das Gefühl, als wenn wir Marionetten sind. Irgendwer zieht die Strippen. Aber ich habe auch das Gefühl, dass nicht alles so läuft, wie es geplant war. Irgendwo gibt es eine Abweichung. Eine unbekannte Störgröße oder einen unerwarteten Faktor, der alles durcheinanderbringt.«
»Ralf?«, ich sah dieses nette Teil in meinem Bett skeptisch an. »Ich hab' keine Ahnung was du da erzählst!«
Wie auch. Für den Anblick, den ich gerade genießen konnte, hätte etliche der Mädels auf meiner Schule wahlweise ihre kleinen Brüder, ihre Pferdeheftsammlungen oder anderweitig mädchenspezifischen Krams verkauft. Ralf nackt bis auf seine Unterhose! Was für ein Bild! Was für ein Traum von einem Mann. Hart und soft zugleich. Wohldefinierte Muskeln, ein Sixpack zum Anbeten, und trotzdem eine sinnliche Weichheit, ein harmonisches Fließen einer Körperform, genau das war Ralf.
»Was starrst du mich so an?«, grinste Ralf.
»Hm?«, fiepste ich verträumt.
»Komm ins Bett!«, Ralf hob einladend die Bettdecke an.
Ich folgte seiner Einladung und schlüpfte, ebenfalls nackt bis auf die Unterhose zu ihm ins Bett, kuschelte mich sanft an ihn und ließ mich von der Berührung hinwegtragen.
»Ralf?«, ich lag selig in seinen Armen, dicht an ihn geschmiegt. Das Licht war aus.
»Ja?«
»Kuscheln ist ja ganz nett. Aber was hältst du davon, wenn wir demnächst mal ...«
»Sex?«
»Hmmmm«, summte ich Zustimmung.
»Gute Idee.«
»Ralf?«
»Ja?«
»Hast du schon mal?«
»Sex?«
»Ja!«
»Nein!«
»Nicht? Echt?«, so wie Ralf aussah konnte ich mir das eigentlich nicht vorstellen.
»Nein, ich hab' noch nie. Ein paar, Mädchen und Jungs, wollten mit mir, aber es war nie der Richtige dabei gewesen!«
Wow! Hatte ich ihn da eben richtig verstanden? Was für eine Liebeserklärung!
»Ich liebe dich!«
»Das musst du mir nicht dauernd sagen. Tobi! Ich spüre das! Ich fühle es mit jeder Faser meines Körpers und ich fühle auch, dass ich dich genauso liebe. Ohne dich ...«
Ich beendete Ralfs Liebeserklärung, indem ich meine Lippen auf seine Lippen legte. Zuerst schien Ralf etwas erschrocken zu sein, aber wenige Momente später schien er meinen Kuss zu genießen und lustvoll zu erwidern. Seine und meine Lippen öffneten sich und zwei Zungen begaben sich auf Wanderschaft. Mehr oder weniger schliefen wir glücklich und zufrieden in diesem Zustand ein.
Frühstück
Worin man sich und dem Frühstück näher kommt.
Anschließend stellt Michi eine, wenn auch berechtigte, so doch beunruhigende Frage
So genial schön es auch ist, eng umschlungen miteinander einzuschlafen, das Aufwachen kann verdammt unangenehm sein. So auch bei uns. Mein linker Arm war dermaßen verdreht, dass er gleichzeitig taub war und kribbelte, als wenn tausende Ameisen gleichzeitig auf ihm Tango tanzen würden. Verschlafen und von der gestrigen Party leicht verkatert, öffnete ich meine Augen und schielte Ralf an. Er sah auch nicht sonderlich frisch aus.
»Ummmpf ...«, Reste des frühgeschichtlichen Menschen brachen sich Bahn. Ralf war auch aufgewacht und blinzelte. Sein Gesichtsausdruck sah angespannt aus.
»Könntest du ?«, nuschelte es mir entgegen. Im gleichen Moment merkte ich, dass mir mein Rücken weh tat. Fünf Sekunden später wusste ich auch wieso. Ich lag meinerseits auf Ralfs Arm. Mühsam hob ich meinen Rumpf etwas an, Ralf zog seinen Arm unter mir heraus, ich senkte meinen Rumpf wieder ab und bemerkte sofort eine Verbesserung meines und seines Wohlbefindens.
Wir lagen beide auf der Seite, uns gegenseitig zugewandt. Ralf strahlte mich an: »Hi, Kleiner!«
»Hi, Großer!«
Shit, wie konnte der Typ morgens schon so süß und frech aussehen, obwohl wir beide alles andere als munter waren?
»Willst du aufstehen?«
»Nöh!«
Ralf lächelte. Ein kryptisches Lächeln, mit der er selbst der Mona Lisa Konkurrenz gemacht hätte.
»Was?«, fragte ich amüsiert und musste fast loslachen, so ansteckend war sein Grinsen.
»Nichts ...«, tat er scheinheilig und grinste munter weiter.
»Du hast doch was?«
»Nein!«, log er mich fast kichernd an.
Ich starrte Ralf fasziniert an. Seine Augen funkelten nicht, sie strahlten, wie kleine Sonnen. »Wie die Sonne!«, genau dass war die treffendste Beschreibung, denn von seinen Augen gingen warme, goldene Strahlen aus. Ich konnte die Strahlen fast körperlich fühlen. Kann man jemanden mit Blicken streicheln? Jemand vielleicht nicht, doch Ralf konnte es. Sein Grinsen ging in ein ernstes Lächeln über. Er hatte mich so mit seinem Blick gefangen, geradezu hypnotisiert, dass ich zuerst gar nicht merkte, dass Ralf mein rechtes Handgelenk ergriffen hatte. Er zog meine Hand zu sich ran, ließ mich seine Brust berühren und schob sie ein Stück tiefer, nur andeutend, wohin ich mit meiner Hand sollte.
»Du aber auch!«, war das Letzte, was ich sagte. Danach kommunizierten wir nonverbal.
Ich ließ meine Handfläche über Ralfs Bauch gleiten. Obwohl wir uns gegenseitig tief in die Augen blickten, wusste ich ganz genau, wie sein Körper aussah. Ich konnte quasi mit meiner Hand sehen. Meiner Finger konnten das Bild seines Körpers ertasten. Ich erreichte seinen Bauchnabel. Mein Zeigefinger folgte der Außenlinie wie ein Stern, der sich einem schwarzen Loch näherte und entlang des Ereignishorizonts vorbei glitt. Unterhalb des Bauchnabels stoppten meine Finger, als sie den feinen dunklen Streifen Härchen erreichten, der von Ralfs Nabel abwärts führte. Als wenn diese Härchen eine Wegmarkierung, ein Leitstreifen, wären, folgte meine Hand langsam diesem Pfad. Ralf grinste mich provozierend an. Meine Finger erreichten das Bund seines Slips. Ralf zog die Augenbrauen hoch, als wenn er sagen wollte: Und, Tobi, was machst du nu?»
Ich zögerte -- aber nur für wenige Sekunden. Dann schob ich meinen Zeigefinger unter den Bund, hob ihn etwas an und ließ meine anderen Finger hineinschlüpfen. Ralf blinzelte aufmunternd. Sein freches Grinsen wich einem -- Nun ja, wie soll man das nennen? -- sinnlichen Gesichtsausdruck. Meine Finger wanderten weiter und erreichten ein völlig versteiftes Körperteil. Soweit war meine Hand noch nie dieser Körperregion eines männlichen Wesens, außer mir selbst natürlich, nahe gekommen. Meine Hand steckte flach in Ralfs Slip, mein Daumen war abgespreizt, aber mein Zeigerfinger berührte der Länge nach Ralfs Zeigefinger.
Ich sah Ralf fragend an. Dieser schloss seine Augen und nickte. Seine Lippen fest aufeinandergepresst. Das war Aufforderung genug. Meine Hand bewegte sich erneut und umschloss Ralfs Schwanz. Ralf seufzte deutlich auf. Zum ersten Mal in meinem Leben hielt ich den Schwanz eines anderen Jungen in meiner Hand. Ein ausgesprochen interessantes Gefühl. Genaugenommen ein mega geiles! Es war soweit eine Überraschung. Mehr oder weniger hatte ich mir eine ungefähre Vorstellung davon gemacht, wie es so sein würde. Doch es war anders, deutlich anders, als wenn ich meinen in die Hand nahm.
Ralfs Schwanz war lang, mitteldick und hart -- hammerhart. Er hatte Struktur. Adern, eine leichte Biegung. Aber vor allen war er lebendig. Er pulsierte, er war warm, fast heiß. Ich begann ihn zu massieren. Ralf grunzte, er stöhnte leise auf. War sowas möglich? In meiner Hand schien sein Werkzeug noch härter und noch etwas größer zu werden. Ralf hielt seine Augen fest geschlossen. Er schien sie regelrecht zuzukneifen. Aus einem Auge quoll eine kleine Träne hervor. Ich hatte sowas noch nicht gesehen. Ralfs Gesicht sah gleichzeitig schmerzverzerrt und überglücklich aus.
Ich stoppte und hörte auf ihn zu massieren.
Irritiert öffnete Ralf seine Augen und sah mich fragend, vorwurfsvoll und enttäuscht an. Diesmal grinste ich fies zurück und rollte mit meinen Augen so, dass sie nach unten deuteten. Ralf verstand sofort. Statt sich aber wie ich mit vorsichtigem Vorgetaste aufzuhalten, packte er gleich meinen Hosenbund, schob seine Hand tief hinein und packte zu. Eine Sekunde später war ich eine Erfahrung reicher. Nämlich die, wie es sich anfühlte, wenn jemanden anderes als man selbst, Sack und Schwanz von einem in seiner Hand hält.
Es war ... unbeschreiblich?
Ja doch! Wie soll man etwas beschreiben, dass einem gerade den Verstand raubte?
»Puh!«, war alles, was ich noch sagen konnt. Mehr ging nicht, denn plötzlich hatte ich Ralfs Lippen auf meinen und seine Zunge in meinem Mund. Was dann geschah, bleibt im Dunkeln. Zu irgendeinem späteren Zeitpunkt müssen wir unserer Unterhosen verlustig gegangen sein. Dann fand so etwas wie ein Ringkampf zwischen uns statt, bei dem irgendwie jeder freiwillig verlieren wollte. Eng, sehr eng umschlungen, wälzten wir im Bett umher. Ralfs Schwanz an meinen und meiner an seinen Bauch gepresst, gerubbelt, geschmiegt, starteten wir unseren Abflug und verließen den Orbit.
***
Hatte ich das Bewusstsein verloren? Es kam mir so vor. Es war etwas ausgesprochen Lustvolles passiert, was aber den interessanten Nebeneffekt hatte, dass sowohl Ralf als auch ich recht klebrige Bäuche bekommen hatten.
»Wow!«, war dann auch mein Kommentar, als ich wieder denken konnte.
»Wow! In der Tat!«, lächelte Ralf mich mit einem sehr befriedigten Ausdruck an.
»Das war ...«
»Genau!«
»Jungs, aufstehen! Frühstück ist fertig!«, diese Stimme passte nicht ins Programm. Sie kam von unten, sprich einem Stock tiefer, und gehörte meiner Mutter.
»Hm, ich würde sagen: ,Keine Sekunde zu früh!` «, kommentierte ich und schrie laut zurück: »Wir kommen!«
»Wohl eher, wir sind gekommen!«, grunzte Ralf keck.
»Ich glaube, wir sollten Duschen, oder?«
»Eine super Idee!«
***
Die Körperreinigung ging erstaunlich schnell über die Bühne. Knapp 15 Minuten, nachdem meine Mutter das Frühstück angekündigt hatte, saßen wir frisch geduscht und angezogen am Frühstückstisch. Mit dem Frühstück kam auch die Erinnerung an die Ereignisse vom Vortag zurück. Meine Mutter meinte, sie würde gleich zu den Oppenheimers, also Arnes Eltern, fahren. Ich wusste gar nicht, dass meine Mutter seine Familie so gut kannte. Aber dass war wahrscheinlich nicht das Einzige, was ich nicht wusste.
Kurz bevor wir aufgegessen hatten, klingelte es an der Tür und Michi polterte herein. Der arme Junge war völlig fertig. Er kannte Arne deutlich besser als ich. Er war sogar vor zwei Jahren zusammen mit ihm im gleichen Handballverein gewesen. Michi stammelte. Es war recht anstrengend ihm zu folgen, denn er sprang wahllos von einem Gedanken zum anderen.
»Junge, setz dich hin und beruhig dich erstmal!«, mit diesen Worten legte Ralf eine Hand auf Michis Schulter und schob ihn sanft aber nachdrücklich Richtung Küchentisch auf einem freien Stuhl zu. Michi wurde tatsächlich ruhiger, so dass ich wagte, eine Frage zu stellen: »Ok, was war jetzt mit Kirsten?«
»Ich hätte gestern eigentlich bei ihr übernachten sollen.«, erzählte Michi nicht ohne Stolz. »Doch dann passierte diese Sache mit Arne. Shit, ich ...«, Michi unterdrückte Tränen, rang nach Luft, sammelte sich und fuhr dann langsam fort: »Mann, da platzt einem einfach so eine Ader im Hirn und ,Snapp!` bist du weg vom Fenster. Scheiße Mann!«
Ich blickte kurz zu Ralf rüber. Sollten wir Michi einweihen? Ralf schien dem zuzustimmen, denn er formte ein stummes Ja mit seinem Mund.
Michi jedenfalls zuckte mit seinen Schultern, seufzte und langte, obwohl er garantiert gerade gefrühstückt hatte, gedankenverloren und leicht abwesend bei den Brötchen zu.
»Lasst's euch schmecken. Ich bin dann weg.«, war dann auch alles, was meine Mutter sagte, bevor sie ihre Schlüssel packte und das Haus verließ.
»Wo will deine Mutter hin?«
»Zu Arnes Eltern. Sie kennen sich wohl ganz gut.«
»Ahh ja ...«, Michi hatte kaum zugehört. Er kaute ohne es zu merken auf seinem Nutellabrot herum: »Ihr glaubt nicht, dass es eine geplatzte Ader war, oder?«
Ralf und ich schauten uns überrascht an. Michi hatte seine Frage völlig ausdruckslos von sich gegeben. Als wir nicht antworteten, schaute er von mir zu Ralf und wieder zurück, nickte, zog seine Unterlippe schief und meinte schlicht: »Yap! Ihr denkt es. Ich seh' es an euren Augen.«
Michi hatte natürlich recht. Und er kannte mich zu gut, um aus meiner Reaktion auf seine Frage bezüglich Arnes Tod genau zu schließen, was ich wirklich dachte. Wir klärten ihn also auf. Schweigend kaute er sein Brot mit fetthaltiger Nuß-Nugat-Paste, spülte die Bissen mit Kaffee runter und schüttelte schließlich den Kopf.
»Kann es sein, dass die ganze Sache eine Nummer zu groß für uns wird?«
Ralf
Worin man einen Ausflug in die Geschichte von Ralf unternimmt.
Auf diese Frage wusste ich keine Antwort. Möglich, dass die Sache mehr als eine Nummer zu groß war. Möglich, dass ich -- wir -- scheitern würden. Wahrscheinlich würden wir sogar scheitern und, bestenfalls, nur unser Leben dabei verlieren. Wobei ich immer noch nicht wusste, worum es ging, um wen es ging, um was es ging, warum es mit mir zu tun hatte und wieso die Sache so endlos verworren war.
