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Blaues Licht
Teil 5
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Informationen
- Story: Blaues Licht
- Autor: Nero
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery, Krimi, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
- Die erste Konvergenzlinie
- Sicherheitssperre
- "Lauf Ralf, lauf!"
- Abwärts
- Nemesis
- Akkumulator
- Wagners Gewissen
- Singularität
- Die zweite Konvergenzlinie
- Zurück auf Los, oder "Warum man in ein Plattengeschäft geht -- 2. Edition"
- Wenn stressende Eltern merkwürdig reagieren
- /join #mytown
- Off track
- Gelantine
- Photonen im Glück
- Der Schuldirektor
- Begegnung im Gang
- Nach der Schule
- Pizza
- Nachwort
Die erste Konvergenzlinie
Sicherheitssperre
Worin ein Interimsfirmenleiter zum Entsetzen unserer Helden seine Ziele recht deutlich schildert.
Der Interimschef der NextChem Deutschland AG, Andreas Kryczeck, ließ keine Zweifel an seinen Absichten aufkommen: Weder Ralf noch meine Wenigkeit würden das Firmengelände ohne seine Zustimmung verlassen. Und diese Zustimmung war vermutlich das Letzte, was er bereit war zu geben. Andreas Kryczeck machte einen sehr zufriedenen Eindruck. Sicher, er hatte ein Problem in einem der Labore, aber mit den neuen Materialien würde man die Sache schon in Griff bekommen. Viel wichtiger und deswegen auch um so befriedigender für ihn, war meine Dummheit, die ihm zwei lange vermisste CDs mit wichtigen Versuchsprotokollen und Ergebnissen wiedergebracht hatte. Und das sogar frei Haus.
Meine Dämlichkeit kannte offensichtlich keine Grenzen. Wie konnte ich nur vergessen, dass mein Name ebenfalls auf der Liste der Versuchsobjekte stand? Ich wusste doch, dass jemand dabei war, sämtliche Namen dieser Liste auszulöschen. Spätestens seid Arne Oppenheimer auf der Party bei Anja ins Gras gebissen hatte und mich KHK Schulz mit der Information über andere unerwartete Todes- und Komafälle in Alarm versetzt hatte, hätte ich eigentlich vorsichtiger sein sollen. Waren doch sämtliche Fälle Namen dieser Liste.
Und was tat ich? Genaugenommen, was taten wir: Ralf, Michi und ich? Wir lieferten uns einfach so den mutmaßlichen Urhebern aus!
Ziemlich doof, oder?
»Was soll das heißen, wir können nicht gehen?«, versuchte ich mein Heil darin, mich ahnungslos zu stellen.
Interimschef Kryczeck war so warmherzig wie ein Block Trockeneis: »Ihr bleibt hier. Ihr werdet niemals wieder irgendwo hingehen. Sorry Kleiner, aber du warst zur falschen Zeit am falschen Ort. Es ist nichts Persönliches.«
Diesen Satz hörte ich in letzter Zeit viel zu oft. Exchef Kleist hatte mir gegenüber ein fast gleichlautendes Statement abgegeben. Obwohl Kleist mit seiner Drohung gescheitert war, gelang es mir nicht, aus diesem Wissen etwas Beruhigendes zu ziehen. Viel mehr war ich ausgesprochen nervös. Ein Blick zur Seite half auch nicht, denn Ralf wirkte ebenfalls erschreckend nervös.
»Aber das können Sie doch nicht tun!«, versuchte ich an Kryczecks nicht vorhandenes Gewissen zu appellieren.
»Kann ich nicht? Ich hab' es gerade getan! Ohne Schlüsselkarte kommt hier niemand raus.«, bemerkte der Interimschef treffend.
Mein Blick fiel auf Raimund Wagner, dem Entwicklungsleiter für Sonderprojekte. Wagner wirkte völlig schockiert, was mich einigermaßen überraschte. Konnte ein Mensch wirklich derart naiv durchs Leben waten und mit jemanden wie Kryczeck zusammenarbeiten, ohne zu merken, dass jener die Persönlichkeitsstruktur eines eiskalten Killers besaß?
»Was meinst du mit ,Niemals irgendwo hingehen`?«, machte sich Wagner vorsichtig bemerkbar.
»Was wohl? Er«, bei diesem Wort zeigte Kryczeck auf mich, »ist einer von ihnen. Willst du riskieren, dass uns mit ihm das gleiche wie mit dem Typen im Keller passiert?«
Wagner wurde kreidebleich: »Du kannst ihn doch nicht umbringen wollen? Mein Gott!«, dem Entwicklungsleiter schien die Luft weg zu bleiben. »Dann hast du die anderen auch ...«
Er sprach nicht weiter. Stattdessen starrte er mit weit aufgerissenen Augen seinen Chef an. Jener zuckte genervt mit seinen Schultern: »Nein, ich habe die anderen nicht umgebracht. Ich weiß nicht, wer unsere Versuchsreihe eliminiert. Bist du so naiv, oder tust du nur so? Was denkst du, wie lange es noch braucht, bis die auch bei uns an die Tür klopfen? Wir müssen unsere Investitionen sichern und die befinden sich im Moment im Schädel von unserem kleinen Freund hier. Wärst du etwas erfolgreicher mit deinen Versuchen gewesen ...«
»Ich? Was hätte ich denn machen sollen? Ohne die CDs war es ein Glücksspiel. Ich konnte doch nur raten, welcher Wirkstoff die neuronale Rekombination und Restrukturierung auslöst! VanBrüggen hat doch keine Aufzeichnungen zurückgelassen. Wer war da etwas voreilig?«
Ralf und ich verhielten uns ganz still. Solange die beiden miteinander stritten, waren wir nicht in unmittelbarer Gefahr. Und wie es aussah, begann zwischen den beiden NextChem-Mitarbeitern gerade eine Grundsatzdiskussion um Ethik und Moral. Wer waren wir, dass wir sie bei solch wichtigen Dingen stören könnten?
Und noch etwas anderes war interessant. Die beiden Streithähne verrieten uns Informationen, die zum einen überraschend waren und wir zum anderen so wohl nie erhalten hätten. NextChem hatte offenbar einen Gegner. Ich zweifelte nicht daran, dass Kryzcheck die Wahrheit sagte, als er die Täterschaft am Ableben der anderen Versuchspersonen verneinte. Noch ein Punkt, in dem ich mich geirrt hatte. Dass er dazu in der Lage gewesen wäre und auch nicht gezögert hätte, es zu tun, ließ sich aus Wagners Bemerkung über meinen Vater ablesen. So wie es aussah, war Kryzcheck sein Mörder.
»Nein, mein Lieber!«, fauchte Kryczeck. »Tu bloß nicht so ahnungslos. Dir standen alle Mittel zur Verfügung. Ich kann mich nicht erinnern, dass du jemals gefragt hättest, woher zum Beispiel eine Gewebeprobe, ein Wirkstoff oder eines deiner technischen Spielzeuge stammt. Und du weißt ganz genau, dass man das meiste Zeug nicht im Laden an der Ecke kaufen kann. Jedenfalls nicht, wenn man kein Aufsehen erregen will. Von der Basisessenz will ich gar nicht erst anfangen. Aber das ist mal wieder typisch für euch Eierköpfe. Ihr macht euch eure feinen Finger nicht dreckig. Ihr fragt einfach nicht, wer die Drecksarbeit für euch macht. Aber diesmal wirst du das Problem beseitigen! Du wirst doch bestimmt irgendeine unauffällige aber effektive Substanz in deinem Sortiment haben, dass die beiden Jungs hier friedlich ein für alle Mal zum Schweigen bringt, oder?«
»Ich soll sie vergiften?«
»Ja!«, Kryczeck sah Wagner direkt in die Augen. »Oder ich muss mir überlegen, wie viel wirtschaftlichen Nutzen uns deine Mitarbeit bei NextChem wirklich bringt.«
Die Sache lief also auf ein »wir oder er« für Wagner heraus. Ich konnte mir denken, wie er sich entscheiden würde.
»Ähm, vielleicht sollte ich darauf hinweisen, dass wir Vorkehrungen getroffen haben ...«, ich wusste nicht, wie weit ich mich auf meine oder Ralfs Kräfte verlassen konnte. Deswegen versuchte ich es vorsichtshalber mit der klassischen Variante, uns aus der Affäre zu ziehen.
»So? Interessant!«, der Interimschef sprang sofort darauf an, allerdings anders als erwartet. »Dann habt ihr also vermutet, dass hier etwas nicht stimmt! Los raus mit der Sprache! Was wisst ihr zwei Grünschnäbel?«
Ralf sagte nix. Ich auch nicht.
»Ok, wie ihr wollt. Dann werde ich euch mal eure Situation klar machen. Ich habe nichts zu verlieren, aber eine Menge zu gewinnen und das werde ich mir von niemandem versauen lassen. Es wird euch sicherlich nicht überraschen, wenn ich euch sage, dass ich mehr als eine Person auf dem Gewissen habe. Auf eine Leiche mehr oder weniger kommt es mir wirklich nicht mehr an. Mir kommt es einzig und allein darauf an, mein Ziel zu erreichen. Und das heißt im Moment ,überleben`. Und dafür ist mir inzwischen jedes Mittel recht. Wenn ihr zwei Jungs also euer Ableben besonders schwer machen wollt. Bitte, das ist euer Problem. Eins ist jedenfalls sicher. Ihr werdet reden. Auf die eine oder auf die andere Weise.«
Der Mann war krank. Kryczeck war ein psychopathischer Mörder. Dazu passte auch sein nächster Befehl: »Raimund, sperr die zwei weg. Wir werden uns später mit ihnen beschäftigen.«
Zu diesem Befehl drückte Kryczeck Wagner eine Schusswaffe in die Hand. Der jetzt bewaffnete Entwicklungsleiter deutete uns mit dem Lauf seiner Pistole vorauszugehen: »Macht die Tür auf und dann links den Gang runter!«
Er klang nicht sonderlich glücklich. Er klang auch nicht sonderlich selbstsicher. Ich hätte wetten können, dass Wagner mindestens so viel Angst hatte wie wir. Wahrscheinlich noch viel mehr. Wobei ich mir bei Ralf nicht sicher war, wie viel Angst er wirklich hatte. Er wirkte zwar auch nervös, doch gleichzeitig verströmte er ebenfalls eine völlig gegenteilige Empfindung: Gelassenheit.
Wir gingen einen langen Gang entlang. Wir folgten zwei Abzweigen nach links, passierten eine Sicherheitstür, die vorschriftswidrig offen stand und hinter uns von Wagner geschlossen wurde. Wir gingen eine Treppe abwärts, folgten dem Flur nach rechts, um schließlich vor einer verschlossenen Tür mit Codeschloss zu landen. Wagner sah sich mit einem ernsthaften Problem konfrontiert: Wie sollte er seine Magnetkarte durch das Codeschloss ziehen, die zusätzlich notwendige PIN eingeben und gleichzeitig uns mit der Waffe in Schach halten?
Wagner wirkte überfordert und fahrig. Man hätte in dieser Situation auf die Idee kommen können, dass Wagners Unsicherheit ein Vorteil für uns gewesen wäre. Wäre dies nicht die Gelegenheit ihn zu überrumpeln und zu entwaffnen? Ich bin mir da bis heute nicht sicher. Wagners Psyche machte auf mich einen äußerst instabilen Eindruck. Wer garantierte uns, dass er nicht panikartig reagiert wie ein verletztes Tier, dass mann in die Enge getrieben hat? Und dann?
Ich war mir ziemlich sicher, dass ich einer Kugel locker telekinetisch begegnen könnte. Sollte Wagner auf mich feuern, brauchte ich mir um mich keine Sorgen machen. Der übersinnliche Teil meines Hirns reagierte in solchen Fällen inzwischen vollständig autonom und unterbewusst. Aber würde ich Ralf retten können? Hatte ich meine Fähigkeiten inzwischen soweit unter Kontrolle, dass ich eine auf Ralf gerichtete Kugel abfangen könnte?
Ich wusste es nicht. Auf jeden Fall war mir das Risiko zu hoch.
Während ich noch hin und her überlegte, kam Entwicklungsleiter Wagner schließlich auf eine Idee, wie man das Türschloss aufbekommen konnte, ohne die Kontrolle über uns zu verlieren. Er angelte seine Codekarte aus seinem Laborkittel und warf sie Ralf, der am dichtesten an der Tür stand, zu.
»Durchziehen! Bei grün sofort 3-7-8-9-5 eingeben und die Sterntaste drücken! Du hast nur fünf Sekunden Zeit!«, kam es als knappe Anweisung.
»Ok!«, meinte Ralf und versuchte die Karte zu fangen. Sie fiel zu Boden.
»Keine Tricks! Ganz langsam aufheben!«, Wagners Stimme vibrierte vor Anspannung. Er wollte nicht schießen, aber er würde es tun. Ich sah, dass die Waffe in seiner Hand zitterte, als er sich vollkommen auf Ralf konzentrierte. In diesem Moment kam mir eine Idee. Es war nur ein Versuch, aber er würde wahrscheinlich keine negativen Folgen haben, sollte ich scheitern. Hoffentlich!
Ich fixierte die Waffe mit meinen Augen und versuchte mich zu konzentrieren. Ich hatte keine Ahnung von Schusswaffen, doch wusste ich, dass jede Waffe einen Sicherungshebel besaß. Ich konnte ihn sehen. Es gab zwei Positionen für diesen Hebel. Eine war mit einem roten, eine mit einem weißen Punkt markiert. Der Hebel stand auf rot -- Entsichert. Das nahm ich jedenfalls an. Kryczeck würde Wagner sicherlich keine gesicherte Waffe in die Hand geben. Ich versuchte mich auf den Hebel zu konzentrieren, ihn in meinen Gedanken zu fühlen und zu greifen. Wagners zitterige Hand machte es nicht leicht. Es war ungefähr so, als wenn man nach einem Stock greift, an dem jemand am anderen Ende heftig rüttelt. Aber schließlich hatte ich den Sicherungshebel mit meinen Gedanken unter meiner Kontrolle.
Jetzt war Timing alles.
Ich hörte, dass Ralf die Codekarte durch den Leseschlitz zog. Es gab ein positives Quittungssignal, wie wir es vorher schon gehört hatten. Ralf tippte die Zahlen ein. Jeder Druck wurde ebenfalls mit einem kurzen Pieps von der Tastatur bestätigt. Ralf drückte die Sterntaste. Es gab erneut einen diesmal langen Quittungston und das typische Geräusch eines sich entriegelnden Türverschlusses. In gleichen Moment betätigte ich in Gedanken den Sicherungshebel an Wagners Waffe.
Es klappte.
Der kleine Hebel schnappte von rot auf weiß um. Das Geräusch ging fast im Klicken der sich entriegelnden Tür unter. Aber eben nur fast. Wagner hatte etwas gespürt und fuchtelte plötzlich mit seiner Waffe umher. Ich ließ den Hebel sofort los, aber zu spät. Wagner stutzte und sah irritiert auf seine Waffe. Ich wagte kaum zu atmen. Ein Blick auf die Seite seiner Automatik und er hätte die Position des Sicherungsschalters entdeckt. Es war eine Sache von Sekundenbruchteilen. Vor meinen Augen ging die Szene in Zeitlupe über. Wagner drehte die Waffe zur Seite, der Seite ohne den Sicherungshebel, er drehte sich zu anderen Seite und ...
Ralf stieß mit einem satten Schmatzen der Dichtungen die Sicherheitstür auf und lenkte Wagner ab.
Dieser schüttelte nur seinen Kopf und meinte: »Weiter!«
Ralf setzte sich in Bewegung ich folgte ebenfalls, um Teil 2 meines spontanen Fluchtplans in die Tat umzusetzen.
Wagner war hinter mir. Als ich genau in der Mitte der Tür und dem Rahmen stand, drehte ich meinen Kopf zu Wagner um und meinte plötzlich erschrocken: »Oh, mein Gott! Sehen Sie, da hinten!«
Da war natürlich nichts, doch Wagner fiel auf den blödesten Trick aller Zeiten herein. Er war abgelenkt und drehte sich um. In diesem Moment macht ich einen Satz nach vorn, stieß dabei Ralf ein Stück von mir weg und schlug mit aller Kraft die Sicherheitstür hinter uns ins Schloss, Wagner direkt vor die Nase.
Wagner hielt seine Waffe hoch und drückte ab. Das heißt, er versuchte abzudrücken. Dumm nur, dass seine Waffe verriegelt war.
"Lauf Ralf, lauf!"
»Renn!«, trieb ich Ralf an.
Adrenalin schoss durch meine Arterien, mein Puls jagte auf 180. Auf Wagner verschwendete ich keinen zweiten Gedanken mehr. Nur einen: weg hier, bevor er seine Waffe wieder entsichert hatte. Ralf reagierte sofort. Er sah mich zwar verwirrt an, vertraute mir aber blind und rannte los.
»Was hast du gemacht?«, rief er mir zu während wir den Gang vor uns entlanghetzten.
»Seine Waffe gesichert. Du hast ihn ja netterweise abgelenkt!«, entgegnete ich.
Ralf lief voraus. Der Gang kam an eine Kreuzung.
»Links, rechts oder gerade aus?«. überließ Ralf mir die Entscheidung.
»Rechts!«, wählte ich ohne zu überlegen aus.
Wir hatten Glück. Auf unserem Weg begegneten uns diverse Sicherheitstüren, die aber allesamt offen standen. Wir wechselten mehrfach willkürlich die Richtung, liefen sogar zwei Treppen abwärts.
»Meinst du, sie verfolgen uns?«, fragte ich Ralf.
»Weiß' nicht? Ich habe seid einer Weile keine Überwachungskameras mehr gesehen. Ich könnte mir vorstellen, dass es eine Weile dauert, bevor man uns findet. Wagner wird sicher direkt zu Kryzcheck laufen.«
»Wird er nicht!«, meinte ich triumphierend, »Du hast seine Codekarte!«
»Stimmt! Wagner sitzt ja fest! Er könnte aber immer noch Alarm auslösen. Nehme ich jedenfalls an.«
»Einen Alarm müsste man eigentlich hören?«
Wir lauschten, konnten aber keine Alarmsirene weit und breit hören. Überhaupt wirkte der Ort, an den uns unsere Flucht verschlagen hatte, unheimlich still. Links und rechts des Ganges gab es große Glasfenster zu den anliegenden Räumen. Es waren Labore vollgestopft mit allerlei High-Tech. In einem Raum konnte man einen Spezialroboter bei der Arbeit bewundern. Unermüdlich war er dabei, kleine Probenröhrchen in eine Analysegerät zu stecken.
»Gensequenzer«, erklärte ich Ralf,.»Die machen Massen-DNS-Analysen.«
»Sie mal da drüben!«, Ralf zeigte auf ein anderes Labor. Noch mehr High-Tech. Feinste Silikonschläuche waren mit Vorratsflaschen mit kryptischen Bezeichnungen und Strichcodes verbunden. Wie die Beine einer hundertfüßigen Spinne führten die Schläuche zu einen zentralen Apparatekomplex. Auf einem Display konnte man Mengenangaben, Temperaturen, Reaktionsabläufe und Stati ablesen. Am Ende spuckte der Apparat kleine Ampullen aus.
»Ein Mikroreaktor.«
»Kernenergie?«, fragte Ralf ungläubig.
»Nein, nein. Sowas nicht. Es ist ein Mikrochemierektor. Die Substanzen aus den Flaschen werden unter genau geregelten Drücken, Mengen und Temperaturen zur Reaktion zusammengeführt. Wegen der sehr kleinen Mengen kann man auch mit extrem reaktiven Substanzen gefahrlos arbeiten. Oder aber man braucht nur ultrakleine Mengen von einem Reagenz, dass normale Prozessreaktoren zu groß wären.«
»Wahnsinn!«
»Ja, was die hier machen ist wirklich am obersten Ende der Forschung und Technik angesiedelt. Die meisten Geräte sind nicht älter als ein halbes Jahr.«
»Woher weißt du das alles?«, Ralf schaute staunend von Labor zu Labor.
»Hast du vergessen? Mein Vater hat hier gearbeitet. Ich war schon mal hier. Obwohl das schon eine ganze Weile her ist.«
»Las uns weitergehen, wir müssen hier raus!«, erinnerte uns Ralf daran, dass wir nicht zur Werksbesichtigung hergekommen waren. Eigentlich waren wir es schon, aber zum Zeitpunkt der Planung, war uns noch kein psychopathischer Killer auf den Fersen gewesen.
»Was war das?«, Ralf blickte sich um. Er schaute nach links, rechts und drehte sich sogar um.
Ich hatte es auch gehört. Es, das war ein Geräusch. Ein niederfrequentes »Tssssuummmp« unterlegt von einem Brummen.
»Da!« schrie ich. Ich schaute den Gang vor uns hinunter. Das »Tsssuummmp« ging einher mit einem optischen Effekt. Man könnte es noch am ehesten als Linsenkrümmung bezeichnen. Ich hatte mal einen Bildschirmschoner für meinen PC, der ähnlich aussah. Wände, Decken und Boden des Ganges zogen sich langsam zusammen und gleichzeitig in die Länge. Das war das »Tssssu«. Das »ummmp« war das Geräusch der Gegenbewegung, d.h. dem Zurückspringen von Wänden, Decken und Boden auf Normaldimensionen.
»Tssssummmp!«, es passierte wieder. Es gab einen Rhythmus. Die Kontraktion des Ganges pulsierte und, wie wir zu unserem Entsetzen feststellen mussten, es kam näher.
»Zurück!«, schrie ich Ralf zu, der mir aber längst zuvorgekommen war. Wir stürzten den Gang entlang, den wir gekommen waren. Ich drehte mich um, dass »Tssssssummmp« wurde lauter, intensiver und kam näher.
»Shit!«, war alles was ich sagen konnten, danach ging mir die Luft aus, als ich auf Ralf draufknallte. Bei meinem Blick zurück war mir entgangen, dass Ralf gestoppt hatte.
»Warum gehst du nicht weiter!«, rief ich mit Panik in der Stimme.
»Die Tür ist zu!«, meinte Ralf nüchtern.
»Die war doch eben noch auf!«, meine Stimme fing an zu kieksen.
»Jetzt ist sie zu!«, Ralf blieb trocken wie Knäckebrot.
»Dann nimm die Codekarte!«, muss man ihm denn alles sagen?
»Hab' ich schon. Die geht nicht. Man hat wohl den Code geändert.«, Knäckebrot? Nein, Zwieback beschrieb Ralf besser.
»Scheiße!«, schrie ich und blickte panisch nach vorne und nach hinten.
Vor uns lag eine geschlossene, schwere Sicherheitstür aus Edelstahl mit drahtgitterverstärktem Panzerglasfenster. Diese Tür würde wir auf keinem Fall eintreten können und um sie telekinetisch aus der Verankerung zu reißen, war ich viel zu aufgeregt. Vorausgesetzt meine Fähigkeiten würden dafür überhaupt ausreichen.
Hinter uns kam das »Tsssssummmmp« des Gummiganges (so sah er einfach aus) immer näher.
»Wir sind direkt in das verunglückte Experiment gelaufen, von dem die beiden NextChem Psychos gesprochen hatten, oder?«, ich sah Ralf fragend an. Er nickte nachdenklich, kratzte sich am Kopf und tat plötzlich etwas Überraschendes.
Er meinte, »Komm!«, und ging auf das »Tsssssummmp« zu, »Vertrau mir!«
Zögerlich und an Ralfs Verstand zweifelnd folgte ich ihm. Ralf ging direkt zu der Stelle, an der die visuellen Verformungen des Ganges begannen. Er schloss seine Augen und streckte seine Hand aus. Ganz vorsichtig schob er sie vor.
»Tsssssummmmmmmummmmummmmummmmummmmm...«, das Pulsieren stoppte und ging in ein monotones oszillieren über. Der Gang pumpte nicht mehr, sondern waberte vor unseren Augen.
»Es ist eine Grenzschicht.«, erläuterte Ralf, »Sie mal in das Labor links!«
Ich tat was er sagte. Wir standen mitten im Gang. Linkerhand befand sich ein Panoramafenster in eines der Labore. Das Pulsieren und Wabern setzte sich durch die Glasscheibe hindurch in das Labor fort. Jetzt erkannte ich, was Ralf meinte. Das Wabern markierte eine Grenze. Wenn ich mich nicht täuschte, hatte diese Grenze die Form einer Kugel. Und was lag in ihrem Zentrum?»
»Es ist psionisch! Fühlst du es?«, fragte Ralf und forderte mich damit auf, auch meine Hand auszustrecken.
Ich tat es. Ganz vorsichtig. Halb erwartete ich so etwas wie einen Stromschlag zu bekommen, weswegen ich die Grenze nur vorsichtig antippte. Aber die Grenze war weich, fast wie Wackelpudding.
»Fällt dir was auf?«, fragte Ralf.
»Es pulsiert nicht mehr und es dehnt sich auch nicht mehr aus.«, meinte ich.
»Stimmt. Und da ist noch etwas. Es ist eigenartig, aber ich habe das Gefühl diese Schwingung zu kennen.«
Ich wollte Ralf gerade fragen, was er mit dieser Bemerkung meinte, als ich hinter uns das Geräusch von Füßen hörte: »Da vorne sind sie. Wir müssen sie aufhalten. Bleibt stehen oder ich schieße!«
Es war Kryczecks Stimme. Er klang nicht, als wenn er leere Versprechungen machen würde. Seine Stimme klang sowieso überaus humorlos. Ich warf Ralf einen flüchtigen Blick zu. Er nickte. Er hatte den gleichen Gedanken wie ich. Wir sprangen in das Gewabere.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, sich selbst wabern zu spüren. So muss sich also eine Götterspeise fühlen, wenn sie auf einem Teller geschüttelt wird. Meine Arme und Beinen schienen aus Gummi zu sein, jedenfalls sahen sie so aus. Wir glitten durch die Grenzschicht. Um uns gluckerte und gluckste das Wabern wie Wasser oder ... irgendetwas undefinierbar anderem Flüssigen, Viskosen. Man spürte einen Widerstand. Dieses Wabern war auf jeden Fall eine Barriere, die erst überwunden werden wollte. Es dauerte ein paar Sekunden, doch schließlich waren wir durch. Das Wabern war offenbar nur knapp einen Meter dick, denn hinter ihr war die Welt völlig normal.
»Uff!«, hörte ich Ralf neben mir.
»Das war krass!«, pflichtete ich bei, um im gleichen Moment meine Augen panikartig aufzureißen. Kryczeck hatte seine Waffe gezogen und abgedrückt. Im Gegensatz zu Wagners Pistole war sein Sicherungshebel nicht blockiert. Bevor ich bewusst reagieren konnte, machte es Plöp. Mein alt bekanntes und inzwischen liebgewonnenes Plöp, bei dem sich die Zeit um mich verlangsamte. Offensichtlich funktionierte mein übersinnlicher Selbstschutzmechanismus inzwischen wirklich vollkommen automatisch.
Allerdings lag die Betonung auf »mein«.
Ralf! Ich sah, wie die Kugel aus der Mündung austrat. Matrixlike zog sie hinter sich Schlieren der erhitzten und verdrängten Luft her. Da sich die Zeit um mich herum um mehr als das Hundertfache verlangsamt hatte, versuchte ich die Flugbahn zu extrapolieren.
Sie würde Ralf treffen. Unvermeidlich. Direkt in die Brust. Direkt ins Herz.
Ich schleuderte herum und warf mich in die Flugbahn. Ich dachte überhaupt nicht nach. Ich tat es einfach. Reflexartig. Zu komplizierten Überlegungen war ich überhaupt nicht in der Lage. Die Kugel fest im Blick wartete ich auf ihren Einschlag.
Die Kugel drang in die wabernde Grenzschicht ein.
Kryczeck folgte ihr mit seinem Blick nach. Er hatte noch gar nicht realisiert, dass ich mich überschnell bewegt hatte. Ich sah nur seinen entschlossenen Gesichtsausdruck. Ein Mord mehr oder weniger war für ihn absolut kein Problem.
Die Kugel hatte die Mitte der Verzerrung erreicht. Die optischen Verzerrungen der wabernden Grenzschicht nahmen zu.
Wagner. Ich hatte genug Zeit auch ihn zu studieren. Er kam offensichtlich hinter Kryczeck hinterhergestürzt. Man konnte seine Panik, seine Angst fast riechen. Offensichtlich begann der Versuchsleiter für Sonderprojekte langsam zu begreifen, dass man einen Preis bezahlen muss, wenn man Sonderprojekte, Versuche, Forschungen jenseits jeglicher moralischer oder ethischer Grenzen betreiben will. Dr. Faust hatte seine Seele an den Teufel verkauft. Und was hatte Wagner verkauft? Ahnte er, dass es möglicherweise mehr, viel mehr war, als nur seine Seele?
Die Kugel - in wenigen Momenten würde sie ihren Weg in meinen Körper finden. Ich drehte meinen Kopf zur Seite. Ich wusste nicht, ob Ralf meine Sprache verstehen konnte, schließlich befand ich mich in einem völlig anderen Zeitrahmen. Trotzdem, wer weiß, vielleicht würde er mich auf telephatischem Wege verstehen.
»Ralf ich liebe dich! Ewig!«
Abwärts
Worin man Fahrstuhl fährt. Ob die anschließenden weichen Knie damit zu tun haben, bleibt allerdings fraglich.
Die Kugel ...
Sie hörte auf zu existieren. Ich hatte gerade meinen Kopf und damit meinen Blick wieder dem tödlichen Projektil zugewandt, als ich sah, dass es sich nicht mehr bewegte. Die Kugel steckte im Gewaber fest. Was hieß überhaupt Gewaber?
Ich kehrte mit einem Plopp in den normalen Zeitablauf zurück und konnte, wie alle anderen auch sehen, dass etwas geschah. Auf unserer Seite der Grenzschicht wurde diese Veränderung ausgesprochen erleichtert aufgenommen, auf der anderen Seite waren die Reaktionen eher ambivalent. Wagner schien aufzuatmen. Kryczeck hingegen wurde rasend.
Doch so sehr es auch in ihm wallte und kochte, es nützte ihm nichts. Denn die Barriere veränderte sich. Aus dem viskosen, blubbernden und glucksenden Gewabere war ein knirschendes, krachendes Geknister geworden. Die Schicht war nicht mehr weich, sie war hart und kristallin. Ihre optischen Eigenschaften hatten sich ebenfalls geändert. Von den soften Verbiegungen und Verformungen hatte sich das durchscheinende Bild zu einer facettenreichen, zerrissenen und fragmentierten Struktur verändert. Es war, als wenn man durch einen Kristall oder einen Diamant blickte.
Und dann die Kugel. Das Projektil der Schusswaffe steckte in der Grenzschicht fest. Ich sah genau hin. Es steckte nicht nur fest, es wurde in der Schicht zermalmt. Der Stahl der Patrone wurde wie ein trockenes, altbackenes Brötchen zerrieben. So wie es Muttern immer tat, wenn sie Frikadellen machte.
Kaum war die Kugel zu Metallstaub zerbröselt, änderte sich die Grenzschicht erneut. Sie blubberte und waberte wieder.
Kryzcheck schrie. Ein Kampfschrei. Rasend vor Wut rannte er auf die Barriere zu. Die Barriere tat das, wofür sie geschaffen wurde. Sie hielt ihn auf. Der Interimschef der NextChem AG wurde wie von einer Gummiwand zurückgeworfen.
»Hm, offensichtlich darf nicht jeder passieren.«, kommentierte Ralf die Situation
»Ich krieg euch noch!«, fauchte Kryczeck, der sich von seinem Aufprall schnell berappelt hatte und hob drohend eine Faust.
»Abwarten!«, pokerte ich.
»Komm!«, meinte Ralf in meine Richtung. »Ich glaube, wir werden erwartet.«
Wir drehten unseren Verfolgern den Rücken zu. Sie würde uns nicht folgen können. Davon war ich überzeugt. Keine der Techniken, die Wagner zur Verfügung stand, dürfte in der Lage sein, diese Grenzschicht zu überwinden.
»Wo lang?«, fragte ich Ralf.
Ralf stoppte und schien zu lauschen. Er drehte seinen Kopf und schloss die Augen. Ein paar Momente verharrte er in diese Position, öffnete dann aber seine Augen und deutete den Gang entlang: »Geradeaus und dann rechts.«
Wir waren gerade dabei loszugehen, als wir hinter uns Wagners Stimme rufen hörten: »Wartet! Um Himmels willen, ihr wisst doch gar nicht, was euch erwartet!«
Ich drehte mich um: »Doch! Ich denke schon. Eines ihrer Experimente!«
Ich wusste gar nicht, wie eisig meine Stimme sein konnte. Mein Mitleid mit diesem Dr. Frankenstein war zwischenzeitlich vollständig erlöschen. Wagner hatte Angst? Gut! Nach meinem Geschmack hatte er aber noch viel zu wenig Angst.
