zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Drachenblut

5. Buch - Teil B - Inferno

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Eargilin

Dämmerung

»Vorbestimmung? Weissagungen? Ein interessantes Konzept, an das ich allerdings nicht glaube.«
»Tritt sie ein, war es Vorbestimmung, wenn nicht, nur ein dummer Irrtum.«

Aus den Erinnerungen des Propheten Mik’Ro Max

»Sie haben Suman!«, schrie Gilfea noch bevor Mithval gelandet war.

Eargilin mit Gildofal landete neben Mithval, direkt daneben kam eine traurige Tingalen zum stehen. Lars und seine Männer liefen auf die zwei Drachenreiter und drei Drachen zu.

»Was ist passiert?«, fragte Gildofal.

Aus einer von Gilfeas Satteltaschen kam Schiefergrau herausgekrabbelt, um dann zu Gilfea zu laufen. Traurig sah er den verwunderten Drachenreiter an: »Es war Steinschlag!«

»Wo kommst du denn her?«, Gilfea starrte den Wolf verdattert an, »Was hast du gesagt? Steinschlag?«

»Ich hab’ gesehen, wie er aus einer von Sumans Gepäckrollen rausgekrochen kam. Ich wollte dich noch warnen, doch da hatte Steinschlag Suman schon gebissen. Es tut mir Leid!«

Gilfea streichelte Schiefergrau durch sein dichtes Fell. Er mochte diesen Wolf, obwohl er sich als blinder Passagier eingeschmuggelt hatte.

»Es muss dir nicht Leid tun«, Gilfea kraulte Schiefergrau hinter den Ohren, »Du kannst ja nichts dafür.«

Gilfea schaute in die Runde. Offenbar wartete jeder darauf, dass er etwas Gescheites von sich gab. Hätte sich Gilfea selbst sehen können, er hätte sofort begriffen, wieso. Ein Drachenreiter auf einem gigantischen Drachen sitzend, neben ihm, ebenfalls auf dem Drachen sitzend, ein stattlicher Wolf. So präsentierte sich Gilfea den Umstehenden. Hinzu kam, dass Gilfea von einer Aura umgeben schien, die ihn wie einen Kriegerfürst erschienen ließ. Selbst Gildofal war sprachlos. Noch nie hatte er Gilfea dermaßen erhaben erlebt.

Im Gegensatz zur allgemeinen Wahrnehmung fühlte sich Gilfea alles andere als erhaben oder gar als großen Kriegsfürsten. Ihn quälte eher das Gefühl versagt zu haben. Suman war in der Gewalt des Feindes. Nicht auszudenken, was die mit ihm anstellten.

»Tingalen, wie geht es Suman? Hast du Kontakt mit ihm?«

»Meine Seele lebt, mehr weiß ich nicht. Ich kann ihn spüren, doch sein Bewusstsein ruht. Entweder ist Suman besinnungslos oder betäubt«, antwortete Tingalen auf Gilfeas Frage.

»Lars«, richtete Gilfea sich an den Anführer der Neovikinger, »wünscht Ihr, dass wir die Festung Goldors zerstören oder wollt ihr sie zum Besitz eures Volkes erklären?«

»Zerstör sie!«, entgegnete Lars knapp.

Ohne weitere Worte zu wechseln erhoben sich Mithval und Eargilin in die Lüfte und zerstörten gemeinsam mit ihrem Feuer die Festung, die Goldor widerrechtlich im Land der Neovikiner errichtet hatte. Tingalen hockte am Boden und schaute gedankenverloren zu. Ihre Gedanken galten einzig und allein Suman, ihrer Seele.


»Ah, kommt der Dreckskerl wieder zu Bewusstsein?«

Lag es an Sumans schmerzenden Schädel oder besaß der Eigentümer der Stimme wirklich ein dermaßen scheppernd, krächzendes Organ. Suman war sich nicht ganz sicher. Überhaupt war er sich vieler Dinge nicht sicher. Eine ganze Hitliste von Fragen kreisten in seinem hämmernden Gehirn umher, angefangen bei »Wo bin ich?« bis zur alles entscheidenden Frage »Was ist eigentlich passiert?«. Ein Teil der letzten Frage beantwortete sich auf recht schmerzhafte Weise, als Suman versuchte sich zu bewegen und sich die Bisswunde Steinschlags in Erinnerung brachte.

»Dieser verdammte Drecksköter!«, fluchte Suman innerlich.

Die Erinnerung an Steinschlag diente als Initalzündung. Sumans PDA-Implantat aktivierte sich und füllte einige Lücken in Sumans Erinnerung aus. Es ist schon recht praktisch, alles was die eigenen Augen jemals erblickt hatten, erneut ansehen zu können, in diesem Fall sogar den eigenen Sturz vom Drachen.

»Aua!«, dachte Suman, als er seinen Aufprall auf das Schnellboot betrachtete, »Du befindest dich also auf einem Schnellboot eines Sonderkommandos der königlichen Goldorianischen Streitkräfte.«

»Mit 85 prozentiger Wahrscheinlichkeit!«, bestätigte Sumans PDA-Implantat ungefragt.

»Hey, Drachenjüngelchen!«

Einer der Soldaten sprach Suman an, wobei er, ganz Sonderkommando, seiner Ansprache mit einem Fußtritt noch etwas Nachdruck verlieh. So ein Tritt gilt gemeinhin als wenig freundlich und zivilisiert, doch in diesem Fall bewirkte er, dass Suman auffiel, dass er bisher seine Augen fest geschlossen hielt. Vorsichtig begann er, seine Augenlider zu öffnen, dabei war diese Vorsichtsmaßnahme gar nicht notwendig. Die Umgebung war eher dunkel. Während sich der Nebel vor Sumans Augen langsam verzog, kristallisierten sich ein paar Formen heraus. Suman lag auf einer Pritsche in einem spärlich beleuchteten Raum. Der Art des Raums nach, musste er sich unter Deck des Schnellbootes befinden. Vor ihm standen zwei Soldaten, ihre Waffen im Anschlag.

»Mach keine falschen Bewegungen, Jüngelchen, oder du bist Fischfutter!«


»Ich habe eine Verbindung! Suman ist wach!«, rief Tingalen.

Die Erleichterung und Freude in Tingalens geistiger Stimme war kaum zu überhören. Nach der Zerstörung des Festung hatten sich die Drachenreiter von Lars und seinen Männern verabschiedet und waren in Richtung Süden aufgebrochen. Es war ein hastiger Abschied, denn es galt Suman zu retten.

»Ich danke euch!«, sprach Lars zu Gilfea und Suman, während seine ganze Truppe hinter ihm stand, »Ich nenne euch ›Freunde der Neovikinger!‹ und bitte euch, so bald wie möglich zu uns zurück zu kehren, damit wir uns angemessen für eure Hilfe bedanken können.«

»Wir werden kommen!«, versprach Gilfea und umarmte Lars, der nicht zurück wich und die Umarmung erwiderte.

»Jetzt rettet Suman!«, Lars hielt Gilfea, »Rettet euren Freund!«

Die Reiter bestiegen ihre Drachen, welche sich sofort in die Lüfte erhoben. Mit einem Gruß der Reiter und einem Feuerstoß Mithvals, sausten die Drachen davon. Eargilin und Mithval hatten die deprimierte Tingalen in ihre Mitte genommen. Schweigend flog man nebeneinander her. Jetzt bremsten alle drei Drachen gleichzeitig ab und landeten an Ort und Stelle, wobei es sich immer noch um einen Streifen Sandstrand handelte, der sich entlang der Flugroute dahinzog.

»Was sagt er?«

»Es geht ihm soweit gut. Er ist auf einem Boot, vermutlich dem Schnellboot, das wir gesehen haben. Er ist ein Gefangener Goldors. Sie bringen ihn nach Tharbad!«

Mit geballten Fäusten und wütendem Blick stand Gilfea am Rand des Wassers und schaute auf das Meer hinaus.

»Tharbad?«, Gilfea Blick wanderte nachdenklich den Horizont entlang. Schiefergrau hatte sich neben ihm niedergelassen, während die drei Drachen und Gildofal ein paar Schritte hinter Gilfea standen.

Er war kein Elb, wie Gildofal, er war auch kein Sohn eines Zauberers, wie Segato oder ein großer Krieger, wie Lars. Gilfea war nur ein junger Mann, doch die drei Drachen und auch Gildofal sahen etwas anderes. Es begann bei den Wölfen. Doch erst richtig deutlich fiel es auf, während sie bei Lars und seinen Männern weilten. Gilfea war gewachsen. Nicht an körperlicher Größe, doch an Persönlichkeit. Gilfea schien selbstbewusster, entschlossener, nachdenklicher und weiser geworden zu sein. Das Bild, das sich Gildofal bot, unterstrich den Eindruck: Gilfea am Rande des Meeres, neben ihm ein Wolf, auf dem Gilfeas Hand ruhte.

»Gilfea, wer bist du?«, flüsterte Gildofal.

Gilfea drehte sich um, Tränen standen in seinen Augen: »Ich weiß es nicht!«

Während Gilfea zu Mithval hoch schaute, senkte der Drache seinen Kopf herab.

»Du bist Gilfea! Du bist Mithval! Aber du bist auch mehr. Etwas ruht in dir, das langsam dabei ist, zu erwachen. Erinnerst du dich an Meister Arbogast, den Hüter der Zukunft? Er hat dich behütet, beschützt. Erinner dich an dein Dorf, an den Dämon und die Orks, die es zerstört haben.«

»Was bin ich? Wer bin ich?«, flehte Gilfea, alles andere als stark.

Sehr zärtlich schlossen sich zwei Arme um Gilfea und zogen ihn zu einem Körper heran, der pure Liebe verströmte.

»Wer immer du bist, du bist der Mann, den ich liebe«, flüsterte Gildofal Gilfea ins Ohr, während seine Wange die seines Geliebten berührte, »Du hast eine Bestimmung, Großes zu vollbringen. Ich kann es an deiner Aura sehen. Was immer ich tun kann, ich werde dir helfen.«

Diese Worte waren Balsam für Gilfeas verunsicherte Seele. Er klammerte sich an Gildofal, saugte die Liebe des Elben regelrecht auf, ließ von ihm streicheln und halten. Was auch immer in Gilfea ruhte und nun erwachte, er war dankbar, dass er Freunde, sogar Geliebte hatte, die ihm beistanden.

»Danke, danke, dass du nicht nur mein Geliebter, sondern auch mein Freund bist!«, ein Ruck ging durch Gilfea, »Jetzt komm, lass uns Suman retten!«

»Lass uns Suman retten!«, strahlte Gildofal über Gilfeas neue Stärke und Kraft.


Statt einfach blindlinks nach Tharbad zu fliegen, setzten sich Gildofal und Gilfea zusammen mit ihren Drachen und Tingalen auf den Strand und überlegten, wie sie Sumans Rettung angehen sollten. Die Hauptschwierigkeit bestand darin, dass Gilfea Tharbad nicht wirklich kannte, wenn man vom eher spärlichen theoretischen Wissen absah, welches er in der Drachenreiterschule Daelbars erworben hatte. Was man benötigte, war ein Plan.

»Wisst ihr Echsen eigentlich, dass ihr ziemlich unpraktisch sein könnt?«

»Pöh!«, machte Mithval und ließ sein kleines Feuerbällchen seinen Nüstern entfleuchen.

Doch Gilfea hatte recht. Mithval und die anderen Drachen waren in manchen Situationen einfach unhandlich. Eine Mosterechse, wie Gilfeas, ließ sich schlecht verstecken geschweige denn, übersehen. Einfach mit drei Drachen nach Tharbad zu fliegen, war somit nicht unbedingt eine glückliche, geschweige denn, sinnvolle Wahl.

»Tharbad ist ein Seehafen. Wir könnten versuchen von der Seeseite in die Stadt zu kommen. Wenn sich meine Erinnerungen nicht täuschen, so erzählte mein Erdkundelehrer von einem Freihafen.«

Man vergaß leicht, dass Gildofal seine Jugend in Goldor verbracht hatte und dessen Bildungssystem genossen hatte. Der Unterricht wurde zwar von Klerikern der unifizierten Technokratie bestritten, doch deren politisch tendenziöse Färbung beschränkte sich zumeist auf gesellschaftliche Themen. Obwohl es Lehrer gegeben haben soll, die sogar das Kunststück vollbracht haben sollen, der Mathematik eine politische Seite zu verleihen. Tharbad hingegen war ein absolutes Lieblingsthema der klerikalen Geographielehrer. Tharbad galt als Vorbild für eine moderne, von den Grundsätzen der Technokratie geprägten, Stadt, frei von Magie und Aberglaube, ein leuchtender Stern des Fortschritts und Zukunft. So verwunderte es nicht, dass Gildofal über profunde, wenn auch nur theoretische Kenntnisse, über Tharbad verfügte.

»Dann bräuchten wir eine Schiffspassage«, überlegte Gilfea, »Die Zeit läuft uns davon. Die Drachen sind zwar schneller als das Schnellboot…«

»Moment!«, unterbrach Gildofal aufgeregt, »Warum jagen wir sie dann nicht? Wir holen das Schnellboot ein und befreien Suman!«

»Nein, denk mal nach!«, entgegnete Gilfea sanft, da er Gildofal Begeisterung verstehen konnte, »Wir müssten sie auf offener See angreifen. Was meinst du, was die goldorianischen Soldaten mit Suman machen würden.«

»Sie würden ihn umbringen… Du hast Recht!«, seufzte Gildofal traurig und schaute vor sich auf den Boden.

»Ich versteh dich«, Gilfea nahm Gildofals Hände in die seinen, »Ich kann es auch nicht ertragen, dass Suman ein Gefangener ist. Ich könnte vor Wut explodieren, es zerreißt mich innerlich. Doch wir müssen ganz genau überlegen, wie wir unserem Freund am besten helfen können.«

Gildofal überlegte eine Weile. Gilfea hatte Recht, es musste eine andere und bessere Lösung geben, als das Schnellboot direkt anzugreifen und damit Sumans Leben zu gefährden. Das Schnellboot? Gildofal stutzte. Wie groß war eigentlich die Reichweite eines solchen Fahrzeuges? Die Soldaten Goldors konnten es unmöglich direkt bis Tharbad schaffen. Gildofal versuchte sich zu erinnern. Wehrkunde war zwar ein Hauptfach an seiner Schule gewesen, doch war dies gattungsbedingt nicht unbedingt sein Lieblingsfach gewesen. Die meisten Elben pflegten eher ein weniger militaristisches Leben als dies in Goldor kultiviert wurde. Krotos, sein orkscher Mitschüler, kannte jeden Panzer, jede Fregatte, jeden Jagdgleiter und hätte vermutlich auch den Verbrauch des Schnellbootes auf die dritte Nachkommastelle genau gewusst. Nur war, den Göttern sei Dank, Gildofal nicht Krotos. Alles, woran sich Gildofal erinnern konnte war, dass Schnellboote dieser Art reine Kurzstreckenfahrzeuge waren.

»Es könnte sein, dass wir Suman doch noch vor Tharbad befreien können!«, verkündete Gildofal, »Wenn ich mich nicht sehr irre, wird das Schnellboot mindestens zwei Tankstopps einlegen müssen, wenn nicht sogar drei. Gab es nicht entlang der Küste ein paar Siedlungen?«

Gilfea kramte eine Karte aus einer seiner Statteltaschen hervor und breitete sie zwischen sich und Gildofal aus. Tatsächlich waren eine Reihe von Siedlungen auf der Karte verzeichnet. Die meisten trugen den Vermerk nur in den Sommermonaten von den Seenomaden bewohnt zu sein, einem Stamm seltsamer Menschen, denen man am besten aus dem Weg ging. Nur vier Orte verdienten die Bezeichnung Stadt und waren groß genug, um über ein Tanklager zu verfügen. Das Gebiet zwischen Goldor und den Ländern der Neovikinger, dessen Grenze die nun zerstörte südliche Festung bildete, war völkerrechtliches Niemandsland, was soviel hieß, dass sich für diesen öden und kargen Landstrich, bis auf die Seenomaden und ein paar Glücksritter, niemand interessierte.

Die vier Orte verdankten ihrer Existenz kleinen Gold- und lächerlich kleiner Mithrilfunde. Die Mengen an geschürftem Edelmetall waren so gering, dass sich der Abbau für die großen Bergbaugilden nicht lohnte, doch immer noch groß genug, um ein paar heruntergekommene Goldgräberorte am Leben zu erhalten. Reich wurde niemand. Dafür sorgten die Aufkäufer, die für die gefundenen Nuggets unverschämt mickrige Preise zahlten. Eigentlich lohnte sich die Schufterei nicht, weswegen die meisten Gold- und Mithrilgräber ihren Frust in Alkohol ertränkten und dabei über nichts anderes sprachen, als alles hinzuschmeißen und die ganze Plackerei aufzugeben. Interessanterweise tauchten immer dann spektakuläre Funde von Gold- oder Mithrilklumpen auf, wenn aus dem Gedanken, die Goldgräberei aufzugeben, die Tat zu werden drohte.

»Der nächste Ort wäre Erzsee«, sprach Gilfea seine Gedanken aus, »Wenn du sagst, dass das Schnellboot nachtanken muss, dann dort. Schau dir die Karte an.«

Gildofal wurde sofort klar, was Gilfea meinte. Erzsee lag auf der Strecke zwischen der südlichen Feste und Tharbad etwa auf der Höhe des ersten Viertels. Es war das längste Teilstück von allen. Wenn sie Treibstoff bunkern mussten, dann dort.

»Wir sollten hinfliegen, allerdings in sicherer Entfernung vor dem Ort landen. Ich vermute, dass Goldor Leute in Erzsee hat«, schlug Gilfea vor, »Wir sollten sehr vorsichtig sein.«

Die Entscheidung war gefallen. Gildofal und Gilfea schwangen sich auf ihre Drachen. Gilfea packte Schiefergrau vorsichtig in eine Gepäcktasche, aus der er herausschauen konnte, wenn er wollte.

»Willkommen, mein kleiner Flohfänger!«, wurde der Wolf von Mithval nun auch offiziell begrüßt. Gilfea schmunzelte.


Erzsee erfüllte alle Klischees und Vorurteile, die jemals gegenüber einer Goldgräberstadt vorgebracht wurden. Die Häuser waren bessere Bretterbuden, die Straßen schlammige Pisten, die Bevölkerung… Nun, man könnte es so formulieren. Wer sich nach einer Prügelei sehnte, brauchte nicht lange suchen. Das Stadtleben drehte sich um einige wenige zentrale Gebäude, den Häusern der beiden Erzhandelsgilden, einer Bank und und zwei Händen voll Kneipen. Die Bank und die Erzhandelsgilden bewohnten die einzigen massiven Häuser und waren besser gesichert, als die Bank von Crossar. Um dieses wirtschaftliche Zentrum herum, wobei wirtschaftlich eine interessante Doppelbedeutung zukam, gruppierten sich die Wohnbehausungen der Goldgräber. Daneben gab es noch drei Warenhäuser und einen kleinen Hafen mit Tank- und Poststation. Gesetzeshüter schien es nicht zu geben.

Gilfea und Gildofal hatten die Drachen rund zwei Meilen vor der Stadt versteckt und waren zum Beginn der Dämmerung den Weg bis zum Ort gelaufen. Das schwächer werdende Tageslicht, so hoffte Gilfea, sollte ihre Ankunft weniger auffällig machen, doch entpuppte sich diese Vorsichtsmaßnahme als vollkommen überflüssig. Niemand nahm von zwei Typen, die über den arg staubigen Nordpfad in die Stadt hereinschlenderten und ihrem großen Hund sonderlich Notiz. Es interessierte nicht einmal, dass einer der beiden Typen ein Elb war.

Gilfea steuerte eines der beiden Warenhäuser am Hafen an, Sörens Ausrüstungshaus. Hier gab es alles, was das Goldgräberherz begehrte, von der klassischen Spitzhacke bis zum exklusiven magischen Steinbohrer, den sich aber kaum ein Goldgräber kaufte, da er viel zu viel von seinem Geld versoff, um ihn sich leisten zu können. Die Spitzhacke hingegen war ein echter Verkaufsrenner.

»Guten Abend die Herren!«, wurden Gilfea und Gildofal von einem Verkäufer des Warenhauses begrüßt. Dem Auftreten nach musste es sich um Sören, den Inhaber handeln. Immerhin schien er ein Neovikinger zu sein, »Was kann ich für Sie tun?«

»Wir sind Prospektoren…«, begann Gilfea.