Ich stocherte mit meinem Messer auf meinem Frühstücksteller rum. Ich schmierte ein wenig in den Resten des Eigelbs des Spiegeleis umher, dass meine Mutter anlässlich des Sonntages bereitet hatte, und dachte nach. Die Schneide des Messers funkelte. Obwohl ich meine Brötchen damit aufgeschnitten und mit Butter bestrichen hatte, war die Schneide immer noch sauber genug, dass ich die Reflexion meines Gesichts, meiner Augen, auf ihr sehen konnte.
Meine Augen -- Tiefe dunkle Kanäle in meine Seele. Ein Moment von Selbsthypnose erfasste mich. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich das Gefühl, ein anderes Ich von mir in meinem Spiegelbild zu sehen. Plötzlich wusste ich, was zu tun war. Na ja, nicht wirklich »Was«, aber »Dass etwas getan werden musste.« Und das es meine verdammte Aufgabe war.
Mit dieser neugewonnen spirituellen Klarheit legte ich mein Brotmesser beiseite und meinte: »Michi, du hast Recht. Die Sache ist eine Nummer zu groß. Eine Nummer? Etliche Nummer, wenn du mich fragst. Aber ich muss weitermachen! Frag' mich nicht wieso. Es ist nur so ein Gefühl. Ich glaube, ich habe gar keine andere Wahl. Ich muss rausbekommen, was mit meinem Vater, was mit Kleist und was mit all den anderen Leuten auf dieser Versuchsliste passiert ist.«
»Ok, ich bin natürlich dabei. Doch wo willst du anfangen?«, Ralfs Einwurf war berechtigt.
»Mit dir!«, entgegnete ich und sah Ralf herausfordernd an: »Ich will wissen, was du weißt! Denn du weißt mehr als du bisher erzählt hast! Keine Ausflüchte. Wenn das, was wir heute Morgen gemacht haben, mehr sein soll, als pure Lustbefriedigung, dann erzählst du mir jetzt endlich alles, was du weißt.«
»Was habt ihr denn heute Morgen gemacht?«, Michi horchte auf.
»Rate mal!«, grinste ich ihn an.
»Oh! Etwa ...«, Michi machte eine eindeutige Handbewegung und zog fragend seine Augenbrauen hoch.
»Nein, dass noch nicht. Ähm, eigentlich geht dich das auch gar nichts an.«
Zwei Augenpaare richteten sich auf Ralf: »Schieß los! Ich weiß fast nichts von dir.«
Ralf seufzte und schoss los. Doch es war weniger, als ich erhofft hatte. Ralf erzählte, wie er seine Fähigkeiten entdeckt hatte. Es war ein Unfall, der fast tragisch, das heißt, mit dem Tod eines Mitschülers ausgegangen wäre. Das Ereignis lag etwas mehr als dreieinhalb Jahre zurück. Ralf war an dem absoluten emotionalen Tiefpunkt seines bisherigen Lebens angekommen. Mit Ende 14 hatte er gemerkt, dass er schwul war. Dumm nur, dass er in einer ländlichen Gegend lebte, die zudem noch sehr konservativ geprägt war. Mit anderen Worten, er lebte in einem Dorf. Ein Schulbus sammelte ihn und alle anderen Kids des Dorfs morgens ein, fuhr eine dreiviertel Stunde bis zur nächsten Kreisstadt und lud dort den Bus vor verschiedenen Schulen aus. Ralf wurde vor dem Kreisgymnasium ausgeladen. Da die meisten Schüler ebenfalls aus den umliegenden Dörfern stammten, gab es kaum so etwas wie engere Schulfreundschaften. Wenn Leute zusammen rumhingen, dann waren sie aus demselben Dorf. Selbst in den Schulklassen war es so, denn diese wurden entsprechend der umliegenden Gemeinden zusammengestellt. Die Kinder der Kreisstadt belegten dabei immer eine eigene Klasse. Obwohl Ralf mit den wenigen Leuten seines Dorfes die gleiche Klasse besuchte, hatte er zu seiner Dorfclique nie richtig Zugang gefunden. Als »Zugezogener«, seine Eltern und er wohnten erst seid wenigen Jahren in dem Dorf, gehörte er einfach nicht mit dazu. Wozu auch immer.
Was auch nicht sonderlich zu seiner Popularität beitrug, war sein Äußeres. Ralf war fett, picklig, hatte eine hässliche, fette schwarze Kassengestellbrille und roch. Ralf boykottierte das tägliche Bad. Er roch und das streng. Mangelnde Körperhygiene war sein stiller Protest gegen Ausgrenzung. Dass er sich damit in einen Teufelskreis begab, war ihm egal. Dass er überall aneckte, interessierte ihn nicht. Ralf war alles und insbesondere er sich selbst scheißegal. Fünfzehn, fast 16 Jahre alt und voller Selbsthass, der sich auch noch in aggressivem Verhalten gegenüber seinen Mitschülern manifestierte.
Von Zeit zu Zeit tickte Ralf einfach aus. Tobte in der Klasse umher und schlug sogar wild um sich. Es passierte meistens dann, wenn er meinte, ungerecht behandelt worden zu sein. Womit er meistens sogar recht hatte. Die Lehrkörper seiner Schule waren in erster Linie an einer ruhigen, pflegeleichten Klasse interessiert. Da war ein Außenseiter wie Ralf ein echter Störfaktor. Fairness ihm gegenüber war nicht angesagt.
Es war wieder so ein typischer Fall. Oliver, ein stinkfaules, hintertriebenes Arschloch, hatte seine Hausaufgaben vergessen, oder genaugenommen, einfach nicht gemacht. Als nun Frau Mayer ausgerechnet von ihm etwas von den Hausaufgaben vorgetragen bekommen wollte, griff Oliver zur Lüge, Ralf hätte ihm die Arbeit geklaut. Die Mayer, ein mütterlich-omahafter Typ, hatte keine Bedenken Oliver blind zu glauben. Oliver war zwar eine Zecke gegenüber seinen Mitschülern, aber gegenüber seinen Lehrern verhielt er sich immer wie Mamis Liebling. Insbesondere roch er nicht schlecht und hatte gekämmte Haare.
Ralf tickte aus. Er sprang auf Oliver zu. Pakte ihn mit beiden Händen und schrie ihn an.
Und dann passierte es.
Olivers Augenlieder fingen an zu flattern, seine Augen verdrehten sich, man sah nur noch die weißen Augäpfel, er bekam Schaum vorm Mund und er verlor sein Bewusstsein.
Oliver wurde mit einem Rettungswagen ins Kreiskrankenhaus gebracht. Die Ärzte waren ratlos. Es schien, als wenn Oliver vor Schwäche zusammengebrochen und in ein Koma gefallen sei. Sie mussten ihn sofort mit allen möglichen Stoffen wieder aufbauen, ihn künstlich ernähren und aufpäppeln, doch brauchte es zwei Wochen, bevor Oliver aus dem Koma, in das er gefallen war, wieder aufwachte. Die Schulmedizin stand vor einem Rätsel.
Nicht so Ralf. Er hatte es bereits gespürt, als er Oliver in seinen Händen hielt. Sie waren wie Saugnäpfe. Ralf konnte die Energie fast greifen, die auf seinem Körper überging, die er von Oliver absog, so wie eine Vakuumpumpe Luft absaugt. Und nicht nur dass, er fühlte sich mit jedem Quäntchen Energie kräftiger werden. Und dann erschrak er. Auf eine eigenartige Weise sah Ralf, dass er Oliver umbrachte. Noch etwas mehr und der Junge würde nie wieder aufwachen.
Ralf sprang zurück. Niemand achtete auf ihn. Schließlich war er sowieso der Freak, der mal wieder am Ausrasten war. Man war froh, dass Ralf abhaute, aus dem Klassenzimmer rannte und für den Rest des Tages nicht mehr gesehen wurde.
Ralf aber konnte ihre Gedanken plötzlich hören. Er brauchte nur eine Person ansehen und er hörte dessen Gedanken. Zuerst nur einzelne leise Worte, fast nur geflüstert, doch wurden sie immer lauter, immer eindringlicher und immer mehr. Es brach wie eine Springflut über ihn herein. Es wurde ohrenbetäubend laut in seinem Kopf. Ralf rannte. Er hielt sich die Ohren zu, doch das nützte nichts. Die Stimmen kreischten in seinem Kopf. Eine Kakophonie von Gedanken und Emotionen. Ungefiltert. Roh. Brutal.
Weg von Oliver, weg von seiner Klasse, weg von der Schule und weg von den Stimmen. Er rannte so lange, dass er schließlich nicht mehr wusste, wo er war. Es war ruhig in seinem Kopf geworden. Das war der einzige Grund, warum er stehen blieb.
Es hatte ihn in eine Parkanlage verschlagen. Ein See, eine Wiese, ein Kinderspielplatz. Ein Kind schrie. Es schrie laut, denn es war von einem Klettergerüst gefallen und hatte sich sein Knie aufgeschlagen. Es blutete scheußlich und tat wohl auch heftig weh. Ralf sah das Kind, er spürte seine Schreie in sich selbst und er fühlte dessen Schmerz. Er ging auf den kleinen Jungen zu, hockte sich zu ihm auf die Erde berührte sein Knie und ...
Die Schmerzen waren verschwunden. Genauso die klaffende Wunde. Ein Rest Blut ließ sich wegreiben. Der kleine Junge sah Ralf dankbar an. Ralf wollte etwas sagen, doch in diesem Moment kam die Mutter des Kinds angerannt und schrie auf Ralf ein: Er solle sich fortscheren und ihren Sohn nicht anfassen. Solche Junkies wie ihn sollte man sowieso alle einsperren.
Ralf hörte nicht zu. Er schlurfte von dannen. Suchte sich eine leere Parkbank, setzte sich hin und brach in Tränen aus.
***
»Ist hier noch frei?«
Die Stimme kam aus dem Off, weniger, weil sie nicht real gewesen wäre, sondern weil Ralf gar nicht bemerkt hatte, dass sich ihm ein junger Typ genähert hatte. Der Junge war schätzungsweise zwischen 17 und 22 Jahren halt. Sein genaues Alter war schwer zu erkennen, denn er wirkte auf eine gewisse eigenartige Weise alterslos.
Wie alt er auch immer gewesen sein mochte, seine Frage war absurd. Ralf starrte verdattert den Jungen an, dann in den Park und dann wieder auf den Jungen. Der Park war leer. Kein Wunder, es war ein eher trüber Herbsttag, stark windig und unangenehm kalt. Deswegen war es auch nicht sonderlich überraschend, wenn man auf keiner der massenweise vorhandenen Bänke jemanden sitzen sah. Selbst die üblichen taubenfütternden Rentnergeschwader fehlten. Um so überraschender war die Frage von dem Jungen. Ebenfalls überraschend war der Junge als solches.
Nachdem sich Ralf von dem ersten Schrecken erholt hatte, schließlich hatte ihn die Stimme des Typen aus seinen trüben Gedanken gerissen, begann Ralf den Fragenden als solches wahrzunehmen.
Er sah nicht schlecht aus. Sogar richtig gut. Ralf, eh schon verunsichert und emotional an einem echten Tiefpunkt angelangt, wurde noch unsicherer und verwirrt. Da stand ein wirklich super aussehender Typ, ein echtes Sahneschnittchen, vor ihm, in einem menschenleeren Park, an einem trüben Herbsttag, an dem schlimmsten Tag, an dem sich Ralf in seinem Leben bisher erinnern konnte und dieser Typ fragte ihn, ausgerechnet ihn, ob der Platz neben ihm frei wäre.
Etwas absurd, oder?
Das Einzige, wozu Ralf in diesem Moment in der Lage war, war den Typen mit offenem Mund, aber sprachlos, anzugaffen. Er war sehr attraktiv, hatte tolle Klamotten an, die auf einen wohlgeformten Körperbau schließen ließen, und grinste. Nein, es war kein Grinsen, es war ein hypnotisches Lächeln. Etwas unheimlich, aber auf eigentümliche Art auch wieder beruhigend. Es vermittelte Ralf ein Gefühl von Zuneigung und Wärme.
Es war nicht ganz genau klar, welche Eigenschaften des Jungen für Ralfs Gefühle konkret verantwortlich waren, doch schienen die Augen eine fast magische Wirkung zu besitzen. Ralf hatte den Eindruck sich vollkommen in ihnen zu verlieren. Er meinte zu fallen und tief in die Abgründe des Blickes jenes Jungen zu stürzen.
Und dann war der Sturz vorbei. Jemand schaltete einen Schalter um, und die magische Wirkung war weg. Ralf zuckte zusammen, bemerkte plötzlich, dass er den Typen wohl eine ganze Weile blöd angeglotzt hatte und meinte entschuldigend: »Ja, hier ist massenweise Platz.«
»Danke!«, sagte der Junge und setzte sich neben Ralf, »Ein wirklich trüber Tag. Es wird bestimmt noch richtig fies regnen.«
»Aber für dich, Ralf, ist die Zeit der Regentage bald zu Ende!«
Ralfs Kopf schnellte herum und starrte den Typen an. Dieser letzte Satz, er wurde in seinem Kopf gesprochen. Ganz deutlich hatte er die Stimme des Jungen in seinem Kopf gehört. Nicht mit seinen Ohren, sondern direkt in seinem Kopf. In allerbester Sourround Qualität.
»Der Wind ist arschkalt. Ich versteh nicht, wie man sich solch einen Platz aussuchen kann.«, meinte der Typ, diesmal auf akustischem Wege, um dann mit geschlossenen Mund fortzufahren: »Ich verstehe nicht, warum "man" es tuen würde. Aber ich verstehe, warum du es getan hast. «
»Ich ...«, stammelte Ralf, wurde aber von dem Jungen unterbrochen.
»Da hinten zieht es schon ganz Dunkel den Himmel empor. Das wird ein heftiger Guss!«, philosophierte jener weiterhin über das Wetter. » Ich verstehe nicht nur deine Platzwahl. Ich verstehe, wie du dich fühlst. Ich weiß es ganz genau!«
Ralf Augen wurden glasig.
»Nein, weine nicht. Zergehe nicht in Selbstmitleid. Dafür gibt es keinen Grund. Glaube mir, du bist mehr wert, als du denkst. Denke an den kleinen Jungen. Denke daran, wie dankbar er dir ist, dass du ihm seine kleine Schürfwunde geheilt hast.«
»Aber ich habe Oliver fast ...«
»Ja! Aber eben nur fast. Er lebt und wird wieder auf die Beine kommen. Immerhin wird er dich nie wieder ablinken. Aber was du nicht weißt, was der kleine Junge von vorhin nicht weiß und was seiner Mutter, die dich als Junkie beschimpft hat, nicht weiß: Du hast dem kleinen Jungen das Leben gerettet! «
»Ich habe«
»Ja! Sieh mir in die Augen! Dann kannst du es sehen!«
Die Augen des Jungen wurden zu einem Strudel, sie zogen Ralf Blick in sich auf, sie verschluckten ihn und öffneten gleichzeitig ein Bild zu einer anderen Welt. Das Bild war wie eine gigantische Zoomfahrt mit einer Kamera, bei der man von Ultraweitwinkel bis zum Rastertunnelmikroskop alles durchwandern konnte. Die Szene, die Ralf sah, lag in der Vergangenheit. Keiner weiten Vergangenheit, sie lag nur wenige Minuten zurück. Er sah den kleinen Jungen an einem Spielgerät klettern. Er sah die rostige, dreckige Schraube und wie der Junge sich an dieser sein Knie aufschlitzte. Die Kamera begann auf die Wunde zu zoomen. Bald füllte sie Ralfs gesamtes Blickfeld aus. Doch die Zoomfahrt ging weiter.