»Ach, Herr Wagner.«, fing ich im harmlosen Plauderton an. »Ich weiß ja nicht, ob sie es schon bemerkt haben. Kennen Sie schon die Pläne, die ihr ehrenwerter Interimschef mit ihnen hat?«
Wagner starrte wie ein Kaninchen im Kegel eines Scheinwerfers starr Kryczeck an: »Nein, was?«
»Sag' du es ihm. Du bist der Telepath von uns beiden!«, grinste ich Ralf an. Mir war es egal, dass wir mit dieser Bemerkung unser kleines Geheimnis lüfteten, wenn es denn überhaupt noch eins war. Ich war mir da schon länger nicht mehr sicher.
»Er will sie töten!«, meinte Ralf gleichgültig. »Er hält sie für ein Sicherheitsrisiko. Bisher hat er sie noch gebraucht. Aber jetzt, mit den wieder aufgetauchten Versuchsprotokollen, sind sie fast überflüssig. Sie leben nur noch solange, bis sie ihr Experiment wieder unter Kontrolle haben.«
Wagner stierte Kryczeck an. Sein Blick schrien: »Ist das wahr?«
Kryczeck antworte sofort auf die nonverbal geäußert Frage: »Alles Lüge! Dieser Freak will doch nur seinen Arsch retten. Er will einen Keil zwischen uns treiben. Telepath? Da lachen ja die Hühner!«
»Ich habe Sie gewarnt ...«, meinte Ralf und drehte sich um. Ich tat es ihm gleich. Wir gingen, verließen unsere Verfolger.
Hinter uns fiel ein Schuss. Ich hörte, wie ein Körper zu Boden fiel. Keiner von uns drehte sich um.
***
Ralf führte uns endlose Gänge entlang. Wenn man davon ausging, dass sich die Grenzschicht kugelförmig um ihren Ursprung ausdehnte, musste sie gigantisch groß sein. Der zurückgelegten Wegstrecke nach zu urteilen, musste der Durchmesser weit mehr als 100 Meter betragen. Immer weiter drangen wir vor.
»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, wir waren in einem Flur angelangt, der vollkommen verlassen schien. Die Labore beiderseits waren leer und wirkten unbenutzt.
»Ja, absolut.«, versicherte Ralf.
Ich folgte ihm weiter. Wir betraten einen leeren Saal. Er sah aus, als hätte man ihn seid Jahren nicht mehr benutzt. Tischen waren an einer Ecke zusammengeschoben worden. Davor hatte man Stühle zu kleinen Türmen gestapelt. Wie ein verlassener Konferenzraum sah der Saal aus. Doch Ralf ließ sich nicht beirren. Am gegenüberliegenden Ende des Saals gab es eine Faltschiebetür. Sie war nicht ganz geschlossen. Ich kannte solche Türen. In der Aula unserer Schule gab es auch eine. Sie verbarg die Saaltechnik, wie Lichtdimmer, Lautsprecheranlage etc. Unser Hausmeister hütete den Schlüssel wie seinen Augapfel. Von daher konnte ich mir nicht vorstellen, was Ralf von dieser Tür wollte. Bis er sie aufschob.
Erst bekamen wir wirklich nur eine Nische zu sehen, in der sich ein Schaltschrank mit den Kontrollen für einen Videoprojektor, ein Lichtmischpult, Verstärker, DVD-Player usw. befand. Doch Ralf zog die Falttür weiter auf. Und dann sah ich sie: eine Tür hinter der Tür. Recht unscheinbar. Neben der Tür befand sich ein Knopf. Die Tür glitt auf und zeigte einen kleinen Raum hinter der Tür. Eine Fahrstuhlkabine.
»Wow! Nicht schlecht!«, staunte ich.
»Die Barriere scheint Energie hindurch zu lassen. Das Licht ist an. Der Fahrstuhl funktioniert.«
»Oder es gibt einen Generator innerhalb der Grenze.«
»Oder das, ja!«
Wir betraten die Fahrstuhlkabine. Ein Blick auf die Stockwerksanzeige lieferte Level 2ls Antwort zurück.
»Wohin jetzt?«, fragte ich Ralf.
»Hier hin!«, antwortete er und drückte auf den unteren der beiden vorhandenen Knöpfe. Der Knopf war mit »SL 17« beschriftet. Sublevel 17 oder anderes ausgedrückt, 17 Stockwerke unter der Erdoberfläche. Ich war mehr oder weniger sprachlos. Von außen sah das NextChem Gelände wie jedes andere Industriegelände aus. Ein typischer langweiliger Gewerbebau, wie man sie aus den Industrieparks der Vorstädte und den Erschließungsgebieten auf der grünen Wiese kannte. Selten, dass so ein Gebäude ein Untergeschoss besaß. Aber an der NextChem war wohl mehr dran, als man von außen sah. Selbst für mich, dessen Vater hier gearbeitet und den ich früher öfters bei seiner Arbeit besucht hatte, war die Existenz von Untergeschossen völlig neu. Man hatte sich auch alle Mühe gegeben, ihr Vorhandensein zu verbergen. Und mein Vater hatte niemals davon gesprochen.
Der Fahrstuhl sauste abwärts in die Tiefe. SL 17 schien weit unter der Oberfläche zu liegen. Die Fahrt dauerte lange, obwohl die Fahrtgeschwindigkeit sich nach der Startbeschleunigung recht hoch anfühlte. Gleiches galt für die Bremsverzögerung. Mit einem leichten Ruck kam die Kabine zum Halt und ihre Tür öffnete sich.
Unserem Blick erschloss sich ein kleiner Raum, kaum größer als die Fahrstuhlkabine. Wir traten aus dem Lift, dessen Tür sich hinter uns automatisch schloss, und sahen uns um. Der Raum schien kubisch zu sein, schätzungsweise 2 mal 2 mal 2 Meter in seiner Ausdehnung. Alle sechs Seiten dieses Raumwürfels sahen gleich aus. Schneeweiße Flächen, die aus sich heraus leuchteten und den Raum dadurch in ein schattenloses diffuses weißes Licht tauchten. Selbst die Wand, an der sich die Lifttür befand, war nahtlos weiß. Es gab keine, nicht die geringste Struktur.
»Achtung!«, schallte eine Frauenstimme durch den Raum. »Bioscan beginnt in 5 Sekunden. 5 ...
[2]4 ...
[2]3 ...
[2]2 ...
[2]1 ...
[2]Start!«
Ich hatte kaum Zeit den Inhalt der Ansage zu verstehen, als auch schon der erwähnte Bioscan begann. Hinter den Wänden gab es mehrere »Bump« Geräusche, nicht unähnlich dem Pling einer startenden Leuchtstoffröhre die 100 mal größer als eine normale Röhre wäre. Dem »Bump« folgte ein elektrisch klingendes »Bssssrrrr« Geräusch. Bläulich-silbern glitzernde Lichtfächer überstrichen Ralf und mich von oben nach unten, links und rechts, sowie von vorn nach hinten. Ein bisschen unheimlich war es schon. Die Lichtfächer schienen jeweils eine Millimeter dicke Schicht unserer Körper zu scannen. Dort, wo sie auf unsere Körper trafen, schien die Haut aber auch unsere Kleidung leicht transparent zu werden. Man konnte meinen, in unsere Körper hineinsehen zu können. Adern, Nerven, Knochen und Muskeln wurden kurz sichtbar.
»Scan abgeschlossen. Keine Kontaminierung feststellbar«, meinte die Frauenstimme während gleichzeitig Teile der Wände statt diffusen weißen Licht leicht grünliches Licht ausstrahlten. Wo vorher eine strahlend weiß leuchtende Wand war, bildete sich ein dunkler Spalt, der schnell breiter wurde. Es brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass es sich um einen Gang handelte. Die Helligkeitsunterschiede waren recht extrem, denn der Gang war nur spärlich erleuchtet.
»Wollen wir?«, fragte ich Ralf.
»Über die Möglichkeit des Wollens sind wir wohl inzwischen weit hinaus gegangen, oder?«, antwortete Ralf und ging los. Er wirkte angespannt, müde und erschöpft.
»Ralf, geht es dir gut?«
»Ja, es geht schon ...«, meinte Ralf. Allerdings sprach sein Körper eine ganz andere Sprache. Ralf merkte, dass ich ihn musterte: »Ok, du hast Recht. Ich spüre einen unheimlichen Druck in meinem Kopf. Es schmerzt und schwächt mich. Je näher wir der Quelle kommen, desto stärker wird dieser Druck. Ich habe das Gefühl, mein Hirn wird zerquetscht.«
»Das ist merkwürdig, aber ich spüre nichts. Gar nichts!«, abgesehen von der wabernden Grenzschicht erschien mir die Umgebung völlig normal, »Warte ...«
Mit diesem Wort wollte ich Ralf stützen und an die Hand nehmen. Ich griff nach seiner Schulter.
Eine alltägliche Berührung zeigte eine nicht alltägliche Reaktion.
»Ummpf!«, stöhne Ralf auf und strauchelte. Ich sah in seine Augen und fuhr selbst vor Schreck zusammen. Wo ich sonst Ralfs überirdisches Funkeln bewundern konnte, gab es nur noch zwei schwarze glänzende Kugeln. Keine Iris, das Weiß des Augapfels war verschwunden und hatte nur zwei schwarze unendlich tiefe glänzende Löcher hinterlassen.
»Ralf!«, schrie ich, doch bekam keine Antwort. Stattdessen sackte Ralf nur in meinen Armen zusammen.
»Ralf!«, schrie ich erneut, panisch vor Angst.
»Ummpf!«, gurgelte Ralf und blinzelte. Das tiefe Schwarz seiner Augen begann zu flackerte und dann langsam zu verblassen. Langsam kehrten seine normalen Augen zurück und mit ihnen auch sein Funkeln. Schwach silbern und noch etwas grau. Trotzdem, ich atmete erleichtert auf.
»Was hast du getan?«, fragte Ralf erschöpft, aber genauso verwundert.
»Nichts!«, antwortete ich. Ich war mir keiner Schuld bewusst.
»Der Druck! Er ist weg. Er verschwand schlagartig. Das hat mich umgehauen. Stell dir vor, du stemmst dich mit aller Kraft gegen einen Orkan und plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, ist es windstill.«
»Du knallst auf die Fresse?«, bot ich als Antwort an. Ralf grinste gequält.
Ich half ihm auf. Er zog sich an meinem Arm hoch und schüttelte seinen Kopf: »Merkwürdig, aber jetzt spüre ich nichts mehr. Keinen Druck, einfach nichts. Aber er war da!«
Ich wollte Ralf gerade loslassen, als er meine Handgelenk packte: »Nein, warte! Das ist es! Ich glaube, du blockst es ab!«
»Ich wüsste nicht wie.« Ich wusste es wirklich nicht. Aber das besagte nichts. Ich musste an meine »Plöpp«-Erlebnisse denke, die ebenfalls ohne mein Zutun passierten.
»Du machst es unbewusst.«, bestätigte Ralf meine Überlegungen. »Das muss es sein! Du hast ohne es zu wissen einen Schutzschild um dich aufgebaut.«
Ralf dachte nach, hatte dabei aber mein Handgelenk fest in seinem Griff: »Probieren wir es aus!«
Er klang entschlossen. Ralf lockerte vorsichtig seinen Griff. Finger für Finger ließ er meinen Unterarm los, bis schließlich nur noch seine Handinnenfläche mich berührte.
»Bereit?«
Ich nickte. Ich wusste was er meinte. Ralf ließ unseren Körperkontakt abreißen. Im gleichen Moment stöhnte er auf. Sein Körper zuckte und er schleuderte herum. Es sah aus, als wenn ihn unsichtbaren Fäusten schlagen wurde. Ralf wirbelte wild umher. Ich griff zu. Im gleichen Moment wurde Ralf ruhig.
»Empirische Untersuchungen sind doch immer noch die effektivsten. Jetzt wissen wir bescheid«, kommentiere er sein kleines Experiment wobei er ein ausgesprochen schmerzverzerrten Gesichtsausdruck besaß.
»Junge, du hast einen bösen Sinn für Humor!«, kommentierte ich seinen Kommentar und erntete dafür ein gequältes aber auch dankbares Lächeln.
»Na, dann werden wir eben händchenhaltend weitergehen«, analysierte ich messerscharf.
»Ich könnte mir ein schlimmeres Schicksal vorstellen.«
Nemesis
Worin man der Quelle merkwürdiger Ereignisse gegenüber tritt.
Der Gang, der sich an den weißen Raum mit dem Bioscanner anschloss, war überhaupt kein Gang. In Wirklichkeit entsprach er eher einer geräumigen Halle, von der etliche Gänge abgingen. Entlang der Wände führten leuchtende Farbstreifen zu verschiedenen Abteilungen dieser unterirdischen Anlage. Wir kamen uns vor, als hätte man uns in die dunkle postapokalyptische Welt eines Sci-Fi First Person Shooters versetzt. Es fehlten nur noch die blinkenden, über den Boden schwebenden Healthpacks, die Waffen und Munitionshaufen. Jedenfalls herrschte hier eine ganz andere Stimmung als 17 Stockwerke über uns.
Und durch diese bedrohlich dunkle Szenerie stolperten wir zwei Schwestern Hand in Hand hindurch. Absurder konnte eine Situation nicht sein.
Blinkende Kontrollmonitore, diverse Sorten Warn- und Statuslampen, Tafeln mit Sicherheitsanweisungen, Absperrmarkierungen, Sicherheitskameras, knurrende vergitterte Leuchtstoffdeckenlampen, Betonwände und ein glatt lackierter Betonboden schufen eine Kulisse, die nicht nur bedrohlich und drückend wirkte, sondern dies offensichtlich auch war.
Durch die abblockende Wirkung meiner Berührung war Ralf leider auch seiner Fähigkeit beraubt, eine genaue Richtung angeben zu können. Uns blieb somit nichts anderes übrig, als uns auf unsere normalen Sinne und, soweit vorhanden, unseren Verstand zu verlassen -- eine nicht gerade vielversprechende Aussicht.
Als Erstes benötigten wir einen Ausgangspunkt für unsere Suche. Mit seiner freien Hand deutete Ralf auf eine große leuchtende Tafel und meinte: »Sieh mal, das müsste ein Lage- oder Übersichtsplan sein. Alle Leitlinien gehen von diesem Display aus.«
Wir trabten zur Tafel, einem hinterleuchteten Glasdisplay, auf dem die Ziele der unterschiedlichen Farblinien erläutert waren.
»Hochenergie ISO-Lab, Strahlungsinjektionslabor, Dekontamination, Lager I, Lager II, Lager X, Elektrostasis, Nanolab, Genegeneering I und II ...«, las ich die einzelnen Ziele vor. »Hui, die Leute von NextChem halten sich nicht mit Kleinigkeiten auf. Was ist das hier? Half-Life II ? Was meinst du? Wo sollen wir als Erstes hin?«
Ralf schloss seine Augen, um sich zu konzentrierten. Schließlich meinte er: »Das ISO-Lab! Bevor der Kontakt abriss, sah ich Bilder. Bilder, die von fremden Augen stammten. Ich meine eine Leuchttafel mit der Aufschrift ISO-Lab gesehen zu haben.«
Hochenergie ISO-Lab, das war die blaue Leitlinie. Wir folgten der dezent schimmernden Kunststoffader von der Übersichtstafel durch verschiedene Gänge und Räume. Wir kletterten Metalltreppen hinab und wieder hinauf. Die Anlage war gigantisch. SL 17 war nicht das Ende, sondern offensichtlich nur der Anfang. Mit jedem Schritt vorwärts wuchsen die Dimensionen der technischen Einrichtungen. Wir durchquerten einen riesigen Raum mit Hunderten summenden Aggregaten. Gelbschwarze Linien grenzten einen offenbar sicheren Weg vom Rest des Raumes ab. Warnschilder mit überdeutlichen Hinweisen auf mögliche fatale Konsequenzen beim Verlassen des Sicherheitsbereichs, zügelten unser Verlangen, die summenden Maschinen genauer zu betrachten.
Dem Raum folgten weitere Gänge, doch die blaue Linie schien kein Ende zu kennen.
»Wie haben die diese Anlage nur gebaut?«, fragte ich mehr mich als Ralf. Über das gigantische Ausmaß der Anlage konnte man nur wundern und staunen. »Wie können die sowas nur gebaut haben, ohne das man davon etwas bemerkt hat?«
»Ich glaube nicht, dass die Anlage von NextChem gebaut wurde.«, Ralf zog uns zu einer der Betonwände hin, um sie aus der Nähe zu betrachten. »Der Beton sieht alt aus.«
Ich sah näher hin. Ralf hatte absolut recht. Der Beton sah wirklich alt aus. Im Gegensatz zu den technischen Einrichtungen, die moderner als modern waren, schienen die Wände verwittert. Hier und da konnte man sogar Silikat- und Salpeterausblühungen erkennen. Ich stutzte: »Moment! Siehst du die Schrift dort an der Wand? Sie sieht merkwürdig schnörkelig und verblasst aus.«
Ralf folgte der Richtung, in die mein Zeigerfinger deutete. Seine Stirn kräuselte sich, als er begann, die halb verwitterten Buchstaben zu entziffern: »Du hast recht. Die Schrift ist schnörkelig. So hat man vor über 50 Jahren geschrieben. Schade, dass die Buchstaben teilweise verdeckt sind. Sie scheinen von einer früheren Nutzung zu stammen. Luftschleusen I+II. Mein Gott, dies ist eine Anlage aus dem 2. Weltkrieg!«
Ralfs Bemerkung lies etwas in meinem Schädel Klick machen: »Shit, wie konnte ich das vergessen. Natürlich! Bei meiner Suche nach Informationen über NextChem habe ich auch etwas über diesen Standort erfahren. Gerüchteweise soll es im 2. Weltkrieg hier in der Nähe ein ultrageheimes Forschungslabor der Nazis gegeben haben. Offiziell gibt es darüber natürlich keine Informationen. Aber interessant ist, dass die NextChem das Gelände nicht vom Kreis bzw. von der Gemeinde erworben hat. Dies Gelände gehörte dem Bund, vor 1990 war es militärisches Sperrgebiet der Alliierten, wohlgemerkt aller vier Alliierten. Selbst die UdSSR, war mit von der Partie. NextChem muss sich direkt über der Anlage angesiedelt haben.«
»Schlau eingefädelt.«
Wir setzten unsere Wanderung fort. Immer der blauen Leitlinie folgend, betraten wir einen dunklen, kaum erleuchteten Gang. Allerdings blieb dieser Gang nicht permanent dunkel. In unregelmäßigen Abständen wurde er von gleißend blauweißem Licht elektrischer Entladungen erhellt. Wenn man genau hinhörte, konnte man das dumpfe Knallen von Funkenüberschlägen hören. Quelle der Lichterscheinung waren längliche Fenster, die den Gang über seine ganze Länge säumten. Eigentlich handelte es sich nur um schmale Schlitze, die mit dickem Bleiglas versiegelt waren. Hinter diesen Panzerscheiben konnte man einen turmhohen Raum mit gigantischen Apparaturen erkennen. Riesige Teslaspulen waren mit faradayschen Bechern verbunden und wurden von Bandgeneratoren mit Ladung versorgt, während Funkenstrecken ihr wirres Licht und mächtiges Geknatter versprühten.
»Die Anlage ist immer noch in Betrieb. Komisch, dass uns bisher noch niemand begegnet ist.«
»Deine Verwunderung darüber kann ich lindern. Schau mal die Anzeige auf diesem Infoterminal an: ,Evakuierungsalarm I -- Sofortige Totalevakuierung!` Die haben den Laden Hals über Kopf verlassen.«
Sofort musste ich an die Geschichte der verletzten Wissenschaftler denken. Ein Schauer überkam mich und mir fröstelte. Schweigend setzten wir unseren Weg fort, als er plötzlich jäh endete. Wir standen vor einer gut 3 Meter hohen und ebenso breiten Schleusentür. Über ihr war eine beleuchtete Tafel mit der Aufschrift »Hochenergie ISO-Lab« angebracht.
»Das ist mal ein Türchen!«, Ralf grinste. Dieses »Türchen« war ein echtes Monster von Tür -- Es war ein mächtiges Tor. Acht armdicke hydraulische Schließbolzen verankerten sie im umgebenden Stahlrahmen und dem schweren armierten Beton der Wand. Warnleuchten, diverse Sicherheitstafeln, Displays und Warnhinweise pflasterten die Umgebung. Ein schwarz-gelb lackiertes Feld auf dem Boden markierte den Schwenk- und Gefahrenbereich des Tors.
»Und nu?«, brachte ich meine Ratlosigkeit zum Ausdruck.
»Machen wir das Türchen auf.«
»Wie bei einem Adventskalender?«
»Genau so.«
»Ich vermute, wir werden keine Schokolade finden, oder?«
»Eher nicht.«
»Dachte ich mir.« Ich kratzte mich mit meiner freien Hand am Kopf. »Und wie machen wir sie auf?«
Ralf nutzte seine freie Hand, um auf ein Kartenterminal zu zeigen: »Vielleicht funktioniert Wagners Karte?«
Noch während Ralf diesen Vorschlag unterbreitete gingen wir auf das Kartenterminal zu. Ralf hielt Wagners Karte in seiner Hand und wollte sie gerade durch den Leseschlitz ziehen.
»Halt! Warte! Da, auf der Anzeigetafel!«, stoppte ich Ralf. Neben dem Kartenterminal war ein weiteres Terminal angebracht. Auf seinem Farb-TFT-Bildschirm blinkte in riesigen knallroten Buchstaben »Evakuierungsalarm« auf. Doch es war nicht diese Anzeige, die mich Ralf stoppen ließ. In einem eher unscheinbaren Anzeigenfenster wurden offensichtlich weitere Statusmeldungen angezeigt, die für den Alarm verantwortlich waren: »Primäre Kontamination: Hochenergie ISO-Lab: Stufe III -- Überschreitung Epsilonpartikel: 700% des Grenzwerts. Sekundäre Kontamination: Gesamtkomplex: 130% des Grenzwertes. Warnung: Durchbruch der Perimeterversiegelung: Start Eindämmungsprotokoll in 23 Stunden und 17 Minuten. Abbruch des Protokolls bis 1:00 vor Ende möglich.«
»Shit, was heißt das den jetzt wieder?«, stöhnte Ralf frustriert auf.
»Ich weiß es auch nicht«, gestand ich meine Ahnungslosigkeit. »Aber dieses Wort ,Eindämmungsprotokoll`gefällt mir überhaupt nicht. Vielleicht habe ich auch einfach zu viele schlechte Science-Fiction Filme gesehen.«
»Können wir da rein oder nicht?«, brachte Ralf die Unterhaltung wieder auf den Punkt.
»Ich weiß nicht. Vielleicht kann man die Umweltdaten des Labors abrufen.« Das Terminal hatte eine Tastatur mit eingebauten Trackball. Ein Mauszeiger auf dem Bildschirm schien ebenfalls darauf hinzuweisen, dass man mit dem Terminal mehr machen konnte, als nur Daten abzulesen. »Ich brauch aber meine beiden Hände dazu. Kannst du dich irgendwo anders bei mir festhalten?«
»Klar!«, entgegnete Ralf und begann sich langsam an mir lang zu hangeln.
»Hey, vielleicht solltest du dich nicht unbedingt da festhalten. Ich hätte zwar meine Hände frei, aber leider muss mich auch noch konzentrieren können!«
Ralf grinste diabolisch, hangelte sich dann aber doch zu einer weniger konzentrationshemmenden Körperregion vor. Genaugenommen hatte er einfach seine rechte Hand unter mein T-Shirt auf meinen Rücken gelegt.
»Ok, ich schau mal nach, was man hier abrufen kann.«
Ich griff nach der Kugel des Trackballs und startete meine ersten Versuche mit der Oberfläche klarzukommen. Wir hatten Glück. Die Anwendung war sehr klar strukturiert und einfach. Von einer zentralen Statusseite aus konnte man sich in jeden beliebigen Teil der Anlage einwählen. Unter anderem auch dem Hochenergie ISO-Labor.
»Hier ist es: Umweltparameter HiEng. ISO-Lab: Temperatur 21 Grade Celsius, Luftfeuchte 37%, Alpha-, Beta- und Gamma-Strahlung innerhalb der Nullrate, Biostatus normal. Soweit scheint alles Ok zu sein. Hier kommen noch eine Reihe anderer Werte, wie bestimmte Gase und solch Zeugs. Bis auf Ozon und ein paar Edelgase alles unterhalb der Grenzwerte. Das Einzige, was mir sorgen bereitet, sind diese Epsilonpartikel ... Star Trek lässt grüßen.«
»Das böse Teilchen der Woche?«
»So in der Art. Hier steht: ,Epsilon-Perimeterversiegelung gebrochen. Kontaminationsradius (10% Grenze) 921m, steigend, Anstiegsrate 0,75m/h fallend.` Also, was immer das auch für Teilchen sein mögen, uns haben sie auf jeden Fall schon geröstet. Ob bei 921 Metern wohl diese wabernde Grenzschicht liegt?«
»Worauf du einen lassen kannst.«, Ralf drehte mich zu sich um und sah mir ernst in die Augen. »Ich weiß nicht, was uns hinter dieser Tür erwartet. Aber ich bin sicher, dass wir einen Teil unserer Antworten dort finden werden. «
»Ich vermute verschärft, dass du damit recht hast. Immerhin sind wir bis hierher gekommen. Jetzt aufhören, wäre reichlich dämlich.«
Ralf nickte, nahm die Kodekarte und zog sie durch das Kartenterminal. Das Terminal antwortete mit dem schon bekannten Quittungssignal, worauf Ralf Wagners Zugangskode eingab. Das Terminal quiekte erneut auf, dann passierte zwei Sekunden lang gar nichts.
So schwer die Tür war, so schwer klangen die Verschlussbolzen, als sie sich aus ihren Ankerlöchern zurückzogen. Mit einem satten »Klong«-Ton beendete jeder der acht Bolzen nacheinander seine Entriegelungsfahrt. Es folgten erneut zwei Sekunden Pause, dann schmetterte eine Hupe los, um zusammen mit einem gelben Blinklicht die bevorstehende Öffnung des Schleusentores anzukündigen. Langsam und majestätisch setzte sich der Stahlstöpsel, anders konnte man diese Tür nicht bezeichnen, in Bewegung und gab eine Öffnung in das Hochenergie ISO-Labor frei.
Die Tür stoppte, die Hupe verstummte und das Blicklicht hörte auf zu blinken. Der Weg war frei.
***
Wir betraten eine Halle. Oder war es eine Kathedrale? Eine Kathedrale geweiht der Technik und Wissenschaft? Die Einrichtung, durch und durch Hochenergietechnologie, hatte wirklich etwas Sakrales. Massige Porzellanisolatoren führten daumendicke Hochspannungsleitungen über unsere Köpfe hinweg. Faradaysche Käfige aus Drahtgitter schirmten unseren Weg vor der tödlichen Energie ab, leiteten uns aber, ähnlich einem Löwenkäfig im Zirkus, direkt zum Zentrum der Halle. Und dann der Lärm: Ständige Entladungen knallten durch die Halle, es summte, es zirpte, es prasselte an allen Orten. Überlagert wurde dieses Stakkato perkussiver Töne von einem durchdringenden hochfrequenten »Wuijiuijuijuiju« irgendeines Aggregates.
Am Eingang befand sich ein etwas größerer Bereich mit allerlei Kontroll- und Steuertafeln, die offensichtlich noch voll in Betrieb waren. Wir warfen einen flüchtigen Blick auf die Anzeigen und Schaltelemente: Megavolt, Projektionsstatus, Hauptfeldemitterstrom, Unterbrecher I und II, Polarisationsmatrix, Not-Stop, primärer und sekundärer Feldfolgeemitter, Generatorkreis A und B etc. Es fehlte eigentlich nur noch der Warpkern.
Für mich waren dies böhmische Wälder. Wir ließen die Tafeln hinter uns und folgten den aus Abschirmgittern geformten Gang Richtung Zentrum. Je weiter wir dem Drahtgittergang folgten, desto mehr verstärkte sich der Eindruck wirklich in eine Szene von Unreal II oder Half Life versetzt worden zu sein. Blau-weiße Lichtstrahlen strahlten auf und beleuchteten mit ihrem Flackern die monströsen Apparaturen. Gespenstisch wirkende Schlagschatten zeichneten sich an den Wänden ab. Ralf packte meine Hand noch etwas fester, als er es eh schon tat.
»Da vorne ...«
Ralf deutete in Richtung Mitte des Raums, auf einen Punkt, der von einer Reihe metallischer Blenden oder Tafeln abgeschirmt war. Zwischen den Tafeln waren breite Spalte, an denen auch die blau-weißen Lichtstrahlen ihren Ursprung nahmen. Das Licht flackerte und waberte, elektrische Entladungen zirpten und spratzten ununterbrochen. Es roch wie nach einem Gewitter. Das Ozon schien den Stickstoff der Luft, zu Stickoxiden verbrannt zu haben.
»Sollen wir?«, fragte ich.
Ralf nickte entschlossen, doch sah er mindestens so ängstlich aus wie ich. Er drückte nochmals meine Hand und wir gingen langsam in Richtung Zentrum.
»Kannst du schon etwas erkennen?«
»Nein, das Licht blendet sehr stark.«
Der Gitterkäfigweg führte direkt auf den mit den Blenden abgeschirmten Bereich zu und schien zwischen zweien der Tafeln hindurchzuführen. Als wir näher kamen, konnte man erkennen, dass die Blenden einen Bereich kugelförmig umgaben. Sie waren entweder an Stativen oder mit Stangen von der Decke befestigt worden. Vermutlich waren es auch nicht einfach Bleche, sonder elektronische Apparaturen, da alle Tafeln mit unterarmdicken Kabeln verbunden waren.
Im Inneren dieser Kugel ging etwas vor, das war sicher, doch konnte wir nichts erkennen. Die Blendwirkung des ausströmenden Lichtes war einfach zu hoch.
Kurz vor dem hineinführenden Spalt hielten wir kurz, sahen uns an, sammelten aneinander allen Mut, nickten uns zu und traten schließlich ein.
Was für ein Anblick! Faszinierend, bedrohlich, wunderbar, angsteinflößend, beeindruckend, fürchterlich, erhaben und abgrundtief schrecklich -- Es gibt nicht genug Worte, um beschreiben zu können, was wir sahen und fühlten. Es war alles das und trotzdem vollkommen anders.
Nachdem sich unsere Augen an die Helligkeit im Inneren gewöhnt hatten, erschraken wir und erstarrten vor dem, was wir sahen. Frei im Raum schwebend, umgeben von eine Sphäre aus blau-weißem Licht schwebte ein Mensch. Ein Junge. Er war nackt und hatte uns seinen Rücken zugedreht. An seinem Körper liefen Entladungen entlang, die ihn aber nicht berührten. Die Tafeln, die wir von außen gesehen hatten, gaben ein pulsierendes zwischen weiß, violett und blau oszillierendes Licht ab. Offensichtlich handelten es sich um eine Art von Projektoren, die den Jungen ... Ja was? Versorgten sie ihn mit etwas oder schirmten sie etwas ab? War ich Sonderprojektleiter Wagner? Habe ich Ahnung von parapyhsikalischen Hochenergieexperimenten?
Wenn all dies schon für sich erschreckend genug war, war es nichts im Vergleich zu dem, was dann geschah.
»Hallo Tobias«, die Stimme des Jungen elektrisierte mich. Ich erkannte sie sofort und mir stockte das Blut in den Adern.
Der Junge drehte sich zu uns um und ich erwiderte seinen Gruß: »Hallo Carsten!«
Akkumulator
Worin ein alter Bekannter sich mehr als nur einen Energieriegel gönnt.
»Och, wie süß! Kommt ihr beiden händchenhaltend zu mir!«, höhnte Carsten nachdem wir ihn begrüßt hatten.
»Du solltest dir etwas anziehen«, bemerkte ich cool und fragte mich gleichzeitig, wem ich eigentlich beeindrucken wollte.