»Prospektoren«, wiederholte der Kaufmann. Dabei quetschte er soviel Bedeutung in die Aussprache dieses einzelnen Wortes, dass nicht der geringste Zweifel daran blieb, dass er Gilfea kein einziges Wort glaubte, es ihm aber auch scheißegal war, was oder wer Gilfea war.

»Wasserflaschen, Kleidung und einen Rucksack!«, sprang Gildofal ein, »Auf unserer Wanderung haben wir einen Rucksack verloren. Schlechte Qualität. Wir brauchen Ersatz!«

»Ein Rucksack?«, wiederholte der Kaufmann erneut ein einzelnes Wort, wobei er Gildofals elbischen Rucksack fixierte. Der Mann mochte ein Händler in einer schäbigen Goldgräberstadt sein, doch dumm war er nicht. Er erkannte den Wert echter Elbenarbeit und auch den Unterschied zu dem Schund, der in den Reservaten Goldors verhökert wurde. Gildofals Rucksack war unbezahlbar. Die beiden Prospektoren hatten einen neuen Rucksack so nötig, wie einen dritten Arm. Aber das war egal. Kunde war Kunde und somit willkommen, Hauptsache er zahlte.

Gildofal legte eine Mithrilmünze auf die Ladentheke: »Meinen Sie, dass sich für uns etwas finden lässt?«

Der Kaufmann schielte auf die Münze, versicherte sich, dass außer Gildofal und Gilfea niemand in seinem Laden war, nahm die Münze in seine Hand, um sie Gildofal zurück zu geben: »Ich bin überzeugt, dass ich Ihre Wünsche zur vollsten Zufriedenheit erfüllen kann. Wenn mir die Herren bitte folgen würden.«

Der Kaufmann führte die beiden Drachenreiter eine Treppe hinauf. Das Warenhaus war groß und verfügte über zwei Stockwerke. Außer einem umfangreichen Sortiment goldgräbergeeigneter Kleidung lungerte auch ein junger Neovikinger im Obergeschoss herum, bei dem es sich den Gesichtszügen nach um einen Familienangehörigen handeln musste.

»Anger, kümmer dich bitte mal um den Laden. Wir haben eine Anprobe!«

»Ja, Paps!«

Der Junge sprang auf, nickte im Vorübergehen freundlich, und sprang die Treppe herunter, während Angers Vater Gilfea und Gildofal in ein kleines Büro führte.

»Willkommen in Erzsee, ich bin Palle, der Inhaber von Sörens Ausrüstungshaus. Ihr müsste Gilfea und Gildofal sein.«

Gaunerehre

»Ein zusätzliches Ass im Ärmel kann zuweilen recht Hilfreich sein, kann allerdings auch unter unglücklichen Umständen zum Verlust von Zähnen führen.«
»Bitte bedenkt: Die Gildeversicherung deckt nur die Hälfte berufsbedingten Zahnersatzes ab.«

Aus einem Lehrbuch der Falschspielergilde

»Ich würde Ihnen raten sich nicht zu bewegen!«, fügte der Pensionswirt mit ausgesprochen gelassener Stimme hinzu. Diese Gelassenheit bezog er aus einer Waffe, die er in seiner Hand hielt und die nicht wirklich harmlos aussah. Es war durchaus sinnvoll, der Empfehlung des Wirts zu folgen. Wir, Ivo und ich, standen still und ruhig da.

»Sagte Golfindel nicht, das Elbenstübchen sei relativ sicher?«

»Vermutlich lag die Betonung auf ›relativ‹. Schaun wir mal, was der Typ will.«

»So, ihr zwei schrägen Vögel. Ihr erzählt mir jetzt mal schön langsam, was ihr auf meinem Dach wolltet und wohin ihr von dort gegangen seid.«

Gegangen? – Ich schaute zu Ivo, dachte unser lieber Herr Wirt etwa, wir wären über die Dächer geklettert? Dann wusste er nicht, dass wir ein Drache waren.

»Habt ihr wirklich geglaubt, ich merke nicht, wenn jemand versucht übers Dach zu verschwinden? Ich hab’s nicht gern, wenn Gäste meinen die Zeche prellen zu müssen. Doch da ihr wieder da seid, scheint ihr etwas anderes im Schilde zu führen. Ihr baldowert doch was aus. Plant ihr ’nen Bruch? Ist mir eigentlich auch egal, was ihr vorhabt. Hauptsache ich bekomme meinen Anteil, denn von nun an, sind wir Partner.«

Sollte wir lachen oder weinen? Der Wirt hielt uns für einfache Kriminelle, die einen Bruch oder einen Überfall planten. Seine Denkmuster verliefen in den Bahnen dessen, was man in Tharbad erwarten musste. Immerhin schien die ganze Situation nicht ganz so brisant zu sein, wie sie sich zuerst präsentierte. Ein Spion der Wache der Stadt oder ein geldgieriger Denunziant, der es auf eine Belohnung abgesehen hatte, wären schlimmer gewesen. Doch wir hatten es nur mit einem geldgierigen Erpresser zu tun. Wir hatten Glück, dass er nicht wusste, wer wir wirklich waren.

»Partner?«, fragte Ivoricalad.

»Partner!«, entgegnete unser Wirt selbstzufrieden, »Wie heißt ihr zwei eigentlich? Ich bin Carl!«

»Ich bin Segg!«, Segato G’Narn wäre ein etwas zu verräterischer Name gewesen, »Und das ist mein Partner Ivo!«

»Segg und Ivo? Seltsame Namen. Wo kommt ihr her? Euer Akzent klingt südländisch«, Carl, der Wirt, studierte uns.

»Wir sind aus Crossar«, entgegnete ich knapp.

»Aus Crossar, so so…«, Carl zog seine Augenbrauen hoch und musterte uns genauer, »Stimmt, du könntest tatsächlich aus Crossar stammen. Dann kennst du sicherlich die Callegribrüder, oder?«

Unser Wirt verstand sein Handwerk, oder auch nicht, denn er hatte sich soeben als Gauner enttarnt. Seine Frage war eine Falle. Bei Familie Callegri handelte es sich um niemand geringeren als um eine der beiden mächtigsten Verbrecherorganisationen Crossars. Die Callegris hatten so gut wie überall ihre Finger drin, sei es Schutzgeld, Schmuggel, Menschenhandel, Diebstahl und Einbruch. Sie handelten sogar mit den Traumkristallen der Barden von Sansusinal, was in Crossar durchaus ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen konnte. Die Großreeder verstanden bei Traumkristallen nicht wirklich Spaß. Natürlich stellten die Callegris auch jeweils einen der drei Vorsitzenden der Diebes-, Einbrecher-, Schmuggler- und Erpressergilden. In Crossar lief nichts, ohne dass die Callegris davon wussten. Was wiederum die meisten Bewohner nicht wussten, war das kleine aber feine Detail, dass nicht etwa die Brüder des Clans, sondern die Schwestern das Zepter schwangen, Sofia, Maria und Celeste, drei ebenso schöne, wie tödliche Damen.

Genau mit diesem Detail wollte Carl unsere Glaubwürdigkeit testen. Wir hatten Glück, dass ich ein paar Jahre als nichtlizensierter Taschendieb auf der Straße gelebt hatte und wusste, wie die Dinge in meiner Stadt liefen.

»Ich glaube kaum, dass Sofia, Maria und Celeste es sonderlich nett finden würden, sie als Brüder zu bezeichnen. Die drei Damen legen sehr viel Wert auf ihre Weiblichkeit.«

Was ich sogar sehr genau wusste, da ich es selbst erlebt hatte. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen Maria und Celeste, während meiner Ausbildung zum Gildebruder, persönlich kennen zu lernen. Während eines Wohltätigkeitsbasars der Gilde, bei dem ich ältere, aber nicht zu wertvolle Bücher verkaufen sollte, wurden mir die beiden ehrenwerten Damen von Erogal vorgestellt. Ich vermutete sogar, dass dieser Kontakt von Erogal geplant war und den einzigen Grund darstellte, warum ich Bücher verkaufen sollte, die offensichtlich niemand haben wollte. Ich verkaufte exakt ein einziges Buch, einen alten Prachtkodex über crossarsche Handelsfamilien. Es ging, oh Wunder, an Celeste.

»So, so…«, knurrte Carl, »Na gut. Damit das klar ist, ich bekomme 60 Prozent!«

»60, wovon träumst du Nachts? Wir kennen das Ziel, du nicht. Ich hatte eigentlich gedacht dir 10 Prozent anzubieten, aber bei soviel Unverschämtheit sind sogar 5 Prozent eigentlich noch zu viel«, bluffte ich, schließlich gab es keinen Plan. Jedenfalls keinen, der irgendetwas mit einem Einbruch zu tun hatte.

»Hey, hey, hey…«, polterte der Wirt, »Nicht frech werden. Ich halte eine Waffe in der Hand. Warum sollte ich nicht einfach einen von euch beiden abknallen und für den anderen eine Belohnung kassieren? Ich wette, dass auf eure Köpfe eine schöne Summe Golddukaten ausgesetzt ist.«

Wenn ein Preis auf unsere Köpfe ausgesetzt war, dann eher Mithrilmünzen, dachte ich.

»Warum willst du dich mit einem lächerlichen und unsicheren Kopfgeld zufrieden geben, wenn du so viel Geld abstauben könntest, um dich in Xengabad zur Ruhe setzen zu können?«, mischte sich Ivo ein.

»Xengabad?«, Carl pfiff durch seine Lippen, »Das muss aber ein ziemlich dickes Ding sein, das ihr da drehen wollt.«

»Wir bieten dir 30 Prozent!«, fügte ich mit fester Stimme hinzu, »Akzeptier oder lass es bleiben. Doch wenn du akzeptierst… Du hängst dann mit drin. Es ist gefährlich.«

»Gefährlich?«, Carl lachte, »Das ganze Leben ist gefährlich. Ich habe keine Angst, drauf zu gehen. Wenn es das ist, was du meinst. Wenn die Beute groß genug ist, geh ich jedes Risiko ein!«

»Bist du dir sicher?«, fragte Ivo nach, der meine Idee verstanden hatte und übernahm, »Wenn die Sache daneben geht… Es gibt schlimmeres, als den Tod…«

Carl sah uns unsicher an. Ivo hatte seiner Stimme ein leichtes, kaum hörbares Drachenfauchen beigemischt. Dies reichte aus, um seinen Worten jene Bedrohlichkeit zu geben, die Carl erschauern ließ: »Was habt ihr vor?«

»Sagt dir Boldin Dynamics etwas?«


»Boldin?«, kreischte Carl und wurde so blass, dass dies sogar beim mickrigen Schein der Stehlampe sichtbar war, »Hegt ihr irgendwelche Todessehnsucht? Niemand beklaut Boldin! Wer es trotzdem versucht oder nur daran denkt, verschwindet einfach. Ihr seid wahnsinnig!«

Eigentlich konnten wir froh sein, dass Carl uns bei unserem nächtlichem Ausflug erwischt hatte. Mit einem halbseidenen, aber eben auch ortskundigen Typen wir ihm, ergaben sich ganz andere Möglichkeiten. Wer eine Pension in Tharbad betrieb und die Callegrischwestern kannte, musste einfach über Kontakte in die einschlägigen Kreise verfügen. So einer konnte bestimmt diskrete Nachforschungen anstellen.

»Sehen wir so aus?«, fragte Ivo, »Es ist alles nur eine Frage perfekter Planung, wozu unter anderem exakte Informationen zählen.«

»Und da kommst du jetzt ins Spiel!«, griff ich Ivos geniale Vorlage auf, »Für deine 30 Prozent wirst du auch etwas beitragen müssen.«

»Scheiße!«, fluchte Carl und begann seine Waffe auf Ivo zu richten, »Ich sollte euch doch abknallen!«

»Zu spät!«, entgegnete Ivo von Carls Waffe völlig unbeeindruckt, »Was meinst du, wo wir heute abend waren? Es wäre keine gute Idee, uns abzuknallen. Der Stadtwache wirst du vielleicht noch irgend eine Geschichte verkaufen können, doch Boldins Leuten…«

Man konnte die Zahnrädchen fast sehen, die sich in Carls Kopf drehten. Der Gute war ziemlich nervös geworden und bereute offensichtlich bereits, sich in unsere Angelegenheiten eingemischt zu haben.

»Also gut, wenn ich schon Selbstmord begehen soll, dann will ich auch wissen, worum es geht. Was wollt ihr von Boldin Dynamics?«

Eine gute Frage. Wenn wir unseren Bluff, der eigentlich keiner war, aufrechterhalten wollten, dann mussten wir Carl einen Köder anbieten. Ich schaute mit fragenden Blick zu Ivo, der mit den Schultern zuckte und nickte. Meine Echse hatte offensichtlich eine Idee.

»Wir wissen, dass Boldin Dynamics im Besitz von Drachenblut ist.«

Dieser Köder, ließ selbst mich schlucken. Carl verschlug es erstmal gänzlich die Sprache. Alles, was seinem Mund entwich, war Gestammel: »Dra… Dra… Drachenblut?«

»Eine der wertvollsten Substanzen die es gibt!«, setzte ich nach und log dabei noch nicht einmal.

»Drachenblut?«, quietschte Carl, der seine Sprache wiedergefunden hatte, »Ihr seid komplett wahnsinnig! Ihr legt euch nicht nur mit Boldins Leuten an, ihr riskiert auch noch von diesen Echsenviechern verspeist zu werden!«

»Echsenviechern?«, lachte Ivo in meinem Kopf, »Wir sollten mal etwas gegen unseren schlechten Ruf unternehmen. Also wirklich, Echsenviecher! Ich bin ein seltener, edler Kristalldrache. Sehr dekorativ und stubenrein!«

Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sich als dekorativ zu bezeichnen, zeugte schon von einem gerüttelten Maß Unterstatements.

»Was gibts denn da zu lachen?«, jammerte Carl panisch, »Nehmen wir nur mal an, euch gelingt es wirklich bei Boldin Drachenblut zu klauen, was glaubt ihr wohl, wer dann alles hinter euch her sein wird?«

»Hinter uns her sein wird!«, korrigierte Ivo, was ihm diebisches Vergnügen bereitete.

»Hinter uns her sein wird«, wiederholte Carl, »Die Wache der Stadt wird den Einbruch verfolgen, doch diese Typen dürften unsere geringste Sorge darstellen. Aber es gibt ja noch andere Typen. Da wäre der goldorianische Geheimdienst. Boldin Dynamics stellt Rüstungsgüter her. Ein Einbruch bei ihm, bringt den Geheimdienst sofort auf den Plan. Glaubt mir, ich habe es selbst erlebt. Vor ein paar Jahren hat schon mal jemand versucht, in eines von Boldins Werken einzubrechen. Der Geheimdienst hat massenweise Leute verhaftet, manche sind nie wieder aufgetaucht. Aber selbst wenn wir dem Geheimdienst entschlüpfen sollten, gibt es immer noch Boldins Spezialtruppe. Der fette Zwerg sieht es gar nicht gern, wenn man sich in seine Angelegenheiten einmischt oder gar versucht ihn zu beklauen. Man fand den Kerl, der den Einbruch versucht hat eines Tages angekettet am großen Fahnenmast vor dem Rathaus. Wie er dahin gekommen ist, weiß niemand. Doch wie man ihn gefunden hat, weiß jeder. Der Typ war nackt, auf seiner Brust klebte ein Zettel mit seinem Geständnis, doch das schlimmste war, er lebte noch. Dabei hatte man ihm die Augen und die Zunge entfernt und die Trommellfelle zerstört. Der Typ war blind, taub und stumm. Damit konnte er weder sagen, wer ihm das angetan hatte, noch irgend jemanden identifizieren. Es war eine Warnung. Wer sich mit Boldin anlegt, dem soll klar sein, dass es schlimmeres gibt, als den Tod. Da ist die vierte Gruppe, mit der wir uns anlegen, vermutlich noch die Harmloseste, die Drachen! Kennt ihr Drachen?«

»Ähm, nöh…«, stammelten Ivo und ich.

»Ich auch nicht, aber ich habe einiges gehört. Es soll eine Stadt der Drachen geben, Daelbar. So wie wir uns Rinder und Schweine halten, um sie zu essen, werden dort Menschen und angeblich sogar Elben in Stallungen gehalten, um später gefressen zu werden.«

»Ich gebe dir Recht. Wir sollten dringend etwas für unseren Ruf tun. Die Propaganda des Königs und der Kirche verbreiten ja schaurige Geschichten.«

»Eben! Außerdem würde mir ein Typ wie Carl eh nicht schmecken.«

Carl war mit seinen Schauergeschichten noch nicht zu Ende: »Wenn diese Viecher erfahren, dass wir das Blut von einem der Ihrigen haben, werden die ebenfalls hinter uns her sein und uns bis an das Ende der Welt verfolgen.«

»Ich sagte doch, dass es sich lohnen wird«, versuchte ich Carls Argumentation zu drehen, »Eine Substanz, die so begehrt ist, muss extrem wertvoll sein. Alles, wofür wir sorgen müssen, ist, dass niemand auf die Idee kommt, uns der Tat zu verdächtigen.«

»Oh!«, Carls Gesicht erhellte sich, seine Gier stachelte seinen kriminellen Instinkt an, »Ich ahne, was du sagen willst. Wenn es einen anderen Tätverdächtigen gibt, wird man nicht in unsere Richtung schauen.«

Es war wirklich schön, dass Carl so überaus berechenbar war: »Deswegen brauchen wir alle Informationen, die es über die Werke Boldin Dynamics’ irgendwie zu beschaffen gibt. Personal- und Dienstpläne, Grundrisse der Werke. Lieferzeiten und Lieferanten. Sicherheitstechnik. Eben alles!«

»Das wird nicht einfach…«, murmelte Carl, wobei man deutlich sah, dass er bereits an Lösungen arbeitete, »Sollte sich aber machen lassen. Das Kostet aber einiges!«

»Kein Problem, solange es eine Filiale der Blaufurter Stadtbank gibt«, meinte ich gelassen.

»Sehr geschickt und sehr diskret!«, zollte mir Carl Respekt, »Es gibt eine am Rathausplatz. Eine Frage hätte ich aber noch, an wen wollen wir das Blut verkaufen?«

»An die Drachen natürlich!«, meinte Ivo trocken, »Die sollen jeden Preis dafür zahlen! Ist wohl so ein religiöses Ding. Keine Ahnung und ist mir auch egal, Hauptsache sie zahlen gut!«

Ich hätte mich fast an meiner eigenen Spucke verschluckt. Mir wurde gerade klar, dass ich mit Ivo niemals Pokern sollte. Carl reagierte etwas heftiger, er verschluckte sich an seiner Spucke, musste husten, röchelte, ließ seine Waffe fallen, die er immer noch in seiner Hand hielt. Ivo reagierte blitzschnell. Innerhalb eines Wimpernschlags hielt er Carls Waffe in seiner Hand.

»Verdammt!«, knurrte Carl.

»Verdammt!«, knurrte Ivo, »Die Waffe ist nicht mal geladen! Der Typ hat geblufft!«

»Hat aber funktioniert!«, bemerkte Carl keck, »Jungs, wir haben einen Deal! Gaunerehre!«

Ivo atmete durch seine Nase hörbar aus. Ich wunderte mich, keine kleinen Flammen zu sehen, obwohl, konnte Ivo überhaupt schon Feuer speien?

»Ja, wir haben einen Deal«, sicherte ich Carl zu. Dafür gab es einen einfachen Grund. Wir brauchten Carl. Ein Typ, der einen Drachen und seinen Reiter mit einer ungeladenen Waffe in Schach halten konnte, musste einfach für unsere Aufgabe geeignet sein.

»Ihr wollt das Blut den Drachen geben?«, Carl wurde nachdenklich, »Wenn die wirklich so gut bezahlen, nun ja, warum nicht. Doch wie wollt ihr mit denen in Kontakt treten, ohne dass die euch zum Frühstück vernaschen?«

»Oh, wir haben da so unsere Kontakte…«, ein Schmunzeln umspielte Ivoricalads Mund.

»Und ihr seid euch sicher, nicht gefressen zu werden?«, Carl war nicht überzeugt, »Ich trau den Viechern nicht über den Weg. Die fressen Menschen!«

»Du musste nicht alles glauben, was die Pfaffen der Kirche erzählen«, mir gingen Carls Vorurteile ein klein wenig gegen den Strich.

»Wie jetzt? Willst du mir ernsthaft erzählen, dass das Quatsch ist?«

»Was Segg sagen will, ist, dass uns bisher noch keiner gefressen hat. Eigentlich sind sie ganz nett, wenn man sie erstmal näher kennen lernt. Vielleicht etwas albern.«

»Wer seid ihr wirklich?«, fragte Carl mit neu gewecktem Interesse.