»Siehst du es?«, tönte es in seinem Kopf. »Siehst du die Wundstarrkrampferreger? Siehst du, wie sie in seine Blutbahn eindringen? Erkennst du, wie sie ihr Zerstörungswerk anrichten? Wie sollte die Mutter auch wissen, dass ihr kleiner Sohn einen Gendefekt besitzt, der ihm gegen diesen Erreger fast wehrlos macht?«
Und Ralf sah es. Alles! Er sah die roten Blutkörperchen, das Blutplasma, die Zellwände, die Erreger und ihr Vernichtungswerk. Und er sah die weißen Blutkörperchen, die aber nicht angriffen, da die dafür notwendigen Antikörper fehlten.
Und dann war das Bild weg. Ralf sah wieder nur den sympathischen Typen. Den geilen Typen, wie Ralf sich selbst korrigieren musste. Je mehr er den Typ betrachtete, desto schärfer sah er aus.
»Deine Gedanken sind zwar recht schmeichelhaft, aber leider bin ich schon in festen Händen!«
Ralf wurde knallrot: »Oh!«
»Schon Ok!«, entgegnete der Junge, diesmal mit normaler Sprache. »Schäm dich nicht für das was du bist. Erst recht nicht, dass du auf Jungs stehst. Das tun wir fast alle.«
»Wir?«
» Mutanten, Telepathen, übersinnlich Begabte. Nenn es, wie du willst. Du bist einer von uns. Sowohl in der einen als auch in der anderen Richtung. Die Frage ist nur? Bist du bereit es zu akzeptieren? «
»Hilfst du mir dabei?«, Ralf versuchte diese Frage in das Hirn des anderen zu projizieren.
»Nein! Das musst du selbst machen. Ich habe dich nur etwas in die richtige Richtung geschubst. Den Rest, da bin ich mir absolut sicher, schaffst du aus eigener Kraft. Ach ja, ein paar Tipps noch: Wasch dich mal! Du stinkst erbärmlich! So bekommst du nie 'nen süßen Schnuckel ab!«
***
Ralf zuckte zusammen. Er war beim Grübeln auf der Parkbank eingenickt. Er öffnete seine Augen und ... Kein Typ weit und breit. »Was für ein seltsamer Traum.«, versuchte sich Ralf zu beruhigen, obwohl die Erinnerung an diesen merkwürdigen Typen viel zu plastisch und real war, um nur ein Traum gewesen zu sein.
Ralf stand auf und trat auf den Sandpfad, der ihn aus dem Park führte. Ein Blick über seine Schulter entgegen seiner Laufrichtung zeigte eine dunkel, fast schwarze Regenwand am Rand des Himmels. In wenigen Minuten würde ein heftiger Regen auf ihn herabfallen. Ralf beschleunigte seinen Schritt und begann zu laufen. Ein Fehler, denn er lief bereits los, als er noch hinter sich sah. So konnte er das Klettergerüst nicht sehen, das direkt in seinem Weg lag. Ralf stolperte und stürzte hin, dabei gab es ein gemeines Geräusch, als der Stoff seiner Hose zerriss. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihn, als sich eine rostige und dreckige Schraube, deren spitzes Ende aus einer morschen Holzplanke herauslugte, in sein Fleisch bohrte.
»Scheiße!«
Eine langweilige Ebene
Worin Ralf zu einer Entscheidung kommt
»Gut Ralf, dass du gleich zu mir gekommen bist.«, meinte der Hausarzt der Familie Antonides, den Ralf sofort aufgesucht hatte. Er hatte die Wunde an Ralfs Bein untersuchte, gereinigt, desinfiziert und verbunden, »An so alten Schrauben und Nägeln hängt häufig eine ganze Menge Keime. Was für ein Glück, dass du gut geimpft bist. Mit Diphterie und Tetanus ist nicht zu spaßen.«
»Eine Sorge weniger.«, dachte sich Ralf und ignorierte geflissentlich die restlichen Monster in seinem Kopf. »Später, wenn ich etwas klarer sehe.«
»Hast du etwas abgenommen?«, fragte der Arzt und musterte Ralf, der, wie bei einer Untersuchung üblich, nur in seiner Unterhose vor ihm stand.
Ralf, von der Frage völlig überrascht, sah skeptisch an sich herunter: »Nicht das ich wüsste. Sie kennen ja mein Problem. Ich muss nur an einem Schokoladengeschäft vorbeilaufen und habe zwei Kilo mehr auf den Rippen.«
»Ja, ich weiß, dass du nicht zu viel isst. Na, möglicherweise wächst sich das noch raus. In deinem Alter finden eine Menge Umstellungen im Stoffwechsel deines Körpers statt.«
»Nicht nur im Stoffwechsel.«, dachte sich Ralf.
***
Nach der Behandlung seiner Wunde entschied sich Ralf nach Hause zu gehen. Dies war keine leichte Entscheidung, denn der kleine Vorfall in der Schule war bestimmt schon bis zu seinen Eltern vorgedrungen. Ralfs Eltern. Auch so ein Thema für sich. Eigentlich verstand er sich mit ihnen recht gut, nur ... In letzter Zeit machte Ralf es weder sich noch seinen Eltern leicht, mit ihm klarzukommen. Es war diese innere Unruhe, diese innere Wut, mit der er nicht klarkam, für die er kein Ziel hatte, auf die er sie hätte konzentrieren können. Statt dessen bekam seine ganze Umwelt seine Wut, seinen Launen und seine Ausfälle ab. Hinterher ärgerte er sich immer selbst über sich und wurde dadurch nur noch wütender. Manchmal war er kurz davor, einfach durchzudrehen. Auszuticken und alles in seiner Umgebung kurz und klein zu schlagen.
Ein dunkler Abgrund. Ralf hatte Träume. In diesen Träumen stand er vor einem dunklen, schwarzen Abgrund, der eine weite Ebene durchbrach. Der Abgrund war so breit, dass man unmöglich die andere Seite erreichen konnte. Umgehen konnte man den Abgrund auch nicht, denn er erstreckte sich nach beiden Seiten bis zum Horizont. Ralf stand direkt am Rand des Abgrundes. Seine Zehenspitzen ragten bereits ein klein wenig über die Kante hinaus. Die unergründliche Schwärze schien ihn anzuziehen, zu rufen. »Spring! Tu es!« Nur ein kleiner Schritt und ...
Ralf wachte auf. Schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd. Jedes Mal, wenn er diesen Traum hatte, war es das gleiche Spiel. Der Abgrund, die bodenlose Tiefe, die Schwärze, das Erwachen ...
Dieser Traum entwickelte sich zu einem echten Albtraum. Kam er früher eher selten, vielleicht einmal in einem halben Jahr, nahm in der letzten Zeit die Häufigkeit, mit der er von diesem Abgrund träumte, zu.
Aber nicht nur die Frequenz nahm zu, auch die Amplitude. Der Traum wurde immer realer, so, als wenn man von einem uralten Schwarzweißamateurfilm ganz allmählich zu einer gestochen scharfen hyperrealen digitalen Mutterkopie wechselte. Mit jedem Mal wurde die Welt deutlicher, klarer und eindringlicher.
Und das Erwachen immer schrecklicher!
Beim letzten Mal, welches gerade mal vier Tage zurücklag, war Ralf schreiend aufgewacht. Sein Bett und seine Sachen waren klitschnass geschwitzt. Ralf war sofort keuchend ins Badezimmer gerannt und sah im Spiegel einen fetten, zitternden, tierisch schwitzenden und völlig fertigen Typen. Kein Wunder, dass Ralf Angst vor dem Einschlafen bekam.
»Das hängt alles miteinander zusammen!«, Ralf stand vor der Wohnungstür und wollte gerade aufschließen. Auf dem Weg vom Arzt nach Hause hatte er wieder einmal über sich, seine Umwelt, eigentlich über alles nachgedacht, gegrübelt. Dieses Grübeln war normalerweise völlig ergebnislos verlaufen, es hatte bestenfalls seinen Frust erhöht. Doch diesmal hatte es in seinem Schädel plötzlich Klick gemacht. Verschiedene Puzzleteile passten mit einem Mal ineinander und ergaben ein Bild. Ralf erkannt, dass seine Albträume, sein Verhalten gegenüber der Umwelt, sein Schwulsein, selbst die Merkwürdigkeiten des heutigen Tages, zusammengehörten. Sie waren miteinander verbunden und durften nicht isoliert betrachtet werden.
»Etwas passiert!«, murmelte Ralf. »Etwas passiert mit mir!«
Ralf schloss auf, öffnete die Tür.
Weißes Licht!
Hinter der Tür lag keine Wohnung, die war verschwunden. Hinter der Tür öffnete sich nur ein Portal, ein Tor in gleißendes weißes Licht. Kaum hatte Ralf die Tür geöffnet umfing ihn das Licht, hüllte ihn ein. Ralf spürte, dass es in ihn eindrang, ihn durchflutete.
Ralf sah sich selbst mit seinen eigenen Augen. Das Licht schien die Realität, die ganze Welt in sich zu falten und zu krümmen. Der Hausflur hinter Ralf kollabierte in sich und war verschwunden. Zurück blieb das Licht.
»Das kann nur eins bedeuten«, dachte Ralf. »Jetzt bin ich total durchgeknallt! Ich nehme keine bewusstseinsverändernden Drogen, also kann ich nur verrückt geworden sein! Oder ich hab' einen Gehirntumor. Die sollen sowas ja ebenfalls anrichten können. Ganz klar. Meine lieben Eltern sollten mich morgen sofort in die Klapse einliefern. Ich geh sogar freiwillig. Nur, wie komm ich wieder aus diesem Licht raus?«
Ralf sah sich um. Alles war gleißend weiß. Oder?
Nicht ganz, denn die Farbe veränderte sich. Weiß hat keine Farbe, genaugenommen enthält Weiß alle Farben des Spektrums. Doch dies schien sich gerade zu ändern. Überhaupt änderte sich eine ganze Menge. Ralf meinte in seinen Augenwinkeln sehen zu können, dass diese seltsame Unrealität hinter ihm aufriss und wieder der normalen Realität in Form des schnöden Treppenhauses eines Mietshauses preisgab. Es war, als wenn Ralf ein Licht war, um das eine verstellbare Blende angebracht war. Diese Blende wurde jetzt verändert, so dass man nur noch direkt von vorn das Licht sehen konnte. Jenes war inzwischen nicht mehr weiß, sondern tiefblau. Und es stürzte. Das Licht stürzte wie ein Wasserfall, wie ein tosender Wildbach auf Ralf ein. Es stürzte in seine Augen. Der Radius des Lichtscheins hatte sich jetzt auf einen dünnen Zwillingsstrahl reduziert, der direkt, wie zwei Laserstrahlen in seine Augen leuchteten. Tiefes, schweres ultrablaues Licht.
Und dann war alles vorbei. Einfach so, als wenn nie etwas passiert war. Genauso, wie mit dem Typen von der Parkbank. Ralf stand wieder vor der geschlossenen Tür. Er hatte sie noch gar nicht geöffnet, sondern war in jenem Moment dabei, den Schlüssel ins Schloss zu stecken.
»Klapsmühle! Eindeutig! Oder Hirntumor!«, murmelte Ralf und betrat die Wohnung.
***
Das Gespräch mit seinen Eltern verlief erschreckend zivilisiert. Ralf fehlte einfach die Energie, um sich aufzuregen, wie er es sonst tat. Er blieb völlig sachlich, schilderte, was seiner Meinung nach in der Schule passiert war, ließ dabei allerdings den übernatürlichen Aspekt vorsichtshalber aus. So schnell wollte er dann doch nicht in die Psychiatrie eingeliefert werden.
Psychiatrie war keine leere Drohung. Auf Betreiben einiger Lehrer war Ralfs Verhalten von einer Schulpsychologin untersucht worden, die prompt ein signifikant gestörtes Sozialverhalten diagnostizierte. Deswegen blieb Ralf diesmal sehr sachlich und ruhig. Er versprach sogar, sich bei seiner Lehrerin zu entschuldigen. Nicht dafür, dass Oliver ihn fälschlich beschuldigt hatte, aber immerhin dafür, dass er überreagiert hatte.
Ralfs Eltern sahen sich verwirrt an. Sie wussten nicht so genau, was sie mehr beunruhigen sollte, dass Ralf Oliver angegriffen hatte, oder dass Ralf plötzlich für sein Verhalten Verantwortung übernehmen wollte. Beides war mehr als merkwürdig.
Während sich seine Erziehungsberechtigten noch wunderten, war Ralf in sein Zimmer gegangen. Ein Saustall. Eine konsequente Fortsetzung seiner mangelnden Körperhygiene mit anderen Mitteln.
»Nun denn!«, sagte Ralf zu sich selbst, ging zurück in die Küche, holte sich einen Eimer, Ajax, Mülltüten und den Staubsauger und begann mit seinem Werk. In den nächsten drei Stunden mussten Milliarden von Bakterien, Viren, Pilzen und Milben ihr armseliges Leben lassen.
»Ach, so sieht also mein Zimmer aus. Interessant, mein Schreibtisch hat eine grüne Schreibunterlage. Wusste ich gar nicht.«
Als wenn die Seltsamkeiten kein Ende nehmen wollten, bezog Ralf sein Bett sogar frisch. In gut riechende Laken gehüllt, kroch Ralf schließlich gegen 23:00 Uhr in sein Bett.
»Eindeutig, ich gehör' in die Klapse! Jetzt mach ich schon freiwillig sauber!«
***
Eine Landschaft: Flach und ohne sichtbare Begrenzung. Ein Himmel: hell, aber ohne Sonne. Die Farben: seltsam, etwas sehr dramatisch. Blau-, Rot- und Violetttöne zieren den Himmel. Abenddämmerungsatmosphäre hängt im Raum. Der Boden: Steine, Sand mit scharfkantigen Schlagschatten, die, wider aller Physik, ohne sichtbare Lichtquelle in alle Richtungen zeigten. Der Abgrund: die einzige Struktur in der ganze Umgebung. Quer durch das Bild. Tief, dunkel, drohend.
Ralf wusste, dass er wieder träumte. Er stand wieder am Abgrund, schaute tief in ihn hinab, doch wie immer, konnte er nichts erkennen. Kein Ende, keinen Boden. Das Einzige war dieses Gefühl, dass ihn der Abgrund rief, versuchte ihn zu sich hinein zu ziehen.
Ralf schaute auf seine Füße. Seine Zehenspitzen überragten den Rand der Bruchkante. Er blickte um sich und wartete. Denn etwas war anders. Dies war bisher der Moment, an dem Ralf immer aufgewacht war. Aber diesmal passierte es nicht. Ralf war sich absolut bewusst, dass er sich in einem -- seinem -- Traum befand, doch war dieser Traum so dermaßen real, dass er fast den Eindruck hatte, nicht zu schlafen.
»Ganz ruhig. Du liegst in diesem Moment in deinem Bett, in deinem Zimmer, in der Wohnung deiner Eltern. Dir kann nichts passieren«, machte sich Ralf selbst Mut, wobei er überrascht feststellen musste, dass er in seinem Traum sprechen konnte.
»Doch, dir kann etwas passieren!«, meinte eine Stimme hinter ihm. Ralf drehte sich blitzschnell um und sprang ein Stück von der Kante des Abgrundes weg. In ein paar Metern Entfernung kam ihm ein Junge entgegengelaufen.
»Du?«, meinte Ralf
»Hast du jemanden anderen erwartet?«, meinte der Junge, den Ralf sofort als den Typen von der Parkbank wiedererkannte.