»Wäre wohl angemessen. Allerdings scheint Kleidung mein Energiefeld nicht zu mögen. Sie löst sich doch glatt in Nichts auf«, antwortete Carsten ähnlich cool. »Schaut einfach drüber hinweg.«
Leichter gesagt als getan. Carsten war halt nackt, und einen blau-weiß strahlenden Schwanz, aus dessen Eichel Entladungsbögen sprühten, sah man nicht alle Tage, insbesondere, weil er halb erigiert war.
Carsten erkannte meinen Gedanken und meinte lakonisch: »Es ist das elektrische Feld, dass mich hier festhält, es fühlt sich an, als wenn mich hundert sanfte Hände streicheln würden. Auch am Schwanz!«
»Wie dem auch sei.«, fuhr er fort. »Ich freue mich, dass ihr meiner Einladung gefolgt seid.«
»Sind wir?«, fragte Ralf provozierend nach.
»Bitte, Ralf, beleidige nicht meinen Intellekt mit gespielter Ahnungslosigkeit. Durch wessen Augen hast du wohl das ISO-Lab gesehen?«
»Warum sind wir hier?«, mir ging Carsten pathetischer Tonfall wie immer mächtig auf den Geist.
»Ah, der gute Tobi, wie immer gleich auf den Punkt«, sprach Carsten mit ausgewählt gönnerhafter Stimme, um schließlich mit eiskaltem Tonfall weiterzusprechen: »Aus zwei Gründen. Erstens: Ihr habt mich auf Anjas Party vor allen Leuten gedemütigt, dafür muss ich mich noch angemessen bedanken. Und zweitens: Ich wollte euch mitteilen, dass ich gedenke, diesen Ort zu verlassen, um mich meinen neuen Freunden anzuschließen. Doch bevor ich gehe, solltet ihr noch wissen, dass wir euch vernichten werden. Ihr könnt euren jämmerlichen Wächtern mitteilen, dass der Antipol geboren wurde.«
»Nein!«, schrie Ralf plötzlich von Sinnen. »Du kannst nicht der Antipol sein! Du darfst es nicht sein!«
»Nein?«, donnerte Carsten Stimme plötzlich in 20-Kanal Surround durch den Raum. »Ich beginne erst zu erahnen, welches Potential in mir steckt.«
Carsten ballte seine Fäuste, spannte seine Arme und Schultern, wir ein posierender Boxer. Die Wirkung war beängstigend. Der Raum um uns zog sich um ihn zusammen und expandierte sich, als Carsten sich wieder entspannte.
»Wie im SciFi-Film!«, murmelte ich.
»Nein! Das hier ist real!«, zischte Ralf mir leise zu. »Dies ist schlimmer. Carsten verbiegt das Raum-Zeit-Kontinuum. Wir müssen hier sofort raus.«
»Was tuschelt ihr da miteinander?«, Carsten hatte sich uns wieder zugewandt.
»Nichts!«, meinte ich und folgte einer spontanen Eingebung. »Warum sagst du uns nicht, wie wir dies hier alles Abstellen können, um dich da raus zu holen? Warum willst du den dunklen Weg wählen? Bedeutet dir Macht wirklich so viel?«
In Carsten ging eine Veränderung vor. Seine Stirn kräuselte sich und er wirkte plötzlich sehr müde und erschöpft. Sein ganzer Körper erschlaffte und das Strahlen wurde schwächer.
»Helft mir!«, flehte Carsten mit einer gebrochenen, schwachen und traurigen Stimme, die mit einem mal ganz anders klang, als noch vor wenigen Sekunden. »Ich versuche dagegen anzukämpfen, aber die Stimmen sind so laut und stark ... Ich ... Ich ... Sie kommen wieder! Ich kann nicht ... Ich ...«
Carsten bäumte sich auf. Eine Funkenkaskade prasselte gen Projektorplatten. Carsten Erscheinung änderte sich erneut. Er war wieder stark, mächtig und aggressiv. Die Müdigkeit war aus seinem Gesicht verschwunden und hatte einer drohenden Entschlossenheit Platz gemacht: »Netter kleiner Versuch, Tobi! Aber der alte Carsten wird dir nicht mehr helfen können. Macht euch bereit für eure Vernichtung!«
Carsten spreizte alle Extremitäten von sich ab. Er reckte und streckte sich, griff mit seinen Händen nach der ihn umgebenen Energie. Er begann zu strahlen. Helles, fast grelles Licht ging von ihm aus. Sein Gesichtsausdruck war das eines Siegers -- überlegen und triumphierend.
»Das Eindämmungsfeld!«, schrie plötzlich Ralf. »Es versorgt ihn mit Energie! Wir müssen es ausschalten! Sofort!«
Ralf riss mich mit sich Richtung Ausgang. Carsten fuhr herum. Massive Blitze wurden gegen den faradayschen Käfig geschleudert, der unser einziger Schutz vor seiner zerstörerischen Energie war.
»Wo wollt ihr denn hin, ihr zwei? Glaubt ihr könnt mir entkommen?«, rief er uns hinterher.
»Schneller und berühr' bloß nicht das Metallgitter! Wir haben kaum noch Zeit!«, wurde ich unnötiger Weise von Ralf gewarnt.
Während wir vorwärts stürzten, schaute ich mich zu Carsten um. Er ballte wieder seine Fäuste. Man konnte sehen, wie er dir Energie aus den Projektoren saugte und in sich sammelte. Die Entladungsbögen wurden regelrecht in ihn hineingesogen. Um ihn bildete sich eine orange strahlende Korona aus Plasma. Wir stürzten weiter vorwärts. Ich hatte keine Ahnung, wohin Ralf mit mir wollte. Er hetzte voran und ich hatte große Mühe den Körperkontakt zu ihm aufrecht zu halten.
Nach unendlich langen Sekunden blieb Ralf stehen. Ich hatte soviel Schwung, dass ich voll auf ihn drauf knallte. Wir standen in dem kleinen Käfig mit den Kontrolltafeln.
»Was?«, fuhr ich ihn an.
»Den hier!«, entgegnete Ralf und zeigte auf einen Knopf »Not-Aus«
Ohne zu zögern knallte er mit seiner rechten Faust auf den roten Pilzdrucktaster.
Eine Sekunde lang passierte nichts, dann brach die Hölle los. Über unseren Köpfen öffneten sich begleitet von ohrenbetäubendem Lärm riesige Hochspannungsschalter. Meterlange Entladungsbögen wurden von den abreißenden Kontakten mit sich gezogen, bis der Abstand zu groß wurde, um den Stromfluss aufrecht zu erhalten. Im gleichen Moment begann das »Wuijuijuijuiju« seine Frequenz zu verändern, sie sank rapide, wie bei einem Elektromotor, dessen Strom abgeschaltet wurde und langsam seinen Schwung aufzehrte. Das Prasseln, Zirpen, Spratzen und Knallen der Entladungen verstummte und es wurde still in der Halle -- unheimlich Still.
Ich sah mich zu Carsten um. Das flackernde Licht um ihn herum war verschwunden. Vom Zentrum der Halle ging nur noch ein fahles Leuchten aus.
»Neeeeiiiiiiiiiiiiiiiiiinnnn!«
Ein markerschütternder Schrei zeriss die Stille. Es war Carsten Stimme, doch stark verzerrt und verändert.
Ich sah Ralf an: »Und was jetzt?«
»Weg hier, sofort!«, antwortet Ralf und riss mich mit sich mit. Das große Tor war glücklicherweise noch offen. Wir hechteten hindurch.
»Wir müssen das Tor wieder schließen!«, schrie er panisch, während er die Kodekarte durch den Leseschlitz zog. »Carsten hat Unmengen Energie aufgesaugt. Er wird sie bald freisetzen. Das hier ist zwar ein Bunker ...«
Mir dämmerte langsam, worauf Ralf hinaus wollte: »Du meinst er wird zur menschlichen ...«, ich musste schlucken, »Bombe?«
»Eher zur menschlichen Atombombe, wenn es stimmt, dass er wirklich der Antipol ist!«
Ralf hatte die letzte Kodeziffer eingegeben. Die Hupe und das Blinklicht der Tür schalteten sich ein. Sekunden später schwang die Tür langsam zu.
»Schnell, weg hier!«, schrie Ralf und preschte davon, mich immer noch im Schlepptau. Wir rannten, wir stolperten vorwärts. Krampfhaft versuchte ich, den Körperkontakt zu Ralf nicht abbrechen zu lassen. Wir mussten soviel Distanz wie möglich zwischen Carsten und uns schaffen.
Und dann passierte es. Offensichtlich hatte der Not-Stop zu einer Überlastung geführt. Als wir den Gang mit den langen Schlitzen entlang der Wände passierten, brach eine Entladung aus dem Generatorraum durch und knallte quer über den Weg. Ich stolperte. Der Körperkontakt zu Ralf riss ab. Ralf strauchelte ebenfalls.
Zu meiner Verblüffung murmelte Ralf: »Mir geht es gut! Der Druck ist weg. Carsten scheint alle Energie zusammenzuziehen und zu bündeln.«
»Oh, mein Gott, da!«, ich hatte mich umgedreht und sah mit entsetzen, dass sich hinter uns alles verfinstert hatte. Eine tiefschwarze Dunkelheit kroch auf uns zu. Anders kann ich es nicht beschreiben, denn ab einer bestimmten Grenze ließen sich keine Unterschiede mehr erkennen. Wenn die Dunkelheit eine Lampe erreichte, so wurde diese erst blasser, dann dunkler und wurde schließlich von der Dunkelheit verschluckt.
»Er greift auf andere Energiequellen zurück!«, meinte Ralf. »Renn! Die Dunkelheit darf uns nicht erreichen! Er würde auch die Energie unserer Körper aufsaugen!«
Wir rannten. Wir rannten so schnell, wie wir noch nie gerannt waren. Ab und zu sah ich mich um. Die Dunkelheit folgte uns, doch glücklicherweise ein wenig langsamer als wir rannten. Doch wie lange konnten wir dieses Tempo noch durchhalten? Und was, wenn der Weg plötzlich endet?
Mit hängender Zunge und Seitenstichen erreichten wir den Fahrstuhl. Wir sprangen hinein, drückten den obersten Knopf »SL2« für Sublevel 2 und die Tür schloss sich hinter uns. Durch den sich schließenden Spalt konnten wir noch sehen, wie die Dunkelheit den weißen Vorraum erreichte. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Aufwärts!
»Ich kann nicht mehr!«, japste ich.
»Ich auch nicht!«, röchelte Ralf erschöpft.
»Meinst du, er dehnt seine Dunkelheit weiter aus?«
»Ich weiß es nicht, ich mache mir eher Sorgen, was passiert, wenn er genug Energie gesammelt hat.«
In diesem Moment ging die Fahrstuhltür auf. Wir wollten gerade heraustreten, als Raimund Wagner vor der Tür stand. Er hielt eine Waffe in seiner Hand, hatte sie aber nicht auf uns gerichtet, denn sein Arm hing schlaff herunter. Es war also nicht Kryczeck, der geschossen hatte.
»Ihr habt es gestoppt!«, begrüßte er uns ungläubig. Ich verstand zuerst nicht, was er meinte, bis mir klar wurde, dass er die Grenzschicht meinte, die er vorher nicht passieren konnte. »Wie habt ihr das gemacht? Lebt es noch?«
Ralf packte Wagner an seinen Schultern und schüttelte ihn durch. »Es? Es!«, brüllte Ralf stinksauer Wagner an. »Es ist ein Mensch! Er hat einen Namen! Er heißt Carsten! Verflucht, was haben sie da unten getrieben? Welche perversen Experimente haben sie sich in ihrem kranken Hirn ausgedacht? Was haben sie mit dem Jungen angestellt?«
»Wir ... Ich ...«, stotterte Wagner. Gerade in dem Moment, als er etwas sagen wollte, riss er seine Augen weit auf, zeigte mit ausgestreckten Arm hinter uns und schrie: »Mein Gott! Seht! Da!«
Wir drehten uns um. Dort wo eben noch die Falttür mit dem versteckten Fahrstuhl war, befand sich jetzt ein schwarzes, waberndes Nichts, das sich weiter ausdehnte.
Ralf ergriff sofort wieder die Initiative: »Rennen Sie! Rennen Sie um ihr Leben!«
Wir rannten, wir rannten, was das Zeug hielt. Carsten musste selbst den massiven Fels zwischen SL 2 und SL 17 durchdrungen haben. Er verschluckte wirklich jedes Photon, dem er habhaft werden konnte.
Rennend durchquerten wir den verlassenen Sitzungssaal, die schwarze Wand dicht hinter uns. Ich sah mir gerade ängstlich über die Schulter, als ich frontal auf Wagner und Ralf prallte.
»Was?«, schrie ich hysterisch.
»Die Sicherheitstür! Sie ist verschlossen!«, antwortete Wagner ebenso hysterisch, »Mein Code funktioniert nicht mehr. Es muss aber. Es sei denn ...«
Wagner packte mich: »Sag mir, habt ihr unten auf einem Terminal irgendetwas von einem Eindämmungsprotokoll gelesen?«
»Ja, ,Start Eindämmungsprotokoll in 23 Stunden irgendwas` . Wieso?«
»Wir sind verloren!«, jammerte Wagner und sackte verzweifelt zu Boden. »Diese schwarze Erscheinung, die da auf uns zu kommt. Ist es das, was ich vermute? Ein Energiesog? Unterbricht er den Energiefluss?«
Ralf nickte: »Vermutlich«
»Ja, dann ist alles klar.« Wagner war fix und fertig. »Der Zentralcomputer hat festgestellt, dass es keine Verbindung zum SL 17 gibt. Da ein Evakuierungsalarm bestand und der Count Down für das Eindämmungsprotokoll aktiviert wurde, hat er den gesamten Komplex abgeriegelt. Wir kommen hier nicht mehr raus. Nicht bevor uns ...«
Wagner verstummte. Ich drehte mich um und war ebenfalls erstaunt. Die schwarze Erscheinung hatte gestoppt und verharrte wabernd. Sie hatte sich bis ungefähr zwei Drittel des Saals ausgedehnt, aber keinen Meter weiter.
»Er hat genug Energie aufgesaugt«, meinte Ralf und ließ sich ebenfalls zu Boden sinken.
Wagners Gewissen
Worin man die Zeit nutzt, um sich einiger grundlegender Dinge klar zu werden
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Wagner, obwohl es eigentlich sein Job gewesen wäre, sich einen Ausweg zu überlegen. Schließlich befanden wir uns in den Fängen seiner Firma.
»Wenn Ihnen nichts einfällt, wie sie die Tür aufbekommen: abwarten und Tee trinken.«, entgegnete Ralf angesäuert. »Haben Sie eigentlich den blassesten Schimmer, mit was sie in ihrem Keller rum gespielt haben?«
»Wahrscheinlich nicht ...«, antwortete Wagner verzweifelt und sehr kleinlaut. Es schien, als wenn er sich inzwischen etwas zu schämen begann. Immer vorausgesetzt, ich deutete die Tatsache, dass er uns nicht in die Augen schauen konnte, richtig. Allerdings empfand ich seine neu entdeckten Schuldgefühle für reichlich spät und ziemlich jämmerlich. Möglich, dass ich in dieser Beziehung nicht unbedingt 100% objektiv war.
»Wieso Carsten?«
Ich war von meinem Gedankensprung selbst überrascht.
»Ich kann mich nicht erinnern, dass er auf der Liste mit den Versuchspersonen stand. Oder ist er ein natürlicher Telepath?«
Ralf antwortete nicht sofort. Zögerlich und mit nachdenklicher Stirn meinte er: »Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen ...«
Ralf grübelte weiter. Er kratzte sich an seinem Kinn, er kratzte sich an seinem Kopf, sah mich an, sah Wagner an, sah seine Hände an und stutzte. Seine Augen weiteten sich. Ralf schien in seinen Gedanken etwas zu sehen, dass ihm Sorgen bereitete, denn ich meinte, Angst in seinen Augen zu erkennen. Als wenn er meinen Verdacht bestätigen wollte, packte Ralf Wagner und zog ihn zu sich heran: »Wie sind sie an Carsten gekommen? Schnell, ich muss es wissen! Sofort!«
»Ähp ... Äähhp ... Ähm ...«, stammelte Wagner. »Kryzcheck hat ihn aufgetrieben. Dieser Junge. Wie hieß er noch gleich? Carsten? Heißt er Carsten?«
»Ja! Weiter!«
»Kryzcheck meinte, er hätte einen Tipp bekommen, dass dieser Carsten ein potentieller Telepath sein könnte. Keine Ahnung, woher er das wusste. Der Junge war krank. Anscheinend lag eine neurologische Störung vor, denn er traf in einem merkwürdig Zustand bei uns ein. Er schien halb wach, aber auch halb im Koma zu sein. Er wechselte ständig zwischen beiden Extremen hin und her. Man hatte seine Eltern wohl davon überzeugt, dass man ihn viel besser in einer Spezialklinik behandeln könnte als im städtischen Krankenhaus. So kam er zu uns. Wir begannen sofort mit Untersuchungen und Messungen ... Wow! Ein Begräbnis der Nadel! Der Junge glühte regelrecht vor psionischer Energie. Allerdings schienen seine Fähigkeiten zu schlafen.«
»Etwas genauer ...«, insistierte Ralf.
»Viel genauer kann ich es gar nicht beschreiben, denn es war wirklich sehr merkwürdig ...«, murmelte Wagner. »Jedes EEG, ob normal oder pathologisch, hat seinen eigenen Charakter. Seins hatte zwei. Je nach dem ob er mehr zum Wach- oder zum Komazustand tendierte, wechselte sein EEG. Wohl gemerkt, es wechselte zwischen zwei Persönlichkeiten. Wir haben das zuerst nicht erkannt. War er wach, lagen fast normale Beta- bzw. Alphawellen vor. Doch wechselte er in den komaähnlichen Zustand, trat er nicht etwa in eine Phase mit Theta respektive Deltawellen über, sondern zeigte Betawellen durchsetzt mit chaotischen Spikestrukturen, wie man sie eher bei Epilepsiepatienten vermuten würde. Äußerlich wurde er aber eher ruhiger.«
»Waren es wirklich Spikes oder ... Überlagerungen?«
Wagner sah Ralf erstaunt an: »Ja! Genau! Du hast Recht! Das war des Rätsels Lösung. Es war eine zweite Welle, die sich auf die erste schob und bei ihrer Überlagerung spikeähnliche Spitzen produzierte.«
»Was ist weiter passiert?«
Wagners Gesicht verfinsterte sich: »Wir haben uns zuerst gar nichts dabei gedacht ...«
»Wobei gedacht?«
»Nach und nach gingen verschiedene Geräte, elektronische Geräte, kaputt. Zuerst ein Display, dann ein Pulsmonitor ... Bis dann ...«
»Verdammt, was?«, schrie Ralf, dem Wagners Selbstzweifel und Egokrise im Moment ziemlich egal war. Er wollte wissen, was mit Carsten passiert war und zwar sofort.
»Es gab einen Unfall!«, Wagner riss sich zusammen, seine Stimme klang deutlich fester. »Wir wissen nicht, was passiert ist, da alle Kameras im gleichen Moment durchbrannten. Sicher ist nur, es gab eine Entladung, gefolgt von einer Schockwelle. Zwei Wissenschaftler waren gerade beim Versuchsobjekt ... ähm, bei diesem Carsten. Sie ... Es ...«
Wagner stotterte wieder, doch diesmal ließ Ralf ihm Zeit, seine Gedanken zu ordnen.
»Einer der Wissenschaftler ist tot. Er starb einen Tag nach dem Unfall. Es war unheimlich und entsetzlich. Dr. Becher, der Tote, er muss direkt neben dem Jungen gestanden haben. Sein Körper war mit einem EEG-Monitor auf submolekularer Ebene verschmolzen. Es gab keine Verbrennungen, keine Blutungen. Das Material seiner Haut, seiner Muskeln, sogar das seiner Knochen ging nahtlos in das Metall und den Kunststoff des Geräts über. Es war eins. Ich habe sowas noch nie gesehen und ich will sowas auch nie wieder sehen! Denn das Schlimmste war, Becher lebte noch. Man konnte mit ihm sprechen, er war bei klarem Verstand, bis wir versuchten, die körperfremden Materialen zu entfernen. Es war ...«
Wagner seufzte, holte tief Luft und fuhr dann fort: »Ich weiß noch nicht einmal, ob Dr. Becher mit seinem Tod nicht das bessere Los gezogen hat. Der andere Wissenschaftler, ein amerikanischer Physiker, James Edwin Parker, lebt noch, aber ...«
»Was?«, fragte Ralf leise nach.
»Er ist nicht vollständig in unserer Welt. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Teile seines Körpers schimmern, sind im Fluss. Sie scheinen aus sich heraus zu leuchten und gleichzeitig semitransparent zu sein, dabei sind sie irgendwie am driften ... Es ist ein permanenter Wechsel. Mal scheint er ganz normal in unserer Welt zu leben, dann wieder wandern ganze Teile von uns weg. Gestern war für eine Stunde sein ganzer linker Arm fast vollständig verschwunden. Doch Parker konnte ihn nach wie vor fühlen. Ihn sogar bewegen und mit ihm tasten. Allerdings ... Parker geriet in Panik. Seine Hand fühlte etwas, was er nicht sehen konnte!«
Ralf musterte Wagner sehr lange. Doch Wagner schwieg, sah Ralf an und begann zu stammeln: »Mein Gott, was haben wir getan? Was habe ich getan?«
Ralf zog seine Augenbrauen hoch, zuckte mit den Schultern und seufzte. Ich nickte, denn ich konnte mir ungefähr vorstellen, was Ralf dachte. Wagner war aufgewacht und sah nach langer Zeit zum ersten Mal wieder das grelle Licht der Wahrheit. Er war blind gewesen. Ehrgeiz und unbändige, rücksichtslose Neugier hatten ihn unempfindlich für Skrupel und Ethik gemacht. Ganz Wissenschaftler, hatte er auf Teufel komm raus geforscht und sich kein Jota darum gekümmert, welchen Preis er -- oder schlimmer -- andere dafür zahlen mussten. Das Ziel war einfach zu verlockend gewesen. Einen neuen, scheinbar besseren Menschen erschaffen? Gott spielen? Ein Traum, der nicht erst seit Merry Shellys Frankenstein in den Hirnen der Menschheit umhergeistert.
»Erinnerst du dich an Anjas Party?«, fragte Ralf plötzlich.
»Sicher! Warum fragst du?«
»Erinnerst du dich daran, wie wir Carsten hinausbefördert haben?«
Ich zögerte mit meiner Antwort: »Jaaa.«
»Erinnerst du dich ...«, Ralf wurde sehr ernst, seine Augen begannen in einem dunklem Cyanton zu glühen, »...wie du weggedriftet bist?«
Mir lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Da war dieser Moment gewesen. Ein Moment der Härte, Kälte und Erbarmungslosigkeit. Es war dieser kurze Moment gewesen, während dessen ich wusste, dass ich Carsten jeden einzelnen Knochen im Körper brechen konnte, ohne ihn auch nur berühren zu müssen. Damals hatte ich das Gefühl, als wenn mich diese kalte Erbarmungslosigkeit aus meiner realen Umwelt herausreißen wollte. Auch ich driftete weg und hätte Ralf mich nicht mit einer Berührung gerettet, ich weiß nicht, wo ich dann gelandet wäre.
»Ja, ich weiß an was du denkst.« Wir hatten hinterher nie über diese Erfahrung gesprochen. Um so erstaunter war ich, dass Ralf offenbar genau wusste, was mit mir damals passiert war.
»Meinst du, du könntest dieses Gefühl ...«
»Nein!«, fiel ich Ralf ins Wort, »Verlange nicht von mir, dass ich mich auf solche Emotionen einlasse. Carsten ist ein Arschloch und inzwischen auch ein Killertelepath, aber deswegen ist er immer noch ein Mensch! Du kannst nicht verlangen, dass ich ...«
Ich sprach nicht weiter. Ralfs Ansinnen war widerlich. Ralf blickte zu Boden: »Warte, du hast mich missverstanden.«
Ralf atmete tief ein und wieder aus: »Erinnerst du dich an die zweite Begegnung auf Anjas Party?«
»Die eisigen Tentakel?«
»Ja, die eisigen Tentakel.«
Die Begegnung mit den Eistentakeln werde ich meinen Lebtag nicht vergessen. Ralf und ich waren eng umschlungen am Tanzen gewesen, als uns beide ein angsteinflößendes Gefühl traf. Es war, als wenn sich Tentakel eines Riesenkalmars zwischen den Tanzenden bewegen würden: suchend, tastend und forschend. Sie hatten uns damals nicht entdeckt oder berührt. Aber ihre pure Existenz hatte Panik in uns ausgelöst. Ihre Nähe verursachte eine eisige Kälte. Natürlich lief dies alles nur auf einer geistigen, d.h. telephatischen, Ebene ab. Niemand der anderen Partygäste hatte etwas bemerkt. Bis auf Ralf und mich. Doch in nachhinein hatten wir nur Glück, dass die Tentakel nicht auf der Suche nach uns waren. Sie suchten jemand anderen, fanden ihn und brachten ihn um. Arne, einen Mitschüler von uns und ein weiteres Versuchskaninchen der NextChem AG. Wir fanden später seinen Namen auf der Liste der Versuchsobjekte.
»Diese Tentakel, ich vermute sie gehören zu einer parasitären Lebensform.«
»Hä?«, keine Ahnung wovon Ralf da sprach.
Also erklärte er es. In den Aufzeichnungen der Wächter existieren Hinweise auf psionische Lebensformen. Ursprünglich waren sie Menschen gewesen. Aber mit bisher nicht geklärten Techniken, manche mögen es auch archaische Rituale nennen, war es ihnen gelungen, sich ihrer Körperlichkeit zu entledigen. Ohne physisches Behältnis wären allerdings auch sie zum Tode verurteile, weswegen sie sich anderer Körper bemächtigen. Soweit sagt es jedenfalls die Legende.
»Es gibt ganz konkrete Beschreibungen, wie man einen solchen Parasiten erkennen kann.«, meinte Ralf. »Verdammt! Warum bin ich da nicht früher drauf gekommen?«
»Du meinst Carsten ist nicht Carsten?«
»Genau! Du erinnerst dich? Wir haben Carsten rausgeworfen. Bei seiner Stärke eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Du hast ihn geschwächt. Nein, mach dir deswegen keine Vorwürfe. Du hast es nicht absichtlich getan. Aber ich glaube, dass in seinem geschwächten Zustand etwas oder jemand in Carsten eingedrungen ist. Dieses Etwas suchte Arne. Wie hätte es ihn finden sollen, ohne die Gegebenheiten in Anjas Partykeller zu kennen? Wie hätte es Arne erkennen können, ohne ihn zu kennen? Ich glaube nämlich nicht, dass dieses es jemand ist, den wir kennen. Es muss alt sein. Sehr alt sogar. Mindestens 1200 Jahre alt.«
Ralf fröstelte und er rieb sich seine Arme: »Es heißt, je älter diese Wesen werden, desto kälter werden sie. Simplifiziert ausgedrückt wird es häufig negative psionische Energie genannt, was natürlich ausgemachter Quatsch ist. Genauso, wie Kälte das Fehlen von Wärme ist, ist die Kälte dieser Wesen nur ein Zeichen dafür, dass sie Energie aufsaugen ...«
»Mein Gott! So wie von Carsten im Versuchslabor!«, mein Groschen fiel und mit ihn eine ganze Reihe Münzen. »Es, dieses Tentakelwesen, hat Carsten ausgewählt, weil er sich bei Anja auskennt. Und dann die Sache mit dem Unfall mit dem Physiker und die Sache mit dem überlagerten EEG.«
»Das ist genau das, was ich vermute. Erinnerst du dich, was Carsten vorhin gesagt hat? ,Helft mir!` Das war Carsten, der echte Carsten. Alles andere war nicht er, sondern ein fremdes Wesen, dass von ihm Besitz ergriffen hat.«
»Der Antipol?«, ich musste schlucken, dieser Gedanke war recht beunruhigend. »Was ist, wenn Carsten oder dieses Wesen recht haben? Wenn er wirklich der Antipol ist?«
Ralf wurde blass. Aus seinen Augen wich alles Funkeln und alle Farbe. »Dann ...«, setzte er stockend an, »... kann uns alle nur noch ein Wunder retten!«
Singularität
Worin die Zeit ihr Ende findet, ein Verlust greifbar wird und die Realität sich selbst anzweifelt.
Uns Retten? Welch trügerische Hoffnung ...
Ralf hatte seinen Satz kaum beendet, als der Boden zu beben begann. Am Anfang waren es nur leichte Vibrationen, kaum wahrnehmbar, es sei denn, man war derart nervös und sensibilisiert wie wir, doch wurden diese Vibrationen schnell stärker.
Ich wollte gerade fragen, »Was ist das?«, als ein kräftiger Stoß den Boden erschütterte. Er war so stark, dass wir uns an der nächstgelegenen Wand abstützen mussten, um nicht zu stolpern. Wagner schaute uns panisch an. Sein Blick ... er schien langsam seine Murmeln verloren zu haben. Wagners Verstand hatte sich abgemeldet und damit auch jegliche Unterstützung, die er uns potentiell hätte noch geben können.
»Verdammt ...«, knurrte Ralf und sah besorgt aus. Im gleichen Moment gab es ein ohrenbetäubendes Kreischen, hervorgerufen von berstendem Stahl und brechendem Beton. Dem ersten Stoß folgten weitere. Jeder schien stärker als der vorherige zu sein. Es war, als wenn ein Raubtier aus einem Käfig ausbrechen wollte.
»Es ist der Parasit in Carsten! Er bricht aus! Er ist der Antipol!«, brüllte mir Ralf entgegen, konnte damit den infernalischen Lärm, zu dem das Kreischen angewachsen war, aber kaum übertönen. Statt etwas zu sagen, nickte ich nur. Sprechen war fast sinnlos geworden.
Dabei hätte mir Ralf nicht sagen müssen, dass es Carsten war. Ich wusste es und ich spürte es. Ich wusste es, weil nichts anderes Sinn machte und ich spürte es, weil ich ihn, im Gegensatz zu unserer ersten Konfrontation, jetzt spüren konnte.
»Wir müssen ihn stoppen! Um jeden Preis müssen wir ihn aufhalten!«
Ich sah mich um. Wagner war in sich zusammengebrochen, sprich kollabiert. Fliehen war unmöglich. Der einzige Weg nach draußen war durch eine elektronisch gesicherte Stahltür verschlossen. Die Lage sah nicht sonderlich gut aus und sie wurde sekündlich schlechter. Als ich in Richtung des Fahrstuhls schaute entdeckte ich, dass Wände, Decken und Boden des Konferenzsaals Risse bekommen hatten, die mit jedem Stoß, das zwischenzeitlich zu einem kontinuierlichen Hämmern und Stampfen angewachsen war, breiter wurden. Erste Betonbrocken brachen aus der Decke. Es war nur eine Frage der Zeit, wann wir von einem solchen Brocken oder der gesamten Decke erschlagen werden würden.
Mein Blick fiel auf Ralf.
Wahrscheinlich war es der denkbar ungünstigste Moment, aber wie ich meinen Freund so ansah, überkam mich ein derart tiefes und massives Gefühl der Hingezogenheit, Sicherheit, Geborgenheit und Liebe, dass mir fast schwindelig wurde. Ich muss einen ziemlich blöden Gesichtsausdruck gezeigt haben, denn Ralf bemerkte etwas und brüllte: »Was?«
»Ich liebe dich!«
Und, als wenn die infernalische Lärmkulisse nicht vorhanden wäre, entgegnete Ralf in meinem Kopf: »Ich weiß ...«
Mein Herz gefror zu Eis. In seiner Stimme, die ich glasklar hören konnte, lag eine Traurigkeit, die mich erschreckte. Ralf versuchte meinem forschenden Blick auszuweichen, doch konnte ich noch rechtzeitig sein Gesicht sehen, um in Panik zu geraten. Ich erinnerte mich daran, was er wenige Sekunde vorher gesagt hatte: »Wir müssen ihn stoppen! Um jeden Preis müssen wir ihn aufhalten!«
Ich sah eine Mixtur von Emotionen, die nichts wirklich Gutes ahnen ließen: bittere Entschlossenheit, Furchtlosigkeit, Wut, Trauer und Liebe. Ralf schloss seine Augen. Ich betrachtete ihm im Profil und versuchte verzweifelt, mehr Informationen aus seiner Mimik heraus zu lesen. Er hatte seine Augen nicht nur geschlossen, er presste seine Lieder regelrecht zusammen. Aus ihren Winkel lief eine Träne die Wange herunter. Sein Ausdruck war schmerzverzerrt.