»Segg und Ivo, zwei Freunde, die sehr an Boldin Dynamics interessiert sind.«

Blutgeruch

»Schuldig bis zum Beweis des Gegenteils!«

I. Fundamentalprinzip der goldorianischen Rechtsprechung

»Und was wirst du jetzt tun?«

Es war für Erogal D’Santo keine wirkliche Überraschung, dass die Gilde Wind von der Sache mit der nicht befolgten Omegadirektive bekommen hatte. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit. Trotzdem war es ein seltsam beunruhigendes Gefühl zu wissen, dass auf den eigenen Kopf ein Preis ausgesetzt war. Selbst für einen so besonnenen und rationalen Mann wie ihn.

»Nichts!«, antwortete Perseus Z’Ul, »Ich hielt die Omegadirektiven schon immer für etwas übertrieben. Sie auf dich und deinen Schützling anzuwenden, ist ausgemachter Schwachsinn. Aber es wird dich freuen, dass nicht alle Meister bereit sind, der Direktive zu folgen.«

»Was?«, schrieb Erogal entsetzt in sein Meisterbuch.

»Du hast verstanden, was ich schrieb!«, entgegnete Perseus, »Septimus, Egmont, Meridus… Du kennst deine Verbündeten. Es ist genau das eingetreten, wovor du dich immer gefürchtet hast.«

Eine Spaltung der Gilde – Das war es, was Erogal D’Santo seit langem befürchtet hatte. Viele seiner Meisterkollegen wollten die Warnzeichen nicht sehen, wollten nicht wahrhaben, dass etwas im Argen lag und die Gilde von innen zerstörte. Dabei waren die Meister gar nicht das Problem. Es waren die Präfekten, Sekretäre, Buchhalter, Haushofmeister der Gilde. In den letzten Jahren war eine Kaste von Gildebrüdern entstanden, die nicht verstanden oder nicht verstehen wollten, worum es der Gilde ging. Handel zu treiben, Unternehmen zu lenken war seit Alters her ein Mittel, Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen. Ein Unternehmen am richtigen Ort konnte denen Arbeit geben, die sonst in Armut lebten und für gefährliche Ideen anfällig waren. Doch diese neuen Gildebrüder verstanden diesen Zweck wirtschaftlichen Handelns nicht. In ihren Augen war ein Unternehmen dazu da, Profite zu erwirtschaften. Entfremdung war die Folge. Die Meister entfremdeten sich von ihren Gildebrüdern. Traditionen degenerierten zu Gildefolklore.

»Es ist gut, ein paar Freunde auf unserer Seite zu wissen.«

»Um unsere Meisterbrüder mach ich mir die geringste Sorge. Selbst Parek T’Kal würde dich nicht einfach umbringen, obwohl er dein schärfster und erbittertster Gegner im Rat ist. Mir bereiten die einfachen Brüder Sorgen, die nur den Befehl erhielten, euch zu töten. Sie wissen nicht warum. Diese schwachsinnigen Direktiven! Sie schaden mehr, als sie nützen!«

»Zu ihrer Zeit waren sie sinnvoll«, gab Erogal zu bedenken, »Unsere Schwäche besteht darin, unser Handeln zu wenig zu hinterfragen.«

»Du hast, wie immer, recht!«, Perseus Schrift wirkte nachdenklich, »Aber das ist nicht der Grund, warum du mit mir in Kontakt getreten bist.«

»Nein, sicherlich nicht. Was weißt du über Boldin Dynamics?«

Es dauerte eine Weile, bis Perseus antwortete: »Interessant, dass du mich gerade auf Boldin Dynamics ansprichst.«

Erogal D’Santo las, was Perseus in sein Meisterbuch schrieb. Was er schrieb, klang beunruhigend. Merkwürdige Dinge gingen in einem der Werke Boldins vor. Wachen waren verstärkt worden. Es gab seltsame Transporte zwischen dem Barad Baul und jenem Werk. Gelegentlich erhellten unheimliche Lichterscheinungen den Himmel, die ebenfalls von jenem Werk ausgingen.

»Ich weiß nicht«, schrieb Perseus Z’Ul, »ob es eine Verbindung zu Boldin Dynamics gibt, aber in den letzten Monaten wurden arme Schlucker, Menschen ohne Familie und Heim, von der Geheimpolizei des Königs aufgegriffen und zum Barad Baul gebracht. Ich mache mir ernsthafte Sorgen. Etwas sehr dunkles und böses scheint im Gange zu sein. Das Auftauchen einer Beschwörungsglyphe bestärkt mein ungutes Gefühl nur noch. Mein Freund, ich werde meine Augen und Ohren offen halten. Und ich werde auch Ausschau nach deinem Freund, Segato, halten. Sobald ich mehr weiß, werde ich mich bei dir melden.«

Gleichzeitig beunruhigt und erleichtert kehrte Erogal D’Santo in die Lagerhalle mit den Drachen zurück. Die Zwillingsbrüder Sulomile und Sulogorn hatten es sich in einer Ecke gemütlich gemacht und dösten vor sich hin. Das schnarchende Echsenhäufchen verströmte eine Friedlichkeit, die Erogals Herz und Seele ergriff und ihn aufmunterte. Mit leichten Schritten durchquerte er die Halle und hockte sich neben die beiden Drachen, um sie zu streicheln.

»Wir finden dich Segato!«, flüsterte Erogal.

»Ja, wir werden ihn finden!«

Erogal wirbelte herum. Er hatte Olsons Kommen nicht gehört. Der Neovikinger verstand sein Handwerk. Erogal lächelte amüsiert: »Hättest du einen Auftrag über mich, wäre ich jetzt vermutlich tot.«

»Nein…«, entgegnete Ole gelassen, »Du wärst mit Sicherheit tot. Allerdings würde ich dich wohl nie töten. Sowas, glaube ich, würde unsere Freundschaft ein wenig belasten.«

»Das wäre anzunehmen…«, Erogal schmunzelte. Ole Olson gefiel ihm von Sekunde zu Sekunde besser.

»Ich habe ein paar siechen Kontakten neues Leben eingehaucht. Sollte in dieser Stadt etwas ungewöhnliches passieren, werden wir es erfahren. Es wird dich interessieren, meine Brüder, die Mördergilde, erhielt vor einer Stunde zwei Aufträge. Sie gelten dir und Segato. Die Auftragssumme ist stattlich, man muss damit rechnen, dass die Besten meiner Zunft sich dieser Sache annehmen werden.«

»Weiß man, dass wir befreundet sind?«, fragte Erogal.

»Natürlich, ich habe es ihnen gesagt. Man meinte, es wäre nicht persönlich gemeint, aber ich gelte nicht länger als Unbeteiligter.«

Was soviel hieß, dass Ole Olson seine Unantastbarkeit verloren hatte. Bei einem Auftragsmord durften keine Unbeteiligten zu Schaden kommen. Wer diesen Status nicht genoss, hatte im Allgemeinen schlechte Karten.

»Nun ja«, grinste Ole, »Es hat mich schon immer gereizt, gegen einen meiner Brüder anzutreten.«

Soviel Selbstvertrauen überraschte Erogal. Ole Olson schien die ganze Angelegenheit eher von der sportlichen Seite zu nehmen, dabei war diese Art von Wettkampf einer, den man nur ungerne verlor. Eine Niederlage hatte einfach diesen unangenehmen Geruch der Endgültigkeit.

»Nun, dieses Haus ist sicher, außerdem haben wir das schwarze Band der Vorwarnung noch nicht erhalten.«

Oles Worte, obwohl gut gemeint, waren nicht unbedingt dazu angetan Erogal zu beruhigen. Nach Erogals Geschmack trachteten ihm zur Zeit einfach zu viele Leute nach dem Leben. Eine Erfahrung, die selbst dem abgebrühtesten Gildemeister leichte Nervosität bescherte. Ole hingegen schien die ganze Sache wesentlich locker zu nehmen. Er summte ein munteres Lied und spielte mit den beiden Drachen.


Was Erogal D’Santo am meisten nervte, war das Warten. Warten auf Informationen, warten darauf, dass sich Perseus meldete, warten darauf, dass einer von Oles Informanten sich meldete, warten darauf, dass irgendwas passierte. Erogal war ein Mann der Tat, er hasste es, untätig herum zu sitzen und zu warten. Nach endlosen Tagen verschärften Däumchendrehens, ertappte sich Erogal dabei, dass ihm selbst der Besuch eines Attentäters der Mördergilde als willkommene Abwechselung erschien.

»Unrastig?«, bemerkte Sulogorn mit drachentypischer Ironie in seiner geistigen Stimme.

»Witzbold!«, knurrte Erogal.

»Wart’s ab, in ein paar Stunden wirst du dich nach einer ruhigen Minute sehnen.«

»Weißt du etwas, was ich nicht weiß?«

»Wissen ist zuviel gesagt… Ich fühle etwas… Ich glaube, es könnte ein Drache in der Stadt sein. Das Gefühl ist recht schwach und merkwürdig…«

Immerhin etwas. Besser einem schwachen Gefühl eines Jungdrachen nachgehen, als Spinnweben ansetzen. Erogal kribbelte es in den Fingern. Ole Olson hatte wenigsten ein paar Kontakte, die gepflegt werden wollten. Erogal nur massenweise Leute, die hinter seinem Hals her waren.

»Es ist ein merkwürdiges Gefühl«, fügte Sulomile, Sulogorns Zwillingsbruder hinzu, »Nicht richtig drachenhaft, aber doch irgendwie… Ach, ich weiß auch nicht…«

Frustrierte Drachen sehen lustig aus. Die Zwillingsbrüder sahen sehr lustig aus, was Erogal veranlasste Ole einen verwirrten Blick zu zuwerfen. Der Neovikinger zuckte ratlos mit seinen Schultern, kam dann aber doch auf eine Idee.

»Als Kind hatte ich mal einen Jagdhund…«

»Was hast du vor?«, Sulomile klang sehr aufmerksam.

Ole räusperte sich und schaute seinen Drachen eine Weile verlegen an, bevor er seinen Plan schilderte. Oles Idee war eigentlich recht einfach. Er wollte die zwei Drachen in einen Transportwagen stecken und mit ihnen die Stadt abfahren. Die Echsen sollten in sich hineinlauschen und sagen, ob ihr Gefühl stärker oder schwächer wurde.

»Sehen wir etwa wie Trüffelschweine aus?«, kommentierte Sulogorn den Vorschlag gespielt erbost.

»Wenn du frisst, schon!«, bemerkte Erogal knapp und verkniff sich ein Grinsen.

»Versuch du mal mit diesen Klauen ein Besteck zu halten!«, erwiderte Sulogorn und hielt demonstrativ seine Vorderläufe hin.

Ole lachte und besorgte einen ausreichend großen Transporter, was gar nicht mal so einfach war. Die Zwillinge hatten in den letzten Tagen ordentlich an Größe zugelegt. Noch vier Wochen und man könnte anfangen, auf ihnen zu reiten.


Einen Tag später begann Ole seine Idee in die Tat umzusetzen und manövrierte den Wagen über die Schnellstraßen Tharbads. Der Begriff Schnellstraße besaß in Tharbad eine etwas andere Bedeutung als in anderen Städten. In anderen Städten kam man auf einer Schnellstraße schnell voran, was dem Wort Schnellstraße auch irgendwie gerecht wurde. In Tharbad war der gleiche Begriff eher mit einer relativen Geschwindigkeit verbunden. Auf normalen Straßen wurde man von Fußgängern überholt, auf Schnellstraßen drehte sich diese Situation meistens um.

So schwomm Ole Olson mit eher gemächlichem Tempo im Strom der anderen Verkehrsteilnehmer dahin und lauschte dabei den Bemerkungen zweier Jungdrachen im Laderaum seines Transporters.

»Nee, in diese Richtung nimmt das Gefühl ab…«, ließ sich Sulomile vernehmen. Der Transporter steuerte eine Ausfallstraße Richtung Osten entlang, weg vom Stadtzentrum und weg vom Meer. Offensichtlich handelte es um die falsche Richtung, was Ole Olson bei nächster Gelegenheit änderte, als er in den Ring 2 einschwenkte. Die vier Ringe Tharbads waren Ringstraßen, die die Stadt umringten. An sich gut gedacht, fielen sie nicht in die Kategorie Schnellstraße und waren mithin eher nutzlos, weil permanent verstopft. Doch Ole Olson hatte Zeit. Seine Informanten zeigten sich stumm und erforderten somit wenig Aufmerksamkeit.

Nach zwei Stunden Fahrt (ein absurder Begriff für gelegentliches Bewegen), meldeten sich die Drachen: »Es wird deutlicher…«

»Und verwirrender…«

»Es fühlt sich wie Drachen an…«

»Und auch wieder nicht…«

»Könnt ihr das irgendwie präzisieren?«

»Nein!«

»Nein!«

Ole Olson seufzte, schüttelte frustriert seinen Kopf. Ausgesprochen untypisch für Tharbad lichtete sich der Verkehr, sodass man recht flüssig vorankam. In zehn Minuten kam der Transporter weiter als in den zwei Stunden zuvor.

»Stop!«, rief Sulomile, »Fahr mal links!«

Der Fahrer und Drachenreiter zuckte mit seinen Schultern und fuhr links.

»Das ist die richtige Richtung! Dieses merkwürdige Drachengefühl wird immer stärker!«

Die Fahrt steuerte vom Stadtzentrum weg in Richtung der Docks und Industrieanlagen. Die Ansagen der Drachen kamen immer präziser. Je näher man der Quelle kam, desto deutlicher wurde die Empfindung, sodass die Drachen eine Art Karte in ihren Köpfen zeichnen konnten: »Demnächst rechts!«, »In zweihundert Meter rechts!«,»Jetzt rechts!«, »Wenn möglich, wenden!« und schließlich »Sie haben ihr Ziel erreicht!«

Ole Olson kratzte sich am Kopf: »Warum überrascht mich das jetzt nicht?«

»Wo sind wir?«

Am Ende der Straße erhob sich ein großer Flachbau, auf dessen Wand mit große Zwergenrunen der Name des Unternehmens geschrieben stand: »Boldin Industries«

Was hatte Boldin mit Drachen zu tun? Die Frage war eigentlich nicht sonderlich interessant, denn die Antwort war klar und wurde von Sulomile und Sologorn sofort bestätigt. Ihr merkwürdiges Gefühl einen anderen Drachen zu spüren aber eben nicht so richtig, lag schlicht daran, dass dieser Drache schlicht weg tot war. Es musste das Drachenblut von Mithvals Mutter sein, das in diesem Werk Boldins gelagert, wenn nicht sogar verarbeitet wurde. Die beiden Drachen meinten, es würde einfach ekelhaft nach Tod stinken und baten Ole, den Ort so schnell wie möglich zu verlassen. Der Neovikinger hatte damit keine Probleme, man hatte alles erfahren, was es auf einfache Weise zu erfahren gab. Außerdem wollte er sich nicht zu lange in der Nähe des Werks aufhalten. Nachher fiel man noch auf.

Ole wendete den Transport und schlug den Rückweg ein, der vorerst in Richtung Stadtmitte führte. Man kam leidlich voran, der Verkehr wurde wieder dichter. Ole wollte gerade auf eine Schnellstraße einschwenken, als sich Sulomile meldete.

»Warte, fahr weiter gerade aus. Ich fühle einen weiteren Ort mit Drachenblut.«

Und wieder ließ sich Ole Olson von den Drachen leiten. Je weiter er kam, desto zäher wurde der Verkehr. Der Weg führte immer tiefer in die Innenstadt. Eine dunkle Ahnung beschlich Ole Olson, die mit jedem Meter, den ihn die Drachen näher an den Ursprung brachte, deutlicher wurde. Irgendwann ignorierte der Neovikinger die Richtungsangabe seiner Echsen und steuerte direkt auf den Ort zu, den er für den Ursprung hielt. Die Drachen mussten seinen Weg nicht korrigieren. Ole Olsons Vermutung bestätigte sich. Die zweite Stelle in Tharbad an dem sich Drachenblut befand, war kein geringerer Ort, als der Barad Baul.

»Fahren wir heim!«, verkündete Ole und sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Die ganze Geschichte würde noch sehr unerfreulich werden, wirklich sehr unerfreulich.


Die Rückfahrt ging erstaunlich zügig vonstatten. Ole steuerte den Wagen mit flotter Fahrweise durch einen relativ flüssigen Verkehr, der zudem mit der Zeit immer dünner wurde. Ein Neovikinger und zwei Drachen erreichten in Rekordzeit die Lagerhalle, die ihnen und Erogal als Unterschlupf diente. Ole wollte gerade die Fernbedienung des äußeren Zauntors betätigen, als sich sein Assassinensinn meldete. Der Sinn hatte nichts mit Magie zu tun, sondern war durch langes und intensives Training erlernt worden. Noch bevor Ole wusste, was nicht in Ordnung war, wusste er dass etwas nicht in Ordnung war. Ohne anzuhalten, fuhr er an der Einfahrt des Lagergeländes vorbei.

»Was ist los? Warum fährst du nicht in die Halle?«

»Ich weiß nicht, irgendetwas stimmt nicht. Gorni, sag Erogal er soll in Deckung gehen!«

»Wenn du mich noch einmal Gorni nennst, mach ich Frühstücksflocken aus dir!«, knurrte Sulogorn, »Erogal weiß Bescheid, er verkriecht sich im Büro!«

Ole Olson parkte den Wagen zwei Straßen weiter, außerhalb der Sichtweite der Lagerhalle. Berufsbedingt kannte er sämtliche Lage-, Straßen- und Baupläne seiner Objekte auswendig. In einem Beruf wie dem seinen waren Fluchtwege und alternative Zugangsrouten von enormer Wichtigkeit, weswegen jedes Objekt von Ole mit Bedacht ausgewählt worden war. Dies galt auch für die Lagerhalle und das Gelände auf dem sie stand. So verband zum Beispiel ein weit verzweigtes Tunnelsystem die verschiedenen Firmengrundstücke miteinander. Diese Tunnel dienten der Versorgung, sei es mit Wasser, Gas oder Energie. Etwa 200 Meter von der Lagerhalle entfernt befand sich ein kleines Zugangsgebäude, zu dem sich Ole schon vor längerer Zeit Nachschlüssel besorgt hatte.

Vier Minuten später befand sich Ole Olson auf dem Gelände seines Lagerhauses in einem kleinen Schuppen einer Transformatorstation. Vorsichtig lugte er durch die Belüftungsschlitze des Gebäudes hinaus. Sein prüfender Blick galt der Umgebung, irgend etwas war anders. Oles Blick wanderte vom Tor den Zaun entlang, der das Grundstück von der Straße trennte. Wie alle Zäune, die etwas auf sich hielten, war auch dieser Zaun mit einem Fence-O-Matic Sicherheitssystem gesichert, jedenfalls sollte er es sein.

»Also doch!«, murmelte Ole.

Jeder Mensch mit einem konventionellen Beruf hätte es nicht bemerkt, doch Ole Olson ging keiner konventionellen Berufung nach. Das Überwinden von Sicherheitssystemen gehörte zu seinem Handwerk und so wusste er genau, worauf er achten musste. Der Zaun glitzerte, und zwar genau dort, wo seine Maschen durchtrennt worden waren, um einen Durchgang zu schaffen. Anschließend hatte der- oder diejenige das Loch wieder vorsichtig geschlossen. Dazu war es nötig den Draht zu durchschneiden, aus dem der Zaun geflochten war, was unweigerlich einen ohrenbetäubenden mördermäßigen Alarm ausgelöst hätte. Hätte, wäre da nicht dieses Glitzern gewesen. Jemand hatte den Zaun mit einem Zauber belegt.

»Nicht schlecht und sehr aufschlussreich!«, dachte Ole.

Zaubersprüche dieser Art fand man nicht in einer Müslipackung, man musste sie lernen. Es gab nicht viele Möglichkeiten, solche Sprüche zu lernen, in einer Gildeschule, beim Geheimdienst Goldors, bei der Bruderschaft der Meuchelmörder, bei der Kirche soweit man ein ausreichend hohes Amt bekleidete oder bei einem freien Zauberlehrer, die allerdings horrende Honorare verlangten und meistens nur Hokuspokus verkauften. Dies engte den Kreis möglicher Täter ein.

Ole spähte weiter und richtete seinen Blick auf das Lagerhaus.