»Nein. Ich hatte niemanden erwartet. Wer bist du?«, meinte Ralf und musterte den Jungen, der ihm gleichzeitig fremd und trotzdem vertraut erschien.
»Ich?«, antwortete der Junge und schien über die Frage amüsiert zu sein. »Erkennst du mich den nicht? Hab' ich mich wirklich so verändert?«
»Sollte ich dich denn kennen?«
»Du bist ein echter Witzbold, natürlich solltest du!«
»Wo bin ich?«
»In einem Traum. Genaugenommen, in deinem Traum. Du erschaffst diese Wirklichkeit. Jetzt, in diesem Moment, erzeugt dein Geist diese Welt. Das Einzige, was du nicht erschaffen hast, bin ich, obwohl so ganz stimmt das auch nicht.«
»Ich erschaffe diese Welt? Warum? Was bedeutet sie?«
»Ist dir das immer noch nicht klar geworden?«, der Junge hockte sich vor Ralf auf den Boden und deutete mit seiner Hand vor sich hin, damit Ralf im nachfolgen und sich ebenfalls setzten sollte.
»Nein, nicht wirklich. Es ist ein trostloser Ort. Er scheint kein Ende zu besitzen. Die andere Seite kann ich nicht erreichen, da der Abgrund dazwischen liegt. Dieser Abgrund! Er macht mir Angst!«
»Und er fasziniert dich!«
»Ja, woher weißt du das?«
»Ich weiß alles, was du weißt! Oder genaugenommen, wissen wirst. Meine Existenz hängt sehr davon ab, wie du dich entscheiden wirst.«
»Entscheiden? Was entscheiden?«
»Willst du jede Nacht schweißgebadet aus diesem Traum aufwachen? Willst du, dass dich die Furcht letztendlich besiegt und du Angst hast einzuschlafen? Du musst diesen Traum beenden! Du musst ihn zu Ende träumen! Begreifst du nicht? Er ist ein Symbol! Dein Geist versucht dir etwas zu zeigen! Einen neuen Weg, den du betreten kannst. Du wirst nicht verrückt, nicht, wenn du dich nicht endlich deiner Angst stellst.«
Ralf hatte aufmerksam zugehört. Doch was er hörte, beunruhigte ihn, bereitete ihm genau die Angst, derer er entfliehen wollte. Was wollte ihm sein Geist sagen? Welche Entscheidung sollte er treffen? Welche Entscheidung konnte man an diesem Ort überhaupt treffen?
»Bedenke, du erschaffst diese Wirklichkeit!«, meinte der Typ, stand plötzlich auf und begann einfach wegzugehen.
»Hey, wo willst du hin?«, rief Ralf ihn an.
»Nirgends, ich bin doch schon längst da.«
»Das versteh ich nicht. Warum verlässt du mich?«
»Du irrst dich, ich war nie weg.«, und weg war er. Ralf hatte nur einmal mit seinen Augen geblinzelt. Aber diese Zeit reichte, dass der merkwürdige Typ verschwand.
»So ein Idiot! Er hätte mir doch sagen können, was ich tun soll!«, knurrte Ralf zur einzig anwesenden Person, zu sich selbst.
Ralf sah sich um. Die künstliche Traumwelt, in der er stand, hatte sich nicht verändert. Eine gigantische Ebene erstreckte sich in alle Richtungen. Quer, vom rechten zum linken Ende des Horizonts, kreuzte der Abgrund und trennte damit Ralfs Seite von der anderen, die faktisch genau so aus sah, wie seine Seite. Genau so trostlos. Die Ebene, sie erinnerte an Bilder aus Arizona, es fehlte nur die brennende Sonne. Hier und da lagen Steine, die die gleiche Farbe des Bodens hatten, herum. Obwohl das Licht seltsam diffus war, gab es diese merkwürdigen Schatten.
Ralf fragte sich gerade, wie lange er schon hier war. Dabei stellte er überrascht fest, dass es mehr oder weniger in dieser Welt keine Zeit gab. Genaugenommen gab es keine Anhaltspunkte, an der man das Verstreichen der Zeit hätte ablesen können.
Ralf näherte sich erneut dem Abgrund und schaute hinab. An den Rändern konnte man noch Konturen erkennen. Die Ebene schien massiver Fels zu sein. Der Einschnitt hatte diesen Fels zackig, fraktal durchbrochen. Grobe Risse waren von feineren Rissen waren von feineren Rissen waren von feineren Rissen ... Die Abbruchkante war fraktal. Sie war dazu verdammt ihre Struktur ständig zu wiederholen, so wie Ralf dazu verdammt schien, seinen Traum ständig zu wiederholen.
Ralf blickte tiefer in den Abgrund. Wenige Meter, soweit der Begriff Meter hier überhaupt anwendbar war, endeten die Reflexionen des Lichts und der Abgrund ging in eine tiefe, dunkle, drohende Schwärze über.
Schwärze? Nicht ganz. Ralf stellt fest, dass es eher ein tiefdunkles, fast schwarzes Blau war, das er meinte erkennen zu können. Ein unheimliches Schimmern schien aus der Tiefe zu kommen.
»Verflucht! Was mach ich hier?«, Ralf war kurz davor zu verzweifeln.
Plötzlich kam Ralf eine Idee. Wenn er diese Welt in seinem Geist erschaffen würde, dann müsste es auch möglich sein, diese Welt zu verändern. Vielleicht war es nur eine Frage des Glaubens. Vielleicht war der Abgrund gar nicht unüberwindbar. Er musste einfach nur »Wollen«!
Ralf ging einige Schritte zurück, blickte zum Rand des Abgrundes, schätzte die Entfernung von ihm zum Rand und zum gegenüberliegenden Rand des Abgrundes ab, und ging vorsichtshalber noch ein paar Schritte weiter zurück.
Luft holen, Augen schließen, Stoßgebet und Los! Ralf rannte los, näherte sich immer schneller dem Abgrund, drückte sich ab und sprang.
Es funktionierte! Der Abstand zwischen den Rändern schien unter Ralf zu schrumpfen. Mit Leichtigkeit erreichte Ralf die andere Seite, landete dort und ...
Nein! Das war auf keinem Fall die Lösung. Es gab einfach keinen Unterschied zwischen dieser Seite und der anderen. Sofort nach seiner Landung wusste Ralf, dass sein Sprung überhaupt nichts gebracht hatte.
Du weißt, was du tun musst! Worauf wartest du? Warum akzeptierst du es nicht einfach?
Ralf hörte die Stimme in seinem Kopf und verzweifelte. »Was soll ich akzeptieren?«, schrie er voller Verzweiflung.
Dich!
Ralf trat direkt an den Rand des Abgrundes. In der unergründlichen Tiefe schimmerte es immer noch ganz, ganz leicht bläulich. Ralf schloss seine Augen. Atmete ruhig ein. Atmete ganz ruhig aus. Ralf war völlig entspannt.
»Ich bin wer ich bin!«
Ralf machte den einen entscheidenden Schritt vorwärts.
Transformation
Worin Ralf zu Ralf wird
»Und was passierte dann?«, Michi hatte mit Ralfs Erzählung dermaßen mitgefiebert, dass er sich seine ganzen Fingernägel vor Nervosität abgeknabbert hatte.
»Man Michi, lass ihn doch erstmal zu sich kommen.«, meinte ich. Ralf hatte die letzte Stunde permanent geredet und wurde zusehends heiserer, »Wollt ihr was trinken?«
Mein Angebot wurde dankbar angenommen, so dass sich wenig später drei gut gefüllte Gläser und eine Flasche Cola auf dem Frühstückstisch befanden. Ralf trank sein Glas in einem Zug aus. Er hatte es wirklich bitter nötig gehabt.
»Gibt es eigentlich Bilder von dir? Ich meine, als du noch ...«, Michi suchte erfolglos nach einer diplomatischen Beschreibung für fett und stinkend. Mein alter Freund schien richtig neugierig zu sein, aber auch ich fand die Frage interessant. Fiel mir doch sofort der Versuch meiner Mutter ein, Ralf zu fotografieren. Wie man sich sicherlich erinnert, scheiterte dieser Versuch. Die Polaroids waren schlicht weg an den Stellen schwarz geworden, an denen Ralf hätte abgebildet sein sollen.
»Wollt ihr euch das wirklich antun?«, fragte Ralf, dem sein altes ich wohl ziemlich peinlich zu sein schien.
»Klar!«, schoss es aus mir raus, wofür ich ein bitter-bösen Blick erntete, den ich mit meinem feinsten Honigkuchengrinsen parierte.
»Na gut ...« meinte Ralf, kramte nach seiner Geldbörse und puhlte ein kleines Foto heraus, welches er Michi und mir zur Begutachtung reichte.
Wir waren sprachlos. Weder Michi, noch mir, gelang es auf Anhieb, Ralf auf dem Foto zu erkennen. Und das, obwohl das Bild ausschließlich nur eine einzige Person zeigte: einen fetten, pickligen, schmierigen Kerl mit langen öligen und verkletteten Haaren. Echt zum Abgewöhnen. Das Bild präsentierte einen absoluten Antitypen. Ein totales Brechmittel.
»Das ist ja widerlich!«, stöhnte es prompt aus Michi heraus, »Da wird einem ja nur vom ansehen schlecht!«
Ralf zuckte mit den Schultern und schaute verlegen zur Seite. Ich brauchte kein Telepath sein, um seine Gedanken zu lesen. Ihm war sein altes Ich mindestens genau so zuwider wie Michi.
»Warum hast du das Bild aufgehoben?«, fragte ich.
Ralf sah mich an, lächelte verliebt und meinte ganz leise, fast flüsternd: »Als Warnung.«
Sichtlich müde, als ihm die Erinnerung an seine frühere Persönlichkeit viel Kraft gekostet hätte, schloss Ralf seine Augen, entspannte sich, atmete tief ein und wieder aus.
»Ich will nie wieder so werden, wie ich damals war.«
»Wie ging es weiter?«
***
Ralfs Fuß trat ins Nichts. Der Schwerpunkt seines Körpers zog Ralf nach vorne. Er stürzte in den Abgrund.
»Ich erschaffe diese Wirklichkeit!«
Ralf versuchte sich fest einzureden, dass er wirklich daran glaubte. Nicht unbedingt einfach, wenn man mit rasant zunehmender Geschwindigkeit in einen bodenlosen Abgrund stürzt. Die Luft pfiff nur so an ihm vorbei und erreichte Orkanstärke. Es mussten mehr als 30 Sekunden vergangen sein, aber sein Sturz nahm kein Ende. Sehen konnte man auch nichts. Über ihm war nur noch ganz schwach der Himmel über der Felsebene auszumachen, unter ihm war es nur Dunkel, bis auf das ganz schwach bläuliche Glimmen.
Sonst weiter passierte nichts.
»Wenn ich jetzt auf einen Boden aufschlage, ist wenigstens sofort Schluss!«, brach sich ein fatalistischer Gedanke Bahn.
Eine Minute, soweit man das sagen konnte, war vergangen. Der Himmel war inzwischen nicht mehr zu erkennen, alles, was nach oben zu sehen war, war ein ganz schwaches bläuliches Leuchten, genauso wie das, das vor ihm lag.
Es verging eine weitere Minute, und noch eine weitere und noch eine. Nichts geschah, bis Ralf meinte, möglicherweise eine Veränderung am Leuchten zu erkennen. Es wurde heller. Nur ganz langsam, aber es wurde heller, und, merkwürdig genug, meinte Ralf zu beobachten, dass er auch langsamer stürzte.
»Verflucht, was ist das?«
Noch bevor sich Ralf darüber weitere Gedanken machen konnte, hatte er auch schon das Ende seines Sturzes erreicht. Es wurde hell, Ralf wurde langsamer und kam zum Stehen.
»Scheiße! Ich will hier raus! Das ist unfair!«, brüllte Ralf, als er erkannte, wo er gelandet war. Er stand wieder auf der Felsebene. Dieser Abgrund, die Ebene, diese ganze öde Welt, war ein in sich gekrümmter Raum. Der Riss führte nur zum Ausgangspunkt zurück. Wahrscheinlich war es mit der Ebene genauso. Ralf vermutete, dass, wenn er sich auf direktem Wege vom Spalt wegbewegte, er nach einiger Zeit auf der anderen Seite ankommen würde.
Ralf war sauer. Er fühlte sich verarscht, gedemütigt, verletzt und inzwischen auch verzweifelt. Was war dies nur für ein böses Rätsel? Dies alles? Dies musste doch einen Grund haben? Warum eine karge Felslandschaft? Warum ein Abgrund der keiner war? Was wollte ihm sein Unterbewusstsein mitteilen?
Ralf setzte sich auf den Boden, direkt an den Rand des Abgrundes. Gebrochen und entmutigt ließ er seinen Kopf hängen, schloss seine Augen und begann zu schluchzen.
»Ich will nicht der Freak sein! Ich will nicht der Typ sein, den man mit Füßen tritt! Ich will respektiert werden! Fuck!«, schrie Ralf. »Was hab' ich falsch gemacht, dass mich alle hassen?«
»Wie kommst du darauf, dass dich alle hassen? Den meisten Leuten ist es völlig egal, wer du bist und was du tust. Hauptsache du störst sie nicht. Die sind nämlich voll damit beschäftigt, mit ihrem eigenen beschissenen Leben klarzukommen. Wer hat da noch Zeit, sich über einen Freak wie dich aufzuregen. Und der Rest? Also, der Rest hasst dich nicht mehr, als du dich selbst hasst!«, meinte die Stimme von dem bewussten anderen Typen. Ralf riss seine Augen auf. Der Junge saß ihm gegenüber. Nur der Abgrund trennte sie beiden davon, sich berühren zu können.
»Ich hasse mich nicht!«, fauchte Ralf den Typen an.
»Ach nein?«, fragte der Junge wenig von Ralfs Wutausbruch beeindruckt und ließ demonstrativ seine Beine über den Abgrund baumeln, »Und was ist das?«
Er zeigte auf den Abgrund.
»Was glaubst du, warum durch diese trostlose Landschaft ein Riss geht?«
»Nein, dass kann nicht sein. Niemals!«
»Na, wenn du dir da so sicher bist, warum hast du dann noch Probleme?«
»Das ist doch alles Quatsch! Ich verliere nur den Verstand! Ich rede im Traum mit einem dahergelaufenen Typen, und ... Ach, alles Unsinn!«
»Ausflüchte!«
»Ach ja, was soll das denn hier wohl sonst sein?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass du diese Welt erschaffst. Sie ist ein Spiegelbild deiner Seele: trostlos, zerrissen und megalangweilig! Warum kommst du immer wieder an den Ausgangspunkt zurück? Du bist ein emotionaler Autist! Du hast dich vollkommen in dich zurückgezogen! Weißt du eigentlich, wie sehr du stinkst? Natürlich hassen dich deine Klassenkameraden. Du lässt ihnen ja auch gar keine andere Wahl! Du willst doch, dass alle Welt dich hasst! Ralf der einsame Wolf! Weißt du, wie du wirkst? Wie jemand, dem man ein Schild an Brust und Rücken geheftet hat:,Schlagt mich!` Pah! Du bist ein Jammerlappen! Dabei hättest du so viel Potential. Du könntest so viel Gutes bewirken. Aber stattdessen ...«
»... hasse ich mich selbst. Ich hasse meinen Körper! Ich hasse es schwul zu sein! Ich hasse diese Fähigkeiten! Meinst du das? Willst du mir wirklich mit solcher billigen TV-Zeitschriften-Psychologie kommen?«
»Soll ich dir etwas erzählen? Eine kleine Geschichte aus der Zukunft?«
»Wenn es sich nicht vermeiden lässt ...«
»Ich, kann ohne dich nicht existieren!«
»Oh du heilige Scheiße! Jetzt komm mir nicht mit Esoterik!«
»Hey! Das hab' ich nicht verdient! Nicht von dir, du Wichser! Erkennst du mich nicht? Erkennst du mich immer noch nicht?«
Ralf starrte seinen Gegenüber an. Und wie schon bei ihrem letzten Zusammentreffen, wirkte der Typ vertraut. Er meinte ihn wieder zu erkennen, konnte ihn aber nicht einordnen.