Und dann erkannte ich es. Um jeden Preis ... Es war die Bereitschaft, Ralfs Bereitschaft, sich zu opfern. Schlagartig wurde mir klar, was Ralf vorhatte. Ralf konnte Lebensenergie nehmen -- bis zum Tod!
»Du musst das nicht machen! Du darfst es nicht!«, schrie ich ihm verzweifelt entgegen.
Ralf drehte seinen Kopf und lächelte. Seine Augen erstrahlten in einem wunderschönen golden Funkeln, so klar und rein, wie ich sie noch nie habe strahlen gesehen: »Doch, ich muss! Du weißt es. Ich kann uns alle retten ... naja fast alle. Ich kann dich retten! Tobias, ich liebe dich! Ich kann nicht ausdrücken, wie sehr! Bitte vergiss mich nicht ...«
Ich konnte nicht antworten. Ich konnte mich nicht mal bewegen. Ich war gelähmt. Der Schock, den Ralf Worte auslösten, war derart gewaltig, dass es mich buchstäblich am Boden festnagelte.
Und dann stürzte Ralf los. Ich konnte nur zusehen, wie er rannte. Er rannte in Richtung des verborgenen Fahrstuhls, nur, dass kein Fahrstuhl mehr da war. In dem Moment, als Ralf losstürmte, brach der Boden unter ihm weg. Der ganze Raum brach weg und fiel ins Nichts. Vor meinen Augen sah ich einen bodenlosen schwarzen Abgrund und in diesem Abgrund befand sich Carsten -- Oder das, was aus ihm geworden war.
Es war Carsten und es war nicht Carsten. Dem Aussehen nach war er es. Seiner unheilvollen dunkel-violett glühenden Aura nach war er es nicht. Die Bösartigkeit dieses Wesen konnte man nicht nur spüren. Sie war regelrecht greifbar. Man konnte sie riechen, schmecken, sogar sehen. Dieser Parasit, der von Carsten Besitz ergriffen hatte, war quasi das materialisierte Böse. Wäre ich ein gläubiger Mensch, hätte ich gesagt, ich hätte den Teufel gesehen, doch wäre das ein hinkender Vergleich. Der Teufel macht Sinn. Er ist die Antithese, ohne der der Glaube an das Gute nicht möglich ist. Aber das, was ich da sah, besaß keinen Sinn. Es war die pure Negation von allem was lebt.
Und dann war da Ralf!
Ein silberner Pfeil, der auf Carsten zustürzte. Es war schrecklich mit anzusehen. Stumm stand ich am Abgrund, doch innerlich schrie ich, brüllte ich mir die Seele aus dem Leib. Noch während Ralf auf Carsten zu stürzte, fing seine Kleidung Feuer. Ralf wurde zum Feuerball, denn Carsten schien seine vernichtende Energie auf ihn zu richten. Stofffetzen rissen von Ralf ab und hinterließen eine flammende Leuchtspur.
Ralf der Komet!
Nur wenige Meter trennten ihn von Carsten. Seine Haut begann zu brennen. Ralf! Ich wollte mich abwenden und losheulen, doch ich war zu entsetzt. Starr und gelähmt sah ich zu.
Kontakt -- Ralf prallte auf Carsten.
Ein Moment lang passierte nichts, dann flackerte es um Ralf und Carsten. Carstens violette Aura verblasste, zuckte und erlosch. Für einen Augenblick herrschte absolute Dunkelheit. Ich spähte in den Abgrund. Nichts. Plötzlich gab es ein dumpfes Grollen und ein Stampfen. Gleißende Blitze flackerten auf und erloschen wieder. Ein Schrei, nicht menschlich aber auch nicht tierisch, zeriss die Stille.
Und dann explodierte alles in einem gleißenden, blauen, weißen Licht. Ein überirdisches Strahlen zeriss die Dunkelheit. Eine Schockwelle puren Lichts jagte vom Epizentrum zur Peripherie.
Ich sah Ralf! Ich konnte ihn in all dem Licht tatsächlich entdecken und sogar erkennen. Er drehte sich zu mir um. Winkte mit einer Hand und ...
»Nein!«, brüllte ich so laut, wie ich noch nie, wie niemand je zuvor gebrüllte haben dürfte. Ralf zerfiel zu Staub, und während er das tat, zerfetzten die Lichtstrahlen die von ihm ausgingen Carsten. Sie lösten sich beide in nichts auf.
Fassungslos starrte ich in die Tiefe. Das konnte nicht, das durfte nicht geschehen. Ich wollte gerade Ralf hinterherspringen, als mich ein Energiesturm traf. Es war Carstens Lebensenergie, die, gefiltert durch Ralf, in mich eindrang.
Es war zu viel für mich. Diese Energie, sie fühlte sich nach Ralf an. Nach seiner Liebe, nach seinem Wesen. Es war, als wenn er mich streichelte. Ein aller letztes Mal. Meine Seele zeriss, mein Herz zerbrach. Ich stand am Abgrund, doch innerlich stürzte ich in ihn hinein.
Die Welt war sinnlos geworden. Alles war sinnlos geworden.
Ich konnte es nicht kontrollieren: Meine Wut und meine Trauer war unermesslich.
Wer könnte es?
Ich verlor meine Selbstkontrolle.
Meine Kräfte entwichen ihrem Gefängnis und breiteten sich aus.
Ich, Tobias Christian Peter vanBrüggen, vollendete Carstens Werk.
Die Zeit endete. Die Welt endete. Mein Geist, meine Kräfte, verstärkt durch Carstens Lebenskraft, brach in die Atome der Materie ein und wurden zerfetzt, auseinandergerissen, um einen Augenblick später auf einen Punkt zusammen zu stürzen.
Ich war das Monster, ich wurde die Apokalypse, das Ende jeglicher Existenz.
Ich wurde zum Antipol.
Die Phase der Nichtexistenz
"Krass!", meinte eine Stimme nüchtern.
»Krass?«, entgegnete eine andere Stimme erstaunt. »Das nenn ich echtes Understatement! Milliarden Leben werden von einer Mikrosingularität verschluckt, wir werden Zeugen des Endes jeglicher Existenz biologischen Lebens innerhalb der nächsten zigtausend Lichtjahre und alles, was dir dazu einfällt, ist ,Krass'?«
»Nein, natürlich nicht. Der Kleine ist krass, wirklich krass. Ich hätte nie gedacht, dass sowas in ihm steckt.«
»Du vergisst, dass er es nicht alleine war. Vergiss den Parasiten und Ralf nicht!«
»Ich weiß ... Ich weiß ...«, entgegnete die erste Stimme. »Das hätte nie passieren dürfen. Es hätte eigentlich niemals passieren können.«
»Du wirst mir aber zustimmen, dass es die Realität ist?«
»Realität?«, die Stimme klang auf eine sarkastische Weise amüsiert. »Realität ist wohl inzwischen ein eher unpassender Begriff geworden!«
»Ich weiß, trotzdem ...«
»Du hast eine Frage?«
»Ja! Was ist schief gelaufen? Wo war der Fehler?«
Die zweite Stimme seufzte: »Ich glaube es gab keinen Fehler. Jedenfalls nicht von innen. Dass Tobias den Tod von Ralf nicht verkraften würde, war nicht verwunderlich. Hättest du anders gehandelt, wenn ich an Ralfs Stelle gewesen wäre?«
»Nein ...«, die erste Stimme klang melancholisch. »Ich hätte niemals verkraftet dich zu verlieren. Ich ... Scheiße, ist das pathetisch, aber nach über zweieinhalbtausend Jahren liebe ich dich immer noch.«
»Ja! Ich weiß es. Ich fühle es mit jedem meiner Sinne und es geht mir genau so. Ich würde alles für dich geben. Absolut alles.«
»Vertraust du mir?«
»Ja, natürlich ...«, erschrocken stockte die erste Stimme: »Du meinst«
»Ahh, du verstehst endlich. Die beiden sind unsere Nachfolger. Ich habe mich immer vor diesem Tag gefürchtet. Doch jetzt sehe ich klar. Unsere Zeit ist vorbei ...«
»Aber dann besteht ja noch Hoffnung für die Welt!«
»Ja, Hoffnung bestand immer. Wenn auch nur wenig.«
»Wie wird es sein?«
»Anders und wir werden uns diesmal nicht mehr einmischen können.«
»Ob sie sich erkennen werden?«
»Du bist ein hoffnungsloser Romantiker. Sie werden ... auf die eine oder andere Weise.«
»Aber ...«, die Stimme klang besorgt. »Sie werden sich erinnern?«
»Ja, und sie werden sehen, wenn sie dazu bereit sind. Ich denke, ein kleines Päckchen Erinnerung können wir ihnen noch schnüren.«
»Ich vermute, es wird sie ziemlich verwirren.«
»Sie werden wissen, wie sie damit umgehen müssen. Es muss einfach so sein!«
»Ich bin bereit!«
Mit diesen Worten verstummten die beiden Stimmen. Ihre materielosen Quellen bewegten sich aufeinander zu, verschmolzen miteinander und ...
Die zweite Konvergenzlinie
Zurück auf Los, oder "Warum man in ein Plattengeschäft geht -- 2. Edition"
Worin das Einkaufen von CDs zur Nebensache wird
und ein Freund die Bodenhaftung verlieren müsste.
Auch eine Methode sich wieder auf den Alltag einzustellen -- Ich war gerade von einer vierwöchigen Urlaubsreise zurückgekehrt. Mit Michi, meinem besten Freund. Meinem einzigen Freund, um genau zu sein. Einmal quer durch halb Europa. Wenn ich sage Freund, dann ist das ganz unverfänglich zu verstehen. Michi war seit Ewigkeiten mein bester Freund. Nicht mehr und auch nicht weniger. Er ist lieb, wirklich lieb, und glücklicherweise überhaupt nicht mein Typ. Ich muss gestehen, ich empfand diese Situation als ganz angenehm, konnte es so, zu keinen Komplikationen kommen. Eine mögliche Komplikation hätte sich daraus ergeben können, dass ich mich noch nicht geoutet hatte; außer mir selbst gegenüber. Zugegeben, mit 17 Jahren war ich wohl recht spät dran und hätte mir längst einen Freund suchen sollen, aber ... Hm, was soll ich sagen? Ich war ein Weichei und so verdammt schüchtern.
Zurück im Alltag. Ganz überraschend und völlig gegen meine übliche jugendliche Verschwendungssucht, hatte ich von meiner Europatour tatsächlich noch etwas Kohle übrig behalten. Genug, um meine CD-Sammlung mit ein paar Neuerwerbungen aufzufrischen. Es war Anfang September. Die Ferien waren vorbei, der erste Tag des neuen Schuljahrs war abgehakt, also auf ins Stadtzentrum zu meinem Lieblingsplattenladen.
Eigentlich gab es zwei Gründe, warum ich diesen Laden so gern mochte. Zum einen bot er mit Abstand die beste Auswahl an CDs; weit mehr als nur den üblichen Charts Main-Stream. Sogar ein gut sortiertes Angebot Vinyl war vorhanden. Der andere Grund war weitaus profaner: Hier liefen die geilsten Junx rum. Während ich so die CD-Regale durchblätterte, konnte ich ganz unverfänglich mein Auge über die anwesenden jungen, männlichen Käufer schweifen lassen und träumen. Ach, wenn ich doch nicht so scheiß schüchtern wäre ...
In der ersten Woche nach Ferienende war der Laden noch relativ leer. Die meisten Kidds hatten wohl andere Sorgen, als sofort in den Plattenladen zu rennen. Wahrscheinlich waren sich auch einfach nur pleite. So ein Sommerurlaub kann ein Taschengeldkonto arg strapazieren. Ich wühlte gerade in den Vinylscheiben, als ich ihn bemerkte. Ein wirklich gutaussehender Junge, ungefähr mein Alter, sein genaues Alter war nicht ganz einfach abzuschätzen. Obwohl, gutaussehend war untertrieben. Ich sah zwar nur seinen Kopf und die obere Hälfte seiner Brust, der restliche Anblick war durch ein CD-Regal versperrt, aber das, was ich sah, reichte aus, dass mir wechselweise heiß und kalt wurde. Der Typ hatte einen frechen, halblangen Haarschnitt, mit vorwitzigen Strähnen, die ihm vor die Augen fielen. Die Augen schienen ein inneres Feuer zu besitzen. Ich konnte einen kurzen Blick erhaschen und meinte es wahrhaftig in seinen Augen flackern zu sehen. Nase und Mund bildeten eine perfekte Einheit. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas Nachdenkliches und Tiefes, durchsetzt mit einem ironischen Grinsen. Halsabwärts stecke der Junge in einem hautengen Lycrashirt. Es war das erste Mal, dass ich jemanden sah, bei dem so ein Kleidungsstück nicht lächerlich aussah. Wow! Der Typ war einfach überirdisch!
Das heißt ... Ich stutzte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ich war mir absolut sicher dieses Typen niemals zuvor gesehen zu haben. So wie er aussah, wäre er mir definitiv in Erinnerung geblieben, wäre ich ihm jemals in meinem Leben begegnet. Und trotzdem kam mir der Typ bekannt vor. Nein, nicht bekannt! Vertraut traf es viel, viel besser.
Ich muss wohl etwas zu lange und zu auffällig in seine Richtung geschaut haben, denn plötzlich ging ein Ruck durch seinen Kopf und er sah mir unvermittelt in die Augen. Ich wurde rot und er grinste. Ertappt! Super! Mit dem peinlichen Gefühl gerade erwischt worden zu sein, wollte ich meinen Blick schnell und unauffällig wieder in das Plattenregal vertiefen. Ganz nach dem Motto: »Nur nix anmerken lassen!« Aber dafür war es zu spät. Eben grinste der Typ noch, doch plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er sah plötzlich irritiert aus.
Mein Fluchtinstinkt meldete sich. Meine Beine wollten losrennen, doch aus einem mir nicht ersichtlichen Grund, flüchtete ich nicht. Ich ließ es sogar zu, dass der Typ auf mich zu kam.
»Kennen wir uns von irgendwo her?«, waren seine ersten Worte, die ich kaum hörte, weil ich von seinen Augen vollkommen gefesselt war. Sie funkelten tatsächlich. Kleine Silvesterraketen glitzerten in seinen Pupillen.
»Ähm ...«, stammelte ich nicht sehr einfallsreich, »... ich glaube nicht. Aber ...«
Ich schüttelte meinen Kopf, um meine Gedanken zu sortieren und mich von seinen Augen los zu reißen: »Ich weiß nicht ... Irgendwie kommst du mir auch vertraut vor ... Bist du aus der Gegend?«
»Nein, ich bin erst vor ein paar Tagen in die Stadt gezogen.«
»War wohl sowas wie Deja Vue ...«, murmelte ich und war von meiner Erklärung selbst nicht sonderlich überzeugt.
»Sowas in der Art. Egal ... Viel Spaß noch beim Plattenstöbern.«, die Betonung des letzten Wortes ließen mich erröten, doch der Typ grinste mich nur an. Shit, war er süß!
Ich wandte mich also wieder den Platten zu und blätterte Scheibe für Scheibe durch, ohne wirklich auf Cover, Interpret oder Titel zu achten. Mein planloses durchkämmen der Tonträger dauerte gut zehn Minuten. Danach hatte ich mich so weit beruhigt und mir selbst eingeredet, dass der Typ wohl verschwunden sein musste, dass ich mich traute, mich umzudrehen. Er war weg, gottseidank!
Auf Vinyl oder CDs konnte ich mich sowieso nicht mehr konzentrieren, also warum weiter im Plattenladen verharren? Zwei CDs hatte ich mir schon vor dieser merkwürdigen Geschichte ausgesucht, also ab zu Kasse und Kohle abdrücken.
Wie gesagt, der Laden war nicht voll, es war direkt nach den Ferien, daher war ich schnell mit Zahlen fertig und verließ wenige Augenblicke später die Straße. Erst einmal tief Luftholen und Durchatmen. Wieder einmal ärgerte ich mich über mich selbst. Warum war ich bloß so verdammt schüchtern? Warum konnte mir nicht einfach einen lieben Freund suchen und mit diesem heimlichen Scheiß aufhöhren? Es musste ja nicht gleich so ein Traumtyp wie eben im Laden sein. Auf der anderen Seite, warum nicht? Ich galt nicht als absolut hässlich. Ok, Eigenlob stinkt und es ist mir unangenehm, aber wenn ich Interesse an Frauen gehabt hätte, hätte ich vermutlich nur dir üblichen Probleme aller Jugendlicher in meinem Alter gehabt, eine Freundin zu bekommen. Also warum sollte ich mir keinen Supertyp angeln? Genau: weil ich zu feige, zu dumm, zu ängstlich und zu schüchtern war. Mit anderen Worten: Selbstvertrauen gleich null. Nein, falsch, Selbstvertrauen gleich minus zehn.
Ich schluckte meinen Frust runter, akzeptierte wieder mal, dass ich ein Warmduscher war, und begann grummelnd und mit frustriert gesengtem Kopf meinen Fußmarsch Richtung S-Bahn.
Mit meinen Gedanken in völlig anderen Gefilden war ich völlig überrascht, als mein Gehirn plötzlich ein beunruhigtes Gefühl beschlich. Ich wachte gleichsam aus einer tiefen Grübelei auf, stoppte meinen Schritt und sah mich um. Einem unterbewussten Impuls folgend ging ich zum nahegelegenen Fußgängerüberweg und wechselte die Straßenseite. Eigentlich war dies eine völlig absurde Handlung, denn die S-Bahn lag auf der Seite, auf der ich mich vorher befand.
»Tobi! Ey, wach auf! Tohhh-Biiiieee!«
Davon aufgeschreckt, dass jemand meinen Namen rief, zuckte ich zusammen und schaute mich um. Michi stand direkt vor mir. Er fuchtelte wild mit seinen Armen und hörte erst auf mich zu rufen, als er merkte, dass ich ihn bemerkt hatte.
Ein fröhliches Gesicht, wie Michis, steckt mich an. Und auch wenn es vorhin anders geklungen haben mag, aber meinen Selbstbemitleidsmodus konnte ich, dank jahrelangen Trainings, in Sekundenbruchteilen abschalten. Mich freuend Michi zu sehen, strahlte ich sofort auf.
»In was für Gedanken warst du denn versunken?«, fragte mich mein Freund.
»Ich weiß nicht ... Irgendetwas ist merkwürdig...«
Michi wollte gerade antworten, als diverse Dinge gleichzeitig passierten.
Michi ließ sein Skateboard, das er gerade in seiner Hand hielt, los und vor seine Füße fallen. Von einem sehr merkwürdigen, geradezu unheimlichen Gefühl befallen, blickte ich auf die Straße, einer breiten vierspurigen Hauptverkehrsstraße. Im gleichen Moment scherte ein LKW, der in Gegenrichtung fuhr, an der Kreuzung rechts von uns plötzlich aus. Ein Autofahrer, dessen PKW mit überhöhter Geschwindigkeit auf den LKW zuraste, riss sein Steuer herum, um der drohenden Kollision mit dem LKW auszuweichen. Dummerweise geriet er dadurch auf die Gegenfahrbahn und steuerte mit absolut tödlicher Geschwindigkeit direkt auf uns zu.
Ich stürzte los, riss Michi mit mir und preschte davon, weg aus dem Gefahrenbereich.
***
Das Krachen von berstendem Glas, Kreischen von Metall und quietschenden Reifen ließen wir hinter uns.
»Mein Skateboard!«, Michis Sinn für Prioritäten war erstaunlich.
Der Lärm ebbte ab. Wir kamen unsererseits wieder zur Besinnung und drehten uns um.
Der PKW sah weniger gut aus. So wie es aussah, hatte es der Fahrer nicht geschafft, einen Zusammenstoß mit der Häuserwand zu vermeiden. Dort, wo wir eben noch standen, stand jetzt das Wrack eines Oberklasse PKWs. Wären wir nicht gerannt, wären wir zwischen der Betonmauer des Hauses auf der einen Seite und dem PKW auf der anderen Seite zermalmt worden.
Michis Skateboard rollte uns unbeschädigt auf dem Gehweg entgegen.
»Puh, dass war knapp!«, entfuhr es mir.
»Was? Wie? Hat er nicht? Woher wusstest du?«, stammelte Michi.
»Keine Ahnung ...«, meine Verwirrung kehrte zurück. Michi hatte Recht. Ich hatte gewusst, dass dieser Unfall passieren würde. Allerdings hatte ich das sehr beunruhigende Gefühl, dass dieser Unfall hätte anders verlaufen sollen.
Ich starrte Michi irritiert an.
***
Wenige Minuten später wimmelte die Straße vor Polizisten, Sanitätern und Feuerwehrleuten. Man hatte schweres Gerät angefordert, um den PKW, eine Mercedes S Klasse, zu bergen. Die Rettungssanitäter bestanden darauf, dass außer dem Daimlerfahrer, der unter Schock stand, aber von seinen diversen Airbags gerettet wurde, wir sie ebenfalls für eine Untersuchung ins Krankenhaus begleiten sollten.
Wenn stressende Eltern merkwürdig reagieren
Worin es zu einer genauso üblichen wie überflüssigen Diskussionen beim Abendbrot kommt, diese aber eher merkwürdig endet.
Michi ist mein Nachbar, d.h. seine Eltern sind die Nachbarn meiner Eltern. Nachdem wir unseren Innenstadtausflug (wir wohnen in einem dieser typischen Einfamilienhausvororte) mit einem Zwischenstopp im Krankenhaus beendet hatten, schaute ich noch schnell bei Michis Eltern vorbei, um sie gemeinsam mit Michi über das Geschehene zu informieren. Natürlich waren sie bereits vom Krankenhaus benachrichtigt worden, weswegen wir schon sehnsüchtig erwartet wurden.
»Mein Gott, Michael! Tobias! Erzählt doch! Geht es euch gut? Habt ihr euch auch nix getan?«
»Nein Mami, uns geht es gut. Nicht mal mein Skateboard ist Schrott!«
»Und dir Tobias?«
»Alles in Ordnung Frau Müller.«
Bevor ich mit der Schilderung des restlichen Dialogs fortfahre, muss ich noch eine wichtige Anmerkung machen: Ja, Michi heißt tatsächlich Müller, genaugenommen Michael Müller, und er hasst es auf Teufel komm raus Milchbubi genannt zu werden.
»Ach, wieder dieses verflixte Skateboard«, polterte Herr Müller, der gerade zur Tür rein kam los.
Ok, Michi blieb natürlich nicht von den üblichen Skaterverletzungen verschont. Wer aber seinen aggressiven, kompromisslosen Fahrstiel kennt, wird sich eher wundern, dass er sich nie wirklich etwas Ernsthafteres als ein paar Prellungen oder Hautabschürfungen angetan hatte. Aber Mütter und Väter sind bekannterweise genetisch bedingt paranoid was ihre Babys anbetrifft.
»Oh, nein. Michi konnte gar nichts dafür. Der Autofahrer eigentlich auch nicht. Der musste einem LKW ausweichen und geriet auf die Gegenfahrbahn.«
Ich schilderte kurz den Sachverhalt und sorgte damit bei Müllers für diverse »Mein Gott!« und »Himmel!« Ausrufe. Am Ende war sie aber beruhigt, dass wir wirklich nur mit dem Schrecken davongekommen waren.
***
Fürs Erste beruhigt, verließ ich Familie Müller und ging nach Hause. Sowohl in der Einfahrt als auch in der Garage, stand jeweils ein Wagen, also waren meine beiden Elternteile bereits zu Hause.
»Tach Mami! Hallo Paps!«
»Hallo Tobi, gut das du da bist. Du kannst mir gleich beim Aufdecken helfen.«
»Klar Mum!«, ich umarmte meine Mutter und schnappte mir gleich einen Stapel von drei Tellern samt Besteck. Im Esszimmer lief mir mein Vater über den Weg.
»Tobias, du bist spät. Wir hatten doch abgemacht, dass du heute noch den Rasen mähst. Das wird doch wieder nix.«
»Sorry Paps, aber Michi und ich waren in einen Unfall verwickelt und das hat etwas länger gedauert ...«
»Michi! Michi! Michi! Ausreden, Michael hat immer einen Unfall mit seinem blöden Skateboard. Und ausgerechnet immer dann, wenn du zu spät kommst ...«
»Nein Paps, wirklich. Wir wurden ins Krankenhaus gebracht. Ich kam gerade aus dem Plattenladen, als ...«
»Ach, warst du wieder im Plattenladen? Wieder unnötig Geld ausgeben? Warum nimmst du eigentlich nicht, wie alle anderen Kinder, deine Musik auf Kassette auf, dass ist viel billiger.«
»Erstens hab' ich keine Kassetten, sondern MDs und CDROMs; zweitens nehme ich alles auf, was ich bekommen kann; drittens gibt es Musik, die man so nicht bekommt, nicht mal als MP3; und viertens bin ich 17 und kein Kind mehr.«
»Dann benimm dich auch so! Du bist unzuverlässig! So geht das nicht! Wenn man sein Wort gibt, dann muss ...«
»Ich hab mein Wort gegeben? Wie bitte? Ich wurde ja nicht mal gefragt! Du hast gesagt, ich soll den Rasen mähen.«
»Ja und? Ist das von meinem Sohn wieder einmal zu viel verlangt? Du willst doch so Erwachsen sein, dann muss man auch Verantwortung übernehmen!«
»Hör auf! Das mit dem Rasen ist doch lächerlich. Ob ich den heute oder morgen mähe, ist doch völlig egal. Ich hab' auf diese Diskussion keinen Bock mehr. Immer wenn du Stress auf der Arbeit hast, lässt du das an mir aus. Ich will das nicht mehr. Hör' einfach damit auf! Bitte, such' dir jemanden anderen, an dem du deinen Frust ablassen kannst! Aber nicht mehr bei mir!«
»Bürschchen, was fällt dir eigentlich ein? Was glaubst du, mit wem du sprichst? So nicht! So nicht! Ich bin dein Vater und hab' etwas mehr Respekt verdient. Verschwinde! Geh auf dein Zimmer! Ich will dich heute nicht mehr sehen. Aber ich verspreche dir, die Sache ist noch nicht ausgestanden!«
Ich liebe diese Unterhaltungen. In den letzten eineinhalb Jahren wurden sie zu einer liebgewonnen Gewohnheit. Paps hatte Stress. Paps ließ Stress an mir aus. Super. Theoretisch hatte er sich bisher immer wieder beruhigt, praktisch wurde die Situation eigentlich immer schlimmer; die Ausbrüche häufiger und der Streit heftiger. Wenn ich nur daran dachte, was passieren würde, wenn er erfährt, dass ich mit Michis Unfall die Wahrheit gesagt hatte, schwante mir schon Übles. Denn Paps irrt sich per Definition nie und war per Erlass immer im Recht. Ihn bei einem Fehler zu überführen, war keine wirklich Idee.
Wie auch immer, ich wollte meinen Teller gerade mit nach oben in mein Zimmer nehmen, als mich wieder dieses merkwürdige Gefühl überkam. Ich hielt meinen Teller in der Hand und drehte mich nochmal zu meinem Vater um.
»Was ist das GEN/CHEM-I-XP-Projekt?«
Ich hatte keine Ahnung, was ich da fragte, geschweige denn, woher ich diese kryptischen Begriffe kannte. Ich wusste nur, dass sie mit mir und meinem Vater in irgendeiner Verbindung standen.
Die Reaktion war überraschend und schockierend zugleich. Mein Vater wurde kreidebleich. Er sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ich habe meinen Paps noch nie vorher derart entsetzt gesehen. Reflexhaft griff er mit seiner rechten Hand an sein Gesicht und fuhr mit seinem Finger über seine rechte Wange, um sich schließlich mit seiner Hand den Mund zu halten.
»Tobi, es tut mir leid ...«
Träumte ich, oder sah ich meinen Vater gerade weinen. Er gab mir keine Möglichkeit dies näher zu untersuchen, denn im gleichen Moment schnappte er sich seinen Wagenschlüssel, die im Flur auf unserem kleinen Garderobenschrank lagen und rief: »Ich muss nochmal dringend in die Firma!«
Mit diesen Worten ließ er mich ziemlich verwirrt stehen und war verschwunden.
***
»Was war denn mit deinem Vater los?«, fragte meine Mutter verunsichert. »Habt ihr euch wieder gestritten«
Ich kratzte mich am Kinn, da ich nicht die geringste Idee hatte, was da gerade geschehen war. Ich versuchte es daher mit der halben Wahrheit: »Ja, das Übliche: ich verhalte mich kindisch, ich übernehme keine Verantwortung, ich bin dies und ich bin das.«
»Und deswegen ist er nochmal losgefahren?«, fragte meine Mum skeptisch.
»Nee, er meinte er hätte was in der Firma vergessen.«
Mum gab sich mit dieser Erklärung zufrieden. Es kam durchaus häufiger mal vor, dass mein Vater spät Abend zurück in die Firma fuhr. Als Entwicklungsleiter einer Chemiefirma musste er manchmal kritische Versuche selbst überwachen. Manche Entwicklungen wurde, so erklärte das mein Paps, nur von wenigen eingeweihten Personen betreut, um das Risiko von Werksspionage zu minieren.
Nach diesem Intermezzo trottete ich mit meinem Teller auf mein Zimmer, muffelte mein Abendbrot auf und grübelte. Irgendwas war merkwürdig.
Ich lag auf meinem Bett und betrachtete mein Zimmer: Schreibtisch, Bücherregal, Computer. Alles war an seinem Platz. Alles wirkte vertraut und trotzdem ...
Irgendetwas war anders und das nervte mich. Weniger, dass etwas anders war, sondern, dass ich nicht in der Lage war, es beschreiben zu können. Ich schloss meine Augen. Mit dem Rücken auf meinem Bett liegend versuchte ich, den gesamten vergangenen Tag nochmals schrittweise nachzuvollziehen. Aufstehen, Frühstück, Streit mit Paps wegen Rasenmähen, Schule ... soweit fühlte sich alles normal an.
Der Plattenladen -- Ich dachte nach und versuchte mich an jedes Detail zu erinnern. Zuerst schien alles normal gewesen zu sein. Aber dann ...
Ja, richtig, da war dieser Typ. Nein falsch! Nicht Typ -- Traumtyp. Dieser Junge mit den funkelnden Augen. Er war einfach der perfekte Treffer in meinem Beutesuchmuster. Wenn ich einmal davon absah, dass ich niemals den Mut aufbringen würde, so einen Typen, geschweige denn überhaupt einen Typen, anzusprechen, war er exakt der Typ Mann, bei dem ich butterweiche Knie bekam.
Shit! War ich wohlmöglich einfach nur verliebt? Waren das die berühmten Schmetterlinge im Bauch? So musste es wohl sein, denn seid ich diesen Typen gesehen hatte, stimmte meine Welt nicht mehr und war ... merkwürdig .
Oder auch nicht?
Verliebtheit war eine Sache, aber mein seltsames Gefühl ging tiefer. Erst einmal hatte ich das unbestimmte Gefühl, den gesamten Nachmittag schon einmal erlebt zu haben. Allerdings nicht so, sondern anders.
Ich setzte mich in meinem Bett auf und schüttelte meinen Kopf. Was für ein Schwachsinn trieb mich jetzt schon wieder um? Wie konnte ich etwas schon mal erlebt haben, dass ganz anders abgelaufen sein soll? Das passt nicht wirklich zusammen. Warum hatte ich zum Beispiel das Gefühl, dass der PKW in das Juweliergeschäft rasen sollte, welches sich ein paar Meter weit weg von der tatsächlichen Unfallstelle befand?
Sowas ist doch hirnrissig, oder?
Und was zum Teufel ist das GEN/CHEM-I-XP-Projekt?
***
»Tobi! Tobias, wach auf! Es ist schon halb sieben. Wenn du noch Frühstück willst, solltest du langsam aufstehen.«
Ich öffnete langsam meine Augen. Erst das eine, dann das andere. Blinzelte durch die kleinen Schlitze, die ich so gerade eben aufbekam, und sah mich um. Es war immer noch mein Zimmer. Ich sah meinen Kleiderschrank, meinen Schreibtisch, meinen Computer, mein Bücherregal, meine Glotze. Kein Zweifel, ich lag in meinem Bett. Der leergefressene Abendbrotteller lag neben mir. Ich muss abends auf meinem Bett eingeschlafen sein, grübelnd über unlogische Merkwürdigkeiten. Ich hatte mich noch nicht mal ausgezogen und lag mit den Klamotten vom gestrigen Tag auf der Matratze. Ich war klitschnass vor Schweiß, wie nach einem Albtraum. Dabei konnte ich mich nicht mal daran erinnern einen Traum gehabt zu haben.