»Aha, die Türen sind gesichert. Also, welchen Weg hast du gewählt, mein Freundchen?«

Was niemand wusste, Ole Olson hatte sein Lagerhaus ebenfalls mit verschiedenen Zaubern belegt. Sehr defensiven und unauffälligen Zaubern. Einer dieser Zauber war besonders pfiffig. Er verflog, sobald man ihn berührte. Mit diesem Zauber hatte Ole die Feuertreppe, die vom Dach herunterführte, gesichert. Er brauchte nur zu überprüfen, ob der Zauber noch vorhanden war, um zu wissen, ob die Treppe benutzt worden war.

Der Zauber war verschwunden. Vorsichtig verließ Ole sein Versteck und folgte dem Einbrecher. Er war sich ziemlich sicher, dass sich ein Attentäter auf dem Gelände herumtrieb, wenn es sich dabei auch um keinen Mörder der Bruderschaft handeln konnte. Es fehlte das schwarze Band zur Ankündigung des nahen Ablebens. Außerdem hätte ein Kollege der Bruderschaft der Meuchelmörder keine offensichtlichen Spuren hinterlassen.

Das Dach der Lagerhalle beherbergte eine Reihe kastenförmiger Aufsätze die verschiedene technische Apparate für Belüftung, Aufzug und dergleichen beinhalteten. Die größeren besaßen sogar Türen, die insbesondere auch als Flucht- und Notausgang genutzt werden konnte. Oder als Zugang für Einbrecher, kommentierte Ole die Entdeckung eines manipulierten Schlosses an einer der Türen.

Bevor Ole Olson die Tür öffnete, um selbst in die Lagerhalle hinein zu schlüpfen, rief er sich den inneren Aufbau der Halle in Erinnerung. Dieses Lagerhaus war eines seiner größeren. Er hatte es mit Bedacht gewählt, da es einerseits günstig, nämlich etwas abseits, gelegen war und andererseits den Drachen genug Platz bot, um auch mal die Flügel auszubreiten und umherzuflattern. Die Halle war größer als jede Drachenhöhle, nur wusste Ole bisher noch nichts von Drachenhöhlen. Irgend ein Architekt fand es sinnvoll, die Halle mit umlaufenden Gitterblechlaufflächen an den Wänden zu versehen. Es gab insgesamt vier Ebenen, die über Treppen an zwei gegenüberliegenden Seiten miteinander verbunden waren. Die oberste Ebene verfügte als Fluchtweg zusätzlich eine Treppe zum Dach, die genau an der Tür endete, vor dessen anderer Seite Ole gerade geduckt hockte.

Jeder Art Magie besaß einen nicht zu unterschätzenden Unsicherheitsfaktor. Ein Spruch für diskretes Licht in feindlichem Umfeld konnte, sei es aus Konzentrationsschwäche oder undeutlicher Aussprache, zu einem unerwarteten und wenig diskreten Blitzlichtgewitter mutieren. Von daher zögerte Ole Magie während konkreter Aktionen einzusetzen, doch in diesem Fall war ein wenig Magie durchaus angesagt. Ole belegte die Tür mit einem Antiquietsch- und -Knarzzauber. Auch dieser Zauber galt als alles andere als perfekt. So wurde auf der Meuchelmörderschule vom tragischen Fall des Bruders Theoparsus berichtet, der es bei einem seiner Aufträge fertig gebracht hatte, eine Geheimtür grunzen zu lassen. Es wurde zu seinem letzten Auftrag.

Die Tür auf dem Dach der Lagerhalle grunzte nicht, als Ole Olson sie vorsichtig einen kleinen Spalt öffnete. Der kleine Zauberspruch tat das, was man von ihm erwartete und unterband alle verräterischen Geräusche. Mit einem kleinen Spiegel, der an einem Teleskopstab befestigt war, lugte der Neovikinger vorsichtig in die Halle hinein. Und tatsächlich. Auf der 4. Ebene lag ein dunkel gewandeter Typ und war damit beschäftigt, mit einer Waffe mit magischem Zielsucher Erogal in der Halle ausfindig zu machen, was gar nicht so einfach war, da sich der Gildebruder in der kleinen Wohnung befand, die von einem Teil der Fläche des Lagerhauses abgetrennt war. Dadurch war Erogal etwas geschützt, wenn auch nicht ganz, denn die Wohnung besaß eine große Fensterfront, die zur Lagerfläche blickte. Der Attentäter suchte mit seiner Waffe genau diese Fensterfläche ab, um beim ersten Auftauchen seines Ziels den tödlichen Fangschuss zu setzen.

Ole tat der junge Attentäter ein klein wenig Leid. So, wie er die Sache anging, sah es nicht so aus, als wenn er jemals zu einem alten Attentäter werden würde. Die Frage, die sich Ole eigentlich nicht wirklich stellte, lautete schlicht der Attentäter oder Erogal. Erogal war ein Drachenreiterbruder und ein Freund, der Attentäter hingegen… Es ist nicht persönlich gemeint!, lautete Oles Motto in solchen Fällen.

Körperbeherrschung und ein klein wenig Zauber versetzten Ole in Sekundenbruchteilen von seinem Ausgangspunkt an der Tür zum Endpunkt neben dem jungen Attentäter. »Schattenlauf« war ein Zauber, dessen Name völlig unsinnigerweise von der Idee abgeleitet war, sich schneller bewegen zu können, als der eigene Schatten. Dabei bewegte man sich in Wirklichkeit nur verdammt schnell, so schnell, dass die Bewegung als solche für die Augen der meisten Lebewesen verwischten. Es sah so aus, als ob man an einem Ort verschwand, um an einem anderen wieder aufzutauchen. Für den jungen Attentäter tauchte Ole sehr unerwartet auf, zumal er voll und ganz mit dem Zielsuchsystem seiner Waffe beschäftigt und offensichtlich überfordert war.

Ole Olson entschied den Typen vorerst nicht von der Last seiner irdischen Existenz zu erlösen. Stattdessen ließ er seine bloßen Finger mit einer blitzschnellen Bewegung über delikate Nervenpunkte des Attentäters wandern und fein modulierten Druck ausüben. Noch bevor der Berührte überhaupt merkte, dass er von jemand anderem, der eben noch gar nicht da war, berührt wurde, war die Berührerei bereits erledigt.

»Was?«, entfuhr es dem Attentäter gefolgt von einem entsetzten »Oh!«, als er bemerkte, dass er sich nicht mehr bewegen konnte.

»Ich würde dir raten, dich nicht zu bewegen«, Ole hatte die Verwirrung des Attentäters bemerkt, »Was du gerade spürst, ist eine Technik dir sich »Finger des Todes« nennt. Nein, du wirst nicht sterben, jedenfalls noch nicht, aber das hängt ganz von dir ab. Ich habe dich nur gelähmt, indem ich einige deiner Nerven kurzgeschlossen habe. Solltest du dich dagegen wehren, verstärkt sich der Effekt und könnte so unschöne Dinge wie Atemlähmung nach sich ziehen. Haben wir uns verstanden?«

»Ok!«, röchelte ein sehr ängstlicher und, wie Ole gerade feststellte, wirklich sehr junger Attentäter.

Nachdem die Situation geklärt war, schulterte sich der Neovikinger das junge Kerlchen und trug ihn nach unten, wo er Erogal zurief, dass die Gefahr vorbei sei. Als der Gildemeister aus seinem Versteck auftauchte, drückte Ole ihm die Waffe des Attentäters in die Hand und meinte, er würde erst mal die Echsen holen, die immer noch im Transporter warten würden. Erogal nickte zustimmend und wandte sich dem Attentäter zu, den Ole auf einer Liege im Wohnbereich der Lagerhalle abgelegt hatte.

»Du wolltest mich also töten. Ich könnte sowas persönlich nehmen. Aber zuerst erlaub mir eine Frage: Findest du nicht, dass du für einen Attentäter nicht ein wenig jung bist?«, bemerkte Erogal amüsiert, was den jungen gelähmten Attentäter sichtlich irritierte. Erogal fuhr fort: »Wie heißt du eigentlich?«

»Sebastian!«, japste der Attentäter.

»Ein Priester…«, Erogal zögerte, mustere Sebastian, »Nein, ein Novize unserer allseits beliebten unifizierten Technokratie.«

Der klerikale Attentäter wollte gerade etwas entgegnen, als sich das Rolltor der Lagerhalle öffnete, der Transporter hineinfuhr und, nachdem sich das Tor wieder geschlossen hatte, zwei junge Drachen dem Wagen entschlüpften. Die Augen des Attentäters weiteten sich, wurden größer und schließlich riesig, als die beiden Echsen sichtlich neugierig in Richtung Wohnbereich hopsten. Auf Sebastian machten die Drachen einen hungrigen, einen sehr hungrigen Eindruck.

»Und, was machen wir mit unserem Gast?«, fragte Ole Olson, während er auf Sebastian zuging und ihm seinen dunklen Mantel auszog. Er wollte ihn sich etwas genauer betrachten. Der Novize der unifizierten Technokratie war nicht nur jung, sondern auch ganz appetitlich gebaut. »Eigentlich schade ihn an die Echsen zu verfüttern…«, dachte Ole Olson und kratzte sich, aus Verlegenheit und weil er nicht wusste, wohin er sonst mit seinen Händen sollte, an der Nase.

»Unser Gast ist ein Novize der U.T. und heißt Sebastian. Sonst hat er noch nichts gesagt. Vielleicht sollten wir das ändern«, bemerkte Erogal und zwinkerte Ole verschwörerisch zu, bevor er sich direkt an Sebastian wandte: »Du weißt sicherlich, dass ich ein Bruder der Gilde bin. Als Gildebruder verabscheue ich natürlich jede Form von Gewalt. Mein Freund hier ist da hingegen ganz anders strukturiert. Sein Hauptberuf ist der eines Meuchelmörders. Ich habe Gerüchte gehört, dass man als Meuchelmörder endlose Methoden erlernt, ein Ziel in den gewünschten leblosen Zustand zu überführen. Darunter soll es wohl auch recht, sagen wir mal, extrem unerfreuliche Varianten geben. Du weißt sicher, dass es von ihnen natürlich niemals persönlich gemeint ist. Auftrag ist halt Auftrag…«

Während Erogal sprach, zog Ole Olson seine Jacke aus, lockerte seine Handgelenke und ließ seine Finger hörbar knacken. Panik zeigte sich in Sebastians Gesicht.

»Aber ich dachte, euer Ehrenkodex verbietet es, eure Ziele zu quälen?«, stammelte der Jungattentäter verunsichert.

»Was soll ich sagen…«, bemerkte Erogal gedehnt, »Ihr im Allgemeinen lebloser Zustand gestaltet es außerordentlich schwierig, sich hinterher noch zu beschweren.«

Die ausgesprochen beunruhigende Logik dieser letzten Bemerkung war nicht unbedingt dazu angetan, Sebastian zu beruhigen, sondern zeigte eine eher gegenteilige Wirkung.

»Schon gut! Schon gut! Ich rede!«, brabbelte das mörderische Kind los, »Ich bin Zacharias von Rochsinasul unterstellt. Jemand hat den Residenten gebeten Erogal D’Santo aus dem Weg zu räumen. Die Bitte kam aus eurem eigenen Laden! Die Gilde will dich tot sehen!«

Jagdfieber

»Unsere Liebe ist käuflich!«
(20 % Rabatt für Gildeschüler, Stadtwächter und Priester aller Konfessionen)

Leitsatz der professionellen Liebesdienstleister Crossars

»Drachenblut!«

Das Wort kreiselte unaufhörlich in Uskavs Kopf umher und fraß sich dort fest. Was wollte ihm Mithval mitteilen? Er wusste, dass Spuren von Drachenblut die Adern der Orks durchströmte, so wurden die Orks teilweise zu Drachen. Dann müsste…

Ein Idee formte sich in Uskavs Schädel. Da sie von spontanem Brechreiz begleitet wurde, musste sie die richtige Idee sein. Wenn Drachenblut die Orks für die Drachen zu unangreifbaren Scheußlichkeiten verändert hatte, konnte dann Orkblut das Gegenteil bewirken? Orkblut? Uskav schaute sich um. Orkblut gab es genug. Uskav hatte die Wahl zwischen hunderttausenden Blutproben. Es gab nur ein kleines Detailproblem zu lösen. Kein Ork gab sein Blut gerne und erst recht nicht freiwillig her. Überhaupt, wie sollte er das Blut transportieren? Die Zeit drängte, die Orks waren schnell. Mit jeder Minute, die verstrich, näherte sich das Herr Daelbar und dessen voraussichtlichem Untergang.

Uskav entschied, zu handeln. Da er über kein geeignetes Behältnis zur Aufbewahrung von Blut verfügte, entschied er sich, das Blut in seinem natürlichem Behältnis zu transportieren, in einem Ork. Uskav zögerte etwas bei dem Begriff »natürliches Behältnis«. Natürlich war etwas, das er nur schwer mit einem Ork in Verbindung brachte, eher mit dem Gegenteil.

Orkblut in einem Ork zu transportieren, bedeutete nichts geringeres, als eben einen solchen zu fangen. Kniffelig, wenn auch nicht ganz unmöglich. Das ganze musste relativ unbemerkt erfolgen. Erschwerend kam hinzu, dass sich Orks, wie die meisten Lebewesen, nur sehr ungerne fangen ließen. Dies war eine durchaus nachvollziehbare Abneigung, da insbesondere Orks selten gefangen wurden, um mit ihnen etwas, aus Sicht des Orks, Nettes anzustellen. Im Allgemeinen traf das Gegenteil zu. Meistens sparte man sich das Fangen, und legte sie der Einfachheit halber gleich um.

Die besten Chancen unbemerkt einen Ork zu fangen, rechnete sich Uskav eher am Rand des Orkstroms aus. Vielleicht bot sich dort die Möglichkeit, ein ahnungsloses Opfer mit sich ins Unterholz der Umgebung zu reißen. Mit dem Strom aus Orks und vereinzelten Uruks schwimmend, bahnte sich Uskav einen Weg an den Rand des Heeres. Frustriert musste er feststellen, dass sein Plan so nicht funktionieren konnte, zumindest nicht auf dieser Seite des Heeres. Es gab kein Unterholz, sondern nur eine steil aufsteigende Hügelflanke. Uskav hätte nicht einmal allein unbemerkt fliehen können. Ein prüfende Blick zur anderen Seite des Stroms zeigte das gleiche Bild. Das Herr floss quasi in einem Bergtal dahin.

Die Zeit rannte davon. Das Heer kam nicht nur Daelbar immer näher, Uskav entfernte sich auch immer mehr von der Stelle an der er Narsul zurückgelassen hatte. »Ich brauche einen Ork!«, fluchte Uskav innerlich, »Oder Daelbar ist verloren!«

Manchmal hilft der Zufall, obwohl es in diesem Fall auch ein Akt der Vorsehung gewesen sein könnte. Direkt vor Uskav begannen zwei Orks eine ihrer ureigensten Tugenden zu pflegen, sie begannen miteinander zu streiten. Aus einem anfänglich harmlosen Streit, der, orktypisch, aus dem Nichts entstand und keines besonderen Anlasses bedurfte, entstanden, ebenfalls orktypisch, schnell Handgreiflichkeiten. Innerhalb kürzester Zeit waren bereits fünf Orks damit beschäftigt fröhlich aufeinander einzudreschen. Prompt geriet der Orkstrom ins Stocken, der Streit drohte sich auszubreiten und sich auf das restliche Heer auszudehnen.

»Du!«, brüllte ein Uruk Uskav zu, der sowas wie ein Offizier zu sein schien, »Pack du die drei, ich nehme diese beiden!«

Uskav wusste nicht, warum der Uruk von ihm wollte was er von ihm wollte, tat aber, was man ihm sagte. Ganz nach dem Motto: »Bloß nicht auffallen!«

Der Offiziersuruk krallte sich mit erbarmungsloser, urukscher Härte zwei der Streithähne, die lauthals protestierten und den Uruk als neuen Spielgefährten betrachteten. Doch der Uruk hatte andere Pläne, er fesselte die Orks mit einem Seil zusammen, warf sie sich auf seine Schultern und trug sie aus dem Strom des Heeres heraus, den Hügel am Rand empor, wobei er Uskav im vorbeigehen ein zweites Seil zuwarf. Die restlichen Orks des Heeres sahen nicht glücklich aus und betrachteten die Szene mit einer Mischung aus Furcht und Erleichterung.

Uskav wusste noch nicht recht, was er von der ganzen Sache halten sollte und folgte daher dem Beispiel des Offiziersorks. Er packte die drei anderen Orks, fesselte sie und ging dem Uruk nach, der bereits den Höhengrat des Hügels erreicht hatte. Die Orks zappelten, kreischten und wehrten sich. Offensichtlich wussten sie mehr, als Uskav.

»Ihr kennt das Gesetz!«, empfing der Uruk die drei Orks, die Uskav anschleppte. Er packte sie mit seinen Pranken und reihte sie nebeneinander auf, »Ihr wisst, dass wir eine Aufgabe zu erfüllen haben. Aber ihr musstet ja mit einer euren lächerlichen Streitereien und eurer Schlägereien das Heer aufhalten. Ihr wisst, was man euch gesagt hat. Jede Verzögerung ist Hochverrat! Hiermit verurteile ich euch Kraft meines Amtes zum Tode! Du!«, damit war Uskav gemeint, »Richte sie mit deinem Schwert!«

Uskav hätte es wissen müssen. Orks waren nicht nur hässlich, gemein, gefräßig, unzuverlässig und tödlich, sie waren vor allem billig. 1000 Stück der Handelsklasse C bekam man bereits für ein paar Goldmünzen mit Mengenrabatt bei Abnahme von mehr als 10.000 Stück. Und selbst wenn diese besondere Züchtung etwas teurer sein sollte, 5 Orks von hunderttausenden machten den Kohl wirklich nicht fett. Außerdem sollte man niemals die abschreckende Wirkung einer zünftigen Exekution unterschätzen.

Uskav zog sein Schwert und sah sich dabei um. Sie befanden sich auf dem Grat des umgebenen Hügels, der zu beiden Seiten abfiel. Eine Möglichkeit winkte in Uskavs Hirn. Zwei Schritte auf die andere Seite des Grates und niemand aus dem Heer würde sie sehen können. Doch zuerst war da noch eine Aufgabe zu erfüllen. Uskav holte aus.

»Komisch, früher hätte mir das Spaß gemacht!«, dachte sich Uskav und begann den ersten Ork zu enthaupten, »OOPS, es macht immer noch Spaß! Wie durch Butter!«

Ein Ork nach dem anderem verlor Kopf und Leben, bis auf den letzten. Dem verpasste er, unbemerkt vom Uruk, der die ganze Sache überwachte, einen Tritt, dass dieser die vom Heer entgegengesetzte Hangseite hinunter kullerte.

»Der Kerl haut ab!«, schrie Uskav empört und sprang, den Offiziersuruk mit sich ziehend, hinterher. Noch während sie dem Ork hinterher rannten, packte Uskav erneut sein Schwert und, als er sicher war, dass ihn niemand sehen konnte, trennte er den Kopf des Offiziersuruks sauber vom Hals. Der Uruk schaute ein wenig entsetzt, als er feststellt, dass er sprichwörtlich seinen Kopf verloren hatte. Der ehemals fürs Denken zuständige Körperteil des Uruks leistete sich mit Uskav noch ein Wettrennen, wobei er haushoch gewann. Als dahinrollender Schädel war er einfach im Vorteil. Mit einem leisen »Plok!«, kam er schließlich am Ork zur Ruhe. Der Ork wiederum schaute entsetzt drein, als ihn die Todesfratze seines Offiziers anglotzte.

»So mein Herzchen, für dich habe ich eine besondere Überraschung!«, lachte Uskav den letzten überlebenden Ork an, bevor er ihn mit einem Hieb auf den Hinterkopf ins Land der Träume beförderte. Danach ging alles sehr schnell. Uskav warf sich den Ork auf die Schulter und rannte los, direkt in Richtung Narsul. Jetzt kam es drauf an. Er hatte seine Blutprobe, doch die musste nun so schnell wie möglich Daelbar erreichen. Die Zauberer, Alchemisten, Wissenschaftler und Hexenmeister der Drachenreiterschule standen bereit. Wenn es jemandem gelingen sollte, eine Art Gegenmittel aus dem Blut des Orks zu gewinnen, dann ihnen.

»Nein! Stop! Komm mir mit diesem Vieh nicht zu nahe!«, kreischte Narsul, als Uskav seine Drachendame endlich erreichte.