»Sieh mich ganz genau an!«
Ralf schaute ganz genau hin. Der Mund, die Nase, die Ohren, die Proportionen des Gesichts und dann noch die Augen. Diese Augen! Ralf stürzte in diese Augen hinein. Sie schien rot zu funkeln, wie eine Wunderkerze. Ralf begriff, schluckte und war fast sprachlos als er stammelte: »Du ... du ... du bist ich! Ich bin du!«
»Und Müllers Esel der macht Muh! Ja, ich bin das, was aus dir werden kann! Werden muss! Verdammt reiß dich zusammen! Kneif deine Arschbacken zusammen und sieh zu, dass du dein Leben gebacken bekommst! Du hast immer noch die Wahl! Du kannst weiter dein armseliges Lebens als Klassenfreak fristen oder ...«
»Was?«
Ralfs älteres Ich zuckte mit den Schultern: »Das liegt an dir. Du hast alle Möglichkeiten der Welt. Nur...«
»Wie fang ich das an?«
»Wie wäre es, wenn du mir deine Hand gibst?«
»Aber das geht nicht! Der Abgrund liegt zwischen uns ...«
»Und dieser Abgrund ist was?«
Mit einem »Pling!« im Kopf ging Ralf eine 250-Watt Glühbirne auf. Plötzlich begriff er, worum es eigentlich ging. Akzeptanz! Wie sollte ihn jemals jemand akzeptieren, wenn er nicht mal selbst dazu im Stand war? Wenn dieser Abgrund ein Riss in seiner Seele, oder Ego, wie man das auch immer nennen wollte, repräsentierte, dann ...
Ralf reichte seinem älteren Ich seine rechte Hand entgegen. Einfach so. Eine simple Geste. Es funktionierte! Je weiter Ralf seine Hand ausstreckte, desto schmaler wurde der Abgrund. Von etlichen zig Metern war er auf wenige Dezimeter zusammengeschrumpft.
»Ich bin Ralf Antonides und ich weiß, wer ich bin!«
Der Riss strahlte gleißend hell auf. Seine Kanten berührten sich und verschmolzen, verschweißten miteinander. Von dem ehemaligen Abgrund ging eine Schockwelle aus, die sich am Horizont brach und auf ihn zurückstürzte. Während sie das tat, wälzte sie die ganze Landschaft um. Mit rasender Geschwindigkeit breitete sich über die Felsebene eine grüne, satte Graslandschaft aus. Es wurde heller, strahlender. Es roch auch bessere, frischer, wie eine Maiwiese am Morgen.
»Danke, dass du dir eine Chance gegeben hast!«, meinte sein Alter-Ego und verschwand. Mit ihm verschwanden die Landschaft und der Traum.
Ralf wachte auf. Ohne Schweißausbruch. Ohne zu schreien. Ohne Panik und Herzrasen. Er wachte einfach auf. Ruhig und glücklich lag er in seinem Bett. Ein Blick auf den Wecker reichte. Es war kurz vor zwei Uhr nachts. Er würde noch ein paar Stunden schlafen können. Schlafen, ohne dabei Angst haben zu müssen. Es würde keine Albträume mehr geben, denn Ralf wusste jetzt, wer er war und akzeptierte es.
Der große Waschtag
Worin Ralf eine unheimliche Begegnung der säubernden Art hat
Als Ralf am nächsten Morgen erwachte, fühlt er sich fantastisch. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals so gut gefühlt zu haben. In dieser Stimmung, die man legitimer Weise rauschartig nennen könnte, stürmte er regelrecht ins Badezimmer, drehte die Armaturen der Dusche auf heiß, schnappte sich Rasierer (nass), Schaum, Duschgel und Shampoo und absolvierte eine halbstündige intensive Selbstreinigung. Gerüchteweise soll an jenem Tag die Kläranlage des Dorfs an die Grenze ihrer Belastbarkeit geraten sein.
Ralf entschied sich bei der Wäsche seiner Haare für eine Radikalkur: Solange waschen und spülen, bis das Wasser klar blieb. Nach rund fünf Waschzyklen war dieses Ziel erreicht. Leicht schrumpelig, aber deutlich besser riechend (bösartige Stimmen meinten 5 Kilo leichter) stieg eine Reinkarnation Ralfs aus der Dusche, plünderte ohne zu zögern die Deo, Aftershave und Parfum Vorräte seines älteren Bruders und war schließlich mit sich und der Welt zufrieden.
In jenem Zustand verunsicherte er seine Familienmitglieder, die kollektiv ihr Besteck fallen ließen, als sich Ralf in jenem Zustand dem Frühstückstisch näherte. Ralf frühstückte nie mit ihnen. Einerseits kam er selten rechtzeitig aus dem Bett, andererseits hätte Ralfs bisherige Körpernote jedem den Appetit geraubt, weswegen man ganz dankbar war, dass er eben nicht mit am Tisch frühstückte.
Um so entsetzter waren die Gesichter, als man nun Ralf neues Ich bewundern durfte. Immerhin wurde die Milch nicht sofort sauer, als er sich an den Tisch setzt. Auch die Mettwurst rollte sich nicht vor Gestank auf.
»Habt ihr noch nie jemanden Frühstücken gesehen?«, fragte Ralf grinsend in die Runde, während er völlig harmlos ein Brötchen aufschnitt. Ralf schmunzelte in sich hinein, als er merkte, dass für den Rest der morgendlichen Nahrungsaufnahme er mit Argusaugen beobachtet wurde. Fast hatte er den Eindruck, seine Familie hielt dies alles für einen bösen Trick. Irgendwann würde es Peng machen und er wäre plötzlich wieder der alte Ralf, die Milch würde wieder spontan sauer werden und sein alter fieser Geruch würde die Mettwurst wieder zu einer Panikselbstaufrollaktion verleiten.
Doch nichts geschah. Bis auf die äußerst misstrauischen Blicke seiner Familie. Kein Wunder, dass jene vor Schreck zusammenzuckte, als Ralf ihnen, als er zur Schule aufbrach, einen »Schönen Tag« wünschte. Wäre Ralf eine Schallplatte gewesen, hätte sie ihn kurzerhand rückwärts abgespielt, um sicher zu sein, dass in diesem »Schönen Tag« nicht vielleicht eine satanische Botschaft versteckt war.
Panik und Schreckreaktionen begleiteten Ralf den gesamten Tag. Seine Klasse meinte erst einen neuen Schüler bekommen zu haben, um dann entsetzt fest zu stellen, dass es sich in Wirklichkeit um Ralf handelte. Eine ganze Reihe seiner Klassenkameraden waren sich nicht sicher, wovor sie jetzt mehr Angst haben sollten: vor Ralf, wie er gewesen war, oder vor Ralf, wie er sich jetzt präsentierte.
Natürlich spürte Ralf diese Skepsis und den Argwohn, der ihm entgegen gebracht wurde. Auch wenn er seine Fähigkeit Gedanken lesen zu können, noch nicht kontrollieren konnte, wusste er ungefähr, was seine Mitschüler dachten. Die meisten Gedanken gingen in Richtung Mistrauen. Wenn er früher wegen so etwas ausgetickt war, so ließ ihn dies jetzt kalt. Viel schlimmer, er lächelte freundlich zurück, wenn er ungläubig angegafft wurde.
Wie die Schüler, so die Lehrer. Verwirrung und Irritation bildeten die prägenden Emotionen des schulischen Vormittages. Jeder Lehrer musterte Ralf skeptisch, als dieser sich am Unterricht beteiligte und vernünftige Antworten gab. Welche Teufelei heckt dieser Knabe nun wieder aus?
Keine! Aber diese Erkenntnis lag außerhalb des lehrkörperspezifischen Vorstellungshorizontes. Ralf juckte es nicht, hatte er doch schon den nächsten Schritt seiner Metamorphose in Planung. Metamorphose, das Wort und seine Bedeutung gefiel ihm. Es traf exakt, was Ralf gerade durchmachte. Vor Jahren hatte er sich verpuppt, einen Kokon um sich gelegt und die Außenwelt von sich abgeschottet. Unter der Oberfläche hatte sich etwas Neues entwickelt ...
Schulschluss -- Bankbesuch. Zu Ralfs freudiger Überraschung zeigte der Saldo seines Kontos ein sattes Plus. Ralf hatte eine Filiale der Bank aufgesucht, bei der seine Eltern für ihre Kinder Konten eingerichtet hatten. Auf diese Konten wurde ihnen ihr Taschengeld überwiesen. Nach Ansicht von Mutter Antonides sollten ihre Kleinen früh genug lernen, mit Geld umzugehen. Ralfs Bruder kam mit seinem Etat nie klar. Ralf hingegen ... Nun, keine Bedürfnisse, keine Ausgaben. Ralf war nie mit Freunden (welche Freunde?) ins Kino gegangen. Unsummen für Klamotten? Fehlanzeige. Was machte also sein Taschengeld? Es sammelte sich über Monate, sogar Jahre an, ohne je abgehoben zu werden. Doch das sollte sich jetzt drastisch ändern.
Ralf hob eine ordentliche Menge Kohle ab, stopfte sie in sein Portemonnaie und startete die zweite Hälfte des Tages. Es begann damit, dass Ralf auf seine übliche Portion kalorienhaltigen Fleischbräts im Weizenbrötchen mit fettgebackenen Kartoffelstäbchen verzichtete. Ralf kam nicht mal in die Nähe eines amerikanischen Schnellrestaurants. Ganz im Gegenteil, es trieb ihn in eine eher alternativ angehauchte Ecke seiner Stadt. Nach einer Stärkung, die aus einer delikaten Salatkombination in einem Ökofressschuppen bestand, betrat Ralf den ersten Laden auf seiner Liste: einen Friseur. Genaugenommen, dem krassesten Friseurladen diesseits des Äquators.
Innerhalb einer Stunde wurde so aus einem alten, verkletteten und zotteligen Wischmopp, eine überaus coole und extrem lässige Haarkreation, die mit hundertprozentiger Sicherheit, am nächsten Tag in die Schule für die nächsten Diskussionen sorgen würden. Ralf war das natürlich völlig egal, denn während seine abgeschnittenen Haare noch auf dem Fußboden des Friseurs lagen und lustlos von einem Auszubildenden zusammengekehrt wurden, war Ralf schon auf dem Weg zum nächst gelegenen Fitnessstudio.
***
Während Ralf die fünf Straßen zum Studio zurücklegte, entbrannte in seinem Schädel die Fragen aller Fragen: »Warum rennt man eigentlich in ein Fitnessstudio, kämpft dort wie ein Ochse gegen die eigene Körpermasse und zahlt dafür auch noch freiwillig Geld?«
Während Ralf, wie Millionen anderer Menschen vor ihm, zu keiner wirklich befriedigenden Antwort gelangte, gelangte er immerhin zum Haus des Studios.
Oder auch nicht?
Ralf stand vor einer Tür. Nur war es nicht die Glasdrehtür des Fitnessclubs. Diese Tür war einfach irgendeine Tür, also nichts Spektakuläres, einfach nur eine Haustür mit grauem Lack, der stellenweise schon abblätterte. Ralf kannte diese Tür nicht. Ralf wusste nicht einmal, wo er war. Die Sinnfrage der Körperbildung hatte ihn dermaßen beschäftigt, dass er nicht auf den Weg geachtet hatte und somit an einem Ort gelandet war, der sowohl unbekannt als auch unerwünscht war.
Ein kurzer Blick nach rechts und links, dem Straßenverlauf entlang, brachten Sicherheit. Er war definitiv am falschen Ort. Viel überraschender: Er war mehr oder weniger genau in die entgegengesetzte Richtung gelaufen. Seltsam ...
Oder doch nicht?
Während Ralf sich noch über seinen Verlaufer wunderte, spürte er etwas. Ein tonloses Wispern war in seinem Kopf. Stimmen, leise zischelnde Stimmen bildeten Wortfetzen, flüsterten Sätze, umgarnten sein Hirn und pflanzten fremde Gedanken in sein Bewusstsein.
Es war auf keinem Zufall, der ihn seinen Weg weg von seinem eigentlichen Ziel, hin zu diesem Haus, dieser Tür, geführt hatte. Man hatte ihn hier her dirigiert.
»Mir wäre eine schriftliche Einladung zwar lieber gewesen, aber ...«, murmelte Ralf und drückte dem einzig vorhandenen Klingelknopf.
Wer macht sie je Gedanken über solche Dinge? Wie drückt man einen Knopf? Ein alltäglicher Vorgang ohne jeglichen Nervenkitzel und doch eine hoch komplexe Aufgabe für das Gehirn. Da gilt es aus dem stereoskopischen Bild der Augen die Entfernung der Hand zum Klingelknopf zu berechnen, die Lage der Hand und des Knopfes im Raum, sowie die erste Ableitung für die Geschwindigkeit und die zweite für die Beschleunigung der Hand zu ermitteln. Wer will sich schließlich den Finger verstauchen, nur weil man zu schnell und zu heftig auf einen Knopf gedrückt hatte?
Auch wenn einem diese vom Gehirn ausgeführten Berechnungen selten bewusst werden, so sind sie doch vorhanden. So auch in jenem Moment, als sich Ralfs Finder dem Klingelknopf näherte.
»Du bist da!«, erhob sich eine klare Stimme aus dem Gewisper in Ralfs Kopf. Im gleichen Moment öffnete sich die Tür und das bevor ein Stapel Elektronen die Chance hatten, sich durch einen geschlossenen Kontakt im Klingelknopf zu quetschen und ihr klingelndes Werk zu verrichten.
Ralf trat zögernd ein. Hinter der Tür erschloss sich ein dunkler Flur, spärlich beleuchtet von einer völlig überforderten 40 Watt Klarglasglühbirne.
Die Tür fiel, für Horrorfilme erwartungsgemäß, für Ralf erschreckend überraschend, krachend hinter ihm ins Schloss.
»Die Treppe. Zweiter Stock.«, kam eine Anweisung direkt in Ralfs Schädel. Seine Augen waren noch damit beschäftigt, sich den unglücklichen Lichtverhältnissen anzupassen. Vorsichtig sich vortastend erkannte Ralf schließlich eine Treppe und stieg sie empor. Außer seinem keuchenden Atem, dem wispernden Stimmen in seinem Schädel und seinem laut pochenden Herz, war es in dem Haus vollkommen still. Es wirkte alles andere als bewohnt. Auf den Stufen lag eine millimeterdicke Staubschicht, hier und da auch ein Stück abgeplatzter Putz von den Wänden. Immerhin, im ersten Stock verbreitete eine 60-Watt Birne etwas weniger Dunkelheit.
»Was mach ich hier bloß? Das ist doch alles Wahnsinn.«, murmelte Ralf in sich hinein und stieg weiter die Stufen empor.
Im zweiten Stockwerk angekommen blieb er stehen. Es gab außer der weiter nach oben führenden Treppe genau eine Tür.