Ich setzte mich langsam auf. Uff, was für Kopfschmerzen. Ich hatte einen hammerharten Dröhnschädel. Kleine Blitze durchzuckten mein Blickfeld. Ich hievte mich mühsam aus meinem Bett, schlüpfte in meine Badelatschen und schlurfte ins Badezimmer. Was mir da aus dem Badezimmerspiegel entgegen sah, hatte nur sehr entfernt Ähnlichkeit mit mir. Ich kratzte mich am Kopf und entschied kalt zu duschen. Ich entledigte mich meiner schweißfeuchten Klamotten und stellte fest, dass Shorts und T-Shirt nicht nur feucht, sondern wirklich klatschnass waren. Man, muss ich schlecht geträumt haben! Ich muss wirklich einen totalen Alptraum gehabt haben.
Die kalte Dusche brachten meine Lebensgeister wieder zurück. Die Kopfschmerzen verflogen, die Erinnerung an einen möglichen Alptraum verblasste und hinterließ nur ein leicht unangenehmes Gefühl.
Zum Frühstück war ich wieder zu gut 98% frisch, die Kopfschmerzen hatten einer guten Laune Platz gemacht. Da mein Vater nicht anwesend war, bestand glücklicherweise wenig Gefahr, dass sich die gute Stimmung sofort wieder verlor.
»Guten Morgen Tobi. Oh, hallo Sohn, bist du das wirklich?«, meine Mutter sah mich überrascht an.
»Was?«
»Du wirkst so ... hm, glücklich, wach, energiestrotzend ...«
»Komisch, ich fühl' mich auch so«, das fiel mir in genau jenem Moment ein. Ich fühlte mich überraschend gut. Erstaunlich, was eine kalte Dusche alles leisten kann.
»Naja, ich könnt mir was Schlimmeres vorstellen. Komm' iss was und dann ab in die Schule.«
»Ja, Mamma!«
/join #mytown
Worin man sich nicht darüber wundert, wer an die Tür klopft.
Die Oberstufe war schon eine Umgewöhnung. In jedem Kurs waren andere Leute. Obwohl, so ganz stimmt das natürlich nicht. Wir stammten schließlich alle samt aus dem gleichen Jahrgang und kannten uns von daher mehr oder weniger gut aus unseren alten Parallelklassen. Den allgemeinen Gesetzen der Statistik sei Dank, steckten in den meisten Kursen auch Leute aus meiner alten Klasse.
Um ehrlich zu sein, mir war das Einerlei. Ich galt nicht unbedingt als geselliger Mensch. Ok, um wirklich ganz ehrlich zu sein, ich entsprach eher dem Stereotyp des Klassenfreaks, dem klassischen Außenseiter ohne viele Freunde.
Eigentlich hatte ich nur einen einzigen Freund: Michi, meiner letzten Verbindung zur restlichen Welt.
Eine Zeit lang, so in um die 7. Klasse herum, war ich ein beliebtes Ziel für Übergriffe meiner lieben Mitschüler gewesen. Man kennt das: Ich wurde abgezogen (Jacke, Taschengeld, Rucksack) und gelegentlich etwas rumgeschubst. Ok, dabei ging mal ein Arm zu Bruch und auch zwei Schneidezähne mussten dran glauben. Aber das war die absolute Ausnahme. Der Rest war sozusagen die übliche Behandlung, wenn man der Underdog ist. Da ich aber nie sonderlich darauf einstieg, verlor man glücklicherweise schnell das Interesse an meiner Person und suchten sich ein anderes Opfer. Von da an hatte ich ein ruhiges und beschauliches Leben. Das heißt fast, denn in die gleiche Zeit, fiel mein Coming Out. Eigentlich war es merkwürdig, denn je sicherer ich mir meiner selbst wurde, desto weniger waren die anderen hinter mir her.
Vielleicht verlor man gar nicht das Interesse an mir, weil man jemanden anderen zum Tyrannisieren gefunden hatte, sondern weil ich einfach einen stärkeren Charakter entwickelt hatte. Egal. Mein Standing zum damaligen Zeitpunkt könnte man folgendermaßen beschreiben: Ich war weder sonderlich beliebt, geschweige denn respektiert, aber man ließ mich in Ruhe. Ich hatte zwar den Eindruck, dass das eine oder andere Mädchen ein Auge auf mich geworfen hatte, aber da ich nie entsprechende Signale zurück sandte, kam auch nie etwas zustande, was eh ein vergebliches Unterfangen gewesen wäre.
»Du bist einfach der Exot«, beschrieb Michi meine Stellung in der Schule. »Manche haben Angst vor dir, manche halten dich für einen totalen Autisten und ein paar Leute hassen dich, dass sie einen Brechkrampf bekommen, wenn sie dich nur sehen. Einfach so, ohne sonderlichen Grund. Aber der Mehrheit bist du total egal. Die wissen nicht mal, wer du bist.«
Es war der zweite Schultag nach Ferienende. Ich saß in einer Doppelstunde Geschichte bei einem Lehrer, den ich in meinem bisherigem Schulleben noch nie gehabt hatte (Dr. Richard Marburger), und lauschte seinen Vortrag über Aufklärung und Gesellschaftsverträge, als mich wieder dieses unheimliche Gefühl beschlich, in einer TV-Wiederholung festzustecken. Gedankenverloren schaute ich in Richtung der Klassenzimmertür, die sich rechts vorne im Raum befand, als es plötzlich klopfte und die Tür, ohne auf ein »Herein« zu warten, aufflog.
Sämtlich Augenpaare des Kurses folgten meinem Vorbild und richteten sich ebenfalls in Richtung Tür aus. Ein Junge, etwa in meinem Alter, aber das war schwer zu sagen, betrat den Raum. Es war der Junge aus dem Plattenladen.
»Ja, bitte?«
»Antonides, Ralf Antonides.«
»Was?«
»Mein Name. Das ist mein Name. Man hat mich diesem Kurs zugeteilt. Ich bin erst heute auf diese Schule gekommen, deswegen stehe ich nicht auf der Kursliste.«
»Äh, ja, ach so. Gut Ralf, dann suchen Sie sich doch bitte einen freien Platz«, wimmelte Marburger die Störung seines Unterrichts ab.
Interessant war die Reaktion des Kurses auf den neuen Mitschüler. Sämtliche Augenpaare mit weiblichem Besitzer, sowie ein Augenpaar mit einem männlichen Besitzer (das war meins) gafften Ralf an. Wie gesagt, er war ein absoluter Traumtyp. Oder einfacher: er war perfekt!
Perfekt, weil er genau die Balance hielt. Er sah supergut aus, aber auch nicht so gut, dass es unerträglich wurde. Er war sehr gut gekleidet, aber eben nicht übertrieben gut. In allen Dingen besaß er genau das richtige Maß.
Und dann war da noch eine Frage, die mir im Kopf rumgeisterte: »Hast du das nicht schon mal erlebt?«
Ralf wanderte durch die Sitzreihen. Seine Platzauswahl hatte etwas von der Ziehung der Lottozahlen. Jedes weibliche Wesen im Raum betete darum, den Hauptgewinn zu ziehen. Doch alle würden eine Niete ziehen. Ich wusste es. Ich wusste zwar nicht, woher ich es wusste, aber ich wusste, das sich Ralf neben mich setzten würde.
Ralf setzte sich neben mich!
Ich musste schlucken. Wie konnte ich es wissen? Ralf lächelte mich zwar mit einem makellosen Zahnpastagrinsen an und meinte: »Hi, nett dich wiederzusehen«, doch wirkte er auf mich ungefähr so verunsichert, wie ich mich fühlte.
»Ähm, könnten wir dann wieder mit dem Unterricht fortfahren?«, Doc Marburgers Kommentar bezog sich auf sämtliche nichtmännlichen Schüler im Raum, deren schmachtende Blicke fest auf Ralf geheftet waren. Ich hingegen wurde nur mit dem einen oder anderen giftigen Blick bedacht. Unfair! Hatte ich mich zu Ralf oder Ralf zu mir gesetzt? Die Blicke lösten sich langsam, sehr langsam und zögerlich. Der eine oder andere Seufzer war zu hören und der Unterricht wurde fortgesetzt -- wenn man einmal von mir absah. Ich fühlte mich zu benommen, um dem Unterricht noch folgen zu können.
Da setzte sich ein absolut, geiler Traumtyp zu mir, strahlt mich auch noch unverschämt süß an, und ich schweige und bekomm das totale Flattern. Tobi, du bist und bleibst ein Weichei!
***
»Du hast vorhin so erstaunt geschaut? Erinnerst du dich nicht mehr an mich?« Ralf saß mir im Aufenthaltsraum unserer Schule gegenüber; die Doppelstunde Geschichte war Geschichte. Ein gravierender Nachteil meines Kursplans, verglichen mit meinem alten Stundenplan, waren die Freistunden. In diesem Moment handelte es sich um eine Doppelstunde. Sie war zu kurz, um etwas Sinnvolles außerhalb der Schule zu unternehmen, aber andererseits zu lang, um sich nicht zu langweilen.
»Doch, gestern im Plattenladen. Sehr peinliche Geschichte. Ich hab' dich wohl etwas sehr blöd angegafft. Tut mir leid!«, ich bekam ein mulmiges Gefühl. Die Richtung, in die die Unterhaltung startete, gefiel mir überhaupt nicht. Hatte der Typ vielleicht etwas gemerkt.
»Es gibt schlimmeres«, entgegnete Ralf lakonisch, »Ich bin übrigens Ralf, Ralf Antonides.«
»Klingt griechisch ...«, stammelte ich drauf los und merkte im gleichen Moment, das der Name Ralf nicht wirklich sehr griechisch war.
»Dein Nachname meine ich«, setzte ich schließlich noch die dümmst mögliche Ergänzung nach. Für was für einen Dorftrottel musste mich dieser Ralf jetzt halten.
Ralf ging auf meine an Debilität grenzenden Äußerungen nicht ein, sondern erläuterte schlicht: »Mein Großvater war Grieche.«
»Äh, ja ...«, er sah einfach extrem attraktiv aus. Es war schwer, ihn nicht andauernd anzuhimmeln und noch schwerer, bei der ganzen Anhimmelei nicht wie ein sabbernder Trottel zu stammeln. Als Sahnehäubchen kam obendrein hinzu, dass ich in Ralfs Gegenwart permanent gegen eine drohende Erektion ankämpfen musste. Ich konnte mir sehr lebhaft vorstellen, was er von mir denken würde, würde er bei mir einen voll entwickelten Ständer bemerken. Bekannterweise zählt nur der erste Eindruck und den wollte ich auf keinen Fall verbocken.
Der Typ lächelte mich freundlich an. Langsam wurde ich mürbe. Ich zuckte mit den Schultern, fuchtelte etwas unschlüssig mit den Armen und schüttelte den Kopf: »Ich, ähm, also ... hmm, ich glaub' das war keine gute Idee von dir ...«
Vorwärtsverteidigung. Mir war zwar noch nicht klar, was für einen Unsinn ich gleich verzapfen würde, aber ich war mir absolut sicher, dass es megamäßig großer Unsinn sein würde. Ich kannte mich. Leider.
Ralfs Gesicht machte auf Fragezeichen.
»... sich neben mich zu setzen ...«, versuchte mein Mundwerk eigenständig Ralfs Verwirrung zu mindern »Das war keine gute Idee.«
»Und warum nicht?«, warum hatte ich plötzlich den Eindruck, als wenn mein Gegenüber versuchte, etwas in meinen Augen zu lesen. Ich kam mir vor, wie unter einem Mikroskop.
»Oh Shit, ich bin wirklich nicht der Typ, mit dem man gesehen werden will.«
»Nicht?«, wann würde Ralf endlich aufhören, zu lächeln. Wenn der Mann so weiter macht, würde ich möglicherweise noch schwach werden. Shit, der merkt wirklich noch was.
»Ich ... ich gelte hier als sowas wie der Jahrgangsfreak. Wenn man's nett formuliert: ein Einzelgänger. Manche bring's auch einfacher auf den Punkt: der Megalooser.«
»Und, bist du ein Looser?«, nicht nur sein Lächeln machte mürbe, seine Fragen hatten mindestens die gleiche Qualität. Immerhin war sein Lächeln bei dieser Frage vorübergehend verschwunden und hatten einem ernsten und nachdenklichen Gesichtsausdruck Platz gemacht.
»Ich habe keine Ahnung. Vermutlich bin ich einer ...«, und zuckte mit den Schulter, den Kopf gesenkt, aber mit den Augen Blickkontakt aufnehmend. Über eine Sache musste ich mir plötzlich keine Sorgen mehr machen. Ich fühlte plötzlich Beklemmungen. Es ging mir schlagartig emotional beschissen. Immerhin hatte sich damit das Problem einer drohenden Erektion erledigt.
»Du willst also ein Looser sein? Dir gefällt die Rolle? Man kann sich so schön in Selbstmitleid suhlen, nicht wahr?«, seine Stimme triefte unerwartet vor Sarkasmus und traf mich ohne jegliche Deckung. Mental von den Füßen gehauen, reagierte ich, wie ein angeschossenes Tier. Ich biss um mich.
»Du hast doch keine Ahnung!«, verlor ich die Fassung und fauchte ihn an: »Du hast absolut Null Ahnung!«
»Nein, hab' ich nicht?«, ich überhörte den entscheidenden Unterton.
»Nein, du Arsch! Hast du nicht! Ich bin der Typ, den man sein Taschengeld abzieht! Kapiert? Echt, du fährst hier wirklich besser ohne 'nem Versager!«
»Warum?«, entgegnete der Angefahrene mit erstaunlicher Ernsthaftigkeit und nahm mir sämtlichen Wind aus den Segeln.
»Weil ...Weil ...«, japste ich nach Argumenten und griff schließlich nach dem naheliegendsten: »Leidest du unter Wahrnehmungsstörungen? Hast du dich in der letzten Zeit mal im Spiegel betrachtet? Man, du siehst megageil aus. Dir müssen die Frauen nur so an den Hals springen. Hast du nicht gemerkt, wie sie dich angegafft haben? Die haben dich regelrecht mit ihren Blicken ausgezogen! Du spielst in einer völlig anderen Klasse. Und wenn du auch nur halb so intelligent bist, wie du aussiehst, werden sie dich wahrscheinlich sogar zum Schulsprecher wählen. Und sowas wie du will sich mit 'nem Typen wir mir abgeben. Wer's glaubt wird selig! Auf was für'n Trip bist du? Macht dich das an, Typen wie mich leiden zu sehen? Oder fühlst du dich besser, wenn du 'nen Freak wie mich unter seine Fittiche nimmst? Die soziale Ader raushängen lassen?«
»Du brauchst mich nicht! Und ich brauch dein Mitleid nicht! Also verpiss dich!«, setzte ich noch nach, nachdem Ralf nichts entgegnete und mich nur entgeistert angestarrte.
»Verschwinde!«, war mein letztes Wort. Ich stand auf, ließ Logik Logik sein und rannte selbst aus dem Raum. Ich rannte so schnell, dass Ralf auf keinem Fall bemerkte, dass meine Augen Wasser ließen. Ohne sonderlich zu überlegen, jagte ich aus dem Gebäude und verkroch mich in einem wenig besuchten Plätzchen des Schulgartens.
Unser Schulgarten war ein Ökologieprojekt von Frau Oberstudienrätin Simone Breitenbach gewesen, komplett mit verschiedenen Vegetationszonen, Feuchtbiotop und Gartenteich. Die Breitenbach hatte wohl eher didaktische Aspekte im Kopf, als sie während einer Projektwoche unserer Schule den Garten mit einem Trupp Schülern konzipierte und baute. Die tatsächliche Nutzung sah anders aus. Der Garten war Schülern ab der zehnten Klasse vorbehalten. Die Kinder mussten draußen bleiben, was soweit sehr angenehm war, als das auch der Lärm der Kiddies draußen blieb. Unser Garten, in einem kleinen Innenhof gelegen, hatte sich sofort zum Rückzugsort für Pärchen und Leute, die mal allein sein wollten, entwickelt. Erstaunlicherweise hielt sich jeder an das ungeschriebene Gesetz des Schulgartens: »Keinen Stress machen!«
Scheiße, was ist mit mir los?
Was war das? Wieso konnte mich dieser Ralf mit ein paar Worten zum Heulen bringen? Mich in ein jämmerliches Nervenbündel verwandeln? Damals, als ich noch von meinen lieben Mitschülern abgezogen und gelegentlich auch verprügelt wurde, hatte ich nie geheult. Keine Träne! Kein Wimmern! Keine Schwäche!
Aber Ralf? Was tat er mir an, dass ich so reagiere, wie ich reagierte?
Eine Stunde hockte ich auf einer der Bänke im Garten und versuchte zu ergründen, was schief gelaufen war. Ich war nie ein Typ der hysterisch reagiert. Mein Ruf als Einzelgänger und Lonly wolf war mir zwischenzeitlich heilig geworden. Coolheit war mir wichtig. Warum dann diese Reaktion auf Ralf? Er hatte eigentlich nichts Falsches, geschweige denn Böses gesagt. Zugegeben, er hatte mich provoziert und es hat mich maßlos geärgert. Dabei störte mich weniger die Tatsache, dass er mich angetickt hatte, sondern viel mehr, was er inhaltlich sagte.
»Du willst also ein Looser sein? Dir gefällt die Rolle? Man kann sich so schön in Selbstmitleid suhlen, nicht wahr?«
Die Worte klangen mir noch eine Stunde später in den Ohren. Dieses kleine Arschloch hatte recht. So sehr es mir wiederstrebte es zuzugeben, ich fühlte mich wohl in meiner Außenseiterrolle, als Freak und Einzelgänger. Die Welt war schlecht und ich war gut. So einfach war das. Es gab nur eine Person, bei der es anders war: Michi.
Off track
Worin sich asiatische Kampfkunst an einem unerwarteten Ort zeigt.
Die nachfolgende Unterrichtsstunde war zwar nervig, Geographie, aber glücklicherweise frei von Ralf. Ich hatte ganze 45 Minuten Zeit mich wieder unter Kontrolle zu bringen. Dass ich diese Zeit dringend benötigte, wurde mir klar, als ich versuchte von meiner Parkbank in den Unterrichtsraum zu gehen. Im ersten Moment wurde mir leicht schwarz vor Augen, da mein Kreislauf wohl etwas abgestürzt war. Als dann auch noch ein aktueller Anfall von stechenden Kopfschmerzen hinzukam, war alles vorbei.
Off-Track! -- Total neben der Spur!
Auf den Weg ins Schulgebäude torkelte ich mehr, als das ich ging. Ich benötigte alle Konzentration, um durch meinen kopfschmerzvernebelten Blick den Weg zu finden. So entging mir, dass hinter mir das gusseiserne Skelet der Parkbank zu quietschen begann und sich im gleichen Moment verbog. Sie wickelte sich auf, begann sich ineinander zu verschlingen und war hinterher alles andere als eine Parkbank.
Aber wie schon erwähnt, bekam ich von alle dem nichts mit. Ich hielt mir meinen Schädel und taumelte in meinen nächsten Kursraum.
Im Unterricht, die Grundzüge von Raumordnung und Infrastrukturplanung trieben spurlos an mir vorbei, lichtete sich recht schnell der Nebel, der meine Sehfähigkeit getrübt hatte. Richtig gut fühlte ich mich trotzdem nicht. Ich kämpfte mit einer innerlichen Unruhe, die ich mir nicht erklären konnte. Ich hatte das Gefühl leicht zu zittern. Mir war regelrecht tatterig. Mehrfach griff ich mit einer Hand meinen Nacken und massierte ihn. Verflucht, was war mit mir los? Das kurze Gespräch mit Ralf konnte unmöglich eine derartig heftige Wirkung gehabt haben.
Auch die nächste Stunde rauschte an mir vorbei, ohne dass ich der Veranstaltung inhaltlich folgen konnte. Ich realisierte zwar, dass dieser Ralf Antonides im gleichen Kurs war, konnte mich aber nicht recht auf ihn konzentrieren. Das Einzige, was mir auffiel, war, dass er mir mehrfach unauffällig besorgte Blicke zuwarf. Seine Augen schienen dabei in einem beunruhigenden und sehr unnatürlichen Cyanfarbton zu schimmern.
***
»Tobias, du siehst Scheiße aus!«
Michi brachte mein Befinden auf den Punkt. Wie jeden Schultag traf ich mich mit Michi am Ende des Unterrichts vor der Schule.
»Danke für die Blumen. Aber du hast Recht. Ich fühle mich wie ausgekotzt!«, bemerkte ich mit einem müden Blick in Richtung meines Freundes.
»What's happend?«, fragte der Skateboardtreiber.
»Weiß nicht?«, antwortete ich und ließ mich erschöpft auf den Kantstein eines Parkhafens fallen.
Prompt erntete ich einen besorgten Blick von Michi. Er rollte zu mir und setzte sich ebenfalls: »Hey, was ist los? So kenn ich dich ja gar nicht.«
»Hast du diesen neuen Schüler gesehen?«, antwortete ich ausweichend.
»Meinst du diesen Ralf Antondingens? Und ob! Er ist in einem meiner Kurse. Mann, die Weiber haben ihn regelrecht mit ihren Augen ausgezogen. Der lässt uns ganz schon alt aussehen. Wieso?«, Michi sah mir direkt in die Augen: »Hat er dich angemacht?«
»Jein ...«, antwortete ich ausweichend. »Er und ich haben die gleiche Doppelfreistunde zusammen. Wir haben uns unterhalten und dann ...«
Und dann konnte ich nicht weitersprechen. Ich wusste selbst nicht ganz genau, was passiert war.
»Erzähl mir ganz genau, was passiert ist. Ich bestehe auf jedes Detail!«
Ich musste grinsen. Michi hatte schon vor Jahren so etwas wie einen Beschützerinstinkt mir gegenüber entwickelt. Er meinte, auf mich müsse man permanent aufpassen, dabei musste man eher auf ihn aufpassen, dass er sich nicht mal die Schnürsenkel seiner Schuhe untereinander im Tran zusammenband. Und weil dem so war, hatten wir eine Vereinbarung miteinander getroffen. Wir passten aufeinander auf. Ich passte auf Michi auf, wenn er sich mal wieder in seinen parallelen Frauengeschichten verhedderte und Michi passte auf mich auf, dass niemand mich anmachte. Ich weiß nicht, wieso, aber Michi ist, nie abgezogen worden.
Widerwillig erzählte ich ihm haarklein, was in der Freistunde passiert war. Ich hasste es. Es musste sich anhören, als wenn ich als das totale Oberweichei präsentiert hatte, das heulend zu seiner Mama rannte: »Der Junge da war ganz gemein zu mir!«
Michi meinte nichts dergleichen, stattdessen zog Zornesfalten über sein Stirn: »Wenn ich diesen Lackaffen in die Finger bekomme ...«
»Nein!«, unterbrach ich Michi. »Lass ihn. Ralf hat Recht. Ich habe mich hinter meinem Looserimage versteck! Tobias vanBrüggen, der einsame Wolf. Der Einzelgänger!«
Als wenn jemand nach Jahren auf die Idee kam, dass man Fenster auch putzen kann, um die Durchsicht zu verbessern, sah ich mich und mein Ego in nie dagewesener Klarheit.
»Und wovor hast du dich versteckt?«
»Vor der Wahrheit!«, ich sah Michael direkt in die Augen, hielt seinen Blick fest, atmete tief durch, »Ich bin schwul!«
***
Hatte ich das gerade gesagt? War ich wahnsinnig geworden? Noch bevor mein Geständnis in Michis Verstand hereinsickern konnte, wurde unsere private Kantsteinunterhaltung jeh unterbrochen.
»Na, wenn haben wir den da? Wenn das nicht unser alter Freund Tobi ist. Sag schön guten Tag, Tobi!«
Nils! Wie, um Himmels willen, konnte ausgerechnet Nils in diesem Moment dazwischen platzen? Wieso sprach er mich überhaupt an? Nils, der Pate der Schule, hatte doch schon vor Jahren sein Interesse an mir verloren.
Als Nils Stimme sich in meinem Ohr bemerkbar machte, hatte ich immer noch Michi mit meinem Blick fixiert. So konnte ich sehen, wie Michi zusammenzuckte. Sein Blick erstarrte, seine üblicherweise sehr flinken und lebendigen Augen wurden matt und sahen aus, als wenn sich Michi an eine alte schmerzhafte Begebenheit erinnerte. Er sagte nichts. Ich sagte ebenfalls nichts, schickte ihm aber einen Blick zu der sagte: »Ich regel das!« Michi nickte, machte aber aus seiner Besorgnis keinen Hehl. »Sei vorsichtig!«, flehten seine Augen.
»Nils!«, bemerkte ich kalt, während ich immer noch Michi an sah und nickte: »Natürlich bin ich vorsichtig.«
Ich erhob mich vom Kantstein, rollte meinen Kopf zwei-, dreimal auf meinem Halswirbeln hin und her, dass es laut und deutlich knackte. Ein mir völlig unbekanntes Gefühl durchströmte mich: Selbstsicherheit. Ich war noch nie selbstsicher gewesen! Ich zog meine Klamotten zurecht und wandte mich Nils zu.
Nils war erwartungsgemäß nicht allein. Sein Faktotum Carsten begleitete ihn. Carsten grinste dämlich, wie er es immer tat. Ein untrügliches Indiz für seine sprichwörtliche Debilität.
Nils grinste nicht. Genaugenommen lächelte er, wurde aber sofort ernst, als er meine Reaktion auf seine Begrüßung sah, ließ dann aber kurz ein leichtes Kräuseln über seine Stirn wandern. Nils war überrascht von meinem selbstbewussten Auftreten.
Er war nicht der Einzige, der überrascht war. Ich war von mir selbst überrascht und auch ein wenig erschrocken. Vor kaum zwei Stunden hing ich wie ein nasser Sack mit einer Kopfschmerzattacke auf einer Parkbank rum und jetzt bot ich Nils, der Personifizierung juveniler krimineller Energie, die Stirn? Michi musste mich für hochgradig suizidgefährdet halten, aber mir kam es nicht so vor. Ich stand zwei Meter vor meinem Widersacher, den Kopf aufrecht, den Blick fest auf Nils gerichtet und hatte keine Angst.
Ich hatte keine Angst?
Ich hätte welche haben müssen. Ich wusste, wer Nils war. Ich wusste, wozu er fähig war. Ich kannte die Herrschaftsstruktur an unserer Schule. Ich hatte es selbst mit eigenen Augen mit ansehen müssen, wie Nils einen Mitschüler zusammenschlagen ließ. Er ließ ihn zusammenschlagen, weil er ein Exempel statuieren wollte. Nils erpresste uns Schüler und vermutlich sogar etliche Lehrer. Wenn ich bedachte, dass sein ausführender Muskel Carsten zu dumm war, um es mit einer Wurstbrotschnitte intellektuell aufnehmen zu können, blieb eigentlich nur der logische Schluss, dass Nils auch Lehrer in der Hand haben musste. Denn zur Frustration jeder Wurstbrotschnitte erhielt Carsten trotz nicht vorhandenen Intellekts überdurchschnittliche Noten.
»Was?«, sprach Nils und klang dabei amüsiert. »Leiden wir unter einem Anflug von Größenwahn?«
Ich lockerte Schultern und Hals ein weiteres Mal und ließ dabei meine Knochen vernehmlich knacken: »Unter Größenwahn leidet hier wohl nur einer!«
Es war so weit. Ich war vollkommen wahnsinnig geworden! Übergeschnappt! Durchgeknallt! Reif für die Klapsmühle!
»van Brüggen, du bist fällig!«, Nils klang sicherer, als er es war. Ich weiß nicht, wieso, aber ich konnte seine Unsicherheit fast riechen. Er war schlau genug, um zu wittern, wenn etwas nicht stimmte. Nils registrierte einen Widerspruch: Niemand, der bei klarem Verstand ist, würde sich ihm widersetzten. Da er nicht davon ausging, dass ich nicht bei klarem Verstand war (worin er irrte), vermutete er etwas anderes hinter meinem Auftreten.
Nils spielte die Sicherheitskarte aus. Er schnippte mit dem Finger und sein Pit-Bull namens Carsten reagierte. Carsten grinste mich Stulle an. Zog langsam und genüsslich seine Jacke aus (selbst geklaut), schob seine T-Shirtärmel hoch, knackte mit den Fingern und meinte: »Wehr dich auch schön, damit ich was zum spielen habe!«
Ich dachte noch »Maximal 10 Sekunden bis zu Besinnungslosigkeit!«, wurde dann aber eines besseren belehrt.
Carsten trat auf mich zu, kreiste mich ein, während ich eher wie ein Shaolin-Mönch in mir ruhte und ihn bewegungslos beobachtete. Carsten besaß zwar keinen nennenswerten IQ, verfügte aber über einen gewissen Instinkt, der ihn zu einer tödlichen Kampfmaschine machte. Außerdem hatte er Muskeln satt. IQ statt Muskeln -- Man muss Prioritäten setzen.
Carsten langte aus. Ein Doppelschlag mit beiden Fäusten. Der Erste sollte mich täuschen, der Nächste sollte meine Nieren treffen. Doch sie taten es nicht. Ich blockte beide Schläge mit minimalem Körpereinsatz und absoluter Leichtigkeit ab. Ich hatte keine Ahnung, wie ich es tat, doch ich tat es. Es handelte sich offensichtlich um asiatische Kampftechniken, die ich einsetzte. Einfach so!
Mir fehlte die Zeit darüber zu rätseln, wieso ich ohne es jemals gelernt zu haben, Kickboxen, Kung-Fu, Karate, Judo und dergleichen beherrschte. Ich wusste einfach intuitiv, welchen Griff ich anwenden musste. Ich musste nicht einmal darüber nachdenken. Ich tat es einfach. Carsten verfiel in einen Berserkermodus und begann massiv auf mich einzudreschen, doch er drang nicht durch. Ich blockte ihn einfach ab. Er traf bestenfalls meinen Unterarm, so, wie ich es beabsichtigt hatte. Während er wütete, blieb ich die Coolheit in Person. Ich ertappte mich sogar bei dem Gedanken, dass schwarze Klamotten und eine schwarze Sonnenbrille jetzt richtig cool aussehen würden.
Carsten brüllte. Ich merkte, dass er müde wurde. Carsten Funktion in Nils Konzept bestand in der potentiellen Drohung ihn einzusetzten, nicht in dem tatsächlichen Akt es zu tun. Nils hatte damit das Konzept der strategischen und taktischen Kernwaffen aus der Zeit des kalten Krieges übernommen. Herrschaft durch Abschreckung. Wenn Carsten jemanden tatsächlich zerlegen sollte, dann mit schnellen, brutalen Schlägen. Auf einen langen Kampf war er nicht eingestellt. Mit seiner Müdigkeit kamen deswegen auch die Fehler. Carsten zeigt Löcher in seiner Deckung.
Ich führte einen Schlag mit meiner nach außen gekehrten rechten Handfläche auf seinen Brustkasten aus. Einen einzigen Schlag!
Carsten machte »Umpf!«. Im gleichem Moment sah ich ihn mehrere Meter durch die Luft fliegen und unsanft auf seinem Arsch landen. Er blieb an seinem Landepunkt liegen und krümmte sich vor Schmerzen.
Ich erstarrte vor Entsetzen. Ungläubig sah ich meine Hand an, sah Nils an und sah die Panik in seinen Augen. Ich schaute mich um und sah, dass wir nicht mehr allein waren, sondern von einer ganzen Meute Mitschülern umzingelt waren, die mich verwundert, entsetzt und angsterfüllt anstarrten.
»Was für ein Freak!«, hörte ich es hinter mir zischen.
Mir schnürte sich mein Hals zu. Ich wurde von Panik ergriffen, mein rationaler Verstand schaltete sich ab und ich rannte los. Die Leute schienen Angst vor mir zu haben, denn man wich vor mir hastig zurück. Ich hörte mein Herz hämmern und ich hörte Michi hinter mir rufen: »Tobi, warte!«
Ich wartete nicht. Michis Stimme drang nicht bis zu meinem Bewusstsein vor. Stattdessen preschte ich davon. Weg von der Schule. Einfach nur weg!
Gelantine
Worin man sich über das Verbleiben eines Erziehungsberechtigten wundert und einige Überlegungen zu ominösen Medizinpräparaten anstellt.