»Das meinst du jetzt nicht ernst, oder?«, Uskav verdrehte seine Augen, »Dieses Ork muss nach Daelbar und zwar jetzt!«

Narsul schaute angewidert den Ork an und versuchte sich ihm zu nähern. Es ging nicht! Es ging einfach nicht! Überhaupt nicht! Etwa vier Meter vor dem Ork hatte Narsul das Gefühl gegen eine Wand aus Ekel und Gestank zu prallen. Selbst, als sie alle Willenskraft zusammen nahm und sich noch einen weiteren halben Meter näherte, hatte dies nur zur Folge, dass sie schließlich doch zurückweichen und sich in einen nahegelegenen Busch übergeben musste.

»Also so gehts dann offensichtlich nicht!«, kommentierte Uskav die Situation, kratzte sich am Kopf und dachte nach, »Wie weit könntest du auf Dauer an den Ork ran?«

»Auf Dauer? Fünf Meter, mindestens! Das Viech ist so ekelhaft! Du machst dir keine Vorstellung davon wie ekelhaft das ist!«

Uskav ging zu Narsul und streichelte sie sanft: »Geht es dir besser?«

»Es geht… Solange, das Ding da mir nicht zu nah kommt!«, knurrte Narsul in Uskavs Kopf, während der in seinen Satteltaschen herumwühlte.

»Ha!«, rief der Uruk, als er fand, was er suchte. In seiner Hand hielt er ein Seil in die Höhe, »Das sollte funktionieren.«

Der Ork war, obwohl ihm das nicht sonderlich gefiel, bereits gefesselt. Uskav befestigte das Seil an den Fesseln und überprüfte, ob alles fest saß und hielt. Zufrieden mit dem Resultat verknotete er das andere Ende des Seils zu einer Schlaufe, die Narsul bequem mit ihren Klauen fassen konnte.

»Oh, oh, du böser, böser Uruk!«, scherzte Narsul, »Ich ahne, was du vor hast. Das könnte tatsächlich funktionieren.«

Uskav grinste seine Drachendame an, die frech zurückgrinste. Dann wandte er sich dem Ork zu, der langsam wieder zu sich kam und nun feststellen musste, dass er nicht nur gefesselt, sondern auch geknebelt war.

»Hör zu!«, begann Uskav, »Du lebst und ich vermute mal, dass du daran interessiert bist, dass das auch so bleibt.«

Der Ork knurrte wütend, nickte aber.

»Na, dann freu dich mal auf einen Freiflug!«, lachte Uskav und schwang sich auf Narsul. Die krallte sich das Seil, sprang in die Luft und gewann schnell an Höhe, bis sich mit einem Ruck der am Seil baumelnde Ork bemerkbar machte. Das Seil war lang genug, dass er in ausreichender Entfernung unterhalb von Narsul hängen konnte, ohne in ihr Übelkeit und Ekel auszulösen. Etwas nervös lugte Uskav zur Erde hinab, stellte dann aber beruhigt fest, dass sie sich nicht näherte sondern entfernte. Narsul gewann also weiter an Höhe.

»Keine Angst! Dieser Kotzbrocken ist nicht zu schwer!«, versicherte Narsul Uskav ihre ausreichende Transportkapazität, wobei sie ein wenig hochstapelte, »Allerdings sollte er mit der Zappelei aufhören!«

Das gemeinsame Gewicht von Uskav und dem Ork zerrte schon ganz ordentlich an Narsuls Konstitution, hinzu kam, dass der Ork alles andere als begeistert war, als eng verschnürtes Päckchen durch die Luft zu segeln, und wie ein Wilder umherzappelte. Bei aller Kraft und Größe war Narsul immer noch ein Jungdrache und alles andere als ausgewachsen. Das wusste Uskav und er wusste auch, warum sich Narsul dermaßen ins Zeug legte. Seine Drachendame schämte sich, den Ork nicht einfach packen zu können, obwohl sie daran keine Schuld trug. An dem Problem ihrer Überladung hätte sich ebenfalls nichts geändert, doch Narsul hatte ihren Stolz, ein Wesenszug, der bei roten Feuerdrachen und dort besonders bei ihren weiblichen Vertretern, sehr verbreitet war.

»Wenn du nicht sofort still hältst, lass ich dich von meinen Drachen gegen den nächsten Felsen klatschen. Du kannst es dir also aussuchen, ob du als blutiger Fleck enden möchtest oder den Flug genießt.«

Der Ork entschied sich für die zweite Alternative und hielt still. Selbst Orks schätzten, auf eine krude und verschrobene Weise, das Leben, insbesondere, wenn es sich um ihr eigenes handelte. Das nachlassende Gezappel ihres Gefangenen erleichterte es Narsul sich und ihre Fluggäste in der Luft zu halten und weiter an Höhe zu gewinnen. Je höher sie kamen, desto mehr verschwanden einzelne Konturen der Landschaft, boten dabei allerdings einen besseren Überblick.

Der Strom der Orks schien sich ein wenig verlangsamt zu haben. Trotzdem wand sich das Heer wie ein Lindwurm durch die Landschaft. Im Schein des Feuers der Fackeln schien es auszusehen, als ob ein Fluss aus Feuer sich einen Weg zwischen den Bergen hindurch bahnte – Ein Fluss des Todes!

»Schneller!«, Uskav strich seinem Drachen über die Flanken, »Schneller, meine Liebste! Daelbar ist in Gefahr! Unsere Freunde sind in Gefahr! Flieg, flieg um dein Leben! Flieg um unser alles Leben!«

Und Narsul flog! Plötzlich entfalteten sich ungeahnte Kraftreserven, Narsul machte einen Satz, der am Seil baumelnde Ork kreischte, Narsul streckte sich, legte sich in den Wind und schoss davon. Uskav wollte seinen Augen nicht trauen. Narsul Schwingenenden glühten, Funken lösten sich und hinterließen eine glitzernde Leuchtspur am Himmel. Entsetzte Schreie stiegen vom Orkheer auf und erreichten Uskavs Ohren. Narsuls Erscheinen hatte Verwirrung unter den Orks ausgelöst und ihren Marsch ins Stocken gebracht.

»Gut! Sehr gut!«, schrie Uskav, »Das wird sie ein wenig aufhalten.«

Der Fahrtwind zerrte an Uskav. Narsul flog, als wenn sie der Teufel persönlich reiten würde. Das Orkheer hatten sie innerhalb weniger Minuten hinter sich gelassen und eilten nun Daelbar entgegen. Auf halbem Weg kamen ihnen Kifilan mit Johannes und Seregsil mit Akira entgegen, flogen einen Bogen um Narsul und schwenkten auf ihre Flugbahn ein, um den linken und rechten Flankenschutz zu übernehmen. Etwas später stieß auch noch Benedict auf Lindal hinzu.

Daelbar machte mobil. Als die Viererstaffel die Stadt weit nach Mitternacht erreichte, erstrahlte sie in hellem Licht. Auf allen Plätzen, Straßen, Startrampen und Wegen herrschte Aktivität. Der Himmel war mit Drachen erfüllt. Steinmetze, Maurer und Zauberer sicherten die Stadtmauer. Verteidigungsgeschütze wurden in Stellung gebracht.

Uskav kannte diesen Anblick. Es war das Zeichen des Krieges. In diesem Fall eines hoffnungslosen Krieges. Der General in Uskav erwachte. Mit dem kalten, analytischen Blick eines Strategen und Taktikers berechnete er die Chancen. Es gab keine. Die Stadt würde von den Orks überrannt werden. Es sei denn…

Narsul hielt direkt auf die Drachenreiterschule zu. An der großen Hauptstartrampe warteten bereits die Leiter der einzelnen wissenschaftlichen und magischen Abteilungen. Narsul drehte eine Runde über der Schule, um dann in eine stationäre Position über der Rampe einschwenken. Langsam ließ sie sich durchsacken, bis der gefangene Ork wohlbehalten den Boden erreicht hatte. Befreit von der Last, drehte Narsul bei und steuerte eine andere Startrampe an, um dort zu landen.

»Präsident Uskav!«, rief der Direktor der Drachenreiterschule, nachdem Uskav von Narsul gesprungen war und sofort auf die wartenden Wissenschaftler, Hexer und Magier zugerannt war. Einige sahen grün aus, als wenn sie einen Anfall von Übelkeit erlitten hatten.

»Die Orks, die uns bedrohen sind etwas anders«, begann Uskav sofort, »Ich weiß nicht, wieviel ihr schon wisst. Weder Drachenreiter noch Drachen können sich diesen Orks nähern. Sie sind ein Ekel und erzeugen unüberwindlichen Brechreiz.« Die Drachenreiter unter den Anwesenden nickten. Uskav fuhr fort: »Ich scheine der einzige zu sein, den diese Übelkeit nicht befällt. Ich bin ein Ork, ein Uruk. Ich glaube zu wissen, was an diesen Orks anders ist. Es ist das Blut! Erinnert euch daran, dass Segato und Suman Drachenblut bei Boldin fanden. Ich bin mir sicher. Boldin hat Orks gezüchtet, deren Blut mit dem eines Drachen vereint wurde.«

Unter den Fachleuten entflammte sofort eine hitzige Diskussion. Drachenblut, das war in der Tat der Schlüssel. Welch kranker Geist konnte das Blut eines Drachens nur dazu verwenden, Werkzeuge des Todes zu züchten?

»Ich weiß nicht, wieso, aber Mithval hat zu mir gesprochen und meinen Verdacht bestätigt«, unterbrach Uskav die Diskussion, »Es ist nur eine Idee, ein Strohalm an den ich meine Hoffnung klammere, aber wenn das Blut eines Drachens Orks gegen uns immunisieren kann, vielleicht kann dann das Blut eines solchen Orks das Gegenteil bewirken.«

Die Experten stimmten zu und gingen sofort an die Arbeit. Man schnappte sich den Ork und wollte mit ihm gerade in die Laboratorien gehen als Uskav seine Stimme erneut erhob: »Lasst ihm am Leben. Ich habe ihm versprochen, sein Leben zu verschonen.«

»Ich glaube nicht, dass er dir deine Milde danken würde«, meinte Akira trocken.

»Nein«, lachte Uskav, »Er würde nicht zögern, jeden von uns zu töten.«

Die Aufgabe war gestellt. Die Zauberer, Wissenschaftler und Hexer gingen an die Arbeit und suchten nach einem Gegenmittel oder einer Art Impfung gegen die Wirkung der Orks. Uskav kehrte der Schule den Rücken und bestieg Narsul. Uskav musste nichts sagen, Narsul wusste, wohin ihre Seele wollte. Sanft schwang sie sich in die Lüfte, umkreiste die Schule und hielt auf die Häuser der Heiler zu. Ebenso sanft wie sie gestartet war, landete Narsul wenig später am Hauptportal. Ein einzelner Elb stand an der Startrampe und erwartete Uskav. Der lief direkt auf ihn zu und umarmte ihn, klammerte sich fast an ihn, obwohl dies bei der ungleichen Massenverteilung etwas seltsam aussah.

»Wie geht es ihm?«, wollte Uskav wissen, »Wie geht es Roderick?«

Thonfilas streichelte Uskav sanft, was bei einem Uruk immer irgendwie seltsam aussah, »Es geht ihm gut. Er ist wach und tyrannisiert das Pflegepersonal.«

»Roderick zu beißen, war das Schlimmste, was ich je machen musste«, erwiderte Uskav.

»Er hat mir erzählt, warum du es getan hast. Ihr hattet keine…«, versuchte Thonfilas Uskavs Gewissensbisse mit rationalen Argumenten beizukommen. Doch Uskav unterbrach ihn: »Du verstehst nicht! Es war so schlimm, so qualvoll, weil es mir gefallen hat! Von Roderick zu kosten, war himmlisch. Dieser Mann schmeckt einfach köstlich! Du hast keine Ahnung, wie sehr ich mich zwingen musste, ihn nicht zu verschlingen, mein Fänge nicht in sein Fleisch zu rammen und das köstliche Fleisch… Verdammt, ich bin ein Uruk, ein Monster. Wie könnt ihr sowas wie mich lieben?«

»Das fragst du wirklich?«, Thonfilas trat einen Schritt zurück, breitete seine Arme aus, drehte sich um seine eigne Achse und zeigte damit auf ganz Daelbar: »Uskav, schau dich um! Schau mich an! Schau Narsul an! Schau Lindor an! Schau dir ganz Daelbar an! Wir lieben dich – Alle! Ja, du hast Roderick gebissen und er hat dir geschmeckt. Verdammt, du bist ein Uruk, es wäre seltsam, wenn dir Roderick nicht geschmeckt hätte. Aber du vergisst eins, du hast Roderick eben nicht gefressen! Du hast ihn nicht gefressen, weil du ihn liebst, weil er dir etwas bedeutet und du dich um ihn sorgst. Dafür lieben wir dich! Dafür liebe ich dich! Uskav, du bist eines der liebenswertesten Wesen, das mir in meinem langen Leben begegnet ist.«

Uskav war geplättet, so hatte er die Sache noch überhaupt nicht betrachtet. Stimmt, er hatte Roderick nicht gefressen. Aber Thonfilas hatte Recht. Er hätte Roderick fressen können, aber er tat es nicht. Sein Verstand, seine Seele und seine Liebe, hatte über sein biologisches Verlangen gesiegt.

»Außerdem«, fügte Thonfilas süffisant hinzu, »ist der Sex mit dir einfach megageil!«

Mit diesen Worten ging Thonfilas auf Uskav zu, umarmte und küsste ihn. Uskav wurd es warm ums Herz. Von jemandem geliebt zu werden, war für einen Uruk immer wieder ein überwältigendes Gefühl.

»Und jetzt komm! Roderick wartet auf dich!«, Thonfilas rümpfte seine Nase und grinste breit, »Junge, du solltest mal duschen, du stinkst wie ein Ork!«

Das Warenhaus zu Erzsee

»Drachenfeuer – Ein Kräuterbitter der Extraklasse«
»Für die Herstellung dieses Produkts wurden keine Drachen verletzt, getötet oder anderweitig in Mitleidenschaft gezogen. Überhaupt, wer glaubt schon an Drachen?«

Aus einem Werbetext der Spirituosenbrennerei Steinbrand (Lieferant des königlichen Goldorianischen Hofs)

»Palle?«, fragte Gilfea skeptisch und hob leicht verwundert seine linke Augenbraue.

»Ja!«, sagte Palle, »Das ist mein Name. Ihr wundert euch, woher ich weiß, wer ihr seid.«

»Diese Frage drängt sich auf…«, entgegnete Gilfea scheinbar locker, doch jeder im Raum spürte die Anspannung, insbesondere als Gilfea begann mit seinem Schwert zu spielen.

»Entspannt euch!«, beruhigte Palle, »Ich wurde informiert, dass vermutlich ein Mensch und ein Elb unsere kleine Stadt besuchen könnten. Die Beschreibung, die man mir gab, trifft auf verblüffende Weise auf euch beide zu. Vielleicht würde es helfen, wenn ich euch sage, dass meine Informationen von jemanden namens Lars stammen.«

Gilfea lächelte freundlich, spielte aber weiterhin versonnen mit seinem Schwert. Es stand vor ihm, die Schwertspitze auf dem Boden, ließ er es hin und herkreiseln.

»Du könntest auch ein Agent Goldors sein. Jeder, der die Ereignisse der letzten Stunde kennt, weiß von Lars und vermutlich auch von uns.«

»›Den drei liebenden Kämpfern und den heilenden Händen sei auf ewig gedankt. Der Kodex ruht! Wahrheit leitet von nun an unseren Weg!‹, diese Worte überbringe ich euch von Lars. Ich weiß nicht, was sie bedeuten, aber sie sollen meine Aufrichtigkeit beweisen.«

Gilfea entspannte sich, denn er wusste, worauf Lars in seiner Nachricht anspielte. Während des Angriffs auf die nördliche Feste wurde Lars verletzt. Gilfea wollte ihn heilen, doch kannte er Lars Abneigung gegenüber Männern, die Männer lieben, und war sich daher nicht sicher, ob der Neovikinger von ihm geheilt werden wollte. Der Zauber des Heilens verband Heiler und zu Heilenden auf eine sehr persönliche und intime Weise. Es gab nur eine Möglichkeit, Lars musste die Wahrheit über Gilfeas, Gildofals und Sumans Liebe erfahren. Überraschenderweise war Lars wesentlich weiter, als Gilfea gedacht hatte und hieß Gilfeas Hilfe bedingungslos willkommen. Da außer Lars und Gilfea niemand anderes bei dieser Begebenheit anwesend war, konnte auch niemand anderes davon wissen. Palle war vertrauenswürdig.

»Ich sehe, du kennst die Bedeutung der Worte«, bemerkte Palle.

»Ja und es sagt mir, dass wir dir vertrauen können«, antwortete Gilfea deutlich entspannter.

Palle nickte, stand auf und holte drei Gläser und eine Glasflasche mit einer goldfarbenen Flüssigkeit: »Wir sollten einen Schluck trinken, denn das, was ich euch zu erzählen habe wird euch nicht gefallen. Dieser Trunk stammt aus meiner Heimat und nennt sich ›Wasser des Lebens‹ oder, wie wir es nennen, ›Aquavit‹. Vorsicht, das Zeug hat es in sich.«

Der Neovikinger sollte recht behalten, das Zeug hatte es in sich. Gildofal verschluckte sich und lief rot an. Eine erstaunliche Reaktion für einen Elben. Palle behielt aber auch bei einem anderem Punkt recht. Sein Bericht gefiel wirklich nicht. Lars hatte ihn gebeten, Gilfea und Gildofal jede Hilfe zukommen zu lassen, die sie brauchten, wozu insbesondere die Versorgung mit frischen Informationen gehörte.

»Es war eine gute Sache, dass ihr geholfen habt, unser Land zu befreien«, meinte Palle, »Es wurde zu einem Weckruf für unser Volk. Viel zu lange haben wir auf unsere Kriegerfürsten gehört und uns von ihnen entmündigen lassen. Sie haben gesagt, was gut für uns ist, und wir haben brav pariert. Wo hat uns das hingebracht? Goldor hat seine Finger nach unseren Landen ausgestreckt, während wir zu einem zerrissenen und gespaltenen Volk wurden. Lars ist ein guter Mann, ich glaube, er kann etwas ändern.«

Prinzipiell war Erzsee nicht mehr, als eine unabhängige Gold- und Mithrilgräberstadt, was aber nicht bedeutete, dass es keine Vertreter der Interessen Goldors gab. Genauso wie es jemanden gab, der im Sinne der Neovikinger handelte. Die Stadt war klein genug, dass jeder jeden kannte. Jeder wusste, dass Palle die Seite der Neovikinger vertrat und es sich bei Petronius, dem Wirt der größten Bar Erzsees, um einen treuen Sohn Goldors handelte. Man kannte sich, man respektierte sich, man brachte sich nicht um. Jedenfalls nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Doch dies hatte sich mit den Angriffen auf die beiden Festungen schlagartig geändert. Man brachte sich zwar immer noch nicht um, war aber nah dran. Man konnte die Atmosphäre in der Stadt auch als spannungsgeladen bezeichnen.

Der Fall der beiden Festungen hatte Wellen geschlagen. Obwohl Goldor seine Festungen völkerrechtswidrig auf fremdem Territorium errichtet hatte und damit ihre Beseitigung vollkommen legitim war, schienen alle Zeichen darauf hin zu deuten, dass der König innerhalb der nächsten zwei Tage den Neovikingern den Krieg erklären würde. Dies war sehr überraschend, steckte man doch bereits im Süden mitten in kriegerischen Auseinandersetzungen mit Harrasland. Selbst ein schwacher König, wie der amtierende Herrscher Goldors II, sollte wissen, dass man nicht gleichzeitig an zwei Fronten kämpft.

Mit anderen Worten, die Zeichen standen auf Sturm. Erzsee blieb nicht von den Auswirkungen der sich verdüsternden Großwetterlage verschont. Petronius hatte seine Leute mobilisiert. Was Palle wiederum zwang, seine Truppen in Stellung bringen. Man belauerte sich und registrierte ganz genau, was der jeweilige Gegner tat, bis vor zwei Stunden Petronius Palle zu einem Gespräch auf neutralem Terrain einlud.

»Ich will nicht um den heißen Brei herumreden, alter Freund«, begann Petronius, »In ein paar Stunden wird ein Schnellboot Erzsee erreichen, aber das weißt du natürlich schon. Das Boot wird auftanken und weiterfahren. Sollte einer deiner Jungs bezüglich dieses Boots auf dumme Gedanken kommen, könnte das für alle Seiten sehr unerfreulich werden. Ich habe bei dieser Sache den Stadtrat auf meiner Seite. Man meint, es wäre nichts, was Erzsee angehen würde.«

Suman in Erzsee zu befreien, fiel also flach. Goldor war vorbereitet. Gildofal seufzte frustriert. Denn eins stand unverrückbar fest, sie mussten Suman befreien, egal wie.