»Nun denn ...«, sprach sich Ralf Mut zu und näherte sich der Tür.
***
»Hallo Ralf, schön dass du zu uns gekommen bist. Ich befürchte, unsere Einladung war nicht ganz fair!«
Ralf sah sich irritiert um. Zwischen zwei Wimpernschlägen hatte sich die Welt drastisch geändert. Eben noch im Treppenhaus eines mehr als baufälligen Hauses, jetzt in einem hypermodernen Raum. Ralf stand auf einem glänzenden Granitboden. Licht strömte durch leuchtende Wandpaneele, die sich mit grauen Paneelen abwechselten. Eine Einrichtung war einfach nicht vorhanden. Der Raum hatte gleichzeitig etwas sehr Strenges, verströmte aber auch eine merkwürdige Form von Geborgenheit.
Doch all dies war für Ralf sekundär. Sein primäres Interesse galt der Person, die ihm gegenüber stand. Ein Mann, schlank, gut gebaut und sportlich, aber dunkel-dezent gekleidet stand ihm gegenüber. Er lächelte freundlich und man hatte das Gefühl, dass er es genau so freundlich meinte.
»Teleportation«, meinte der Mann.
Irritiert von diesem einzelnen zusammenhangslosen Wort, sah Ralf ihn fragend an.
»Teleportation, so bist du hier her gekommen. Wir sind rund 750 km weit von deinem Ausgangsort entfernt.«
»Ah ja?«, Ralf musterte den Raum und den Mann. Er hatte nur halb zugehört. Viel zu überwältigt war er nicht im Stande, die gebührende Aufmerksamkeit aufzubringen. »Entschuldige, was hast du gesagt?«
»Nicht so wichtig!«, meinte der Mann. »Vielleicht sollte ich mich erstmal vorstellen. Ich bin Ben, genaugenommen Benedict von Orthen, aber ich glaube Ben ist deutlich einfacher.«
»Ralf, Ralf Antonides. Ben?«, Ralf zögerte. »Darf ich dir eine Frage stellen?«
»Nur eine?«
»Für's erste?«
»Ok?«
»Was mach ich hier?«
»Ok, also die ganz große Frage«, Ben seufzte. »Also schön ... Lass mich dir eine Gegenfrage stellen. In den letzten Tagen, vielleicht auch Wochen, hast du Veränderungen an und in dir verspürt. Vielleicht kamen diese Veränderungen ganz langsam, oder mit ganz brutaler Gewalt. Aber das ist noch nicht alles. Du bist ein Außenseiter, hast wenig Freunde und du bist schwul, stimmt das ungefähr?«
Ralf schluckte, um wieder Feuchtigkeit in seinen Mund zu bekommen. Etwas krächzend meinte er schließlich: »Ja, ich ... Es kam ganz plötzlich. In der Schule hatte mich Oliver verarscht. Ich habe ihn gepackt. Als ich ihn berührte, war es, als wenn meine Hände Saugnäpfe wären. Ich konnte sein Leben aus ihm heraussaugen. Aber das war noch nicht alles. Mit einem Mal konnte ich sie hören, alle, die ganze Klasse. Ich hörte ihre Gedanken. Wie viel Angst sie vor mir hatten und wie sehr sie mich verachten und ...«
Schließlich brach alles aus Ralf heraus. Die Erfahrung des »ersten Mals«. Dem ersten Mal, dass man sich seiner übernatürlichen Kräfte bewusst wurde. Ralf Emotionen tanzten Tango. Er spie nur so seinen Frust und seine Angst aus. Völlig aufgewühlt stand er schließlich bebend vor Ben.
»Du bist nicht allein!«
Mit diesen vier Worten waren alle Zweifel verschwunden. Ängste lösten sich in nichts auf und hinterließen nicht einmal einen bitteren Nachgeschmack.
Ralf sah sich Ben genau an. Jener schmunzelte, ließ es aber widerspruchslos zu, ausführlich begutachtet zu werden. Das Erste, neben den offensichtlichen Dingen wie der Kleidung, was Ralf an Ben auffiel, war dessen Alter. Es ließ sich nicht schätzen. Auf den ersten Blick hätte man mitte Dreißig getippt, aber dafür wirkte er gleichzeitig viel jünger, aber gelegentlich auch viel älter, sehr viel älter. Insbesondere Bens Augen hatten eine Tiefe, die Ralf nur von sehr alten Menschen, wie seinem Urgroßvater, kannte. Auf der anderen Seite war seine Haut jugendlich glatt, frisch und straff.
Und noch etwas. Ben sah unauffällig aus. Würde man ihm auf der Straße begegnen, würde man sich bestenfalls als einen gut gebauten, sportlich-attraktiven Mann mittleren Alters erinnern. Aber Ralf hatte das Gefühl, das Ben nur so wirken wollte, unterschwellig verströmter er eine Aura purer Macht. Ralf vermutete, dass ihm dies nur deswegen auffiel, weil er über außersinnliche Fähigkeiten verfügte. Ben war pure Energie, aber verhüllt. Als wenn man einen 1 Megawatt Halogenbrenner mit einem Bleimantel abgedeckt hätte. Nur, dass an den Rändern immer noch Licht hindurchschimmerte.
Ben war eine Naturgewalt.
»Jetzt übertreib aber nicht. Naturgewalt ... Sagen wir lieber, ich verfüge über ein gewisses Potential. Aber, du mein lieber Ralf, bist auch nicht von schlechten Eltern. Du bist der Erste, der ohne Training seiner Fähigkeiten, ohne Schulung in der Lage war, mich einzuschätzen. Ich wette, das könnte mit dir noch interessant werden. Und ... Hey, das ist frech! Jüngelchen, du bist nicht der Einzige, der Gedanken lesen kann!«
schuldbewusst schlug sich Ralf mit der Hand auf den eigenen Mund, dabei hatte er gar nichts laut gesagt, nur laut gedacht: »Er weiß das ich schwul bin. Ob der Typ ein Pädo ist und über mich herfallen will? Ich schätze, ich könnte ihm kaum etwas entgegensetzten, außer einem Tritt in die Eier!«
»Außerdem ...«, fuhr Ben fort, »würdest du keine zwei Nanometer dichter an mich herankommen, als du jetzt von mir entfernt bis. Also, versuch erst gar nicht meine Eier zu traumatisieren. Ich steh nicht auf junges Gemüse!«
»Wie alt bist du?«
»Eine interessante Frage. Eine sehr interessante Frage ...«, grinste Ben, tat aber nichts, um sie zu beantworten.
Einsatzplanung
Worin man beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen.
»Benedict von Orthen?«, mir erschien dieser Name doch arg mittelalterlich.
»Ja, so heißt Ben. Ihr werdet es verstehen, wenn ihr ihn trefft.«
»Wir werden diesen Ben treffen?«, Michi war überrascht, »Wieso werde ich ihn kennen lernen? Ich bin doch nicht ... Also, nicht so wie ihr.«
»Ja ja, immer diese Heten!«, zog Ralf ihn auf.
»Hey!«, kam es von Michi postwendend. »Du weißt, dass ich das andere meinte.«
»Schon klar.«, grinste Ralf und funkelte bläulich mit seinen Augen. »Aber du hast da etwas vergessen. Michael Müller, du bis übersinnlich begabt. Erinnerst du dich nicht an das Kartenlegespiel? Als ich deine Karten nicht erkennen konnte? Du hast etwas an dir ...«
»Dieser Ben ... Ist er einer von den Wächtern, die du erwähnt hast?«, Ralfs Beschreibung hatte etwas in mir geweckt. Eine Erinnerung an ein Gespräch, dass ich nur halb bei Bewusstsein wahrgenommen hatte. Damals meinte ich eine Präsenz zu spüren, eine Präsenz, die sich bei Ralfs Beschreibung von Ben in Erinnerung brachte.
Ralf nickte, sagte aber nichts.
»Und wie ging es mit dir weiter?«, Michi glühte regelrecht vor Neugier.
»Sehr konspirativ und ausgesprochen frustrierend«, antwortete Ralf und wirkte regelrecht genervt. »Selektive Erinnerungsfreigabe! Wie bei Tobi. Das klingt nicht nur Scheiße, das ist es auch. Ich weiß, dass ich mehr Dinge weiß, als die, an die ich mich erinnern kann. Bestimmtes Wissen ist mir nur bewusst, wenn ich im Tempel bin.«
»Tempel?«
»Die Wächter hassen es, wenn ich ihn so nenne. Unser Stützpunkt, mit dem bewussten Raum mit dem Granitboden und den leuchtenden Wandpaneelen. Anderes Wissen steht mir immer genau dann zur Verfügung, wenn ich es brauche. Keine Ahnung, wie sowas funktioniert, aber Ben meinte, es wäre zu meinem eigenen Schutz. So merkwürdig das klingt, ich glaub ihm das sogar. Wie auch immer. Mein erstes Treffen endete mit einer tour de force durch die Geschichte der übersinnlich begabten Menschen. Ich erfuhr viel über ihren Zusammenschluss, ihre Ziele, ihre Hoffnungen und Utopien. Aber auch über ihre Ängste, ihre Gegner und den Gefahren unserer Fähigkeiten. Ich wurde ausgebildet und trainiert. Während dieser Zeit veränderte sich mein Körper. Ich wurde schlank, Muskeln bildeten sich, ohne dass ich sie trainieren musste und meine Kurzsichtigkeit verschwand. Die Zeiten der Glasbausteine auf meiner Nase sind Geschichte. Zum maßlosen Erstaunen meines Augenarztes sehe ich jetzt mit 112%. Ich lernte aber noch etwas anderes: Unauffälligkeit. Es begann, wie so vieles in der Schule. Ich lernte, wie ich meine telepathische Fähigkeit einsetzen konnte, um nicht mehr der Klassenfreak zu sein. Ich wurde quasi unsichtbar, einfach dadurch, dass ich zu einem einfachen Schüler unter vielen wurde. Schließlich zogen wir weg. Meine Mutter bekam einen anderen, deutlich besseren Job. Das übliche halt.«
»Na ja, also unter unauffällig stell ich mir was anderes vor.« Michi musterte Ralf von oben bis unten. »Nicht nur, dass dir die Mädchen hoffnungslos verfallen sind, unserem lieben Tobi hast du auch den Kopf verdreht.«
»Ähm ...«, Ralf hustete verlegen. »Wer will schon immer eine graue Maus bleiben. Außerdem, wie soll sich jemand in einen verlieben, wenn man eine Butterblume zwischen tausenden anderen Butterblumen ist? Ok, ich geb's ja zu. Ich wollte endlich mal was aufreißen.«
Ralf zuckte entschuldigend mit seinen Schultern: »Hat ja auch prächtig geklappt. Besser als ich dachte ...«
Sowas musste natürlich bestraft werden. Weswegen ich Ralf erst knuffte und dann durchkitzelte.
***
»Und was machen wir jetzt?«
Michi hatte diese Frage in den Raum geworfen. Ralfs Erzählungen hatten dann doch länger gebraucht, als ich gedacht hatte. Mittlerweile war es Mittag geworden. Und noch während ich ansetzte, um auf Michis Frage zu antworten, hörte ich den Haustürschlüssel meiner Mutter sich im Schloss drehen.
»Hallo, ich bin wieder zu Hause!«, hallte es durch den Flur. Der Stimme folgte unmittelbar ihre Quelle. Meine Mutter stand in der Küche: »Seid ihr immer noch beim Frühstücken?«
»Ähm, nein, wir hatten uns unterhalten und dabei die Zeit vergessen. Ich wollte gerade wegräumen.«
»Na, lass mal stehen. Ich räum schon auf. Wollt ihr was Essen?«
Wir, Ralf, Michi und ich, schauten uns an und verneinten einstimmig.
»Wir geht es Arnes Eltern?«, fragte ich vorsichtig.
»Nett, dass du fragst. Wie heißt es so schön:,Den Umständen entsprechend.` Also genaugenommen beschissen. Wie fühlt man sich, wenn man gerade einen Sohn verloren hat?«
Auf diese Frage wusste ich keine Antwort. Und meine Mutter? Sie auch nicht. Sie war sichtlich getroffen und mitgenommen. Das war die andere Seite meiner Mutter. Auf der einen Seite war sie eine knallharte Geschäftsfrau, die sich von niemanden verarschen ließ und, wenn es notwendig war, auch ein ziemliches Biest sein konnte. Aber auf der anderen Seite war sie die mitfühlendste Person, die ich kannte. Immer breit zu helfen, wenn Not am Mann war.
»Geht ruhig auf dein Zimmer. Ich räum hier schnell ab«, schmiss uns meine Mutter freundlich aus der Küche. Ich kannte diese Stimmung, sie wollte allein sein.
***
Wir wussten immer noch nicht, was wir als Nächstes tun sollten. Grübelnd hockten wir in drei verschiedenen Ecken meines Zimmers. Ralf auf meinem Bürostuhl, Michi auf dem Fußboden mit dem Rücken an eine Wand gelehnt und ich auf meinem Bett. Wie Rindviecher, die ja bekanntlich Wiederkäuer sind, würgten wir regelmäßig unsere Gedanken wieder hoch, kauten eine Weile drauf rum und schluckten sie dann wieder runter.
»Hey!«, schrie plötzlich Ralf. »Würdest du das bitte unterlassen. Daslenkt ab!«
Ich starrte Ralf verdattert an. Keiner Schuld bewusst, empfand ich es als recht unfreundlich von ihm, mich einfach anzuschreien. Ralf sah meine Irritation, hob seinen rechten Zeigefinger und deutete, ohne ein Wort zu sagen, in Richtung meines Bücherregals.
»Oh!«, ich war der Zeigerichtung des Fingers gefolgt und landete bei einem Haufen Büchern. Nun sind Bücher in einem Bücherregal nicht wirklich etwas Besonderes, wenn sie aber einen halben Meter vor dem Bücherregal im Raum schweben, dann schon.
Bei meiner unbewusst ausgeübten Telekinese ertappt, brach meine Konzentration spontan ab und die Bücher fielen auf den Boden. Ralf grinste hinterhältig.
»Ähm ...«, ich musste dringend lernen, wie man sowas besser kontrolliert.
»Bitte haltet mich nicht für verrückt ...«, meldete sich Michi zu Wort, der, völlig in Gedanken versunken, meine kleinen Ausrutscher gar nicht mitbekommen hatte.
»Du hast eine Idee?«, griff ich seinen Satz auf und ließ die Bücher Bücher sein.
»Na ja, Idee würde ich es nicht wirklich nennen wollen. Eher Wahnsinn ...«
»Na Schieß schon los. Wir sind für jeden Gedanken dankbar. So absurd der auch ist.«
»Ich befürchte, der ist ziemlich absurd!«
»Ahhhhhhh. Verrätst du ihn uns jetzt oder nicht?«
»Wir besuchen NextChem?«, sein Vorschlag klang eher wie einer Frage.
Ich sah Ralf an, Ralf sah mich an, wir beide sahen Michi an.
»Schon gut, es war 'ne blöde Idee ...«, fuhr Michi fort, als wir auf seinen Vorschlag nicht sofort antworteten.
»Nicht so schnell. Du meintest wohl eher, wir brechen bei NextChem ein, oder?«, Ralf kratzte sich am Kinn, um auch noch seine letzten Neuronen auf Touren zu bringen.
»Na ja ... Freiwillig werden die uns sicherlich nicht in ihre Labore lassen.«
»Das ist doch Wahnsinn!«, fuhr ich dazwischen. Ich wollte einfach nicht glauben, dass Ralf ernsthaft daran dachte, Michis Vorschlag in die Tat um zu setzten. So verrückt konnt er doch unmöglich sein.