Hatte ich nicht etwas vergessen?
Eine unbestimmte Zeit später, mein Zeitgefühl war mir kurzfristig abhandengekommen, fand ich mich auf meinem Bett liegend wieder. Ich kam zur Ruhe. Langsam zwar, aber aus einem diffusen Nebel von Erinnerungsfragmenten, schälte sich ein Bild heraus. Ich war direkt nach Hause gelaufen und hatte wohl eine Stunde oder länger die Wände meines Zimmers angeglotzt. Mein Schädel war einfach leer. Genauso weiß und leer, wie es die Wände meines Zimmers waren.
Nachdem ich langsam wieder runter kam und mich beruhigte, gelang es mir sogar, erste sinnvolle Gedanken zu fassen. Ich hatte frische Klamotten an und meine Haare waren feucht. Diese erste Feststellung legte die Vermutung nahe, dass ich entweder vor oder nach meiner intensiven Wandanstarraktion geduscht haben musste. Vermutlich hinterher.
Ich wurde ruhiger, aber nicht ruhig. Ich spürte es, als ich auf meinem Bett lag und mir einen Reim auf die bisherigen Erlebnisse des Tages machen wollte. Ich vibrierte, alles in mir war unrastig, meine Bewegungen waren fahrig und nervös.
Und dann passierte etwas Merkwürdiges.
Ich war gerade dabei mit meinen Gedanken Hasch-Mich zu spielen, als die Zimmertür aufging und Michi mit dem Satz »Tobi, bist du da?« reinschaute. Völlig in mich versunken, fuhr ich vor Schreck zusammen und ließ einen unprofessionellen »Iiiiieeeeck!« Schrei entweichen. Im gleichen Moment platzten zwei Halogenglühbirnchen in meiner Schreibtischleuchte mit einem lauten »Poff!«.
Statt uns anzusehen, blickten Michi und ich zu meinem Schreibtisch.
»Krass!«, kommentierte Michi das Ableben zweier Leuchtmittel, und schob das Thema bei Seite.
Ich hatte etwas vergessen!
Michis Erscheinen ließ es mir heiß den Rücken runter laufen. Ich hatte Michi an der Schule total vergessen. Ich hatte vor allem vergessen, dass ich ihm unmittelbar vor dem Auftauchen von Nils etwas sehr persönliches gesagt hatte.
»Du?«, fragte ich schüchtern und traute mich fast nicht ihn anzusehen.
Ein kleines, aber freches Lächeln umspielte Michis Lippen. Dieses Lächeln wurde größer und wurde zu einem ausgewachsenen Grinsen: »So, so, du bist also eine Teenage Mutant Ninja Schwuchtel? Respekt!«
Während ich noch ergründete, was Michi eben gesagt hatte, hatte dieser die Zimmertür hinter sich geschlossen und war zu mir ans Bett gekommen. Michi setzte sich auf meinen Teppichboden und lehnte sich mit seinen Rücken an mein Bett. Er drehte seinen Kopf zur Seite, lag sozusagen mit der Wange auf dem Bett und schaute mich freundlich an: »Willst du mir etwas erzählen?«
»Ich ...«, stammelte ich, »ich bin schwul.«
Ich ließ das Ausrufezeichen weg. Es war keine Beichte, es war die Feststellung einer Tatsache.
»Danke.«, stellte Michi eine andere Tatsache fest.
»Wofür?«
»Das du mir vertraust!«, Michi hatte seinen Kopf wieder nach vorne gedreht. Ich sprach jetzt zwar mit seinem Hinterkopf, aber das war Ok. Die Tatsache, dass er, Michi Müller, in meinem Zimmer war, sagte alles über ihn.
»Natürlich vertrau ich dir! Wenn nicht dir, wem denn sonst?«
»Du findest Jungs also attraktiver als Mädchen?«
»Ich denke schon.«, ich zuckte mit meinen Schulter. »Ja, auf jeden Fall!«
»Wie findest du mich?«, mit dieser Frage rollte sich Michi herum. Er hockte vor meinem Bett. Seine Arme ruhten verschränkt auf der Bettdecke und sein Kopf lag schräg auf seinen Armen. Aus diesem schiefen Winkel sah er mich fragend und herausfordernd an.
»Du bist hetero!«, wich ich der Frage aus.
»Ja und? Du wirst mich doch wohl deswegen nicht diskriminieren. Oder gehörst du zu diesen Heterophoben?«
»Ähm ...«, irgendwie hatte ich solche Diskussionen anders in Erinnerung.
»Also, kneif nicht. Wie findest du mich?«
»Geil ...«
Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie ein derart triumphierendes Grinsen bei jemandem gesehen. Michi war stolz wie Oskar.
»... aber leider überhaupt nicht mein Typ!«
»Wie?«, ich habe auch noch nie ein derart enttäuschtes Gesicht gesehen. Michi sah aus, als hätte er gerade ein super-hyper-mega-ultra-geniales Weihnachtsgeschenk bekommen, aber dann festgestellt, dass die Batterien fehlten und vor dem 27.12. keine aufzutreiben seinen.
»Du sieht gut aus, eigentlich sogar verdammt gut. Der Prototyp des Skate Punks. Eigentlich find ich diesen Style schon scharf, aber ... Ich weiß nicht. Ich könnte dich mir nie als Freund, also intimen Freund, vorstellen. Ich hätte das Gefühl Sex mit einem Bruder zu haben.«
»Du bist ein Einzelkind!«
»Ja, doch! Du weißt, was ich meine.«
Michi lächelte: »Ich denk schon.«
Wir sahen uns eine Weile an und sagten nichts. Michi schmunzelte versonnen in sich hinein. Sein fröhliches Gesicht und seine Amüsiertheit war absolut anstecken und vertrieben die Restbestände meiner dunklen Gedanken.
»Wann hast du eigentlich Karate gelernt?«, zu früh gefreut! Die Erinnerung an Carsten war wieder da.
»Gar nicht! Wenn du mich jetzt fragst, was da vorhin abgelaufen ist, kann ich es dir nicht sagen. Ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht mal sicher, dass ich ich war.«
»Du kennst doch Achim?«
»Entfernt ...«, Achim war ein Mitschüler. Ehemals war er in einer Parallelklasse. Jetzt war er zwar im gleichen Jahrgang wie ich, Kurse hatten wir aber nicht zusammen. Ich wusste aber, dass Michi ihn besser kannte.
»Achim macht Kampfsport. Er hat euren Kampf gesehen«, Michi Stimme tendierte ins überdramatische. »Er war sprachlos. Er meinte, so wie du gekämpft hast, hätte sein Sensei nicht die geringste Chance gegen dich. Und sein Sensei hat den 7. Dan.«
»Sensei? Dan? Bahnhof?«
»Ein Sensei ist ein Meister, ein Lehrer. Achims Lehrer hat über 25 Jahre Erfahrung ...«
25 Jahre Erfahrung? Ich konnte Karate gerade mal buchstabieren. Ich entgegnete nichts, weil ich nicht wusste, was ich hätte sagen sollen. Ich fühlte mich hilflos. Mir war, als wenn mir der Boden unter den Füßen entglitt und ich nichts dagegen machen konnte. Meine Umwelt war dabei, sich zu verändern. Oder vielleicht war ich es auch, der sich veränderte. Jedenfalls passierte etwas. Etwas -- Das hieß, dass es nicht greifbar war. Es war bestenfalls ein Gefühl. Seit Beginn des neuen Schuljahres, also seit genau zwei Tagen, verlief mein Leben irgendwie anders.
»Geht es dir nicht gut?«
Ich zuckte mit den Schultern und warf Michi einem flehenden Blick zu: »Ich weiß es nicht. Ich steh seit Tagen irgendwie neben mir. Ich habe wahnsinnige Emotionsschwankungen. In einem Moment fühl ich mich super. Im anderen könnte ich einfach losheulen. Dabei weiß ich noch nicht mal, warum?«
»Ich denke mal, dass dich dein Coming Out aufwühlt.«
»Vielleicht ...«, ich wusste, dass es das nicht war. Gegenüber Michi aus dem Schrank zu kommen, war eine Sache, die ich schon lange geplant hatte.
»Du glaubst nicht?«, Michi wusste sofort, wenn ich von etwas nicht überzeugt war.
»Nicht wirklich ...«, begann ich zögerlich. Ich setzte mich in meinem Bett auf, zog meine Beine an den Körper ran und umschlang sie mit meinen Armen. »Es ist anders. Seit zwei Tagen habe ich manchmal das Gefühl, Szenen schon mal erlebt zu haben. Sehr seltsam. Gestern hatte ich einen Streit mit meinem Vater.«
»Nicht wirklich neu, oder?«
»Ja, aber ich habe ihn etwas gefragt. Einen Begriff, der plötzlich in meinem Gedanken auftauchte und von dem ich weiß, dass ich ihn noch nie gehört habe. Er wurde kreidebleich und stürmte aus dem Haus! Es muss irgendetwas mit seiner Firma sein.«
»Krass!«
Ich seufzte, »Ja, ziemlich. Und das vorhin mit dem Kampf war ähnlich. Ich wusste, wie ich zu kämpfen hatte, als wenn ich es so schon seit Ewigkeiten gemacht hätte.«
»Hm ...«
»Und dann ist da noch Ralf!«
»Richtig, das Thema hatten wir vorhin auch schon ...«
Wenn ich schon erzählte, dann konnte ich Michi auch schon alles erzählen. Wir hatten nie Geheimnisse voreinander und erzählten uns wirklich fast alles. Nein, eigentlich erzählten wir uns mit meinem Coming Out wirklich absolut alles. Und so erzählte ich Michi alles, was ich von und über Ralf wusste. Noch während ich erzählte, begann Michi zu grinsen. Sein Grinsen ging langsam in ein Lächeln über, und als ich fertig war, brach Michi in schallendes Gelächter aus.
Ich glotzte ihn befremdet an.
»Tobi, du bist eine totale Dumpfbacke!«
»Ähm, danke?«, grummelte ich.
»Du hast es nicht gerafft, oder?«, Michi war gerade dabei, sich vor Lachen zu kugeln.
»Was denn?«, knurrte ich ungeduldig.
»Tobi ist verlie-hiebt! Tobi ist verlie-hiebt!«, sang Michi während ich, genaugenommen mein Gesicht, knallrot aufflammte.
»Mann!«, Michael versuchte sich wieder unter Kontrolle zu kriegen. »Das erklärt alles! Dich hat es einfach total erwischt. Und das Beste daran ist: Du hast es nicht einmal gemerkt.«
»Ich? Verliebt?«
»Oh, ja! Und ich rede hier nicht von körperlicher Geilheit, mein Freund! So wie du Ralf beschrieben hast. Seine Wesen, seine Stimme, seine tollen Augen, was er sagt. Dich hat es volle Breitseite erwischt. Mein herzliches Beileid!«
***
»Tobi, bist du da? Könntest du mal runter kommen?«
»Shit, meine Mutter!«
Wir, Michi und ich, hatten wenig bis gar nicht auf die Zeit geachtet.
Nachdem Michi seine Vermutung über die Ursache meines momentanen desolaten emotionalen Status formuliert hatte, war es an mir, auf das heftigste zu leugnen. Ich und verliebt? So ein Quatsch! Nie im Leben! -- Oder?
»Du musst es ja wissen ...«, grinste Michi und ließ das Thema fürs erste fallen. Es gab genug andere Dinge zu besprechen. Ich war aus dem Schrank gekommen. Es war meine Show und Michi zögerte nicht, mir eine Bühne zu geben. Seine Fragen prasselten nur so auf mich ein: welchen Typ Mann ich denn bevorzugen würde: »Offensichtlich ja wohl den Latinotypen ...« -- »Schnauze, Müller!«
Worauf ich bei einem Typen als Erstes sehe? Ob ich schon mal mit einem rumgemacht hätte? Was mich anmacht? Wer es sonst noch weiß? Wie ich es rausgefunden habe? Was ich als Nächstes plane?
Ich erzählte, erklärte, berichtete und erörterte. Alles, fast alles, ließ ich aus mir herausfließen, denn über manche Dinge war ich mir selbst noch nicht allzu klar. Zum Beispiel schwuler Sex: Wie erwähnt, wollte Michi wissen, auf was ich denn stehen würde, ob ich eher aktiv oder passiv sei. Ich wusste es nicht. Wie auch, ich hatte noch nie schwulen Sex gehabt. Die Vorstellung mit einem Typen ins Bett zu steigen, war zwar verlockend, befand sich aber mangels Gelegenheit weit außerhalb meines Vorstellungshorizonts.
»Ich wär ja bei Ralf vorsichtig. Diese Typen sollen ja ziemlich heißblütig sein. Und wir wollen doch nicht, dass unser Tobilein 'ne Woche nicht richtig sitzen kann.«
»Michael Müller, du bist eine Potsau! Erst einmal habe ich nichts mit Ralf ...«
»Hättest du aber gern ...«
»Habe ich nichts mit Ralf. Und zweitens: Nur weil er einen griechischen Großvater hatte, musst du nicht gleich mit den ganzen Vorurteilen ...«
»Tobi! Hör dir mal selbst zu.«, Michi grinste über beide Ohren. »Du verteidigst ihn wie jemand, der total verliebt ist. Gotcha!«
Ich lief erwartungsgemäß rot an.
Wir berührten auch ernste Themen. Michi bemerkte zu Recht, dass es an unserer Schule eine ganze Reihe homophober Subjekte gab, deren Reaktion auf einen offen schwulen Schüler unkalkulierbar, aber vermutlich ausgesprochen unerfreulich wäre.
»Obwohl ...«, überlegte Michi. »Nach deinem heutigen Auftritt sollten solche Typen deine geringste Sorge sein.«
Ich zuckte mit den Schultern und zog eine skeptische Grimasse. So spektakulär mein Auftritt heute auch gewesen sein mag, er war mir ebenso unheimlich. Da ich anderseits bisher nicht vorhatte, ein öffentliches Coming Out hin zu legen, sah ich das Problem nicht wirklich als ein ernsthaftes an. Michi war nicht so optimistisch und meinte: »Obwohl du offenbar unter die Ninjakämpfer gegangen bist, sei trotzdem bitte sehr vorsichtig. Es gibt andere Möglichkeiten dich fertigzumachen. Und das ganz ohne Muskeleinsatz.«
Selbstverständlich würde ich vorsichtig sein. Auf der anderen Seite hatte ich aber auch keine allzu große Lust, mich weiterhin zu verstecken. Ich merkte, wie gut mir mein Coming Out tat. Endlich mit jemandem offen über die Dinge sprechen zu könne, die mich wirklich beschäftigten, war ausgesprochen befreiend.
Es war also kein Wunder, dass wir die Zeit vergaßen. Als meine Mutter schließlich nach mir rief, war es fast acht Uhr abends.
Mit einem »Shit!« auf den Lippen sprang ich auf und rannte die Treppe runter. Ich fand sie in der Küche.
»Michi isst mit, oder?«, war ihre freundliche Begrüßung.
»Ich denke schon«, ich suchte nach Worten. »Sorry Mami, aber wir haben ein wenig die Zeit vergessen. Ich habe gar nicht bemerkt, dass du nach Hause gekommen bist.«
»Ich bin schon seit gut einer Stunde hier. Ihr scheint ja wirklich mit wichtigen Dingen beschäftigt gewesen sein.«
»Ja, es war wichtig. Ich bin ...«, noch nicht bereit es dir zu erzählen. »Man, hab' ich ein Glück, dass Paps noch nicht da ist.«
Bei der Erwähnung meines Vaters verfinsterte sich das Gesicht meiner Mutter.
»Ist was mit Paps?«, instinktiv ahnte ich, dass etwas nicht stimmt.
»Ich weiß es nicht? Vielleicht ...«, antwortete meine Mutter zögernd. »Seitdem er gestern Abend das Haus verlassen hat, hat er sich nicht mehr bei mir gemeldet. Hat er dich angerufen?«
»Nein!«, nicht das ich sonderlich Wert darauf legte, mit ihm zu sprechen. Jedes Gespräch endete in letzter Zeit sowieso im Streit. Trotzdem macht ich mir langsam Sorgen.
»Ich habe versucht bei ihm anzurufen.«, nach dem Gesichtsausdruck meiner Mutter zu schließen, waren die Versuche erfolglos verlaufen. »Ich habe immer nur das Sekretariat erreicht. Die meinten, er wäre beschäftigt, man würde im aber meinen Anruf mitteilen.«
»Tobias?«, meinte Mutter sah mir direkt in die Augen. »Was ist gestern Abend vorgefallen?«
Ich hielt ihrem Blick stand, jedenfalls so halbwegs: »Nichts, dass heißt das Übliche. Paps hat mir mal wieder vorgeworfen, alles falsch gemacht zu haben. Ich habe mich entschuldigt und verteidigt, er regte sich darüber nur noch weiter auf.«
»Und, war das alles?«, meine Mutters Augen konnten extrem forschend sein.
»Ja, nein, also jein. Ich weiß nicht, wo ich das aufgeschnappt habe, aber ich habe ihn gefragt, was das GEN/CHEM-I-XP-Projekt ist?«
»Und? Weiter!«
»Nichts! Er starrte mich plötzlich entsetzt an und meinte dann, er müsse nochmal los. Das ist alles. Meinst du, dass ich etwas Falsches getan habe?«
Meine Mutter sah mich nachdenklich an. Als sie mir nach einer Weile antwortete, sah sie gedankenverloren an mir vorbei: »Ich weiß es nicht ... Ich ...«
Im Gesicht meiner Mutter formte sich ein Gedanke. Ohne sich nach mir umzudrehen, sprang sie die Treppe ins Obergeschoss hoch: »Warte hier!«
Ich hörte meine Mutter eine Tür öffnen. Dem Geräusch nach war sie im Badezimmer. Schranktüren wurden geöffnet und wieder geschlossen. Verschiedene Toilettenartikel klapperten und klirrten.
»Verdammt, dieses Arschloch!«, schallte es von oben herab. Sekunden später stand meine Mutter wieder vor mir. In ihrer rechten Hand hielt sie eine braune Glasflasche, wie sie in Laboratorien verwendet wird. Ich kannte diese Flasche, es waren Vitamine, die mir mein Vater aus seiner Firma mitgebracht hatte.
»Meine Vitamine?«
»Hast du dir das Etikett mal genau angesehen?«, meine Mutter hielt mir die Flasche mit den kleinen Kapseln hin. Ich nahm die Flasche und las: »Vitaminkomplex 2«.
»Schau dir mal den unteren Rand an«, schlug meine Mutter vor.
Ich hatte mich bisher nie um die Vitaminpillen gekümmert, außer, dass ich morgens und abends eine einwarf. Ich hatte das subjektive Gefühl, dass die Viecher mich munterer machten. Meine Mutter hatte recht. Am unteren Rand des Etiketts befand sich eine weitere Schrift. Sie war sehr, fast extrem klein und, im Gegensatz zur großen Schrift, nicht von Hand, sondern von einem Computer mit einem maschinenlesbaren Zeichensatz bedruckt.
»XP Komplex, Versuchslinie 17, Objekt: 47 -- Objekt : vanBrüggen, Tobias Christian Peter«, entzifferte ich mühsam die Mikroschrift.
»Was soll das bedeuten?«, fragte ich meine Mutter, obwohl ich ahnte, worauf das hinaus lief.
»Was das bedeuten soll?«, wiederholte meine Mutter wutschnaubend meine Frage, »Das der Typ, der behauptet dein Vater zu sein, dich für eines seiner Experimente missbraucht hat!«
»Und was für ein Experiment soll das sein? Ich dachte, es wären Vitamine. Und wenn es keine Vitamine sind, woher weißt du, dass er mich für ein Experiment benutzt?«, ich hatte noch nicht ganz verstanden, was mir meine Mutter eigentlich sagen wollte. Die Worte verstand ich zwar schon, aber ihre Bedeutung drang noch nicht ganz zu mir durch.
»Vitamine, pah!«, Mum holte tief Luft. »Ich glaube Jasper kein einziges Wort mehr. Und wissen? Nein, es war eher einer Ahnung. Vor ein paar Tagen habe ich zufällig ein Telefongespräch mit angehört, dass dein Vater mit einem seiner Wissenschaftler führte. Jasper war wütend und tobte, dadurch habe ich von dem Gespräch überhaupt erst etwas bemerkt. Es schien, als wenn es um irgendeine Vorgehensweise bezüglich der Testkandidaten und der Kontrollgruppe ging. Was mich stutzig machte, war, dass Jasper zwar wütete und regelrecht ins Telefon fauchte, aber gleichzeitig versuchte, sicherzustellen, dass ich nichts davon mitbekam. In diesem Zusammenhang fiel auch der Begriff GEN/CHEM-I-XP. Ich habe mir zuerst nichts dabei gedacht. Aber merkwürdig war es schon. Schließlich drangen nur Wortfetzen zu mir durch. Ich ließ die Sache auf sich beruhen. Aber als Jasper gestern Abend nach eurem Streit aus dem Haus stürmte, fiel mir das Gespräch wieder ein und ging mir den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf. Als du dann eben von GEN/CHEM-I-XP sprachst, fügten sich meine Gedanken zu einer bösen Ahnung zusammen:,Könnte Jasper dich als Versuchsobjekt missbraucht haben?`«
Meine Mutter ließ die Frage unbeantwortet. Stattdessen sah sie auf die braune Glasflasche. Ich hielt die Antwort in meinen Händen.
Ich glotzte die Flasche an.
Das Glasgefäß war nichts Besonderes; eine einfach braune Laborglasflasche mit ca. einem Liter Volumen. Sie besaß einen blauen Schraubverschluss aus Kunststoff. Das schon erwähnte Etikett klebte im oberen Drittel. Ich schüttelte die Flasche. Die kleinen Plastikkapseln in ihrem Inneren, Kapseln, die ich bisher für Vitamine hielt, klöterten leise. Ich schraubte die Flasche auf und ließ ein paar der Kapseln in meine Hand gleiten.
Die Gelatinekapseln waren rund einen halben Zentimeter lang und aus zwei verschiedenfarbigen Hälften zusammengeschweißt. Ich ließ alle Kapseln bis auf eine wieder in das Glas rutschen.
Da lag sie. Harmlos und unspektakulär. Ich packte das Teilchen zwischen Daumen und Zeigefinger und sah sie mir aus nächster Nähe genau an.
Was wohl in ihrem Inneren war?
»Hast du eine Ahnung, was hier drin sein könnte?«, fragte ich meine Mutter, die mir immer noch gegenüber stand.
Sie zuckte mit ihren Schultern: »Ich weiß es nicht ...«, sie klang irgendwie deprimiert. »Dein Vater hat sich in den letzten Monaten verändert. Ich hatte zuerst gedacht, dass das in einer Ehe normal ist. Du weißt schon? Routine und so ... Aber Jasper kapselte sich immer mehr ab. Früher haben wir über alles sprechen können. Er erzählte mir, woran er gerade arbeitete.«
Meine Mutter lachte versonnen in sich hinein, als wenn eine schöne, aber weit zurückliegende Erinnerung vor ihrem Augen vorbei glitt: »Manchmal war er so begeistert und aufgeregt, dass er gar nicht mehr aufhören konnte, zu erzählen. Dabei hab' ich von Chemie nun wirklich sehr wenig Ahnung.«
Das Gesicht meiner Mutter wurde wieder sehr ernst: »Aber das liegt lange zurück.« Sorgenfalten und Bekümmertheit zeigten sich in ihrem Ausdruck: »Er wurde immer verschlossener. Erzählte nichts mehr von sich. Zog sich häufig in sein Arbeitszimmer zurück und arbeitete dort bis spät in die Nacht. Ich hatte den Eindruck, dass er unter sehr starken Druck stand. Auch wenn es eigentlich überhaupt nicht zu Jaspers Wesen passen tut, aber ich glaube, er hatte Angst.«
Ich hielt immer noch die Kapsel zwischen meinen Fingern: »Meinst du deswegen?«
»Wer weiß?«
Photonen im Glück
Worin man dem Kern des Pudels näher kommt.
»Was war denn los?«
Michi sah verunsichert auf. Ich war in mein Zimmer zurückgekehrt, die braune Glasflasche in meiner rechten Hand. Michi hatte ich das zweite Mal an diesem Tag vollkommen vergessen.
»Ähm ...«, stammelte ich und sah wechselweise auf die Flasche und zu Michael. »Es ist etwas passiert.«
Sollte ich ihm erzählen, was meine Mutter vermutete? Schließlich war es nur ein Verdacht, allerdings ein sehr schwerwiegender. Soll man seinem besten Freund erzählen, dass man glaubt, der eigene Vater missbraucht einen für seine Experimente? Sollte ich sagen, dass ich Jasper für einen neuen Dr. Frankenstein, oder sogar noch Schlimmeres, hielt?
»Mein Gott, du bist ja völlig bleich im Gesicht.«
Michi sprang auf und rannte auf mich zu. Ich war bleich im Gesicht? Ich konnte es mir durchaus vorstellen. Ich stand völlig apathisch in meinem Zimmer. Die Glasflasche fiel mir aus der Hand. Ich drehte mich herum, ließ meinen Blick ausdruckslos über mein Zimmer streichen und sah trotzdem nichts. Michis Stimme drang nur wie ein fernes Echo an mein Ohr, gedämpft und irreal. Ich fühlte mich wie in Zeitlupe versetzt. Die Bedeutung dessen, was mein Vater gemacht hatte, drang schließlich in mein Bewusstsein ein. Ich realisierte langsam die wahre Bedeutung. Ich sank zu Boden. Stürzte auf meine Knie und riss meinen Mund zu einem lautlosen Schrei auf. Ich fühlte meine Wangen nass werden.
»Hey, alles wird gut!«
Die Worte wurden leise gesprochen, trotzdem hörte ich sie klar und deutlich. Michi war nicht nur auf mich zugestürzt, er hatte mich auch in den Arm genommen. Ich weiß nicht, wie lange ich stumm schreiend auf meinem Teppich gekniet und wie lange mein Freund mich so gehalten hatte. Er war einfach nur da und hielt mich. Still und schweigsam ließ er mich an seiner Schulter ausheulen.
Zittrig und mit vielen Schniefern sammelte ich mich. Ich wollte aufstehen, aber meine Beine versagten mir spontan ihren Dienst. Michi war auch hier zur Stelle und griff stützend ein. Mehr oder weniger schleppte er mich auf mein Bett und setzt mich dort vorsichtig ab.
»Willst du es mir erzählen?«
Ich nickte, blieb aber stumm.
»Hast du Ärger mit deiner Mutter gehabt? Hast du dich etwa geoutet?«
Ich schüttete heftig meinen Kopf.
»Ok, was dann?«
Ich riss mich zusammen. Schniefte noch einmal den Rotz weg und setzte an: »Mein Vater ...«
Weiter kam ich nicht.
»Ist ihm etwas zugestoßen?«, Michi fragte sehr vorsichtig.
»Nein!«, sprang es aus mir mit unerwarteter Spontanität und Kälte heraus. Ich war von mir selbst erschrocken: »Leider nicht!«
Im gleichen Moment bereute ich den Satz. Es stand mir nicht an, ein Urteil zu fällen -- noch nicht.
»Er hat ...«, stammelte ich weiter. »Er hat ... mit mir Experimente gemacht hat.«
Michi schaltete schnell. Sein Blick fiel sofort auf die braune Glasflasche mit den Gelatinekapseln. Die Flasche lag immer noch dort, wo ich sie hatte fallen lassen. Da ich den Schraubverschluss nicht richtig zugedreht hatte, war der Deckel abgesprungen und eine Hand voll Kapseln waren aus der Flasche herausgeschleudert worden.
Michis Blick schien fragen zu wollen: »Die Kapseln dort?«
Ich nickte zur Bestätigung seiner Schlussfolgerung.
»Shit!«, war sein einziger Kommentar.
Eine Weile sagte niemand etwas. Michi war dabei, die Information zu verdauen. Ich beschäftigte mich damit, mich wieder zu beruhigen. Nach etlichen Minuten brach Michael das Schweigen: »Weißt du, was in den Kapseln ist? Um was es bei dem Experiment geht?«
Ich schüttelte meinen Kopf. Eigentlich war mir völlig egal, was sich in den Kapseln befand oder welche Aufgabe der Inhaltsstoff bewerkstelligen sollte. Vielleicht war ich zu naiv, um mir ernsthaft Sorgen um meine Gesundheit zu machen. Auf der anderen Seite hatte ich die ominösen Kapseln schon etliche Monate, wenn nicht sogar Jahre eingenommen. Wären sie schädlich, hätte sich sicherlich ein Symptom gezeigt. Ich konnte mir nicht ernsthaft vorstellen, dass er mir etwas verabreichen würde, dass in irgend einer Weise für mich schädlich wäre. Was mich wirklich fertigmachte, und den Glauben und die Achtung vor meinem Vater vernichtete, war der Vertrauensmissbrauch. Obwohl wir in letzter Zeit schlecht miteinander ausgekommen waren und ständig Streit hatten, stand mein Vertrauen ihm gegenüber nie in Frage.
Doch was tat mein Erzeuger? Während ich noch die Schuld an unserem permanenten Streit an mir selbst suchte, und mich fragte, ob seine Unzufriedenheit mit mir daran lag, dass ich vielleicht seine Erwartungen nicht erfüllt hatte, lief in Wirklichkeit ein völlig anderer Film ab. Ich war sein höchstpersönliches Versuchskaninchen gewesen.
»Was denkst du?«
Michi sprach leise.
»Nichts!«, schnaubte ich vor Frustration aus. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.«
»Du solltest ihn zur Rede stellen«, schlug Michi vor.
»Wie denn?«, knurrte ich. »Er scheint sich zu verleugnen. Meine Mutter hat den ganzen Tag versucht, ihn zu erreichen. Alles Vergebens. Ich frag mich ernsthaft, ob er jemals wieder kommt.«
Michi antwortete nicht. Stattdessen stand er auf und ging zu der Stelle, wo ich die Glasflasche mit den Kapseln fallen gelassen hatte. Ich setzte mich auf und sah ihm verwundert zu. Michi hockte sich hin, sammelte die herausgefallenen Kapseln ein und tat sich in die Flasche. Seine Stirn lag in Falten. Michi dachte nach. Während er aufstand, nahm er eine Kapsel und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger vor sein Auge.
»Hm, einfach nur eine Gelatinekapsel. Vitamine?«
»Ein schlechter Scherz.«
»Ok, was dann?«, Michi ging zu meinem Schreibtisch und stellte die Glasflasche dort ab. Die einzelne Kapsel hielt er mit seinen Fingern gegen das Licht meiner Schreibtischlampe, ein Halogenbirnchen war noch heil, »Das ist interessant.«
»Was?«
»Ich musste auch mal Medizin in solchen Kapseln schlucken. Ich glaube, diese Dinger enthalten eine Flüssigkeit.«
»Wie kommst du darauf?«
»Soweit ich weiß, gibt es zwei Sorten von Kapseln. Die einen bestehen aus zwei ineinander gesteckten Hälften und enthalten Pulver oder Kügelchen, also feste Stoffe. Die anderen sind aus einem Stück, damit sie als Behälter für flüssige Substanzen dienen können.«
Michi hielt die Kapsel ganz dicht vor sein Auge: »Nichts! Man kann nichts erkennen. Die Hülle ist völlig opak.«
Mit diesen Worten legte er die Kapsel auf meinen Schreibtisch, griff in seine Hosentasche und holte sein Taschenmesser heraus: »Hast du mal ein Taschentuch?«
»Was hast du vor?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort wusste. Immerhin brachte mich Michi auf die Beine. Ich ging zu meinem Schreibtisch und holte ein Papiertaschentuch aus einer Schublade heraus. Michi entfaltete das Tuch, legte die Kapsel in die Mitte und setzte die sehr scharfe Klinge seines Taschenmessers an.
»Hm ...«, meinte er plötzlich. »Das Teil ist zäh.«
Michi hatte eigentlich vor, die Kapsel mit dem Messer durchzuschneiden. Aber das Teil rollte einfach nur mit seinen Schneidebewegungen hin und er. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Kapsel mit den Fingern festzuhalten.
Michi setzt das Messer wieder an. Die Klinge zog über die Oberfläche, trieb die Atome auseinander und durchtrennte schließlich den kleinen Stoffbehälter. Aus der Kapsel trat eine Flüssigkeit aus. Ein Teil blieb an die Klinge des Messers haften. Die Hauptmenge sickerte in das Taschentuch.