»Ich sage es nur ungern, aber ich befürchte, euren Freund auf offener See befreien zu können, erscheint mir eher unwahrscheinlich. Petronius Männer bewachen den Pier. Kommt ihr auch nur in die Nähe, ist euer Freund tot. Doch es kommt noch schlimmer. Meine Quellen melden, dass drei weitere Schnellboote zur Verstärkung aus Tharbad die Küste hoch kommen, um sich mit eurem Boot zu treffen.«

Gilfea wusste, was dies bedeutete, zurück zu Plan A und Suman in Tharbad befreien. Womit man wieder bei dem Grund angelangt war, warum man Plan A fallen gelassen hatte. Wie sollte man mit drei Drachen unbemerkt nach Tharbad kommen?

»Palle, du weißt, wie wir hier hergekommen sind?«, Gilfea entschied Palle etwas mehr zu vertrauen. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Gildofal und Gilfea konnte jede Hilfe gebrauchen, die sich ihnen bot.

»Lars erwähnte etwas von ›reptilen Freunden von erstaunlicher Größe‹«, Palle grinste breit, »Hab ich eigentlich schon von meinem Sohn Anger erzählt? Nein? Es wird euch interessieren, dass er die Bucht von Erzsee wie seine Jackentasche kennt. Mit seinem Boot besucht er gelegentlich die großen Transportschiffe, die hier die Küste entlang kommen. Mit manchen Besatzungen ist er, so wie ich auch, recht eng befreundet. «

Gilfea wurde hellhörig. Gildofals eh schon spitze Ohren wurde noch etwas spitzer. »Erzählt mir noch etwas mehr von eurem Sohn…«, forderte Gilfea den Kaufmann auf.

»Ich glaube mich zu erinnern, dass mein Sohn erwähnte, dass sich ein recht großes Schiff mit geräumigem Laderaum auf einem Kurs nach Tharbad befindet und in den nächsten Stunden die Gewässer vor Erzsee kreuzt. Der Kapitän ist ein netter Mann mit einem guten Namen, Gustavson, mein Sohn kennt ihn und kennt auch sein Schiff. Er würde es gerne wieder einmal besuchen, nur… Das Boot liegt am Pier und Petronius war sehr deutlich, was den Pier betrifft.«

Die beiden Drachenreiter schauten sich an und fragten sich, ob sie alles richtig verstanden hatten. Ihr fragender Blick ließ Palle erst grinsen und dann eine absolute Unschuldsmine aufsetzten: »Tja, wenn man in der Lage wäre, fliegen zu können…«

Sie hatten Palle richtig verstanden. Gildofal ergriff das Wort: »Anger würde eine Weile unterwegs sein.«

»Ach, so eine Seefahrt schadet ihm nicht«, grinste Palle, »Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass sich mein Sohn recht gut im Freihafen von Tharbad auskennt? Nicht? Schade…«

Palle wurde ernst: »Ganz im Vertrauen, ihr braucht Anger. Wenn ich das richtig sehe, dann war keiner von euch beiden jemals in Tharbad. Ich will eure Fähigkeiten gar nicht in Frage stellen, aber Anger könnte bei eurer Aufgabe eine echte Hilfe sein. Er kennt sich dort aus, weiß, wo man Informationen erhält, wo nicht und wo die Informationsbeschaffung gefährlich sein könnte. Das Schiff, von dem ich sprach, ist groß genug, dass man selbst Drachen darin verstecken kann. Es steuert direkt den Freihafen von Tharbad an. Tharbad ist durch und durch korrupt. Bisher hat immer noch die Höhe des Bestechungsgelds darüber bestimmt, wer im Barad Baul sitzt und wer nicht. Wenn ihr euren Freund befreien wollt, solltet ihr weniger in militärischen sondern in wirtschaftlichen Dimensionen denken.«

»Scheint wohl die einzige Chance zu sein, Suman zurück zu gewinnen«, meinte Gildofal und schaute fragend zu Gilfea. Der nickte: »Es sieht wirklich so aus, als wenn wir Suman erst in Tharbad befreien können. Wenn überhaupt. Wann müssen wir aufbrechen?«

»Sofort!«


Sofort bedeutete tatsächlich sofort. Palle erhob sich und führte die beiden Drachenreiter aus dem Büro zurück in das Erdgeschoss. Anger, ein Junge von etwa Mitte zwanzig, schaute hinter dem großen Verkaufstresen des Ladens hervor, als die drei Männer dir Treppe vom Obergeschoss herunter kamen. Ein Blick zu seinem Vater reichte aus, dass Anger nach unten griff und einen Rucksack zu Tage beförderte, den er auch sofort schulterte.

Die ganze Sache schien geplant zu sein, was Gildofal veranlasste, das Wort zu ergreifen. Das heißt, er wollte etwas bemerken, wurde aber von Palle unterbrochen: »Sehr gut Anger, wie ich sehe, hast du die Sachen der Herren schon zusammengepackt. Das macht dann 15 Silber- und 10 Bronzemünzen.«

Erst jetzt entdeckte Gildofal eine weitere Person, die sich viel zu bemüht als Kunde verhielt, um wirklich einer zu sein. Gildofal öffnete seine Geldbörse, ging zur Kasse und bezahlte.

»Ob uns Ihr Mitarbeiter die Sachen bis zu unserem Lager bringen könnte?«, fragte Gilfea höflich.

»Selbstverständlich!«, jubelte Palle ganz Kaufmann, »Anger, wärst du bitte so nett und begleitest die Herren?«

»Ja Pappa!«, meinte Anger und setzt sich in Bewegung Richtung Ausgang. Gilfea und Gildofal verabschiedeten sich und folgten. Es benötigte keines großen Agentenwissens, um zu entdecken, das Palles Kaufhaus von etlichen Personen überwacht wurde. Doch schien sich niemand für Gilfea und Gildofal zu interessieren, die mit gemütlicher Schlendergeschwindigkeit mit Anger im Schlepptau zum Ortsausgang eilten.

Ein fahler Halbmond erleuchtete den Weg zurück zu den Drachen. Wie es schien, wurde man nicht verfolgt, was Gilfea verwunderte. Anger schien Gilfeas Gedanken zu erraten. Eineinhalb Meilen vom Stadtrand entfernt, begann er das erste mal, seit dem sie den Laden seines Vaters verlassen hatten, ein Wort zu sprechen: »Ihr seid sehr jung! Kein Wunder, dass die Goldorpenner euch nicht ernst genommen haben.«

Ein Effekt Drachenreiter zu sein, bestand darin, dass man das Gefühl für sein eigenes Alter verlor. Gilfea war rein körperlich im gleichen Alter wie Anger. Allerdings fühlte er sich nicht so. Es war schwer zu beschreiben, als Drachenreiter fühlte er sich gleichzeitig jung, uralt und zeitlos. Je nachdem, auf welchen Aspekt seines komplexen Lebens er hörte, also, ob er sich mehr als Mensch, Drache oder Kombination davon verstand.

»Wir sind so alt wie du«, bemerkte Gildofal, um Anger das fast unmögliche Schätzen seines Elbenalters zu ersparen, »Du willst uns wirklich helfen unseren Freund zu finden?«

»Klar!«, kam es wie aus der Pistole geschossen. Anger schien ein flinkes, waches Kerlchen zu sein, »Wenn auch nur ein Teil von dem stimmt, was man über euch erzählt…«

Anger brach mitten im Satz ab. Wie aus dem Nichts hatte er plötzlich ein langes Messer in der Hand und sprang schützend vor Gilfea und Gildofal. Ein großer Wolf kam auf die Gruppe zugerannt: »Bleibt zurück! Das erledige ich.«

Über soviel Mut musste Gilfea einfach schmunzeln. Der kleine war tapfer, wenn auch im falschen Moment: »Anger, steck dein Messer weg. Schiefergrau gehört zu uns!«

Schiefergrau kam angerannt, bremste in sicherer Entfernung ab und ging langsam zu Gilfea, der sich hinhockte und seinem treuen Freund das Fell kraulte: »Und alles in Ordnung?«

»Alles in Ordnung, niemand hat uns entdeckt. Ich habe die ganze Zeit patrouilliert«, bellte Schiefergrau, was aber nur Gilfea und Gildofal, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, verstehen konnten.

»Guter Junge!«

»Ihr sprecht mit dem Wolf?«, fragte Anger, »Und ihr könnt ihn verstehen?«

»Ja!«, meinte Gilfea, »Er heißt übrigens Schiefergrau.«

Gildofal schmunzelte in sich hinein. Ob es Anger wohl nervös machen würde, wenn er sich ebenfalls in einen Wolf verwandelte? Es war zwar nur Halbmond, doch das Mondlicht als solches weckte in Gildofal das Verlangen sich zu verwandeln.

Zu viert wanderten sie weiter. Schiefergrau lief ständig hin und her, schnüffelte in der Luft und spähte in die Weite. Doch niemand verfolgte sie. Das hätte seine Nase sofort bemerkt. Nach einer weiteren halben Meile erreichten sie die drei Drachen. Mithval, Eargilin und Tingalen hatten es sich auf dem Strandsand gemütlich gemacht. Genaugenommen hatten sie den halben Strand umgegraben und Sandburgen gebaut.

»Phantastisch!«, war das einzige Wort, das Anger herausbrachte, als er die drei Echsen sah. Als sich dann auch noch Mithval zu voller Größe erhob und seine Flügel ausbreitete, wäre der junge Neovikinger fast auf seinen Hintern gefallen. Soweit hatte er sich zurück gebeugt, um den Mithrildrachen in seiner ganzen Dimension zu sehen.

»Wen habt ihr uns denn da mitgebracht?«, fragte Tingalen und gähnte.

»Die sprechen!«, rief Anger und reagierte so, wie es offenbar jeder tat, der einen Drachen das erste mal von Angesicht zu Angesicht sah.

»Sicher kann ich sprechen!«, frotzelte Tingalen, »Seh ich etwas wie ein Dorsch oder Karpfen aus?«

»Nicht wirklich, nein!«, frotzelte Anger zurück, »Die Schnauze hat mehr was von einer Kröte…«

Tingalen kicherte innerlich. Der junge Neovikinger gefiel ihr. Mit einem Satz war sie auf ihren Beinen. Sie reckte sich und schob ihren Kopf auf wenige Zentimeter an Anger heran. »Buh!«, machte die Drachendame und ließ zwei kleine Feuerbällchen aus ihren Nüstern entweichen.

»Dass euer Drachen Sodbrennen hat, hättet ihr mir sagen müssen. Ich hätte Magentabletten mitnehmen können«, meinte Anger trocken.

»Ich glaube, in Anger hast du einen ebenbürtigen Gegner gefunden!«, meinte Gilfea, während er Schiefergrau sicher auf Mithval verstaute, »Lasst uns aufbrechen. Anger, du wirst auf Tingalen reiten und uns den Weg zeigen. Wir folgen dir.«

»Was?«, kreischte Anger erschrocken, »Ich soll auf einem Drachen reiten? Allein?«

»Sicher!«, entgegnete Gildofal, »Was hast du denn gedacht, wie wir das Schiff finden sollen. Tingalen mag dich. Sie wird dich sicher auf ihrem Rücken tragen und dich nicht fallen lassen.«

»Komm Kleiner, kletter auf mich rauf«, tönte Tingalen in Angers Kopf und hockte sich so hin, dass Anger über die Flügel zum Sattel emporklettern konnte.

»Ähm, und wie soll ich dich steuern?«, Anger sah sich auf dem Sattel um. Es gab nur ein Seil zum festhalten, »Ich seh keine Zügel. Soll ich dir die Richtung zurufen.«

»Zügel?«, rief Tingalen mit gespielter Empörung, »Junge, du sitzt auf einem Drachen. Ich weiß, was du denkst und fühle, wohin du willst. Zügel, also wirklich!«

»Alle bereit?«, rief Gilfea und schaute sich um, »Na dann, los!«

Mit einem Satz, dessen Windschleppe Anger auf Tingalen spüren konnte, war Mithval in der Luft. Ihm folgten Tingalen und als Nachhut Eargilin. Anger krallte sich am Sattel fest und kreischte. Er hatte das Gefühl, jeden Moment abzustürzen und als feuchter Fleck auf dem Strand zu enden.

»Entspann dich! Ich lass dich nicht fallen. Keine Angst!«, beruhigte Tingalen, »Zeig mir lieber den Weg.«

Anger reckte sich vorsichtig und schaute sich um. Sie kreisten in einiger Höhe über dem Strand. In der Ferne waren die Lichter Erzsees zu sehen, in entgegengesetzter Richtung schob sich die Landspitze Eiswindhuk ins Meer. Damit war Anger die eigene Position klar. Wenn man die Huk als zwölf Uhr annahm, musste das Schiff auf Höhe von etwa 8 Uhr liegen. Noch bevor Anger diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, war Tingalen bereits auf den neuen Kurs eingeschwenkt.

Die Gewässer entlang der Küste galten als viel befahrene Wasserstraße. Aus der Höhe wurde Anger erst klar, wie viele Schiffe die Bucht entlang kamen. Mit bloßem Auge konnte er gut fünf Schiffe ausmachen, die teils Richtung Norden, teils Richtung Süden unterwegs waren. Tharbad lag im Süden, womit nur zwei Schiffe in Frage kamen. Zum Glück hatte man mit dem Kapitän ein spezielles Lichtsignal vereinbart, das man nur sehen konnte, sollte man das Schiff überfliegen.

Das erste Schiff entpuppte sich gleich als Treffer. Drei violette, ein grüne und zwei weiße Lampen waren auf dem Deck zu einer Kette aufgereiht. Als erstes setzte Tingalen zu Landung an. Anger zuckte nochmals zusammen, als die Echse in einen Sturzflug über ging. Gerade, als Anger schreien wollte, kam Tingalen zum Stillstand und landete sicher auf dem Achterdeck des Schiffs.

»Hallo Anger, mein Junge!«, rief ein Seebär von einem Mann.

»Hallo Onkel Gustavson. Erlaubnis an Bord zu kommen?«, fragte Anger, kletterte von Tingalen herunter und umarmte seinen Onkel.

»Erlaubnis erteilt«, lachte der Kapitän und sah, wie zwei andere Drachen sich auf dem Deck seines Schiffes niederließen.


»Onkel, darf ich dir Gildofal, Gilfea, Mithval, Tingalen, Eargilin und nicht zuletzt Schiefergrau vorstellen?«, fragte Anger und zeigte auf seine neuen Freunde.

»Sehr erfreut und willkommen an Bord!«, begrüßte Frederick Gustavson seine Passagiere freundlich, wurde dann aber ernst, »Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber da ich annehme, dass ihr unentdeckt bleiben wollt, sollten die Drachen unter Deck gehen. Die Ladeluke sollte groß genug sein.«

Die Drachen waren wenig begeistert in einem Lagerraum versteckt zu werden, sahen aber ein, dass es notwendig war. Der Verkehr in den Gewässern war so stark, dass sich die Routen der Schiffe ständig kreuzten und auf fernglasweite einander näherten.

»Euer Freund wird in etwa vier Stunden Erzsee erreichen«, begann der Kapitän mit einer improvisierten Lagebesprechung direkt im Lagerraum, »Das Nachtanken kostet viel Zeit und zehrt den Vorteil eines Schnellbootes schnell auf. Nach Erzsee werden sie mindestens noch einmal bunkern müssen. Ich glaube nicht, dass die Jungs aus Goldor Tharbad vor uns erreichen werden.«

»Das klingt gut…«, meinte Gilfea.

»Wie man es nimmt«, gab Gustavson zu bedenken, »Die werden sicherlich nicht den Freihafen anlaufen. Im schlimmsten Fall, wovon ich ausgehe, werden sie versuchen, direkt am Pier des Barad Bauls anzulegen. Wenn ihr etwas vorbereiten wollt, bleibt euch wenig Zeit.«

»Und was, wenn wir es nicht schaffen?«, fragte Gildofal, obwohl er die Antwort kannte.

»Werdet ihr euren Freund niemals wiedersehen.«

Seitenwechsel

»Und es wird erscheinen ein Licht am Himmel der verfluchten Stadt«

2. Prophezeihung der blinden Frau vom Berg.

»Was macht unser Gast?«

»Versucht unsere beiden Echsen davon zu überzeugen, ihn nicht als Zwischenmahlzeit zu verspeisen.«

Ole Olson und Erogal D’Santo grinsten hintersinnig. Jungattentäter Sebastian, Vikar der unifizierten Technokratie, hatte ziemlich nervös reagiert, als er sich unerwartet zweier Drachen gegenüber sah, die zudem noch den ausdrücklichen Befehl erhielten, ihn auf keinen Fall laufen zu lassen. Notfalls sollten sie ihn einfach als Snack betrachten. Dass Ole Olson die letzte Anweisung alles andere als ernst meinte, konnte der Jungpriester natürlich nicht wissen und versuchte seitdem die beiden Drachen davon zu überzeugen, dass er alles andere als eine wohlschmeckende Mahlzeit sei.

»Zacharias von Rochsinasul…«, ließ Erogal den Namen des Auftraggebers über seine Lippen rollen.

»Du kennst ihn?«, fragte Ole.

»Oh ja!«, antwortete Erogal gedankenverloren, die Augen auf einen imaginären Punkt in seinen Erinnerungen gerichtet, »Einer unserer ernsthaftesten Gegenspieler. Vermutlich einer der mächtigsten Männer Goldors. Manche meinen, in den nördlichen Territorien des Königreiches wäre er mächtiger als der König. Es überrascht, dass er mich töten will. Septimus Na’Tohl unser Gegenstück zu Zacharias hält ihn für einen vernünftigen Mann, der sein Geschäft versteht. Mordaufträge passen nicht zu ihm. Es sei denn, es ist etwas besonderes vorgefallen.«

»Die Gilde hat dich verstoßen und will dich töten«, schlug Ole vor.

»Das könnte natürlich eine Möglichkeit sein. Ich kenne die meisten Brüder, womit sie im Nachteil wären. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gilde sich an Zacharias wendet, um mich aus dem Weg zu schaffen.«

»Wie dem auch sei. Was machen wir mit unserem Gast? Wir können ihn schlecht laufen lassen. Andererseits verspüre ich kein Bedürfnis ihn umzulegen«, Ole zuckte verlegen mit den Schultern. Ein diebisches Grinsen schlich sich auf seine Lippen, »Es wäre wirklich schade um ihn…«

Erogal grinste zurück: »Möchtest du dich persönlich um seine Bewachung kümmern?«

»Was du wieder denkst…«

»Solange wir hier sind, werden wir ihn nicht laufen lassen können«, Erogal überlegte, »Es ist ja nichts passiert. Ich lebe schließlich noch. Da ich uns prinzipiell für die Guten halte, verbietet es sich von selbst, ihn für seinen dilettantischen Versuch mich zu töten ins Gras beißen zu lassen.«

»Gut! Und jetzt lass uns was Essen! Ich bin am verhungern«, wie auf Bestellung knurrte Ole Olsons Bauch und verlieh dem Wunsch nach Nahrungsaufnahme zusätzlichen Nachdruck.


»Hey, Sebastian, hast du auch Hunger?«, rief Ole Olson dem Jungattentäter zu, der immer noch ängstlich zwischen Sulomile und Sulogorn hockte, »Komm her und setz dich zu uns.«

Sebastian gehorchte und schien sogar froh zu sein, von den Echsen weg zu kommen. Wieselflink rannte er in den Wohnbereich des Lagerhauses und fand sich schließlich an einem gut gedeckten Tisch wieder. Ein Grundmotto Erogals lautete, »Wenn du schon gegen das Böse in der Welt kämpfst, dann nicht mit leerem Magen!«, welches er gleichzeitig als Ausrede dafür benutzte der Kunst des Kochens zu frönen. So gesehen war Erogal nicht nur ein Meister der Gilde, sondern auch ein Meister der Küche.

»Was… Was habt ihr mit mir…«, stammelte Sebastian, dem ein Konzept für seine momentane Situation fehlte. Seine bisherige Planung bestand darin Erogal aufzulauern, umzulegen und schließlich diskret und unauffällig in den Schoß der Kirche zurück zu kehren. In Gefangenschaft zu geraten, stand nicht auf dem Plan.