»So wahnsinnig finde ich die Idee gar nicht. Wenn es irgendwo Informationen gibt, dann bei NextChem. Schließlich stecken die hinter den Versuchen.«
»Ich will dich ja nicht kritisieren, aber meinst du nicht, dass dir da ein Denkfehler unterlaufen sein könnte?«, ich wartete Ralfs Antwort nicht ab. »Kleist ist tot. Die Versuchsprotokolle liegen hier im Tresor. Was meinst du, könnten wir also noch bei NextChem finden?«
»Anhaltspunkte darüber, wer jetzt auf Kleists Posten sitzt. Vielleicht könnten wir auch einen Blick in die Versuchslabore ergattern.«
»Ok, das ist ein Punkt.«, musste ich widerwillig zugeben. Trotzdem wollte es mir nicht gelingen, mich mit der Idee anzufreunden. Also suchte ich nach weiteren Schwachstellen in Ralfs Plan: »Und wie stellst du dir das vor? Wir gehen da einfach zu NextChem und sagen: ,Hallo Leute, wir würden mal gerne mit eurem neuen Boss reden wollen?'«
Ralf ließ seine Haifischzähnchen aufblitzen und grinste wie ein Raubtier: »Ungefähr so hab' ich mir das vorstellt.«
Tobis private X-Akte
Worin man sich in die Untiefen der internationalen Großfinanz stürzt.
»Wie bitte?«, was für eine perverse Idee heckte mein Liebling gerade aus?
Ralf antwortete nicht mir, sonder stellte Michi eine Frage: »Du bist doch ein Computerprofi. Ist es möglich, die CD-ROMs zu kopieren?«
Michi zuckte mit den Schultern: »Klar, es sind ganz normale CDs. Kein Kopierschutz oder so. Man dachte wohl, der sei nicht nötig, da die Daten ja verschlüsselt sind und die Verschlüsselung sehr sicher sei. Schließlich wird die mit der Spezialhardware und der Schlüsselbox gemacht.«
»Ok, würdest du uns ein paar Kopien machen? 5 Stück pro CD?«
»Kein Problem. Ich könnte auch 20 machen. Rohlinge hab' ich genug. Übrigens, ich hab' mir nochmal Gedanken über diese Verschlüsselung gemacht. Ich glaube ich könnte sie, trotz der Fallstricke knacken. Die Leute, die sich das Teil ausgedacht haben, haben einen Fehler gemacht.«
»Und der wäre?«
»Eigentlich haben sie zwei gemacht. Ich vermute mal, sie haben bei der ganzen Sache nur an den Fall gedacht, jemanden abzublocken, der versucht in das System hineinzukommen. Ist man erstmal drin ... Also, Fehler eins steckt im Fehlbedienungszähler. Ihr wisst ja, 3 Mal die falsche PIN und die Verschlüsselungsbox zerstört sich selbst. Dumm nur, dass sich dieser Zähler bei jeder richtigen Eingabe auf null zurücksetzt. Ich habe schon mal angefangen, ein Programm zu basteln, dass versucht, den geheimen Schlüssel mit differenzieller Kryptoanalyse und known cleartest Attacken zu torpedieren. Die ersten Ergebnisse sind vielversprechend, aber ... Eigentlich brauchen wir das alles nicht! Es wäre nur nett zu wissen, wie das System arbeitet und welche geheimen Schlüssel es verwendet. Möglicherweise könnte das für unseren Besuch noch hilfreich sein.«
»Ok, und warum brauchen wir das alles nicht?«
»Weil wir doch schon im System drin sind! Der zweite Fehler der Jungs, sie haben einfach Windows verwendet. Abgesehen von der externen Hardware für die Verschlüsselung ist das Zeug recht konventionell programmiert. Die haben irgendein Standard-Entwicklungssystem verwendet. Visuell-Studio oder Delphi. Na ja, irgendeiner der Entwickler wollte sich wohl selbst verwirklichen und hat den Kern des Versuchslogbuchs als COM+ Server ausgelegt. Das Frontend, also die graphische Oberfläche, macht nichts, also nicht wirklich. Die schickt nur Anfragen an den COM-Server und der holt die Daten von der Platte entschlüsselt sie und schickt sie an die Oberfläche.«
»Nicht, dass ich auch nur ein Prozent von dem verstanden hätte, was du gerade erzählt hast. Deswegen muss ich fragen: Ist das gut für uns?«
»Oh, es ist super! Ich habe noch ein zweites Programm gebastelt. Es macht nichts weiter, als massenweise Anfragen an den COM-Server zu stellen. Es ist, als wenn man eine DVD rippen würde.«
»Und was bedeutet das jetzt praktisch?«
»Ich kann dir eine CD mit den Daten brennen, die nicht mehr verschlüsselt ist. Der ganze Aufwand mit der Kryptobox, der Spezialhardware im PC, der ganze Scheiß. Vergiss ihn! Gut komprimiert passt alles auf eine CD und zwar in Klartext.«
Ralf hatte lächelnd zugerhört und schaltete sich jetzt wieder ein: »Na wunderbar. Dann passt ja alles. Michi baut uns eine private Kopie, die ohne Verschlüsselung auskommt. Und dann werden wir den neuen Boss besuchen. Die Original-CDs werden unsere Eintrittskarten. Wir werden einfach mit der blauen und der roten CD-ROM zum Tor von NextChem gehen und mit den Dingern winken. Mal sehen, was passiert.«
Und sowas soll ein Plan sein? Ich hielt es eher für planlos, was ich auch sofort äußerte: »Ok, wann fangen wir an?«
***
Am liebsten wären wir sofort losgestiefelt und hätten der NextChem AG sofort unseren Besuch abgestattet. Andererseits sollte solch eine Aktion auch wohl überlegt sein. Wer waren wir denn? Drei Milchbubis, von denen einer nützliche und trainierte psionische Kräfte besaß, ein anderer, nämlich ich, ebenfalls Kräfte besaß, die aber alles andere als trainiert waren und möglicherweise völlig unkontrolliert ausbrechen konnten, und schließlich ein ambitionierter Hobbyhacker. Was für eine Mannschaft. Immerhin musste man uns zugutehalten, dass wir sehr motiviert waren.
War das der Mut der Ahnungslosen?
Unsere nächsten Schritte sollten planvoll erfolgen. Wir mussten uns die Zeit nehmen, genau zu überlegen, was wir als nächstes tun wollten. Nur schien mir die Zeit knapp zu werden. Wenn die Bosse von NextChem dabei waren, das Experiment zu beenden und dabei sogar ohne jegliche Skrupel alle Versuchsobjekte aus dem Weg räumten, dann würden sie sicherlich auch in ihrem eigenen Laden aufräumen. Und noch etwas: Sie mussten Telepathen auf ihrer Seite haben. Diese eisigen Tentakel von der Party -- Ralf war sich dabei absolut sicher -- sie hatten Arne getötet. Mit anderen Worten: Uns durfte nicht der kleinste Fehler unterlaufen.
Nur ... warum hatte ich das Gefühl etwas sehr wichtiges übersehen zu haben? Warum verfolgte mich der Gedanke, dass wir bereits den ersten Fehler bereits gemacht hatten?
So sehr ich darüber nachdachte, so wenig wollte es mir einfallen. Was blieb mir also übrig, als das dumpfe und ungute Gefühl, als unbegründet beiseite zu schieben?
Wir begannen damit Aufgaben zu verteilen. Michi machte sich daran, von den verschlüsselten CDs unverschlüsselte Kopien anzufertigen. Ralf wollte die Gegend um das Werksgelände der NextChem AG erkunden. Er meinte, dass er für solch eine Aufgabe noch der Geeignetste von uns sei.
»Es wird schon nichts passieren. Wenn sie nicht gerade einen Megatelepathen haben, der permanent die Umgebung scannt, kann einfach nichts passieren.«
»Sicher?«
»Was ist schon sicher im Leben?«
Mit diesen aufmunternden Worten machte sich Ralf auf den Weg. Er war schon fort, als ich seine Stimme in meinem Kopf hörte: »Keine Angst. Ich weiß, was ich tue!«
Ich war mich ja nicht mal sicher, dass ich wusste, was ich tat. Da war es wieder, mein ungutes Gefühl, bereits jetzt schon einen kapitalen Fehler gemacht zu haben. Doch wie schon zuvor, wollte mir auf Teufel komm raus nicht einfallen, was für ein Fehler dies sein könnte. Genervt begann ich daher, meinen Part der Vorbereitung in Angriff zu nehmen.
Meine Aufgabe war es, mich mit der NextChem AG als Firma zu beschäftigen. Aktionärsstruktur, Firmenprofil, Standorte. Das ganze Geschäftszeug. Vor zwei Jahren hatte eine entfernte Tante mir ein paar Aktien vererbt. Damals begann ich, ein leichtes Interesse an Wirtschaft zu entwickeln. Eigentlich wollte ich nur wissen, was ich da in meinem Portfolio hatte. Zu meiner größten Überraschung konnten Firmengeschichten ausgesprochen spannend sein.
Aber die NextChem AG stellte alles in den Schatten, was ich bisher gesehen hatte. Die Firma war erst vor knapp 10 Jahren gegründet worden. Nur zehn Prozent der Aktien waren im freien Handel, die restlichen 90% hielten zwei Firmen. 30% gehörte einer Firma mit dem Namen Advanced Future Avionics (A.F.A.), einem U.S. amerikanischen Rüstungskonzern. Die anderen 60% hielt eine Firma auf den Cayman Island: People Sience Ltd. Das klang erstmal wie eine Sackgasse. Die Caymans gelten als ein sehr diskretes Steuerparadies. Statt mich mit der P.S. Ltd. weiter zu beschäftigen, durchsuchte ich erst einmal das Internet nach allem Interessanten zur A.F.A. Als wenn ich es nicht geahnt hätte, tauchte die People Sience auch bei der P.S. Ltd. auf: als Konzerntochter. Adv. Future Avionics hielt ca. 49% des Kapitals von People Sience. Soviel also dazu. Hier betrieb jemand eine Luftnummer, um die wahren Zusammenhänge zu verschleiern.
Das schwierige bei einer solchen Recherche ist, dass man selten auf sichere Informationen zurückgreifen kann. Meistens durchsucht man verschiedene Quellen und stellt deren Aussagen zueinander in Beziehungen. Manchmal entwickelt sich dann ein Bild. Wenn nicht, muss man seine eigenen moralischen Hemmungen vorübergehend zurückstellen. Ist es einem nämlich egal woher und wie die Informationen beschafft wurden, kann man auf ganz andere Quellen zurückgreifen und gelangt meisten zu sehr interessanten und überraschenden Ergebnissen.
Wie bei der A.F.A. Sie konnte kaum in der Luft hängen und an einen breiten Streubesitz konnte und wollte ich einfach nicht glauben. Es musste Aktionäre geben.
Ich drehte meine Suche um. Ich ging nicht mit der Firma als Quelle und Ausgangpunkt von Verknüpfungen ran, sondern als deren Ziel. Wer referenzierte auf die A.F.A.? Ok, die People Sience, wen hätte das überrascht? Es gab also einen klassischen »über Kreuz« Besitz von jeweils 49%.
An diesem Punkt war ich davon überzeugt, dass die restlichen 51% beider Firmen von einer einzigen anderen Firma gehalten wurden. Einer Firma, die bisher nicht in Erscheinung getreten war. Ich suchte. Ich grub. Ich wühlte in den Informationen. Doch ich fand so gut wie nichts. Ein paar unbestätigte Gerüchte, dicht an der Grenze zur Verschwörungstheorie, waren alles was ich fand. Die einen meinten, es würden Außerirdische sein, die die Erde in ihre Gewalt bekommen wollten. Die anderen meinten, und dies erschien mir noch am glaubwürdigsten, dass die Firmenmutter ein Joint Venture unterschiedlichster Teilhaber wäre. Regierungsbehörden, Rüstungs- und Pharmakonzerne, Banken, dubiose Einzelpersonen sollten hinter allem stecken. Nur etwas wirklich Greifbares gab es nicht. Bis auf einen Namen, der häufiger auftauchte: vox aurelis
War dies eine Firma? Eine Person? Soweit mein Küchenlatein reichte, ließen sich die beiden Worte mit »Goldene Stimme« übersetzen. Oder war die Sache viel banaler, weil alles nur das Hirngespinst eines durchgeknallten drogenabhängigen Verschwörungstheoretikers war?
»Wir müssen uns beeilen!«
Ralf war zurückgekehrt. Rund 6 Stunden nach seinem Aufbruch war er wieder da. Es war kurz vor neun Uhr abends. Wir hielten unsere erste Lagebesprechung ab. Jeder berichtete aus seinem Bereich. Michi hatte sein Ripperprogramm so modifiziert und erweitert, dass es den größten Teil der beiden CDs lesen und speichern konnte. Nur ein paar Dateien breiteten ihm noch kleinere Probleme.
»Nichts aufregendes. Die sind nur blöd aufgebaut. Aber das bekomm ich auch noch hin. Ich schätze, dass ich das in einer Stunde fertig habe. Morgen früh ist die Verschlüsselung Geschichte.«
»Wenn das nicht schon zu spät ist!«, meinte Ralf besorgt. »Bei NextChem passiert etwas. Auf dem Hof stehen fünf Überseecontainer. Zwischen den Containern und den Gebäuden herrscht hektische Betriebsamkeit. Ständig laufen Leute in weißen Kitteln hin und her. Rund um das Werksgelände sind hinter dem Zaun Wachschützer mit Hunden postiert. Ich habe nicht gewagt, einen der Weißkittel zu scannen. Aber ich habe es bei einem der Sicherheitsleute probiert. Sie haben Angst! Sie wissen nicht wovor, aber sie haben Angst. Panische Angst. Man hat ihnen gesagt, dass alles Ok sei. Man sei nur sehr nervös, weil man demnächst ein neues revolutionäres Medikament vorstellen will und man sich deswegen vor Werksspionage der Konkurrenz schützen möchte. Doch die Securities sind Profis, die wissen, wenn jemand lügt. Und die Leute bei NextChem lügen wie gedruckt. Der Typ, dessen Gedanken ich gelesen habe, ist hundertprozent davon überzeugt, dass bei NextChem etwas schief gelaufen ist und man deswegen in Panik ist.«
»Nicht gut. Wenn wir was machen wollen, dann scheint mir morgen wirklich der letzte mögliche Termin zu sein«, ich schaute von Ralf zu Michi und erntete von beiden zustimmendes Nicken. Allerdings hob Ralf seinen Finger: »Moment, ich bin noch nicht fertig.«
»Entschuldige, ich wollte dich nicht abwürgen.«
»Schon Ok. Ich hab' ja schon erzählt, was der Wachmann weiß. Es gibt aber noch Dinge, von denen er gehört hat. Unter den Wachleuten brodelt die Gerüchteküche. Ein wohl sehr konkretes Gerücht besagt, dass Teile des NextChem-Geländes nur noch von den Weißkitteln betreten werden darf. Bereiche, die früher vom Wachschutz regelmäßig kontrolliert wurden, sollen jetzt absolut off limit sein. Zutritt nur mit speziellem Sicherheitsausweis. Ein anderes Gerücht berichtet von zwei Verletzten, die es gegeben haben soll. Letzte Nacht sollen angeblich zwei Eierköpfe, wie der Wachmann die Wissenschaftler nennt, bei einem Unfall schwer verletzt worden sein. Was passiert ist, weiß er nicht. Angeblich hat einer seiner Kollegen die beiden Unfallopfer auf einer Bare gesehen. Sie sollen verhüllt gewesen sein sollen, aber beim Transport soll von einem die Sichtblende heruntergerutscht sein. Der Anblick soll ihm einen heftigen Schrecken eingejagt haben. Angeblich soll der Verletzte von innen heraus geschimmert, farbig geleuchtet haben. Allerdings war der Blick nur so kurz, dass das auch nur Einbildung sein könnte.«
Mir sträubten sich die Haare und ich bekam eine Gänsehaut. Das klang wirklich gruselig. Auch meine innere Warnglocke meldete sich wieder. Tobi, ihr macht einen Fehler!