»Wow, dass ist krass!«, entfuhr es mir, als ich den Inhalt sah.
»Hä?«, fragte Michi verwundert.
»Wie das Zeugs leuchtet!«, meinte ich.
»Leuchtet? Was leuchtet?«, Michi verstand Bahnhof.
»Bist du blind oder was. Die Flüssigkeit aus der Kapsel natürlich!«
»Ähm, ich seh nix, außer einer Pfütze mit einer klaren, öligen, durchsichtigen Flüssigkeit.«
»Ja, aber sie leuchtet doch strahlend blau!«, jetzt war ich verwirrt.
»Nö! Da leuchtet nix!«
Wir schauten uns mehr als verwirrt an. Michi zog seine Brauen hoch: »Willst du mir etwa sagen, dass du die Flüssigkeit aus der Kapsel blau leuchten siehst?«
»Ja. Sehr hell sogar. Sie ist zwar transparent, scheint aber von innen blau zu strahlen. Wie bei Tonic Water und Schwarzlicht. Da leuchtet das Chinin. Aber dies hier ist viel intensiver und außerdem gibt es hier kein Schwarzlicht. Das Taschentuch strahlt, die Klinge deines Messer leuchtet blau und an deinen Fingerkuppen hast du auch etwas.«
Michi zuckte zusammen und sah entsetzt seine Finger an: »Shit! Was ist das? Ich sehe nichts leuchten, rein gar nichts. Ich sehe nur eine klare, transparente Flüssigkeit.«
Michi sah mich an. Er war nervös. Ich ebenfalls. Dies waren auf keinem Fall Vitaminkapseln.
»Woran hat dein Vater nur gearbeitet?«
***
Die Frage nach der genauen Tätigkeit blieb ebenso ungeklärt, wie sein aktueller Aufenthaltsort. Noch während wir die Kapsel sezierten, erhielt meine Mutter einen Anruf. Das Sekretariat meines Vaters ließ mitteilen, dass er dringend zum Stammsitz seiner Firma in die Vereinigten Staaten gereist sei. Michi und ich spekulierten noch eine Weile darüber, warum ich den Inhalt blau leuchten sah und Michi nicht. 17jährig, wie wir waren, kamen wir auf die absurdesten Erklärungen, von gentechnisch auf mich programmierten Wirkstoffen, über Naniten bis hin zur Vermutung, es würde sich um eine außerirdische Substanz handeln.
Als uns meine Mutter gegen halb neun zum Essen rief, war das Geheimnis um die blaue Kapsel auf eine schauerliche Verschwörungsgeschichte angewachsen. Es war ein heiden Spaß. Vermutlich hätten wir wesentlich weniger gelacht, wenn wir gewusst hätten, wie nah wir der Wahrheit wirklich gekommen waren. Die vernünftigste, und damit langweiligste, Theorie, brachte Michi nach dem Essen zum besten. Seiner Meinung konnte er die blaue Farbe einfach nur deswegen nicht sehen, weil ihm wahrscheinlich einfach ein bestimmtes Gen fehlen würde. Ich solle mich an das Experiment aus dem Biologieunterricht erinnern, in dem wir alle ein Papierblättchen zum Schmecken bekommen hatten. Zwei Drittel der Klasse hatten nichts geschmeckt, der Rest meinte, dass die Blättchen bitter schmeckten. Vermutlich verhielt es sich mit dem Inhalt der Kapseln ähnlich.
»Wahrscheinlich ...«, war meine Antwort. Ich war alles andere als überzeugt. Schmecken ist eine Sache, Sehen eine völlig andere. Ich hatte mit Physik nie etwas am Hut gehabt. Präziser formuliert: Die Physik hasste mich und ich die Physik. Trotzdem muss ich im Unterricht zeitweilig einen lichten Moment gehabt haben, denn mir fiel etwas ein, was nur aus dem Physikunterricht stammen konnte. Wenn die Flüssigkeit auf der Kapsel wirklich leuchtete, dann muss sie irgendwoher Energie beziehen.
»Luziferase!«, konterte Michi meinen Einwand.
»Hä?«, war meine Unwissenheit dokumentierende Antwort.
»Aus Sauerstoff, Adenosintriphosphat, auch ATP genannt, und dem Enzym Luziferase machen Leuchtkäfer Licht. Was spricht dagegen, dass die Energie für das Leuchten chemische Energie ist? Als ich die Kapsel aufschnitt, kam Luft, also auch Sauerstoff ran und, pling, es leuchtet. Jedenfalls sagst du, dass es das tut.«
Abgesehen von der Merkwürdigkeit, dass nur ich es leuchten sah, war Michis Erklärung die plausibelste.
Mir kam ein unheimlicher Gedanke. Ich rannte zum Lichtschalter, es war zwischenzeitlich dunkel geworden, und knipste das Licht aus: »Michi, sag die Wahrheit: Leuchte ich im Dunkeln?«
Unsicher sah ich an mir herunter, hielt mir meine Hände vors Gesicht, sah aber glücklicherweise nichts.
Michi brach in schallendes Gelächter aus: »Du strahlst wie ein Glühwürmchen!«
»Was?«, schrie ich panisch.
Michi kringelte sich vor Lachen: »Mach das Licht wieder an. Es war nur Spaß. Nein, du bist zappenduster. Du kommst auf Ideen ...«
»Was soll das denn heißen? Natürlich komm ich auf Ideen. Ich habe diese scheiß Kapseln jahrelang geschluckt. Vielleicht wollte mich mein Vater in ein lebenden Leuchtmenschen verwandeln. Hast du nicht gehört, dass die Quallengene in Mäuse verpflanzt haben? Die Mäuse leuchten jetzt unter UV-Licht grün.«
»Wow! Ich stell mir dich gerade im Club unter Schwarzlicht vor. Tobi, the mighty green glowing Alien!«
»Sehr witzig!«
»Ey, warte. Jetzt wird mir auch klar, warum dein Vater so nervös ist. Stell dir mal vor, das Zeug funktioniert wirklich und man kann Leute zum Leuchten bringen. Das ist der Kracher in der Partyszene. Das ist Geld ohne Ende drin! Wahrscheinlich ist dein Alter in die Staaten gefahren, um das Zeug patentieren zu lassen. So, Alter, mach dir keinen Kopf. Darüber zumindest nicht. Wir sehen uns Morgen ...«
Und mit diesen Worten verließ mich Michi. Es war spät geworden. Nach den Turbulenzen des Tages mit Ralf, Nils, meinem Coming Out und den Leuchtkapseln, war ich müde geworden. Ich entschied mich, ins Bett zu gehen. Nachdem ich die notwendigen Reinigungsrituale vollzogen hatte, schlüpfte ich unter meine Bettdecke und löschte das Licht. Ich wälzte mich hin und her, um eine bequeme Schlafposition zu finden. Ich fand sie in Form der geradezu klassischen embryonalen Seitenlage. Mein Blick fiel auf die Anzeige meines Radioweckers. Es war kurz nach zwölf und damit für mich spät genug. Doch als ich gerade meine Augen schließen wollte, erhaschte mein Blick etwas von dem blauen Schimmern, das von meinem Schreibtisch ausging.
»Verdammt!«, knurrte ich, als mir das mit der Kapselflüssigkeit getränkte Taschentuch einfiel. Ich konnte es unmöglich die Nacht offen rumliegen lassen. Das blaue Glimmen würde mich die ganze Zeit wach halten. Mürrische krabbelte ich aus meinem Bett und ging auf meinen Schreibtisch zu, um das Taschentuch und die Kapselreste in meinen Mülleimer zu werfen.
»Wow!«, ich spreche selten mit mir selbst. Aber in diesem Fall war ich sehr überrascht. Mit jedem Schritt, den ich dem Taschentuch näher kam, strahlte das Blau stärker. Auch die Gegenprobe funktionierte. Ich tastete mich in der Dunkelheit meines Zimmers in die vom Schreibtisch am weitesten entfernte Ecke vor. Das Leuchten wurde schwächer und war kaum mehr als ein schwaches Glimmen.
»Das musst du mir mal erklären, Michael Müller!«, kommentierte ich meine Entdeckung.
Diese Flüssigkeit mag alles Mögliche sein, aber ihre Leuchtenergie kam nicht aus ihr selbst. Sie kam von mir.
Der Schuldirektor
Worin unser Held von einer Amtsperson zur Rede gestellt wird.
»Hi!«
Die Kombination aus einem Konsonanten gefolgt von einem Vokal bildete zwar ein denkbar einfaches Wort, genaugenommen war es nur die Verkürzung eines Wortes, doch war der Akt des Aussprechens dieses Wortes alles andere als einfach. Die Schwierigkeit lag weniger im Wort selbst, als im Adressaten des Wortes. Ich stand Ralf gegenüber und hatte mir fest vorgenommen, mich für meinen Aussetzer am Vortag zu entschuldigen. Die Silbe »Hi« bildete dabei den Absprungspunkt meines Versuches, über meinen eigenen Schatten zu springen.
Ralfs Reaktion war ambivalent. Mein Mut rutschte mir sofort in die Hose und konnte damit meine Schultern nicht mehr stützen, die darauf, der Schwerkraft folgend, ebenfalls herabsanken.
»Ich wollte mich entschuldigen ...«, stammelte ich los und gestikulierte ungelenk mit meiner rechten Hand herum. »Für gestern ...«
Ralf musterte mich, ließ aber nicht erkennen, was er dachte, wenn man einmal von einem matten grauen Funkeln in seinen Augen absah. War das eigentlich normal? Mir war es schon im Plattenladen aufgefallen. Ralfs Augen hatten natürlich eine Farbe, wie jeder andere auch. Sie besaßen einen grau-grünen Farbton. Zusätzlich waren sie aber auch permanent am Funkeln oder Glitzern. Ich kann es nicht besser beschreiben, denn ich wusste nicht, ob es real oder ob es eine Einbildung war. Je nach Situation meinte ich verschiedene Farbreflexe in Ralfs Augen sehen zu können.
Im Moment waren mir seine Farbreflexe allerdings völlig egal. Ich war dabei, mich zum Affen zu machen. Ich stand vor ihm, sabbelte wirres Zeug, fuchtelte ebenso wirr mit meinen Händen rum und er stand nur da und sagte nichts. Mein Mut sank auf null. Meine Hoffnung mich mit Ralf doch noch anfreunden zu können, ebenso. Tobi, du hast es verbockt.
»Ok!«
Oder doch nicht? Ralfs Mundwinkel zuckte kurz und zeigte eine Andeutung von einem Lächeln. Leider bekam ich keine Gelegenheit, Ralfs Mundwinkelzuckungen genauer zu interpretieren. Die heilige Allmacht unserer Schule, Direktor Baumann, hatte seine Hand auf meine Schulter gelegt. Hand? Pranke wäre passender gewesen.
»Tobias«, Heiner W. Baumann hatte sich zu mir heruntergebeugt. »Kommen Sie doch bitte mal mit in mein Büro. Ich glaube, wir haben etwas Wichtiges zu besprechen.«
Ich sah noch, wie Ralf mir einen fragenden Blick zuwarf, den ich aber nur mit einem Unwissenheit dokumentierenden Schulterzucken zurückgeben konnte. Ich folgte H.W.B. so gut ich konnte. Unser Direx war zwar dick, um nicht zu sagen fett, war aber auch groß und hatte einen Schritt am Leib, der Menschen mit normaler Beinlänge schnell atemlos machte. Es bestand zwar nicht die Gefahr sich zu verlaufen, schließlich wusste ich, wo sich Lehrerzimmer, Verwaltung und das Direktoriumsbüro befanden, andererseits wollte ich auch nicht, das H.W.B. auf mich warten musste. Mir kam so eine dunkle Ahnung, was unser lieber Schulleiter von mir wollte.
»Und?«, der Herr Oberstudiendirektor hatte sich hinter seinen Schreibtisch gepflanzt.
Er wartete. Offensichtlich wartete er auf eine Antwort auf sein »Und?«. Mir blieb nichts anderes übrig, als meinen unschuldigsten und naivsten Gesichtsausdruck aufzusetzen.
H.W.B. kaute seinen Lippen durch, zog ein paar Grimassen der Verärgerung und meinte schließlich: »Tobias, haben Sie mir nicht etwas zu erzählen?«
»Ähm, ich wüsste nicht was?«, das war eine Provokation. Ich wusste es in dem Moment, als ich es aussprach. Baumanns Gesicht flackerte kurz rot.
»Sie wissen, dass wir an dieser Schule eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Gewalt betreiben?«
»Natürlich!«, ich gab mir keine Mühe meine Verachtung für Baumanns sogenannter Null-Toleranz-Politik zu verbergen. Sie war der größte Witz seid dem Urknall. Null-Toleranz-Politik? Mag sein, dass es sie gab, aber sicherlich nicht gegenüber gewalttätigen Schülern. Nils und Carsten trieben ihr Unwesen, ohne jemals behelligt worden zu sein.
Das Gespräch mit unserem Direktor fand in der ersten großen Pause statt, also nach der 2. Stunde. Der Schultag hatte interessant begonnen. Mir war natürlich klar, dass mein Kampf mit Carsten nicht ohne Folgen bleiben würde. Allerdings hatte ich keine besonders klare Vorstellung davon, wie diese Folgen konkret aussehen könnten. Mit eher gemischten Gefühlen hatte ich mich mit Michi auf den Schulweg gemacht. Er auf seinem Skateboard, ich zu Fuß.
»Nervös?«, Michi grinste -- natürlich.
»Etwas.«
»Gut!«, Michi grinste breiter.
Das Erste, was mir auffiel, war der Respekt. Noch nie in meinem Leben hatte man mir Respekt gezollt. Wenn ich Glück hatte, hatte man mich nur ignoriert. An diesem Schultag war alles anderes. Cooles, anerkennendes Kopfnicken mit hochachtungsvoll geschürztem Mund, schwappte mir entgegen. Der eine oder die andere zeigte mir mit seinem Daumen sogar ein offenes »Top, Alter!«
Man beachtete mich. Offenbar war ich von einem Tag auf dem anderen kein Objekte mehr, das einfach nur dazu da war, den Raum auszufüllen. Ich wurde als lebende Entität wahrgenommen. Ein unheimliches Gefühl. Zumal die überwiegende Stimmung sehr positiv mir gegenüber war. Mir wurde sogar ein »Gut gemacht. Carsten brauchte schon lange mal eins auf die Fresse!« zugeraunt.
Die Stimmung war überwiegend positiv, das heißt, es gab auch negative Reaktionen. Wie nicht anders zu erwarten wurde ich von Nils, dessen Weg den meinen leider zwischen der ersten und zweiten Stunde kreuzte, sehr gemessen und abschätzig gemustert. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, eine Neuevaluierung durch Nils zu erfahren.
Nils kam mir in einem Schulflur entgegen. Ich musste in die Richtung, aus der er gerade kam. Wie für solch eine Situation bestellt, befand sich der Punkt, an dem wir aneinander vorbei mussten, an einer Engstelle. Wir würden sehr dicht aneinander vorbei gehen müssen.
In dem Moment, in dem Nils mich entdeckte, ließ er mich nicht mehr aus den Augen. Ich ihn auch nicht. Unsere Blicke hafteten fest aneinander. War da Angst in seinem Blick? Unsicherheit? Auf jedem Fall war da Wut, unbändige, brodelnde Wut.
»Hier ist eindeutig zu viel Testosteron in der Luft!«, hörte ich eine weibliche Stimme hinter mir sagen.
Nils und mich trennte nur noch ein knapper Meter. Ich konnte ihn bereits atmen hören, sein viel zu aufdringliches Aftershave riechen und ...
Mir fiel plötzlich etwas ein, etwas, wovon ich nicht wusste, woher ich es wusste. Ich wusste es genau so intuitiv, wie ich am Vortag plötzlich Karate beherrschte. In jenem Moment versagte meine Selbstkontrolle. Nils war genau in Flüsterreichweite. Mein Mund sprach, ohne, dass ich ihn dazu autorisiert hätte: »Ich weiß das du schwul bist!«
War ich das, der das sagte? War ich total durchgeknallt? Ich hätte auch gleich an Ort und Stelle Selbstmord begehen können. Jetzt würde Nils auf jeden Fall einen Grund haben, mich auszuschalten, denn ich wusste, ohne zu wissen woher, dass es die reine Wahrheit war.
Obwohl -- Nils Reaktion war interessant. Er blieb wir angewurzelt stehen und starrte mich entsetzt an. Er sah aus, als hätte ich ihm gerade die Kniescheiben weggeschossen. Sein Unterkiefer klappte runter. Ich sah, dass Nils in diesem Moment vollkommen ohne Deckung war.
Ich blieb ebenfalls stehen. Ich sparrte mir jegliche Häme oder Triumphgefühle. So nüchtern und sachlich ich nur konnte, flüsterte ich Nils zu: »Ich werde dich nicht outen.«
»Und der Preis?«
»Finger weg von mir und allen meinen Freunden!«
»Ok!«
Nils warf mir noch einen seltsamen und schwer interpretierbaren Blick zu und ging. Ich setzte meinen Weg in die Gegenrichtung fort.
War ich selbstnützig? Hätte ich von Nils nicht gleich verlangen sollen, dass er niemanden mehr tyrannisiert? Wahrscheinlich. War es überhaupt moralisch ihn mit seiner sexuellen Orientierung zu erpressen? Zu meiner Verteidigung muss ich anführen, dass ich über mein Tun nicht nachgedacht hatte, nicht nachdenken konnte. Dazu war die Zeit, in der sich die Szene abspielte, viel zu knapp gewesen. Hatte ich ein schlechtes Gewissen wegen Nils? Ja, aber kein sonderlich großes. Aus dem Wald schallt es bekannter weise heraus, wie man hineinruft. Und Nils rief selten freundlich in den Wald. Mein Mitleid mit ihm war eher schwach ausgeprägt.
Viel interessanter fand ich in diesem Zusammenhang die Frage, woher wusste ich, dass Nils schwul war? Er hatte nie Anlass zu Spekulationen gegeben. Einen derartigen Verdacht zu äußern, würde eher Zweifel am Geisteszustand des Äußernden provozieren, als dass so ein Gedanke von irgendjemand ernst genommen werden würde. Interessant, Nils hatte mich ernst genommen.
***
Diese und ähnliche Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich H.W.B. gegenübersaß. Natürlich wusste ich, worauf unser Direx anspielte. Jeder spielte auf den Kampf mit Carsten an.
»Und?«, bohrte Baumann nach, der kurz davon war einen Wutausbruch zu bekommen.
»Nichts und!«, half ich der Entwicklung zur Eruption nach. »Meine Auseinandersetzung mit Carsten, auf die Sie offensichtlich abheben, fand nicht auf Schulgelände statt.«
»Tobias, komm mir nicht mit Spitzfindigkeiten!«, polterte Baumann los. »Was glaubst du, wen du vor dir hast, Bürschchen? Wenn du glaubst, ich werde es zulassen, dass du gute und ehrenwerte Schüler misshandeln kannst, dann hast du mich noch nicht kennen gelernt.«
Ich muss völlig den Verstand verloren haben, denn ich bügelte unseren Direx einfach ab: »Sie vergreifen sich im Ton! Bitte duzen Sie mich nicht, Herr Baumann!«
Das war definitiv unverschämt. Aber ich war noch nicht fertig: »Und selbst wenn meine Auseinandersetzung auf dem Schulgelände stattgefunden haben sollte, wäre ich die falsche Person auf diesem Stuhl. Ich möchte Ihnen einmal etwas über Ihre ehrenwerten Schüler erzählen. Ich wurde von diesen ehrenwerten Schülern beleidigt. Ich wurde von ihnen diskriminiert, verhöhnt und gedemütigt. Ich wurde von ihnen tätlich angegriffen. Und ich bin nicht der Einzige, dem dies alles angetan wurde. Ich habe die Auseinandersetzung nicht begonnen. Aber ich habe etwas anderes getan, ich habe die Auseinandersetzung beendet.«
»Das ist die unverfrorenste Lüge und größte Unverschämtheit, die ich je gehört habe. Du willst mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass Carsten, oder lächerlicher noch, Nils den Streit angefangen haben? Ich weiß nämlich, was wirklich passiert ist. Man hat es mir ganz genau berichtet.«
»Wer hat Ihnen erzählt ich hätte angefangen?«, meinen Belastungszeugen wollte ich dann doch gerne mal kennen lernen.
»Ich wurde sowohl von den Eltern von Carsten als auch denen von Nils angerufen. Man hat mir deine Angriffe haargenau beschrieben. Du hast Carsten drei Rippen angeknackst. Zum Glück sind sie nicht gebrochen, aber er soll höllische Schmerzen haben. Da wird wohl noch eine Strafanzeige wegen gefährlicher Körperverletzung auf dich zukommen.«
Sie kam es nicht. Im Gegensatz zum ehrenwerten Direktor unserer Lehranstalt war weder die örtliche Polizei noch die Staatsanwaltschaft voreingenommen. Sie untersuchte den Fall sehr genau. Sie befragte die Augenzeugen und Beteiligten. Insbesondere befragten sie Nils, Carsten und mich. Infolge dieser Untersuchungen wurde der Anfangsverdacht wegen vorsätzlicher Körperverletzung gegen mich schnell entkräftet. Nicht nur, dass alle unabhängigen Augenzeugen übereinstimmend bestätigten, dass ich eben nicht angefangen und mich lediglich verteidigt hatte. Obendrein verhedderten sich Nils und Carsten auch noch in Widersprüche. Genaugenommen unterstützte Nils Carstens Behauptung, ich hätte ihn angegriffen, erstaunlicherweise nicht. Obwohl, war das nach unserem Zusammentreffen wirklich so erstaunlich?
Im Zimmer von Direktor Baumann wusste ich weder von einem drohenden Ermittlungsverfahren noch von dessen Einstellung etwas. Baumann traf eine ungedeckte Flanke. Ich wurde unsicher und kam ins Schwimmen.
»Körperverletzung? Aber ich habe mich doch nur verteidigt.«
Diese Reaktion irritierte nun wiederum unseren Direktor: »Tobias, wogegen wolltest du dich denn wohl verteidigen?«, Baumann versuchte es auf die joviale Tour. »Willst du mir nicht die Wahrheit erzählen? Deinem Gewissen Erleichterung verschaffen?«
»Sie können es sich nicht vorstellen, dass Nils andere Schüler angreift, nicht?«
Ich versuchte so wenig Provokation wie möglich in meine Stimme zu legen. H.W.B. reagierte, indem er nicht reagierte. Statt sofort wieder los zu poltern und mich als Lügner zu beschimpfen, wurde ich von unserem Direktor genau gemustert. Er hatte einen Ausdruck, als wenn er mich das erste Mal wirklich sah, mir das erste Mal zuhörte, was ich zu sagen hatte. Ich interpretierte seine Mimik als Aufforderung weiter zu machen.
»Nils erpresst Schüler.«, maximale Sachlichkeit in meiner Stimme. »Er nimmt ihnen ihr Geld, ihre Klamotten, ihre Handys. Wer sich weigert, wehrt oder Nils keinen Respekt zollt, erhält eine Sonderbehandlung durch Carsten. Sie kennen Carsten, sie wissen, was für ein Typ er ist.«
»Nein, das ist Unsinn.«, entgegnete H.W.B schwach. Sein Widerspruch schien rein rhetorisch zu sein.
»Ist es nicht. Es gibt Zeugen. Es gibt Beweise. Sehen Sie sich das Handy von Carsten an und fragen sie ihn, wo er es herhat. Ich weiß, dass Kauf- und Kartenvertrag nicht auf seinen Namen lauten. Man könnte es als Dauerleihgabe bezeichnen.«
Diese Art der Handynutzung war eine der beliebtesten von Nils Gang. Sie nahmen uns die Handys ab und telefonierten auf unsere Kosten. Ich wusste von etlichen Mitschülern, die dadurch in erheblich finanzielle Schieflagen gekommen waren.
»Tobias, Sie können gehen.«
Baumanns Reaktion war überraschend und unerwartet. Unser Oberstudiendirektor schmiss mich kommentarlos raus. Er sah mich nicht einmal mehr an, sondern hockte hinter seinem Schreibtisch und starrte ins Leere. Nur seine gekräuselte Stirn und die zornig zusammengezogenen Augenbrauen ließen erahnen, dass es im inneren von H.W.B. arbeitete.
Ich stand auf und ging.
Begegnung im Gang
Worin sich ein alltäglicher Vorgang wiederholt
Die nächste Unterrichtsstunde hatte natürlich schon begonnen. Die Gänge der Schule waren leer. Die schweren Türen unserer Klassen- und Kursräume dämpften jeglichen Lärm auf leises Gemurmel herab. Hinter der Klassenzimmertür einer siebten Klasse meinte ich das Lachen vieler Schüler zu hören. Und durch die Tür einer Fünften drangen die Stimmen einer ganzen Klasse, die Chorunterricht hatte, zu mir durch. Wie ich so den Pfad zu meinem Kursraum folgte, fiel mir auf, welch trügerischer Frieden die Stille und Ruhe der Gänge verströmte. Hier war es ruhig, aber hinter den Türen fanden Dramen statt. Ich hatte es 6 Jahre am eigenen Leib erlebt. Unfaire Lehrer, die einem aus Prinzip keine Chance gaben. Mitschüler, die sich über jeden Fehler des anderen freuten. Typen wie Nils und Carsten, die ganze Klassen in Angst und Furcht versetzten konnten. Ich musste dran denken, wie auch mich diese Schule eingeschüchtert hatte. Wie ich stets versucht hatte, nicht aufzufallen und unsichtbar zu bleiben. Eher im Schatten, als in der Sonne zu stehen.
Und dann blieb ich stehen.
Mitten in einem Gang blieb ich stehen. Ich hatte keine Angst mehr. Ich drehte mich um die eigene Achse, sah die endlosen Flure mit ihren vielen Türen und wusste es. Ich brauchte keine Angst mehr haben. Hinter keiner dieser Türen lag etwas, vor dem ich mich noch fürchten müsste.
Etwas hatte sich verändert.
Etwas?
Nein, nicht etwas -- Ich hatte mich verändert. Ich spürte es mit jeder Faser meines Körpers. Ich hob meine linke Hand, schaute mir meine Handinnenfläche an, spannte Sehen und Muskeln mit einer isometrischen Kontraktion. Nie war ich mir meines Körpers derart bewusst, wie in diesem Moment. Diese Veränderung ging weitaus tiefer, als ich mir vorstellen konnte. Ich war nicht mehr derselbe Mensch. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen.
Doch bevor noch der Wahnsinn von mir Besitz ergreifen konnte (Gemeint ist jener Wahnsinn, der immer dann einsetzt, wenn sich jemand für allmächtig und übermenschlich hält), wurde ich auf den Boden der Irrealität zurückgeholt.
Mir begegnete ein Geist. Eigentlich war es ein Schüler. Ich wusste nicht, wie er hieß, war mir aber vom Ansehen her bekannt. Er kam genau in dem Moment den Gang herunter, in dem ich mich wieder in Bewegung gesetzt hatte, um meinen Kursraum dann doch noch vor Ende der Stunde zu erreichen.
Zuerst war er wirklich nur ein ganz normaler Mitschüler. Er hatte gerade die Glasschwingtür am Ende des Ganges aufgestoßen, während ich mich noch etwa im ersten Viertel des anderen Endes befand. Die erste Merkwürdigkeit, die ich spürte, war eine Gänsehaut auf meinen Armen. Mir begann zu frösteln. Der Schüler kam näher und mit ihm näherte sich eine eigentümliche Kälte. Eigentümlich deswegen, weil sie nicht physisch war. Es war nicht so, dass der Gang wirklich messbar kälter wurde. Viel mehr wurde mir kälter. Während wir den Gang weiter gingen und uns immer näher kamen, bemerkte ich etwas anderes. Um den anderen Jungen herum schien eine Art von Dunkelheit zu liegen, gleichzeitig schien er ganz leicht in einem kalten, blässlichen Licht zu schimmern. Es war unheimlich, da ich das Gefühl hatte, hinter eine Maske sehen zu können. Der Junge hatte quasi zwei Gesichter. Einerseits stand vor mir ein ganz normaler Schüler. Normale Klamotten, normales Auftreten, ein Rucksack über eine Schulter geworfen. Harmlos und unauffällig. Der Typ war mir nicht ganz unähnlich, so, wie ich vor zwei oder drei Jahren war. Mitschwimmen und nicht auffallen.
Andererseits gab es da noch sein zweites Erscheinungsbild. Wie ein semitransparentes Bild hüllte es den Jungen ein. Zuerst sah ich nur das kalte, blässliche Licht, je geringer der Abstand zwischen uns wurde, desto deutlicher zeichneten sich Konturen ab. Eine Aura der Gewalt und Bösartigkeit. Es veränderte sein Aussehen. Es war, als wenn sein normales Aussehen eine Hülle war, durch die ich teilweise hindurchsehen konnte. Was ich sah, lässt sich nicht beschreiben, denn es war nicht physisch, nicht konkret, es reichte aber, damit mir mein Blut in den Adern gefror.
Klarer Fall, ich wurde verrückt.
Eine andere Erklärung war nicht möglich. Erst hielt ich mich für eine Art Supermann, jetzt sah ich Gespenster. Vermutlich hatte ich ein Blutgerinnsel in meinem Schädel. Vielleicht hatte Carsten gestern doch einen Schlag gegen meinen Schädel gelandet. Oder ich entwickelte einfach gerade eine schizophrene Persönlichkeit.
Egal was ich über meinen Gesundheitszustand vermutete, der Typ blieb unheimlich. Schlimmer noch, seine dunkle Präsenz nahm zu. Ich starrte ihn an. Wir waren nur noch knapp zwei Meter voneinander entfernt. Bisher hatte mich der Typ nicht weiter beachtete. Für ihn schien die Situation, dass sich zwei Schüler in einem Gang begegneten, nichts Außergewöhnliches zu sein. Er stutzte einen Moment verwundert, dass ich ihn anstarrte. Ich sah, wie sein öffentliches Gesicht freundlich, aber fragend lächelte.
»Hi!«, meinte der Typ.
Ich zwang mir ein Lächeln auf die Lippen und brachte ebenfalls ein »Hi!« heraus. Irgendetwas sagte mir, dass ich mir auf keinem Fall anmerken lassen durfte, dass ich seine anderes selbst sehen konnte. Ich war wohl nicht 100prozentig überzeugend. Während sein öffentliches Gesicht noch lächelte, schlug sein geisterhaftes Selbst schlagartig in eine lauernde Alarmiertheit um. Die nebelhafte Aura schien schleierartige Tentakel in meine Richtung auszustrecken. Unwillkürlich beschleunigte ich meinen Schritt. Bloß schnell an dem Typen vorbeikommen. Aus meinem Augenwinkel sah ich noch, wie mir der Junge nachschaute. Ich widerstand dem Wunsch mich umzudrehen, um zu sehen, was der Typ anschließend tat, ob er mir vielleicht sogar nachging. Ich war mir sicher, dass mich das verraten würde.
Er ging mir nicht nach. Kaum hatte ich den Flur hinter mir gelassen und im anschließenden Treppenhaus ins drüberliegende Stockwerk gewechselt, war das Gefühl von Kälte und Bedrohung verschwunden. Dafür tauchten Zweifel auf. Hatte ich das alles eben wirklich erlebt? So seltsam das Erlebnis war, so seltsam war auch, dass ich mich wenige Minuten später kaum noch daran erinnern konnte. Ich konnte mich zwar an den Schüler erinnern und daran, dass wir aneinander vorbeigegangen waren. Aber die Erinnerung an seine Aura, an die dunkel, drohende Ausstrahlung verschwand von Sekunde zu Sekunde und ließ schließlich, als ich an meinem Kursraum angekommen war, nur ein dumpfes, unheimliches Echo zurück.
»Herr vanBrüggen. Nett, dass Sie unserer kleinen Sprachveranstaltung auch nochmal die Ehre Ihrer Anwesenheit zukommen lassen.«, begrüßte mich der ätzendste Lehrer unserer Schule mit ausgewähltem Zynismus. Hans Peter Jenninger, Lateinlehrer und Meister in der Folterung von Schülern, stand vor dem Kurs (er liebte den klassischen Frontalunterricht) und suchte sich gerade sein nächstes Opfer.
»Ich ...«, stammelte ich los. Mein neugewonnenes Selbstvertrauen schien sich eine Auszeit zu nehmen. »Ich wurde zu Oberstudiendirektor Dr. Baumann gerufen.«
Die Nennung von H.W.B.s vollständigem Titel war keine Schleimerei, sondern lebensnotwendig. Jenninger neigte dazu, Tadel und Zensurstrafen für derartige, wie er es nannte, »Respektlosigkeiten« zu vergeben. Mit den Tadeln konnten wir leben. Mit Sanktionen in Form von schlechten Zensuren weniger.