»…mit dir vor?«, vervollständigte Ole Olson den Satz, während er sich eine ordentliche Portion des vorzüglichen Essens auf seinen Teller schaufelte, »Nichts, jedenfalls im Moment nicht. Iss erst mal, dann werden wir uns ein wenig miteinander unterhalten.«

Irgendwie war Sebastian die ganz Situation nicht ganz geheuer. Soweit er wusste, gehörte es nicht zu den üblichen Reaktionen eines Attentatsziels, seinen, wenn auch gescheiterten, Attentäter zum Essen einzuladen. Sebastian fühlte, wie ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, als ihm plötzlich klar wurde, dass seine momentane Situation alles andere als optimal zu nennen war. Er hatte dass Attentat verbockt und wurde enttarnt. Ein Attentat zu verbocken war an sich kein Problem, solange es niemand bemerkte, sich schnappen zu lassen hingegen schon. Entsprechend unerfreulich sahen die Konsequenzen aus. Ein Agent des Geheimdienstes Zacharias von Rochsinasul war verpflichtet sich nötigenfalls zu opfern, statt in die Hände des Feindes zu geraten. Nun neigt der Mensch dazu, am Leben zu hängen und sich ungerne selbst zu entleiben, soweit man einmal von den Fanatikern der fundamentalistischen Technotronikern absah, die ihre Erfüllung darin verstanden, sich und ihre Körper zu höchst komplexen Bomben umzubauen. Dies wussten natürlich auch die Führungsoffiziere der Geheimdienste, wie Zacharias von Rochsinasul, und schufen eine kleine Motivationshilfe. Jeder enttarnte Agent, der sich nicht sofort selbst aus dem Verkehr zog, durfte sich auf eine geheime Anklage vor einem Militärgericht des Königs wegen Hochverrats freuen. In Goldor wurde Hochverrat noch nach guter alter Sitte bestraft, grausam und erbarmungslos durch langsames Pfählen. Dies war man dem Volk, das nach kurzweiliger Unterhaltung lechzte, einfach schuldig und nichts war unterhaltsamer, als eine zünftige Hinrichtung nach alter Sitte, ein großer Spaß für jung und alt.

Nach kurzer Abwägung der Alternativen entschied Jungattentäter Sebastian, dass ein schneller Gifttot einem mehrtägigen, qualvollen Dahinscheiden vorzuziehen wäre. Doch der Griff in seine Kutte ging ins Leere. Das winzig kleine Giftdöschen, dass jeder Attentäter der Kirche bei sich trug, war verschwunden.

»Suchst du dies?«, hörte Sebastian eine Stimme fragen. Ole hielt das vermisste Giftdöschen Sebastian vor die Nase, »Ich glaube, du bist noch zu jung für solch einen Abgang. Iss jetzt!«

Der erfolglose Jungattentäter stellte fest, dass er nicht einmal einen kultivierten Selbstmord auf die Reihe brachte und erstach aus lauter Frustration einen Klumpen Rindfleisch, der auf seinem Teller lag. Der Klumpe zeigte keine Gegenwehr und ließ sich ohne weitere Hindernisse in mundgerechte Stücke zerteilen. Es war einzig und allein der Kochkunst Erogals zu verdanken, dass sich unmittelbar nach Verzehr des ersten Stück Fleischs Sebastians Stimmung dramatisch verbesserte. Wer so gut kocht, konnte eigentlich kein böser Mann sein, obwohl ihm dies seine Auftraggeber mehrfach nachdrücklich versichert hatten.

»Euch ist schon klar, dass ich so tot wie dieser göttlich schmeckende Rinderbraten bin?«, fragte Sebastian, der keinen Sinn mehr darin sah, mit irgendetwas hinter dem Berg zu halten.

»Willkommen im Club!«, Erogal war von seiner sarkastischen Stimmung selbst überrascht, darum setzte er etwas weniger ätzend hinzu, »Doch im Moment, fühle ich mich quicklebendig. Lass uns lieber überlegen, wie wir unseren augenblicklichen Zustand erhalten können.«

»Sprecht bitte nur für euch selbst. Mich hat bisher niemand auf der Abschussliste!«, grinste Ole breit und spülte ein Stück des hervorragenden Menüs mit einem Schluck des ebenfalls hervorragenden Weines herunter.

»Ihr versteht nicht!«, jammerte Sebastian, »Ich habe versagt! Die werden mich wegen Hochverrats dran kriegen. Ihr habt keine Ahnung, was die mit einem anstellen!«

»Oh, glaub mir, wir haben«, meinte Ole und schob sich ein Stück Mohrrübe in den Mund, »Wir wissen ganz genau, welch archaischer Geist die Goldorianische Rechtsprechung durchweht. Als Meuchelmörder dreht sich mir der Magen um. Ein wenig Respekt vor unseren Aufträgen kann doch nicht zuviel verlangt sein, oder?«

»Wer seid ihr?«, fragte Sebastian schüchtern, während er gedankenverloren in seinem Salat herumstocherte.

»Du weißt nicht, wie deine Ziele heißen?«

»Er war nicht mein Ziel. Ihr wart mein Ziel. Ich sollte nur Erogal D’Santo umbringen.«

»Dann muss ich mich wohl vorstellen? Ole Olson, Meuchelmörder und Transportunternehmer, zu euren Diensten!«

»Ihr seid Ole Olson?«, quiekte Möchtegernmeuchelmörder Sebastian erschrocken auf, wurde rot und fuchtelte dabei so mit seinen Händen rum, dass er fast sein Weinglas umschmiss.

»Ähm, ja, ich denke schon…« Ole Olson war von Sebastians Reaktion etwas überrascht.

»Ihr seid eine Legende! Eure Arbeiten sind Pflichtlektüre für jeden Attentäter der Kirche. Wie du den klandistanischen Obristen, Gonzales de Silva beseitigt hast, ist Legende! Er soll als Leiche so glücklich ausgesehen haben. Wie hast du das gemacht?«, ein paar Erbsen flogen von Sebastians Gabel quer über den Tisch.

Ein diabolisches Lächeln brach an Oles Mundwinkel aus. Die Beseitigung Gonzales de Silvas war nicht nur ein überaus einträglicher Auftrag gewesen, sondern ebnete Klandistanien auch den Weg in die Demokratie. De Silva war bis dato Kopf einer brutalen Militärjunta, die sein Volk nach allen Regeln der Diktaturkunst unterdrückte. Niemand, außer Ole, wusste genau, wie de Silva gestorben war. Auffällig war nur, dass der verhasste Despot mit einem ausgesprochen glücklichen Lächeln, aber vergiftet, in seinem Bett aufgefunden wurde.

»Das möchtest du nicht wissen…«, meinte Ole den Sebastians Begeisterung amüsierte, »Ich will es mal so ausdrücken, de Silva verließ sehr befriedigt diese Welt.«

Diese Bemerkung veranlasste Erogal D’Santo sich in die Unterhaltung einzumischen: »De Silva, dass warst du?«

»Oh, doch, ja, er war eine meiner Arbeiten.«

Oles versonnenes Lächeln weckte Erogals Neugierde, die sich fröhlich zu Sebastians bereits hellwacher Neugierde gesellte.

»Also, die Ermordung de Silvas ist eines der größten Geheimnisse unserer Zeit. Sei ein lieber Drachenreiter und verrat es einem deiner Drachenreiterbrüder.«

»Oh, ja, ich wusste, dass du irgendwann diese Karte ausspielst und an meine Ehre als Drachenreiter appellierst«, Ole verdrehte gespielt genervt die Augen, »Gut, wenn ihr es unbedingt wissen müsst. Ich habe mit ihm geschlafen.«

»Was?«, kam es gleichzeitig von Erogal und Sebastian, »Du hast was?«

»Ich hab’ ihn gefickt!«, Ole grinste breit, »Er mochte ein Despot gewesen sein, doch er sah auch verdammt gut aus.«

»Stimmt!«, entfleuchte Sebastians Mund schneller, als es sein Hirn verhindern konnte. Zum Ausgleich lief der junge Möchtegernattentäter krebsrot an.

»Als ich mich auf de Silva vorbereitete, erfuhr ich, dass er auf junge Männer stand und ich wohl in sein Beuteraster fiel. Nut gut, er selbst war auch erst Anfang dreißig und sah ziemlich gut aus. Die Sache war eigentlich ganz einfach. Ich arrangierte, dass er mir zufällig über den Weg lief und man sich näher kam. Der Rest ging ganz von selbst. Wir trafen uns dann etwa drei Wochen mehr oder weniger regelmäßig. Bis ich schließlich das schwarze Band bei ihm deponierte. Von da an wusste er, dass ein Meuchelmörder einen Auftrag auf seinen Kopf angenommen hat. Irgendwie sind alle Diktatoren gleich. Statt jetzt auf seine Sicherheit zu achten und vorsichtiger zu werden, lachte er nur und meinte, es würde schlimmeres geben, als von einem Meuchelmörder erlegt zu werden. Eigentlich hätte ich in jenem Moment stutzig werden sollen, doch ich war noch ziemlich jung, gerade einmal ein Jahr älter, als unser Sebastian hier und de Silva mein erster richtig großer Auftrag. Wann hatte man schon mal Gelegenheit einen Diktator erlegen zu können? Wie auch immer, wir stiegen miteinander ins Bett und trieben es miteinander. Ich fickte ihn nach allen Regeln der Kunst durch, bis er glücklich und zufrieden in meinen Armen lag. Was er nicht wusste, war, dass ich das Gleitgel vergiftet hatte. Ich steckte noch tief in ihm drin, als er langsam müde wurde und dann für immer einschlief.«

Nach Oles Erzählung herrschte eine Weile Schweigen im Raum. Jungattentäter Sebastian musterte Ole mit einer Mischung aus Verehrung, Furcht und Faszination. Erogal hingegen schüttelte gedankenverloren seinen Kopf. Er war sich plötzlich seiner eigenen Überzeugungen nicht mehr sicher. Obwohl er Ole Olson respektierte und in ihm einen guten Freund sah, war er sich nicht sicher, ob er dessen spezielle Art des Broterwerbs so ohne weiteres gut heißen konnte. Andererseits war Gonzales de Silva eine echte Pestbeule gewesen. Auch wenn er den Meuchelmord als Methode der Politik eigentlich ablehnte, weinte er de Silva keine Träne nach. Er war sich sogar sicher, dass diejenigen, die unter de Silvas Diktatur gelitten hatten, Oles Mordmethode als viel zu nett empfinden würden.

Ole zuckte verlegen mit den Schultern: »Was soll ich sagen, es war ein Job und ihr habt sehr gut bezahlt.«

»Wie bitte?«, sein Essen erschien Erogal plötzlich nebensächlich, »Der Auftrag gegen de Silva kam von der Gilde?«

»Aber ja. Von einem Gilderepräsentanten in Blaufurt. Wieso, was ist daran so überraschend?«

Erogal sah sehr ernst und sehr nachdenklich aus: »Nichts gegen deinen Berufsstand, aber wir beauftragen keine Meuchelmörder. Das ist gegen unsere Prinzipien. Wenn also ein Mitglied der Gilde, vielleicht sogar ein Meister, euch beauftragt hat, dann sind unsere Probleme noch viel größer, als ich bisher befürchtet habe. Aber Blaufurt… Das passt. Der perfekte Ort, wenn man Dinge ohne viel Aufmerksamkeit durchziehen will.«

Während Erogal und Ole darüber diskutierten, wie es angehen konnte, dass jemand aus der Gilde einen Meuchelmörder beauftragen konnte, wurde Sebastian langsam nervös: »Was ist jetzt mir mir?«

»Was soll mit dir sein?«, fragte Erogal. Man merkte, dass er mental eigentlich noch bei seiner Gilde war.

»Hallo?«, meite Sebastian, »Was habt ihr jetzt mit mir vor? Bin ich euer Gefangener? Oder wollt ihr mich an eure Drachen verfüttern? Ich mein’, zurück zur Kirche kann ich wohl kaum.«

»Stimmt, der Kleine hat recht!«, meinte Erogal und spießte ein Stück Kartoffel auf, »Ole, vielleicht solltest du ihn doch entsorgen?«

»Tja, du hast wohl recht«, entgegnete Ole Olson mit mächtig viel Bedauern in seiner Stimme, »Tja, sorry, Kleiner, es ist nichts persönliches.«

»Darf ich erst noch aufessen?«

Eine Weile schaute man sich gegenseitig betreten an, dann brach ein allgemeines Schmunzeln aus. Ole grinste sowas von breit, dass es Erogal und Sebastian zum Kichern brachte.

»Keine Angst, wie werden dir nichts antun«, beruhigte Erogal, »Wir werden dich auch nicht einfach fort schicken. Du scheinst ein netter Kerl zu sein, der eine unglückliche Berufswahl traf. Ich zweifle keine Sekunde daran, dass dich deine Leute anklagen, verurteilen und hinrichten würden. Tod durch langsame Pfählung… Barbarischer geht es wohl kaum noch. Welcher kranke Geist denkt sich sowas aus? Wie auch immer, hier ist mein Vorschlag. Du kannst bei uns bleiben und uns helfen. Voraussetzung wäre, dass du ehrlich zu uns bist, das heißt, dass du nicht mehr versuchst, deinen Auftrag doch noch durchzuziehen. In dem Fall würden weder Ole noch ich zögern, dich ohne weitere Diskussion kalt zu machen. Was hältst du davon, die Seiten zu wechseln?«

Sebastian dachte nach: »Ähm, welche Seite wäre das? Für die Gilde sprichst du wohl kaum, oder?«

»Das Kerlchen ist schlauer, als er aussieht«, grinste Ole Olson breit.

»Hey, wieso nennt ihr mich immer Kerlchen. Ich bin 22 Jahre alt. Du bist bestenfalls 26, also gerade mal 4 Jahre älter«, rief Sebastian auf eine niedlich entrüstete Art.

»Glaub mir, Ole fühlt sich inzwischen älter, viel älter«, war Erogals geheimnisvolle Antwort, »Aber du hast Recht. Ich spreche nicht für die Gilde, nicht mehr. Ole und ich sind Drachenreiter Daelbars. Unsere Seite ist die Seite der Drachen.«

»Die Seiten wechseln und meine Leute verraten…«, Sebastian dachte nach. Der Mordauftrag gegen Erogal entwickelte sich ganz anders, als er es geplant hatte. Auf der anderen Seite, hatte man ihn nicht ebenfalls verraten? Niemand hatte ihm gesagt, dass Erogal D’Santo ein Gildemeister war, geschweige denn über einen hungrig aussehenden Drachen verfügte.

»Vielleicht kann ich dir die Entscheidung etwas leichter machen«, Ole Olson setzte eine verschwörerische Miene auf, beugte sich zu Sebastian vor und flüsterte ihm ins Ohr: »In Daelbar musst du nicht mit der Angst leben, dass man deine geheime Leidenschaft entdecken könnte. Ganz im Gegenteil…«

Sebastian reagierte, wie Ole vermutet hatte, er lief knall rot an, schaute dann aber Ole verträumt an. In diesem Moment erstrahlte plötzlich der Himmel außerhalb der Lagerhalle in einem wahrlich magischen Licht. Ole und Erogal fühlten, dass die Erscheinung bedeutend war. Ole rief sofort »Zum Dach!« und hechtete los. Erogal und Sebastian folgten. Sie liefen die Treppen innerhalb der Lagerhalle empor und gelangten über den Notausgang innerhalb einer Minute aufs Dach.

»Es kommt aus dem Werftenteil des Hafens«, meinte Sebastian, der sich in Tharbad gut auskannte, »Wenn ich mich nicht täusche, müsste das die alte Königswerft sein. Dort arbeitet seit Jahrzehnten niemand mehr. Was ist das?«

»Das Licht stammt von einem Drachen während eines Wachstumsschubs«, meinte Ole, der von seinem Wissen überrascht war. Seele eines Drachens zu sein, schien unerwartete Seiteneffekte zu besitzen.

»Es sind Segato und Ivoricalad!«, meinte Erogal D’Santo, ebenfalls von sich selbst überrascht. Andächtig schaute er über die nächtliche Stadt hinweg, »Ole, fühlst du das?«

»Ja!«, entgegnete Ole irritiert, »Die beiden haben sich miteinander vereinigt. Wie kann das gehen? Segato ist doch ein Mensch… Soweit ich mich erinnern kann, sogar ein sehr attraktiver Junge.«

»Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass wir etwas tun müssen. Außer uns dürften noch andere die Erscheinung bemerkt habe. Die beiden sind in Gefahr!«

Blutzoll

»Zeit ist eine Illusion, eine fixe Idee, die uns sogenannte Wissenschaftler einzureden versuchen, um von ihrer Inkompetenz das magische Ganze zu begreifen abzulenken.«

Xelmachaus von Emd – Prorektor des Lehrstuhls für angewandte Magie der Hochschule für Drachenkunde zu Daelbar

»Na, mein Freund, willst du dir einen Nachschlag holen?«

Die Häuser der Heilung verströmten einen ganz anderen Charakter, als jene, die Uskav noch aus seiner Zeit als General des Königs in Goldor kannte. Jene Krankenhäuser, wie sie dort genannt wurden, schienen sich dem Prinzip der wundersamen Selbstheilung verschrieben zu haben. Anders ließ sich nicht erklären, dass so viele Patienten spontan gesundeten, sobald ein Aufenthalt in einem jener Heilhäuser zur Diskussion stand. Nun, sie gesundeten vielleicht nicht wirklich, doch versuchte jeder zumindest den Anschein zu erwecken.

Eigentlich tat man mit diesem Verhalten den Krankenhäusern Unrecht an. Die Mediziner, dass heißt, sowohl die, die eine Ausbildung an der königlich medizinischen Hochschule genossen hatten, als auch die, die wirklich etwas von Medizin verstanden, versuchten ihr Menschen-, Gnom- beziehungsweise Zwergenmöglichstes, um kranke Wesen zurück in den Zustand der Gesundheit und nicht in den der Leblosigkeit zu befördern. Leider wurden sie dabei von etwas behindert, gegen das selbst die mächtigste Medizin machtlos war, dem Pflegepersonal, welches, nach Überzeugung der Ärzte, alles daran setzte, kranke Patienten zu noch kränkeren Patienten zu machen. Interessanterweise war das Pflegepersonal der Meinung, dass der Grund für den fortwährend kranken Zustand der Patienten einzig und allein bei den Ärzten zu suchen sei. Denn wenn es etwas gab, so die Überzeugung der Pfleger, dass kranke Patienten zu noch kränkeren Patienten machte, dann die unendliche Unfähigkeit der Ärzteschaft. Es verwundert nicht, dass sich die meisten Patienten während der Visiten als störendes Beiwerk empfanden. Mit dieser Meinung waren sie nicht allein, denn dies war der einzige Punkt, in dem Pflegepersonal und Ärzte hundertprozentig überein stimmten – Patienten waren ebenso überflüssig wie lästig.

Nichts von alledem fand sich in den daelbarschen Häusern der Heilung. Uskav fand Roderick bei bester Laune in einem großen freundlichen Raum, der statt nach Desinfektionsmitteln wie eine Wiese nach einem sanften Regen roch. Elbenlichter tauchten alles in ein weiches, angenehmes Licht und setzten Roderick wunderbar in Szene. Der hockte mit entblößtem Oberkörper und fachgerecht verbundener Schulter in einem großen Bett und grinste Uskav frech an.

»Wenn noch etwas da ist«, entgegnete Uskav auf Rodericks Frage und entblößte ein seine messerscharfen Reißzähne.

»Warst du erfolgreich?«, wechselte Roderick das Thema.

Uskav antwortete nicht sofort, sondern ging auf Roderick zu, nahm dessen Kopf in seine Hände und küsste seinen Freund: »Ich bin froh, dass es dir gut geht.«

»Mir geht es gut, dank dir. Die Ärzte meinten, du hättest einen Präzisionsbiss. Du hast nichts verletzt, was in irgend einer Weise gefährlich sein konnte. Einer der Ärzte, ein Hochelb, hat die Wunde mit einer Salbe versorgt. Das Muskelfleisch wächst bereits nach. Uskav, es ist nichts geschehen. Mir geht es wirklich gut. Also, sag mir, warst du erfolgreich?«

»Ich hoffe es!«

In den nächsten Minuten schilderte Uskav Roderick, was er bei dem Orkheer erlebt und in Erfahrung gebracht hatte. Uskav sparte nichts aus und schilderte jedes Detail. Roderick war sein Freund, seine Liebe, vor der er nichts verheimlichen wollte, auch nicht, dass ihm das Enthaupten von ein paar Orks verdammt viel Spaß gemacht hatte.