Mission Impossible
Worin der Minister jede Verbindung oder Kenntnis von irgendwen oder irgendwas leugnen wird.
Schließlich zerstört sich dann auch noch das Tonband nach 5 Sekunden selbst.
6:00 UhrAufbruch
Ralf und Michi hatten bei mir übernachtet. Michi hat es tatsächlich noch geschafft, die Verschlüsselung komplett zu knacken. Bis kurz nach Mitternacht haben wir unsere nächsten Schritte geplant. Knapp fünf Stunden Schlaf. Mutter eine plausible klingende Geschichte für unseren frühen Aufbruch aufgetischt. Kurz nach 6 mit den Fahrrädern zur S-Bahn. Die Original-CDs auf Michi und Ralf verteilt.
7:17 UhrAnkunft
Fahrräder am Bahnhof angekettet. Kurzer Fußmarsch zum Werksgelände.
7:33 UhrNextChem - 20 Meter vor der Grundstücksgrenze
Wir beobachten aus einer natürlichen Deckung die NextChem. Ein Geländeknick mit dichtem Busch- und Strauchwerk bietet ausreichend Sichtschutz. Ralf hatte nicht untertrieben. Auf dem Park- und Verladeplatz des Gebäudekomplexes herrscht eine unübersehbare Hektik. Das Gelände wird bewacht. Alle 50 Meter eine bewaffnete Security Guard. Ralf meint, die Betriebsamkeit wäre noch größer als bei seinem ersten Besuch.
7:49 UhrWeißer Truck
Ein riesiger weißer Truck ist soeben auf das Werksgelände gefahren. Sofort sind massenweise Weißkittel aus den Gebäuden geströmt. Wir sind uns inzwischen einig, dass dies alles nicht nach einem hektischen Aufbruch aussieht. Wer würde schon neues Material heranschaffen, wenn er seine Zelte abbricht?
8:12 UhrKisten und Gespräche
Seid 20 Minuten wird der Truck von den Technikern oder Wissenschaftlern in den weißen Kitteln entladen. Für manche scheint das Schleppen von Kisten eine neue Erfahrung zu sein. Oder ist es Angstschweiß, der ihnen auf der Stirn steht? Wir haben zwei Wissenschaftler näher beobachten können. Sie scheinen eine Leitungsposition zu besitzen. Wir konnten sehen, wie sie anderen Weißkitteln Anweisungen gaben. Etwas später sind die zwei bis zum Zaun gegangen und hatten dort jeder eine Zigarette geraucht. Keine 30 Meter von unserem Versteck entfernt, wagte Ralf sie zu scannen und ihre Gedanken zu lesen.
»Wir dämmen es einfach ein.«, meinte der erste, der etwas größer als der andere war. Er schien ein Gespräch fortzusetzen, dass die beiden begonnen hatten, bevor Ralf sich in ihre Gedanken einklinken konnte.
»Das wird nichts bringen. Hast du die Messwerte nicht gelesen? Wie soll man solch eine Energiemenge eindämmen? Und sie wächst immer noch.« Sein Kollege war kleiner und untersetzter.
»Jetzt bekomm keine Panik. Sie wächst, gut, aber die Wachstumsrate nimmt ab.«
»Toll, ganz toll! Sie nimmt viel zu langsam ab! Ich habe es eben nochmal durchgerechnet. Bevor das Wachstum zum Stillstand kommt, liegt die Grenze ungefähr hier wo wir gerade stehen! Verdammt, wir hätten uns niemals darauf einlassen dürfen. Niemals!«
»Sei nicht so negativ. Wir bekommen das in Griff. Die Sachen, die sie uns geschickt haben, sehen vielversprechend aus. Wenn uns das Gitter nicht zusammenbricht, müssten wir einen Teil der Energie ableiten können. Und dann, mein Lieber, haben wir es geschafft! Du vergisst eins, das Experiment war erfolgreich. Erfolgreicher als wir jemals gedacht hatten.«
»Nur Schade, dass wir es nicht kontrollieren können.«
Ralf gab das Gespräch im Flüsterton Wort für Wort wieder. Wir beobachteten weiter. Als die beiden Wissenschaftler wieder zurück zum Gebäudekomplex gingen, fügte Ralf noch etwas hinzu: »Der größere ist eiskalt. Ihn nervt die Ängstlichkeit und Panik seines Kollegen. Ich glaube, er will ihn beseitigen lassen.«
8:30 UhrVorbereitung zum Einsatz
Wir sind soweit. Michi wird hier im Versteck bleiben. Er hat mir die rote CD gegeben. Ralf hat die blaue. Wenn wir nicht bis spätestens 12:00 Uhr wieder bei im sind, wird er KHK Schulz anrufen. Michi ist somit unsere erste Rückversicherung. Es gibt noch eine. Michi hat etwas vorbereitet, uns aber nicht gesagt, was es ist: »Falls man eure Gedanken liest, könnt ihr nichts sagen, weil ihr nichts wisst.«
8:45 UhrDer Einsatz beginnt.
Wir stehen vor dem Werkstor. Zwei Security Guards sehen uns böse und drohend an. Am Tor befindet sich eine Gegensprechanlage mit Kamera. Ich drücke auf den Klingelknopf.
»Ja?«, eine abweisende Stimme quäkt aus dem Lautsprecher. Obwohl sie nur ein Wort modulierte, war ihre Botschaft klar: »Wer stört?«
»Tobis van Brüggen. Mein Vater hat hier gearbeitet.«, erzähle ich dem Edelstahldesignobjekt, welches die Gegensprecheinrichtung beinhaltet. Hier am Eingang sieht alles sehr viel eleganter, als von unserem Versteck aus. Von unserem Versteck hatten wir nur die Rückseite des Geländes beobachtet können: Liefereinfahrt, Parkplatz, Laderampen. Alles sehr zweckdienlich, effizient aber wenig schön gestaltet.
Der Haupteingang hingegen macht einen ganz anderen Eindruck. Neben dem Haupttor mit automatischem Tor für Fahrzeuge gibt es eine Gittertür für Fußgänger. Von dort erstrecken sich zwei Wege, ein Fußweg und ein Fahrweg zum Portal des Hauptgebäudes. Eingebettet sind diese Wege in einen kleinen perfekt gepflegten Minipark mit Gewässer, japanischem Steingarten und Sitzbänken. Zwischen Fuß- und Autotor befindet sich ein Multimediakommunikationsquader aus Edelstahl. Er beherbergt sowohl den Briefkasten als auch die Gegensprechanlage. Nein, keine Gegensprechanlage, dass würde einer unfairen Untertreibung gleichkommen und die Gefühle des gestaltgebenden Designers verletzen.
Statt eines Klingelknopfes gibt es einen TFT-Farbbildschirm auf dem das animierte Logo der NextChem, sowie vier Länderflaggen (Deutschlang, Frankreich, England und Japan) samt der mehrsprachigen Aufforderung den Bildschirm zu berühren, aufleuchtet.
Ich berühre die deutsche Flagge und erhalte einen Text, der mir sagt, dass ich leider außerhalb der Geschäftszeiten gekommen sei. Wolle ich dennoch jemanden sprechen wollen, solle ich auf das Symbol mit der Klingel drücken.
Ich drücke.
Nach einer halben Minute kommt das bereits erwähnte »Ja?«
»Tobis van Brüggen. Mein Vater hat hier gearbeitet.«
An der anderen Seite der Leitung herrscht Schweigen. Ich schau Ralf fragend an, doch der zuckt nur mit den Schultern.
»Was willst du?«, kommt es plötzlich aus dem Lautsprecher, als ich schon nicht mehr mit einer Antwort rechne. Die Frage klingt hörbar genervt.
»Ich habe etwas gefunden. Herr Kleist hatte uns besucht und danach gefragt, ob ich diese CDs gesehen hätte. Sie sind meiner Mutter und mir beim Aufräumen der Sachen meines Vaters begegnet.«, der Fund sollte möglichst unspektakulär klingen, so, als wenn ich überhaupt keine Ahnung hätte, worum es bei den CDs eigentlich ging. Völlig harmlos, den total Ahnungslosen mimend, halte ich eine der CDs vor die Linse der Kamera. Ich bin mir fast sicher, dass diese Kamera zum einen in Farbe sendet und zum anderen eine vorzügliche Qualität liefern dürfte.
»Das kann doch nicht wahr ... Der Junge hat die Versuchs ...«, kommt es leise aus dem Lautsprecher, als wenn das Mikrofon nur halb zugehalten wird. Die Stimme gehört jemand anderem und klingt deutlich aufgeregt. Weiter kommt sie nicht, denn sie wird von der ersten Stimme unterbrochen: »Bitte bleib' einen Moment am Tor. Es kommt sofort jemand.«
Diese Stimme, die erste, will freundlich und verbindlich klingen. Es gelingt ihr nicht.
Wir betreten die NextChem. Vor einer Minute kam ein Wachschützer und holte uns ab. Wir durchschreiten den Haupteingang und landen in einer Empfangshalle. Linkerhand befindet sich ein riesiger Tresen, hinter dem ein weiterer Wachschützer sitzt.
»Bitte wartet einen Moment«, fordert uns der erste Wachmann auf und deutet auf eine klassische Ledersitzgruppe. Wir nehmen Platz und warten. Ein Blick durch die Eingangshalle bestätigt meine Vermutung: Kameras, Sicherheitstüren mit Codeschlössern und vermutlich auch Richtmikrofone.
8:59 UhrDer Entwicklungsleiter für Sonderprojekte
»Guten Morgen, Jungs!«, werden wir von einer Stimme begrüßt, bei der Inhalt und Klang nicht zueinander passen. Die Person, die uns empfängt, ist überraschenderweise einer der beiden Wissenschaftler, dessen Gespräch Ralf mitgehört hatte. Konkret ist es der kleinere von beiden: »Ich bin Raimund Wagner, Entwicklungsleiter für Sonderprojekte bei NextChem. Wie ich höre, ist einer von euch beiden Tobias vanBrüggen, Jaspers Sohn?«
»Das bin ich!«, gebe ich mich zu erkennen und setzte gleich nach: »Nach dem Tod meines Vaters hat mich Herr Kleist gebeten, ob ich nachschauen könnte, ob sich in den Unterlagen meines Paps nicht vielleicht zwei wichtige CDs befänden. Na ja, wir haben sie gestern beim Ordnen seiner Sachen gefunden. Sie gehören wohl NextChem, deswegen sind wir hier.«
Ich halte Herrn Wagner die rote CD vor die Nase. Seine Augen weiten sich und er muss unwillkürlich Schlucken: »Das ist wirklich sehr nett von dir, Tobias. Ich darf doch noch Tobi zu dir sagen, oder?«
Er spricht mit mir, sieht mich dabei aber nicht an. Die ganze Zeit starrt er auf die CD, wie ein Kaninchen auf eine Schlange.
»Tobias ist Ok. Oder einfach nur Tobi!«
»Kommt doch bitte mit, dann können wir in meinem Büro weiterreden.«
Entwicklungsleiter Wagner wartet nicht ab, ob wir überhaupt mitkommen wollen, sondern rennt sofort los. Widerwillig folgen wir erst, als Wagner bereits die erste Tür erreicht hat. Wie vermutet, handelt es sich um eine elektronisch verschlossene Tür. Wagner hält eine Art Anhänger vor ein schwarzes Feld an der Wand. Eine rote LED wechselt auf grün. Im Rahmen der Tür hört man das Schnappen einer elektronischen Verriegelung, die sich entriegelt. Wagner stößt die Tür auf. Wir folgen.
Wir folgen Wagner durch Flure, Türen, über Treppen und Korridore. In regelmäßigen Abständen werden wir durch Sicherheitsschleusen aufgehalten, die der Entwicklungsleiter mit seinem Anhänger alle öffnet. Mir scheint der Weg etwas kompliziert zu sein. Wenn mich mein Orientierungssinn nicht trügt, führt uns der Pfad sehr umständlich durch das Gebäude. Man stelle sich ein Rechteck vor. Die vier Ecken sind im Uhrzeigersinn A, B, C und D. Jeder normale Mensch in A würde auf direkten Weg nach D gehen, wir aber, scheinen von A nach D über B und C zu gehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es den direkten Weg in diesem Gebäude nicht gibt.
9:07 UhrDer Interimschef
»Darf ich euch Andreas Kryczeck vorstellen, den Interimschef der NextChem Deutschland AG.«, mit diesen Worten stellt uns der Entwicklungsleiter für Sonderprojekte eine Person vor, die bereits auf uns wartet. Es ist, was uns nicht sonderlich überrascht, der größere Typ vom Zaun. Wagner wirkt fahrig und sehr nervös. Kryczeck hingegen kühl und sehr souverän.
»Ihr bringt uns also unser Eigentum zurück.«, stellt der Interimschef kalt fest. Er verzichtet auf jede Form von Begrüßung, macht dafür aber gleich einen für ihn wichtigen Punkt klar: Was auf den CDs ist, gehört uns und nur uns! Während Kryczeck schließlich doch noch einen Funken gesellschaftlicher Konventionen folgt und uns einen Platz auf zwei Sesseln vor seinem Schreibtisch anbietet, ist Wagner bereits dabei die erste CD in seinen PC einzulegen.
»Und?«, fragt Kryczeck ungeduldig.
»Nicht so schnell, ich muss noch den Schlüssel eingeben«, entgegnet Wagner ohne dabei vom Bildschirm aufzuschauen. Er greift zu einer Schlüsselbox, wie sie im Schreibtisch meines Vaters lag, gibt ein paar Zahlen ein und: »Bingo! Diese CD ist echt. Es sind die gesamten Berichte und Protokolle des Projektes drauf.«
»Und was ist mit der Liste?«, fragte Kryczeck nach. Auch seine Stimme zeigt jetzt leichte Spuren der Anspannung.
»Ist drauf!«, antwortet Wagner triumphierend.
In diesem Moment wird mir schlecht. Wie konnten wir das nur vergessen? Schlagartig wird mir unser, nein mein Fehler klar. Ich hatte die ganze Zeit an alle Versuchsopfer gedacht. An alle, bis auf eines. An mich! Ich stand auch auf der Liste. Denn es konnte nur diese Liste gemeint sein.
Interimschef Kryczeck wirft einen kurzen Blick auf den Bildschirm. Er liest Zeile für Zeile und stutzt. Mir wird heiß.
»Können wir jetzt wieder gehen?«, frage ich und will mich bereits erheben.
Kryczeck wendet seinen Blick von Computer ab und uns zu. Alles an ihm wirkte eiskalt, als er sagt: »Ich befürchte, dass wird wohl nicht mehr möglich sein.«
Fußnoten:
- ... Carsten :
- Blöder Rückblendenhumor! Wer mir verrät, aus welchem Film ich das leicht modifiziert geklaut habe, bekommt ne' Tüte Gummibären. Maximal 10 Tüten. Bei mehr Gewinnern entscheidet das Los. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. (zurück)
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.