»Und warum stehen Sie noch da so rum?«, fauchte mich Jenninger an.
Ich setzte mich schweigend und holte meine Bücher aus meinem Rucksack. Offensichtlich nicht schnell genug.
»Wenn Sie dann auch soweit sind, Tobias, würden Sie uns dann bitte die Ehre erweisen, den nächsten Absatz zu übersetzten.«
Dieses Arschloch. Ich wusste nicht einmal, wo der Kurs genau war.
»Seite 52, Absatz 3.«, flüsterte mir Jan, mein Banknachbar zu.
Ich schlug die Seite auf, fand den Absatz und las ihn vor. Auf Deutsch. Auf Deutsch? Ich hatte Latein seid meiner siebten Klasse und war ein eher mittelprächtiger Schüler. Meine Fähigkeiten (und meine Faulheit) reichten immer so weit, dass ich immer noch gerade eine Drei auf dem Zeugnis schaffte. Dies war die zweite Stunde bei Jenninger und ich ahnte, dass es in einer Katastrophe enden würde. Jenninger ging der Ruf voraus, alle Zensuren um zwei Schritte abzuwerten. Aus einer Drei würde also eine Fünf werden, wenn nicht ein Wunder geschah.
Und genau dieses Wunder geschah. Ich las den Abschnitt vor. Ich übersetzte ihn, während ich die Buchstaben las. Obwohl, eigentlich übersetzte ich die Sätze überhaupt nicht. Ich verstand die Sprache, als wenn sie meine Muttersprache wäre. Wie jemand, der mehrsprachig aufgewachsen war, brauchte ich nicht nach Begriffen suchen. Ich hätte jederzeit jede Unterhaltung in Latein führen können. Dabei hasste ich Latein. Dabei wusste ich, dass ich die meisten Vokabeln nie zuvor gesehen hatte. Da mich Jenninger mit seiner unerträglichen Art aber dermaßen unter Strom und Anspannung setzte, bemerkte ich diesen kleinen Widerspruch nicht. Ich las meinen Text bis zum bitteren Ende vor.
Mit dem letzten Wort schaute ich von meinem Buch wieder auf und wunderte mich, dass mich meine lieben Kursmitglieder ungläubig anglotzten. Manche starrten mich mit heruntergeklappten Unterkiefern an. Unsicher, was für ein Film gerade ablief, schielte ich von links nach rechts und wieder zurück.
»Was?«, fragte ich unwissend.
Mann räusperte sich und schaute verlegen weg. Jenninger hingegen musterte mich eine Weile und meinte schließlich: »Sagen Sie mal, wollen Sie mich verarschen?«
Jenninger kochte vor Wut. Ich verstand nicht, was er meinte.
»Was meinen Sie?«, fragte ich vorsichtig nach.
»Sie wollen mich wohl für dumm verkaufen!«, fuhr mich Jenninger an, »Aber da müssen Sie früher aufstehen. Viel früher! Glauben Sie wirklich, ich würde nicht merken, wenn ein Schüler eine Übersetzung auswendig lernt? Halten Sie mich für dermaßen verkalkt? Ungenügend, vanBrüggen, ungenügend. Und danken Sie mir dafür, dass ich Sie nicht wegen Leistungsbetrug melde. Sie haben mich als ...«
»Mit allem Respekt.«, unterbrach ich Jenninger. Mir war zwar klar, dass meine ungeahnten Lateinfähigkeiten für alle Anwesenden (und für mich am meisten) mehr als überraschend waren und dass ich eine vernünftige Erklärung dafür liefern musste, aber mich als Betrüger abstempeln zu lassen, ging zu weit.
»Ich habe diesen Text zuvor noch niemals gesehen. Ich habe ihn eben zum ersten Mal übersetzt. Ihnen eilt ein gewisser Ruf voraus, einen sehr anspruchsvollen Unterrichtsstil zu pflegen«, offensichtlich konnte ich nicht nur Latein sondern auch geschwollen und ekelhaft schleimend reden. »Deswegen habe ich mich in den Sommerferien auf Ihren Unterricht vorbereitet und den bisherigen Stoff rekapituliert.«
Jenninger zögerte. Auf seinen Unterrichtsstil abzuheben und ihn anspruchsvoll zu nennen, ging Jenninger runter wie Öl. Jeder Mensch scheint eine Achillesferse zu besitzen. Die meines Lateinlehrers war sein Ego: »Nun ja. Möglicherweise war ich mit meinem Urteil etwas voreilig. Der Text ist schließlich auch eher simpel. Nun, ich werde Sie im Auge behalten vanBrüggen und sehen, wie sich das entwickelt. Bis dahin bleibt das Ungenügend bis zum Beweis des Gegenteils bestehen.«
Das war knapp. Ich hätte nie gedacht, dass ich mit diesem Bluff durchkommen würde. Aber offensichtlich hatte ich einen Punktsieg gegen Jenninger erreicht. Andererseits war es auch eine Niederlage, nämlich bei meinen Kursmitgliedern. Ab sofort war ich vermutlich als opportunistischer, arschkriechender Schleimer gebrandmarkt.
Nach der Schule
Worin man zu dritt in die Stadt fährt.
»Ich hoffe, du hast keinen Stress bekommen, oder?«
War das ein gutes Zeichen? Dass Michi nach der Schule auf mich wartete, war normal. Dass aber neben Michi Ralf stand, war nicht normal. Dass die beiden sich miteinander unterhielten und sogar dabei lachten, war alles andere als normal. Die Frage nach dem Stress kam auch nicht von Michi, sie kam von Ralf.
Ich muss wohl sehr nach einem Fragezeichen ausgesehen haben, denn Ralf beeilte sich zu erläutern: »Michael hat mir von deinem Kampf gestern erzählt. Hast du deswegen Ärger bekommen?«
Mir wurde heiß. Hatte Michi alles erzählt? Ich brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass mein Gesicht rot flackerte. Michi grinste mich hinterhältig an, meinte dann scheinheilig: »Ich habe Ralf nur von deinem kleinen Fight mit Carsten erzählt. Na ja, soviel Neues konnte ich ihm auch nicht berichten. Du bist schließlich das Tagesgespräch.«
»Ähm, ja.«, stammelte ich. »Alles halb so wild. Ich habe ...Ähm, war alles nur Glück ... Aber, deswegen ... nein ... also, das meinte ich nicht!«
»Ist er immer so?«, fragte Ralf Michi grinsend.
»Nein, der ist heute noch halbwegs verständlich, sonst stottert er nur einzelne Buchstaben.«
Da amüsierten sich zwei auf meine Kosten.
Ich fand meine Artikulationsfähigkeit wieder: »Du redest noch mit mir?«
Schließlich hatte ich Ralf am Vortag heftig abgebürstet.
»Ja, tut er.«, sprach Michi statt Ralf. »Ich, eigentlich kann er dir alles selbst erzählen.«
Der Erwähnte sah plötzlich ganz schüchtern aus. Seine Augen glitzerten in einem tiefen, irritierenden violetten Farbton: »Ich glaube, ich muss mich eher bei dir wegen gestern entschuldigen.«
Ralf schaute noch etwas schüchterner zu Boden und schubberte mit der Fußspitze seiner Vans auf dem Asphalt herum. »Wenn ich dir irgendwie zu nahe getreten bin oder provoziert ... Also, ich wollte dich nicht ... Also, dass du wütend auf mich warst, das war schon Ok. Ich hätte nicht ...«
Mir wurde ganz blümerant. Ich bekam weiche Knie, Hummeln im Bauch, aufsteigende Hitze, Schluckbeschwerden, halt das ganze Programm körperlicher Reaktionen auf emotionale Extremsituationen. Ralf wirkte so unheimlich süß, wie er da ungelenk und schüchtern vor sich hin stammelte.
»Ich ... äh ...«, hielt ich nun meinerseits stammelnd entgegen. »Also ... ich glaube, ich muss mich bei dir genauso entschuldigen. Ich hab total überreagiert. Du weißt schon ... Das ich weggerannt bin ...«
»Nein, du musst dich nicht entschuldigen. Ist schon gut ...«
Michi stand zwischen uns, schaute von Ralf zu mir und wieder zu Ralf. Erst kräuselte sich seine linke Augenbraue, dann hob sich seine rechte. Schließlich brach er in schallendes Gelächter aus: »Pah, ich pack mich wech!«
»Was?«, kam es von Ralf und mir synchron (Zeitdifferenz kleiner 10msec).
»Ni-ch-ts ...«, grölte Ralf überschwänglich. »Gar nichts. Ihr zwei ... Ach, nichts!«
Sprachs und kicherte in sich hinein. Ich sah Ralf an, Ralf sah mich an. Shit, ich versank in seinen Augen. Tiefes glühendes Violett, wie Pfeile, die von einem bodenlosen schwarzen Zentrum geschossen wurden.
Ich wurde erneut rot, als ich mich dabei ertappte, ihm viel zu lange in seine Augen geschaut zu haben. Es waren jene Sekunden zu viel, die einem von den heterosexuellen Bevölkerungsschichten unterschied.
»Ähm ...«, stammelte ich verlegen, während Michi grinste wie ein Honigkuchenpferd.
»Ähm ...«, stammelte Ralf. Hatte er ähnlich lange zurückgeblickt?
»Ok, ein anderes Thema.«, unterbrach Michi den peinlichen Moment. »Was wollte H.W.B. denn nun wirklich von dir? Es war wegen deines Kampfes, richtig?«
»Ja. Allerdings weiß ich nicht genau, was er eigentlich wirklich von mir wollte. Das Gespräch verlief etwas merkwürdig.«
Ich schilderte kurz, was im Büro unseres Direktors abgelaufen war. Man war mit mir einer Meinung, dass H.W.B.s Reaktion mehr als seltsam war. Michi beruhigte mich soweit, als dass er meinte, dass ich mir wohl wegen einer Klage wegen Körperverletzung keine Sorgen machen müsste. Jeder, der den Kampf gesehen hatte, würde bestätigen, dass ich angegriffen wurde und mich nur verteidigt hatte.
»Allerdings«, fügte Michi hinzu, »weiß ich nicht, ob es so schlau war, die andere Sache zu erwähnen. Wenn Nils jemals raus bekommt, dass du ihn bei H.W.B. wegen seines kleinen Schutzgeldrings verpfiffen hast ... Das wird ein Begräbnis erster Klasse.«
»Hey, Baumann hat den Sachverhalt verdreht und behauptet, ich wäre der böse Junge. Was hätte ich den machen sollen?«, verteidigte ich mich.
»Schon, aber ...«, Michi wog seinen Kopf abwiegend hin und her. »Du dürftest es direkt auf Platz eins von Nils Abschussliste geschafft haben.«
»Da steh ich seid gestern doch sowieso schon! Oder glaubst du, die Typen werden vergessen, dass ich Carsten zerlegt habe?«
»Seid wann machst du eigentlich Karate?«, fragte Ralf, der der Unterhaltung bis dahin schweigend gefolgt war.
» Shit! Ich mach überhaupt kein Karate. Das war ja das verrückte. Irgendwie wusste ich, was ich machen muss, wie ich kämpfen muss.«
Ich ließ meinen emotionalen Zusammenbruch im Anschluss an meinen Sieg kurzerhand unerwähnt. Ralf sollte mich nicht für ein totales Weichei halten, das heulend zu seiner Mami rennt. Er sah mich sowieso schon merkwürdig genug an.
»Apropos verrückt ...«, brachte sich Michi wieder ins Gespräch. »Wusstet ihr, dass wir in der Schule einen Poltergeist haben?«
»Poltergeist?«, Ralfs skeptischer Blick sagte alles.
»Ja, Poltergeist. Habt ihr noch nicht von der Parkbank gehört?«
»Hä?«
Michi erzählte, dass man heute Morgen im Schulgarten eine Parkbank gefunden hat. An sich sind Parkbänke in einem Garten nichts Ungewöhnliches und diese spezielle Bank gehörte seid Bestehen des Gartens zum Inventar, nur war die Bank keine Bank mehr. Das schwere gusseiserne Gestell der Bank war in sich verdreht und verwunden worden und hatte jetzt eher die Form eines abstrusen Metallknäuels. Niemand konnte sich erklären, wie sowas möglich sein konnte. Die meisten Leute gingen von einem Schülerstreich aus, aber das Gerücht, die Schule hätte einen Poltergeist, hatte natürlich viel mehr Charme.
Als Michi so erzählte, bemerkte ich bei mir ein inverses Rotwerden in meinem Gesicht. Ich verlor an Farbe. Schulgarten? Parkbank? Gestern? Ich wusste zwar nicht warum, schließlich hatte ich auf jener Bank einfach nur gesessen, aber trotzdem beunruhigte mich die Geschichte. Zufällig sah ich in Ralfs Richtung und bemerkte bei ihm eine gewisse Alarmiertheit. Wusste der Typ mehr über die Sache?
»Was haltet ihr davon, wenn wir in die Stadt fahren?«, Michi war mal wieder mit einem Thema durch und wechselte zum nächsten.
Ich zuckte mir meinen Schultern, blickte zu Ralf fragend rüber, jener zuckte ebenfalls.
»Sicher, warum nicht?«
Die nächste S-Bahn war unsere. Unsere Schule war, wie bereits erwähnt, in einem Vorort gelegen, weswegen sich die Formel »In die Stadt fahren« auf »Vom Vorort in die Innen-stadt fahren« bezog. Ralf und ich gingen, Michi rollte. Die nächste S-Bahn ließ auch nicht lange auf sich warten. Wie bestiegen den Wagen und ließen uns in einem Abteil nieder. Die Fahrt war lustig. Ziemlich entspannt und locker plauderten und scherzten wir über dies und jenes. Ok, möglicherweise hatten die anderen Fahrgäste etwas weniger Spaß. Wir waren wohl recht ausgelassen.
So entspannt und locker die Fahrt auch war, ertappte ich mich ständig dabei, Ralf aus den Augenwinkeln zu betrachten. Ihn attraktiv zu nennen, käme einer Beleidigung gleich. Aus meiner subjektiven Sicht heraus war Ralf kurz vor perfekt. Unter seiner Kleidung zeichnete sich ein definierter Körperbau ab. Auch wenn er heute keine derart körperbetonend eng anliegende Kleidung trug wie beim ersten Mal im Plattenladen, reichte es, um alles Notwendige erahnen zu können. Er war muskulös, aber nicht bullig. Seine Bewegungen waren weder affektiert noch sprach er mit Händen und Füßen. Seine Körpersprache war viel mehr kontrolliert und sehr dosiert. Wenn er etwas erzählte, dann gab sein physischer Ausdruck dem gesprochenen Wort eine zusätzliche Textur. Dabei wirkte er keinesfalls verkrampft, eher offen und ehrlich. Auf dem ersten Eindruck schien er der Typ Marke »What you see is what you get!« zu sein. Doch je mehr ich ihn beobachtete, desto mehr hatte ich den Eindruck, dass unterhalb dieser Oberfläche des süßen und netten Jungens von nebenan weitere Schichten versteckt lagen. Ab und an schimmerte eine viel komplexere Persönlichkeit durch. Die Gefühle, die sie verströmte, verwirrten mich: Einsamkeit, Unsicherheit, Hingabe, Sehnsucht aber auch Liebe. Wie konnte das sein?
Ralf schien der Inbegriff dessen, was man eine starke Persönlichkeit nannte, zu sein. Er war selbstbewusst und offen, hielt mit seiner Meinung nicht hinterm Berg und leistete sich das eine oder andere Wortgefecht mit Michi. Und trotzdem lauerten irgendwo diese anderen schweren Gefühle.
Während ich Ralf noch unauffällig studierte, bemerkte ich, dass meine Gedanken in ganz andere Bahnen gewandert waren. Ralf machte mich an. Nicht wissentlich sondern unbewusst, seine pure Präsenz hatte diese Wirkung. Ich stellte mir vor, wie er wohl ohne Sweatshirt aussehen würde, wie es wohl sei, über seine Brust zu streicheln, wie sich sein Körper überhaupt anfühlen würde. Ist er eher hart mit Sixpacks soft und kuschelig? Die Vorstellung Ralf in die Arme zu nehmen, hätte mich fast verraten. Nur mit einiger Mühe konnte ich einen lustvollen Seufzer verhindern. Gott sei Dank hatte ich diesen Morgen lockere Baggy-Jeans angezogen. Alles andere, insbesondere engere Schnitte, hätten eine überdeutliche Zeichnung im Stoff meiner Beinkleider sehen lassen.
Shit! Hatte Ralf etwas bemerkt? Ich war gerade dabei, mich auf meinem Sitzplatz etwas umzugruppieren, um meinem besten und momentan schmerzhaft harten Stück etwas mehr Freiraum zu geben, als mir Ralf einen kurzen Blick zu warf. Er grinste hinterhältig.
»Mach' ich dich nervös?«, fragte Ralf mit totaler Unschuldsmine. Verdammt, hatte der Kerl kein Respekt vor meinen Hormonen?
»Ähm ...«, stammelte ich und wusste nicht recht weiter.
Michi grinste in sich hinein: »Ralf, das musst du verstehen. Unser Tobi ist momentan nicht ganz bei der Sache, ich glaube er ist verliebt.«
»Ach, ist er? So so ...«, meinte Ralf und bedachte mich mit einem spitzbübischen Grinsen, fragte aber nicht, in wen.
Mir fiel nichts Passenderes ein, als Michael Müller gegen sein Schienbein zu treten. Konnte der Kerl nicht mal seine vorlaute Klappe halten? Die Situation wurde langsam peinlich.
Meine Rettung erfolgt durch die S-Bahn. Sie erreichte genau in dem Moment unseren Zielbahnhof, als sich Ralfs und Michis Augen auf mich gerichtet hatten und offensichtlich irgendeine Offenbarung von mir erwarteten.
Ich wollte sie natürlich nicht enttäuschen und verkündete feierlich: »Wir sind da!«
»Idiot!«, hörte ich Michi knurren, war aber bereits als erster aufgesprungen und zur Tür gehastet.
***
Wir gingen shoppen und, schlimmer noch, es machte einen heiden Spaß. Ich hatte schon lange vor, mir ein paar langärmlige T-Shirts und eine neue Hose zu kaufen. Meine Klamotten neigten dazu, sich untereinander abzusprechen. Mann kennt das, man steht eines Morgens vor dem Kleiderschrank und hat nichts mehr zum Anziehen. Alles sieht von einem zum anderen Tag schäbig, alt und »naja zur Not« aus.
Mit zwei Modeberatern und drei verschiedenen Meinungen hatten wir nach 2 Stunden 7 Verkäuferinnen und Verkäufer zerschlissen. Wir hatten unseren Spaß.
»Na, Tobi, willst du noch eine CD kaufen? Da vorne ist dein Plattenladen«, säuselte Ralf von der Seite in mein Ohr, als wir nach erfolgreicher Jagd über die Hauptstraße bummelten.
Zeit zum rot werden -- was spielte der Typ für ein Spiel mit mir? Als ich zu ihm hin sah, schaute er in die Luft und folgte den Flugbahnen der Tauben und Spatzen, die die Innenstadt in Massen bevölkerten. Diese hinterhältige Ratte. Oder hatte Michi ihm irgendetwas von mir erzählt?
»Pizza?«, brachte der Müllerspross ein neues Etappenziel für den Nachmittag ein.
Pizza
Worin man ein italienisches Teiggericht verzehrt.
Das Ambiente des Billigitalieners war eher mitleidserregend. Es war zwar alles sehr sauber, aber eben einrichtungsmäßig ziemlich spröde, schäbig und voller schlechtester Klischees. Eingeputzte Teller mit bunter Glasur zierten eine schon leicht abbröckelnde weiß verputzte Wand, die effektvoll, weil »so toll authentisch«, grobschlächtig gespachtelt war. Immer ein Tick Deko zu viel, waren diverse Nischchen und Fensterbänkchen, vor gefälschten Fenster mit Riffelglasscheibe und blauer Glühbirne (Himmelssimulation), mit allerlei »originären« Zierrat verkleistert. Es gab die berüchtigten hochhalsigen, gedrehten Weinflaschen im Bastkorb. Plastikknoblauchranken hingen herum, und ein Fischernetz mit Kunststofffisch versuchte maritimes Flair zu vermitteln. Der absolute Knüller war das »Wandgemälde« einer generischen italienischen Adriabucht mit Fischerbooten, Strand und Leuchtturm. Selbstredend blätterte die Farbe an etlichen Stellen bereits ab, wurde aber von bunten Strahlern hübsch in Szene gesetzt.
Dafür war das Essen erstaunlich gut. Es war frisch und wirklich preisgünstig. Die Dauerberieselung mit sogenannter typisch italienischer Musik (Aturo, Caprifischer etc. und alles mehr laut als gut), lud zwar nicht unbedingt zum längeren Verweilen ein, aber mit 17 besitzt man eine erschreckend hohe Leidensfähigkeit.
Wir saßen in einem dieser klassischen Abteile, einem Tisch, an dessen Seiten sich jeweils eine Bank mit hohem Rückenteil befand und gleichzeitig die Trennwand zum nächsten Abteil bildete. Ich saß neben Michi, während Ralf uns gegenübersaß. Wir warteten auf unser Essen und hielten uns währenddessen an unseren Getränken fest. Der Laden macht auf Selbstbedienung. Alle paar Minuten brüllte der Koch etwas Unverständliches durch den Laden. Klang diese sprachliche Dissonanz entfernt nach dem Namen des bestellten Essens, stand man auf und holte sich das hoffentlich richtige Menü ab.
»Rigaforno«, krakeelte es durch den Laden.
»Das ist deins!«, meinte Michi zu Ralf und deutete mit seinem Daumen Richtung Essensausgabe, »Es ist Rigatoni al forno auf ein Wort komprimiert.«
Mit einem skeptischen Blick stand Ralf auf und latschte zögernd zur Brüll- und Essensquelle.
»In ein paar Wochen hat er's auch raus«, grinste Michi, drehte sich dann zu mir und meinte: »Und, was hältst du von Ralf? Er gefällt dir, oder?«
»Sag' mal, bist du wahnsinnig?«, konnte ich Michi endlich anknurren. »Wir konntest du diesen Typen mitschleppen? Ich hab' dir doch erzählt, was gestern zwischen uns passiert ist.«
»Eben deswegen!«
»Arsch!«
»Selber!«, seufzte Michi. »Ich weiß gar nicht was du willst. Ihr versteht euch doch ganz gut.«
»Ja!«, knurrte ich. »Zu gut! Der Typ sieht sowas von geil aus, dass ich gegen einen permanenten Ständer ankämpfen muss.«
»Ja und?«, tat Michi scheinheilig.
»Verdammt! Sowas wir der ist hetero. Ließ es von meinen Lippen ,he-te-ro-se-xu-ell` .«
»Hat da jemand Vorurteile? Woher willst du wissen, dass der Typ nicht auch schwul ist.«, Michi tat unschuldig. »Für einen Hetero sieht er viel zu gut aus.«
»Pah! Und wenn schon. Warum sollte er ausgerechnet was von mir wollen. Ich ...«, wollte noch etwas sagen, aber in diesem Moment kam Ralf zurück und wir verstummten.
Er stellte einen Teller mit Pasta vor sich auf den Tisch, setzte sich und musterte sein Menü: »Sieht aus wie Rigatoni. Riecht wie Rigatoni.«
Er probierte ein Stück: »Und schmeckt sogar wie Rigatoni. Mmmmhhhh, schmeckt sogar richtig gut. Das Essen ist besser als der Laden aussieht.«
Michis und mein Essen wurde aufgerufen. Ich saß am Gang und deutete Michi sitzen zu bleiben, kletterte von der Bank hoch und holte unser Essen. Michi hatte eine Pizza Diaboli mit massenweise Peperoni (»Genau das richtige für Vaterns Sohn!«) während ich Spaghetti al pepe mit Filetstreifen vernaschte.
»Worüber habt ihr eigentlich gesprochen, als ich mein Essen holen war?«, die Frage kam unerwartet und sie kam von Ralf zwischen zwei Bissen Rigatoni al forno, »Ihr habt plötzlich mit Reden aufgehört.«
Mir rutschte vor Schreck ein Knäuel Spaghetti von der Gabel. Ich wurde blas wie die Pfeffersoße auf meinem Teller.
»Ähm ...«, stammelten Michi und ich im Chor.
»Ich verstehe. Na ja, ist ja auch egal«, wischte Ralf die Frage nach einiger Zeit bei Seite, als wenn sie für ihn nicht wichtig wäre. Dass sie es doch war, sah ich in seinem Gesichtsausdruck. Er versuchte seine Enttäuschung über uns zu verbergen, aber ein wenig schimmerte davon durch und wenn es nur seine Augen waren, die ihre Farbe verloren hatten und nur noch in einem matten und blassen Grau glimmten.
Mein schlechtes Gewissen regte sich. Der Typ schien um einiges dünnhäutiger zu sein, als er auf den ersten Blick wirkte. Ich wusste nur zu genau, wie er sich fühlte. Ich hatte oft selbst erlebt, dass Leute ihr Gespräch unterbrachen, sobald ich in Hörreichweite kam. Man fühlt sich ausgeschlossen und ausgegrenzt. Genau das war aber das Letzte, was ich wollte. Ralf sollte sich auf keinem Fall ausgegrenzt fühlen. Der Nachmittag war einer der lustigsten und kurzweiligsten, die ich je mit Freunden verbracht hatte. Denn genau dazu wollte ich Ralf inzwischen zählen, zu einem Freund. Wir drei, Michi, Ralf und ich, schienen alle auf der gleichen Wellenlänge zu liegen. Mehr noch, ich fühlte so etwas wie ein Wirgefühl entstehen. Und genau dieses Gefühl, diese gute Stimmung, war dabei zu kippen. Und das nur, wegen einer dummen schlechten Angewohnheit.
»Hey!«, fing ich an und fuchtelte ungeschickte mit meiner Gabel umher. Ein Spaghettifragment wurde abgeschleudert und flog quer über den Tisch, »Du hast Recht, wir haben über dich gesprochen.«
»Ach, vergiss es ...«, Ralf wirkte frustriert.
»Nein, das werde ich nicht tun. Ich glaube, wir müssen uns bei dir entschuldigen. Wird wohl zu einer Gewohnheit. Du hast vollkommen Recht, sauer zu sein.«
Ralfs Blick hellte sich auf. Ich war mit meinem kleinem Kanossagang aber noch nicht am Ende: »Ich will offen zu dir sein, ich habe Michi gefragt, warum er dich mitgeschleppt hat.«
Moment! Moment! Moment! Was red' ich denn da? Nach den irritierten Gesichtern von Ralf und Michi zu urteilen, redete ich mich gerade um Kopf und Kragen.
»Stop! Halt! Ich mein' das nicht so, wie es sich jetzt anhören muss. Also ja, ich meine nein.«, stammelte ich und flackerte rot. »Also, ich ... Verdammt, mir ... Nachdem was gestern passiert ist ... Shit! Also, so wie ich gestern weggerannt bin ... Ich bin ...«
... schwul. So sollte mein Satz enden, er tat es aber nicht. Denn noch bevor ich das »S« von schwul aussprechen konnte, hatte ich eine Portion Spaghetti Bolognese im Gesicht. Im ersten Moment dachte ich, Ralf wäre so sauer geworden, dass er mir seinen Tellerinhalt ins Gesicht geknallt hatte. Da er aber Rigatoni al forno hatte, fiel dieser Lösungsansatz aus.
»Typisch vanBrüggen! Was machst du mit meinen Nudeln?«, meinte ich eine bekannte Stimme zu hören. Sie klang gedämpft, da sich Fleischsoße in meinen Ohren befand. Mit meinen Zeige- und Mittelfingern wischte ich mir die Teigwaren aus den Augen. Vorsichtig öffnete ich die mit Soße verklebten Lieder und erblickte Carsten. Carsten stand vor unserem Tisch.
»Wegen dir Freak muss ich Schmerzmittel fressen! Du hast mich vor der gesamten Schule lächerlich gemacht. Dafür wirst du mir büßen!«
Michi sah meine Reaktion voraus und drückte mich noch bevor ich aufspringen konnte zurück auf die Bank: »Bleib ganz ruhig. Lass dich nicht provozieren.«
»Ja, genau ...«, verhöhnte uns Carsten. »Sei ein braves Hündchen. Typ, ich mach dich alle. Sobald meine Rippen wieder heil sind, bist du fällig. Das ist keine Warnung, das ist ein Versprechen.«
Versprach's und stampfte davon.
***
Da saß ich nun. Eine komplette Portion Spaghetti Bolognese auf Kopf, T-Shirt und Hose. Es war demütigend.
»Ihh! Ich hab' auch was abbekommen«, knurrte Michi und rieb damit noch etwas mehr Salz in die Wunde. Natürlich wurde ich von allen Gästen angegafft. Natürlich warfen mir die Angestellten des Ladens böse Blicke zu. Ich war das Opfer eines heimtückischen Nudelanschlags, aber jeder tat so, als wenn ich daran schuld sei. Ich stand vorsichtig auf, bemühte mich nach Möglichkeit keine Nudeln oder Soße zu verkleckern und ging aufs Klo. Dort angekommen wusch ich mir die Nudeln vom Kopf. Sich auf einem Billigrestaurantklo mit Mikrowaschbecken und ausschließlich kaltem Wasser den Kopf zu waschen machte nicht wirklich Spaß. Nachdem mein Kopf halbwegs nudelfrei war, verzog ich mich auf eines der Klos und zog mich aus.
Glück im Unglück. Hätten wir nicht vorher Klamotten eingekauft, hätte ich ziemlich alt ausgesehen. Ich zog mir meine neuen Klamotten an und stopfte die Wäsche ala bolognese in eine der frei gewordenen Plastiktüten. Sollte Muttis Vollwaschmittel und unsere Waschmaschine das Wunder der Trennung von Nudelsoße und Baumwolle vollbringen.
Ich musste an meine Begegnung mit Nils denken. Eigentlich hatte ich vermutet, dass er seine Leute besser in Griff hat und solch eine Geschichte nicht passieren dürfte. Anderseits konnte es genau so gut möglich sein, dass Nils Carsten noch gar nicht gesprochen hatte. Und wenn Carsten in dieser Sache nicht mehr auf Nils hört? Schließlich hatte ich ihn ziemlich deutlich seine Grenzen gezeigt.
Ein paar Minuten hielt ich meinen Kopf unter den elektrischen Händetrockner und ging schließlich fast wie frisch gewaschen zurück in den Speiseraum.
Ralf und Michi standen vor der Klotür und warteten dort schon auf mich: »Ich glaube, wir sind hier nicht mehr erwünscht!«
Wir verließen das Lokal. Es war inzwischen früher Abend geworden und wir entschieden, den Ausflug in die Innenstadt zu beenden. Schweigend gingen wir zum S-Bahnhof. Carsten hatte die gute Stimmung nachhaltig gestört.
Am Bahnhof angekommen, sammelte ich nochmals all meinen Mut. Ich ging auf Ralf zu: »Ich wollte dir vorhin noch etwas sagen ...«
Und wieder wurden wir unterbrochen. Es war weder meine fehlende Courage, es war auch kein Carsten, es war eine S-Bahn, die in den Bahnhof einlief.
»Ich weiß, was du sagen willst«, unterbrach mich Ralf und wippte nervös von einem Bein auf's andere. »Ich weiß, ihr habt das vorhin nicht böse gemeint. Schließlich bin ich ja wirklich `Der Neue` Aber, hey, danke, es war ein super Nachmittag. Ich ... ähm ...«, Ralf deutete auf den S-Bahn-Wagen. »Ich muss in die andere Richtung. Ähm ... tja ...Wir sehen uns morgen in der Schule.«
Er lächelte ein wenig traurig und stieg in den Wagen. Das Abfahrsignal ertönte und der Zug setzte sich in Bewegung. Ich sah ihm nach. Er winkte und sah uns nach. Oder sah er mir nach? Als Ralf nicht mehr zu sehen war, fühlte ich mich plötzlich leer, einsam und unvollständig. Ich wusste, was das bedeutete.
Mehr zu mir selbst flüsterte ich leise: »Ralf, ich liebe dich!«
Nachwort
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(c) Nero Impala, 2000,2001,2002,2003
Exklusiv für Nickstories
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Nero Impala
Berlin, den 18. November 2003
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