»Du alte Killermaschine!«, scherzte Roderick, wobei er darauf achtete, dass Uskav den Scherz richtig verstand, »Doch wenn ich dich richtig verstehe, wirst du bald noch sehr viel mehr Spaß haben.«

Uskav seufzte, bevor er mit bitterer Stimme antwortete: »Wenn unsere Magieprofis nichts finden, werd ich noch verdammt viel Spaß haben. Mehr Spaß, als man ertragen kann. Ich…«

»Was…«, fragte Roderick leise nach, als Uskavs Stimme stockte.

Uskavs Blick wanderte zu Roderick und ließ den Neovikinger erschrecken. Uskav zeigte ein Gefühl, das er noch nie bei einem Ork, geschweige den bei einem Uruk, gesehen hatte, das er bei ihnen überhaupt nicht für möglich gehalten hätte: »Roderick, ich habe Angst! Ich habe richtige Angst!«

Statt zu antworten, erhob sich Roderick vorsichtig von seinem Krankenbett und nahm den riesigen Uruk in seine Arme.


Eine derartige Ansammlung geballter Intelligenz, sei es naturwissenschaftlicher oder magischer, hatte der große Saal der Drachenreiterschule in seiner fast tausendjährigen Geschichte noch nicht erlebt. Sämtliche Abteilungen waren vertreten, um an dieser Lagebesprechung teilzunehmen. In den letzten Stunden hatte ein Heer von Magiern, Physikern, Chemikern, Hexen, Biologen, Drachen und transdimensionalen Entitäten mit einer kleinen Probe Orkblut gekämpft. Wobei die beteiligten Drachen von Helfern begleitet wurden, die für den Fall der Fälle große Blecheimer bereit hielten. Niemand wollte gern in einen Haufen Drachenkotze treten. Wie richtig und wichtig diese Eimer waren, zeigte sich bei einer Versuchsreihe, die von Lindor durchgeführt wurde. Thonfilas schuppiger Freund versuchte die abwehrende Wirkung des Orkbluts so gut wie möglich zu ignorieren, was ihn Frühstück, Mittagessen und Abendbrot der letzten drei Tage kostete.

»Also gut, wo stehen wir?«, fragte Uskav in die Runde, nachdem sich die anfängliche Unruhe gelegt hatte.

»Wir wissen, womit wir es zu tun haben. In dem von dir beigebrachten Spezimen der Gattung orcanis vulgaris manifestieren sich hohe Dosen sowohl transetherischer, als auch submetronischer Plastoentitäten des 2. und 3. Grades. Zusammen mit einem etherischen Phaseauszug von magia draconis der 7. und Epsilon-Tau-Energieebene, kommt es zu einer retrofraktischen Komplexrefraktion der Seelenkopplung, was zu einer induzierten multiphasen…«

»Ähm…«, unterbrach Uskav den Wortschwall des referierenden Gnoms namens Blob höflich, »Lieber Blob, stell dir einfach vor, ich wäre ein dummer Uruk.«

»Ähm…«, machte Blob, lief blauviolett an, was für Gnome ein Zeichen war, dass ihm etwas sehr peinlich war (Je mehr die Farbe ins bläuliche ging, desto peinlich fühlte sich der Gnom – Blob war sehr blau.), räusperte sich, sah sich verlegen um und meinte dann: »Entschuldige Uskav, aber die letzten Stunden waren… anstrengend. Um es vereinfacht auszudrücken: Es handelt sich um eine Allergie, wie Heuschnupfen. Die Kombination von schwarzer Dämonen- und heller Drachenmagie stört die Verbindung zwischen Seele und Drache, was zu massiver Ausschüttung von Histaminen führt. Ich kann nur davon abraten, sich zu lange im Wirkbereich dieser Orks aufzuhalten. Im schlimmsten Fall droht ein anaphylaktischer Schock.«

Unter den Anwesenden brach Gemurmel aus. Blob war der mit Abstand kompetenteste Multispeziesbiologe mit Schwerpunkt transmagischer Symbiosen. Seine Arbeit über die Verbindung zwischen Drachen und ihren Seele galt als das Standardwerk und war Pflichtlektüre im Lehrgang höhere Drachenkunde IV. Niemand zweifelte seine Kompetenz an.

»Und was kann man dagegen tun? Ein Nasenspray nehmen?«, hakte Uskav nach.

»Woher soll ich das wissen?«, entgegnete Blob. Er war ein Diagnostiker, mit der Suche nach Lösung sollten sich andere beschäftigen.

»Gut«, knurrte Uskav, gleichzeitig verärgert aber auch zutiefst beeindruckt von Blobs Arbeitsgruppe, »Hat jemand eine Idee, wie wir das Problem in den Griff bekommen könnten.«

Am anderen Ende des Saals begann sich Professor Xelmachus von Emd zu räuspern: »Ähm… ja, äh… nun, wir…«

»Professor, raus mit Sprache. Wenn du eine Idee hast, dann sprich sie aus!«

»Also, Manni und ich, also, Professor Bogenhausen und ich, wir glauben zu wissen, wie man ein Gegenmittel herstellen könnte«, der gute alte Xelemachus wandte sich wie ein Aal, was nur bedeuten konnte, dass die Sache einen Haken hatte.

»Es würde mindestens eine Woche dauern. Aber das ist nicht das eigentliche Problem«, sprang Manfred von Bogenhausen seinem Freund und Kollegen bei. Die beiden Wissenschaftler pflegten wohl die seltsamste Freundschaft Daelbars. Während von Bogenhausen durch und durch Naturwissenschaftler war, lebte Xelmachus nur für die Magie, Alchemie und Hexenkunde. Doch gerade deswegen pflegten beide Familien ein innige Freundschaft.

»Ich kann mir eigentlich kein größeres Problem vorstellen, als eine Woche auf das Gegenmittel zu warten. Ich weiß ja nicht, ob euch klar ist, dass das Heer in etwa 30 Stunden an unsere Haustür klopft«, Uskav merkte, dass er dabei war, die Kontrolle über sich zu verlieren. Er musste sich zusammenreißen, sich ständig sagen, dass alle wirklich großes leisteten und mehr in Erfahrung gebracht hatten, als man hätte erwarten können, »Entschuldigt! Bitte, Freunde, entschuldigt. Ich wollte euch nicht anfahren. Ich…«

»Uskav«, unterbrach Xelmachus mit für ihn absolut untypisch sanfter Stimme den Uruk, »Das mit der Woche, das würden wir schon hinbekommen. Zeit ist eh nur eine Erfindung der Uhrmacher, wenn nicht sogar eine Fiktion. Das eigentliche Problem ist ein anderes…«, Xelemachus stockte und sah hilfesuchend zu Manfred von Bogenhausen hinüber. Der schaute nur betreten auf den Boden und schüttelte den Kopf, um schließlich leise zu verkünden: »Wir brauchen das Blut eines Drachens.«


Über den Saal senkte sich eine bedrückende Stille herab. Jeder wusste um die Konsequenzen. Drachenblut … Die wohl kostbarste Substanz der Welt. Man gewann sie nicht, in dem man einem Drachen den Flügel abband und sich eine Vene suchte. Drachenblut zu gewinnen hieß, einen Drachen töten zu müssen. Uskav fröstelte bei diesem Gedanken. Wenn er in die Augen der schlausten, weisesten und wissendsten Wesen Daelbars schaute, dann sah dort Trauer, Angst und Verzweiflung. Sollte dies wirklich das Ende Daelbars sein?

Uskav trat an ein Fenster des Saals, von dem aus man ganz Daelbar überblicken konnte. Die Morgendämmerung hatte bereits eingesetzt. Die Lichter der Nacht, die die Stadt erhellten und die Dunkelheit vertrieben, erlöschen eines nach dem anderen. Die oberste Kante der Sonnenscheibe erschien am östlichem Horizont und schickte ihre tastenden Stahlen aus. Daelbar wirkte so friedlich. Nein, es wirkte nicht nur so, sagte sich Uskav. Daelbar war der Frieden. Hier in dieser Stadt hatte er etwas gefunden, von dem er niemals zu träumen gewagt hätte – Liebe.

»Nein!«, rief Uskav laut, »Nein, so darf es nicht enden!«

»Und so wird es auch nicht enden!«, rief eine Stimme aus Richtung Tür.

»Turondur!«, alle Köpfe drehten sich in Richtung der Stimme, »Du bist zurück!«

Aristokratisch, hochelbisch und gemessenen Schrittes trat Turondur in den Saal, hielt auf Uskav zu und umarmte ihn.

»Wie ich sehe, kann man dich keine fünf Minuten alleine lassen, ohne dass du einen Krieg beginnst«, lachte Turondur fröhlich.

Es war nur ein Scherz, den Uskav auch verstand, doch schien ihm, als wenn Turondur damit etwas überspielen wollte. Der Elb schien der gleiche arrogante, hochnäsige Aristrokratenschnösel zu sein, der er immer war. Doch trotzdem, Uskavs Uruksinne nahmen eine dunkle, traurige Unterschwingung in Turondurs Gestik war.

»Hier!«, mit diesem Wort warf Turondur Xelmachus einen Datenkristall zu, »Mit den besten Grüßen von Feressea. Auf dem Datenkristall findet ihr die kompletten Konstruktionspläne der Hybridorks. Schaut sie euch an, während ich Uskav für einen Moment entführe.«

Uskav folgte Turondur vor die Tür, ließ sich auf den Hof der Drachenreiterschule führen, wo sie von Toldin erwartet wurden.

»Ich habe gehört, du hast einen Hybridork entführt und hergebracht. Was habt ihr rausbekommen?«

»Blob meint, die Drachen reagieren in gewisser Weise allergisch auf die Orks. Es ist theoretisch möglich ein Gegenmittel zu entwickeln, doch das braucht Zeit und… das Blut eines Drachens.«

»Ja, ich verstehe, was du meinst«, antwortete Turondur nachdenklich, »Es deckt sich mit den Informationen, die ich dem Datenkristall entnommen habe.«

»Das ist es also? Das Ende?«, Uskav schaute Turondur traurig an, »Turondur, ich habe die Armee gesehen. Es sind hunderttausende. Wenn die Drachen nicht kämpfen können ist Dealbar verloren. Es gibt nichts, was diese Monster aufhalten könnte. Das darf nicht geschehen! Dieser Ort, Daelbar, ist zu meinem Heim geworden. Ich habe seinen Bewohnern, Thonfilas, Roderick, Gildofal, Gilfea, dir, ich habe euch so viel zu verdanken. Ich würde alles tun, um diesen Ort zu retten!«

»Alles?«, fragte Turondur, auf seinen Augen lag ein unheimlicher, dunkler Glanz, als wenn sie etwas anderes, eine andere, ferne Welt schauen würden.

»Alles!«, antwortete Uskav fest, »So lange auch nur ein Funken Leben in diesem Körper steckt, werde ich kämpfen und Daelbar verteidigen.«

»Das meinte ich nicht!«, ein Windstoß erfasste Turondurs Gewänder, ein Sonnenstrahl verfing sich in ihrem Stoff und ließen Turondurs Kleidung wie Flammen erscheinen, die an ihm hochzüngelten. Toldins silberner Panzer funkelte im Licht des Morgens. Turondur trat an die Brüstung des Plateaus heran auf dem die Drachenreiterschule errichtet war und ließ seinen Blick in eine unbestimmte Ferne schweifen, als er leise, kaum hörbar fragte: »Du weißt, was ich meine.«

Uskav zuckte, wie vom Schlag getroffen, zusammen, starrte Turondur sekundenlang an und erblich, als er begriff, was Turondur von ihm verlangte: »Nein, Turondur, nein! Das kannst du nicht von mir verlangen! Das kann ich nicht tun! Bitte, «, Uskav flehte Turondur an, »Bitte, verlang dies nicht von mir!«

»Uskav, du bist der einzige, der es tun könnte. Es gibt niemand anderen, der dazu in der Lage wäre.«

Turondur dreht zu Uskav um, mit festen, entschlossenem Blick schaute er Uskav in die Augen, »Es ist deine Bestimmung. Ich sehe jetzt klar. Es ist kein Zufall, dass du zu uns gekommen bist. Kein anderer Drachenreiter könnte tun, wozu du, und nur du, in der Lage bist!«

Uskavs Augen füllten sich mit Tränen: »Nein, bitte, Turondur, bitte nicht!«

»Du weißt, dass es keinen anderen Weg gibt. Ich bin bereit mein Opfer für Daelbar zu bringen. Mein Teil dieser Geschichte hat sich erfüllt. Die einzige Chance Daelbar und seine Bewohner zu retten besteht darin, ein Gegenmittel zu brauen. Wir brauchen das Blut eines Drachens. Wir, Toldin und ich, sind bereit unser Blut zu geben, denn auch wir würden alles für Daelbar tun. Unser Opfer sichert euch die Chance zu leben.«

»Nein!«, Uskav zitterte am ganzen Körper, Tränen flossen ungehemmt seine Wangen herunter, seine Beine versagten Uskav vor seelischem Schmerz den Dienst, so dass der Uruk vor Turondur auf die Knie fiel.

»Uskav, bitte weine nicht. Denk an Roderick und Thonfilas und all die Zeit, die ihr noch miteinander verbringen könnt, wenn dieser Krieg gewonnen wird«, Turondur lächelte, doch auch seine Augen zeigten einen erhöhten Feuchtigkeitspegel, »Ich vermache dir meine gesamte Habe. Der Rat hat eine Empfehlung erhalten, dich zu ihrem Präsidenten zu ernennen. Ich lege die Geschicke Daelbars in deine Hände. Uskav, ich danke dir…«

»Turondur, du…«

»Warte!«, stopte Turondur seinen Freund, »Es gibt da noch etwas… Eine Bürde, die ich verpflichtet bin, an dich weiter zu geben.«

Kaum hatte Turondur diese Worte gesprochen, verwandelte sich sein Kopf in den eines Wolfs. Noch bevor Uskav reagieren konnte, schnappten Turondur zu und biss Uskav in den Schildarm.

»Uskav, du musst jetzt dein Schwert ergreifen! Streck mich nieder! Ramm mir den Stahl in mein unsterbliches Drachenherz oder alles wird verloren sein! Uskav, ich flehe dich an, töte mich! Töte mich jetzt!«

»Ahhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrg!«, mit einem infernalischen Schrei sprang Uskav auf, zückte sein Schwert, dessen Stahl im Schein der Sonne funkelte. Mit unvorstellbarer Kraft stürzte er auf Toldin, der sich vor ihm aufgerichtet hatte, um den kalten Stahl zu empfangen. Uskav stieß mit einer Kraft zu, zu der nur ein Uruk fähig war. Er bohrte die Schneide tief in die Brust Toldins, »Ihr Drachen der Welt, verzeiht mir!«

»Uskav, alles wird gut… Unser Geist wird dich immer begleiten. Nimm nun mein Blut und rette die Zukunft, auf dass weiter Drachen auf unserer Welt, die wir lieben, wandeln können!«

Mörderjagd

»Ein Auftragsmord besteht zu 98% aus Informationsbeschaffung und nur zu 2% aus direkter Aktion«

Aus den Erinnerungen eines Profimörders von Ole Olson

»Toldin!«

Ein Albtaum riss mich aus dem Schlaf. Schweißgebadet und mit rasendem Puls schoss ich in meinem Bett hoch. Im ersten Moment fühlte ich mich desorientiert und wusste nicht, wo ich war. Bis es mir wieder einfiel – Tharbad. Ich schaute zu Ivoricalad hinüber, der neben mir lag. Seine Augen waren weit geöffnet. Der Drache im Menschengestalt weinte. Es war kein Albtraum. Es war die Wirklichkeit. Toldin war tot.

»Ist es wahr?«

Ivo schaute mich traurig an, »Ja, es ist wahr! Toldin und Turondur haben unsere Welt verlassen. Segato, bitte halt mich…«

Ich legte mich wieder hin, rutschte zu Ivo heran und nahm meinen Drachen in den Arm. Gegenseitig gaben wir uns Kraft. Ein trauriger Tag begann. Der Tag, an dem Toldin von uns ging.

Tharbad war eine graue Stadt ohne Farbe, doch an diesem Tag wirkte sie noch um einige Schattierungen grauer und noch trostloser als sie eh schon war. Wir kamen überhaupt nicht richtig in Gang. Schweigend nahmen wir unser Frühstück ein. Ivo saß mir gegenüber. Jedesmal, wenn sich unsere Blicke kreuzten, sahen wir Traurigkeit in den Augen des Anderen. Toldins und Turondurs Tod lastete schwer auf unserer gemeinsamen Seele.

»Es reicht!«, schrie Ivo plötzlich in meinem Kopf, »Was immer auch passiert sein mag, wir müssen uns zusammenreißen. Wenn wir uns jetzt ablenken lassen, sind wir die nächsten toten Drachen! Und tot zu sein, würde mir persönlich überhaupt nicht gefallen. Abgesehen von ein paar Nekrophilen würde niemand mehr mit mir poppen.«

Manchmal überraschte mich mein Drache. Eben noch zu Tode betrübt, schaffte er es uns rückwärts aus dem Stand aus fast jedem emotionalen Loch zu reißen. Sein zugegeben etwas derber Witz wirkte wie ein Tritt in den Allerwertesten. Bei aller Trauer um Turondur musste ich schmunzeln. Meine Laune besserte sich. Dieser verrückte Drache hatte einfach recht. Trauer lenkt ab und Leute, die abgelenkt sind, begehen Fehler. Fehler wiederum, konnten in Tharbad fatale Folgen haben.

»Mir sind ein paar Informationen zugeflogen, die euch interessieren dürften.«

Carl, unser Wirt und unfreiwilliger Partner bei vermeintlich illegalen Tätigkeiten, hatte sich zu uns an den Tisch gesetzt. Außer Ivo und mir war der Frühstücksraum der Pension (Frühstückskammer hätte den Ort besser beschrieben) noch leer. Es war früher Morgen. Die meisten anderen Gäste würden erst in etwa einer halben Stunde eintrudeln und beginnen, das Frühstücksbuffet zu belagern.

Carl wirkte nervös. Eigentlich wirkte er immer nervös, seit er zu unserem Partner wurde. Die Idee, Boldin Dynamics zu beklauen, behagte ihm überhaupt nicht. Nur seine Gier auf Gold, die größer war als seine Furcht erwischt zu werden, hielt ihn psychisch stabil. Trotzdem suchte er ständig nach Gründen, die ganze Sache abzubrechen.

»Ich habe mich, sehr vorsichtig und ganz dezent, in der Stadt umgehört. Ihr solltet wirklich nochmal über euren Bruch bei Boldin nachdenken.«

»Unseren Bruch!«, korrigierte Ivo, um Carl deutlich zu machen, dass er ganz tief in der Sache mit drin hing.

»Gut, unseren Bruch. Wie auch immer«, schob Carl Ivos Einwurf beiseite, »Irgendwer hat Wind von der Sache bekommen und einen Meuchelmörder auf euch angesetzt. Habt ihr schon mal von Ole Olson gehört? Er ist in der Stadt und stellt Nachforschungen über Segg an.«

In den Wochen seit meiner Flucht aus Daelbar hatte ich an meine Verletzung der Omegadirektive überhaupt nicht mehr gedacht. Die Gilde offensichtlich schon. Vermutlich dachte sie ausschließlich daran. Sie schien meinen Verrat ganz oben auf die Agenda gesetzt zu haben, wenn sie einen Spitzenklassemörder wie Olson auf mich ansetzte. Ole Olson, dieser ebenso attraktive wie mörderisch gefährliche Mann war also hinter mir her. Ein unerfreulicher Gedanke. Schlimmer noch, er war mir klar im Vorteil. Nach allem, was ich aus den Dossiers der Gilde wusste und in meinem PDA-Implantat gespeichert hatte, kannte Olson Tharbad wie seine Westentasche. Ein Typ wie er verfügte über Kontakte, über gute Kontakte. Wenn sich jemand in Tharbad aufhielt, den er suchte, dann würde er dies erfahren – Früher oder später.

Ich wechselte einen Blick mit Ivo. Ole Olson mochte gefährlich, sogar brandgefährlich sein, aber auf keinem Fall ein Grund mich von einem Besuch bei Boldin Dynamics abzuhalten. Nötigenfalls müsste man sich eben erst mit dem Neovikinger beschäftigen. Ich wollte ihn zwar nicht unbedingt beseitigen, doch wenn es auf ein »ich oder er« hinauslief, war meine Position ziemlich eindeutig.

»Was werdet ihr tun?«, fragte Carl.

»Uns um diesen Ole Olson kümmern«, meinte Ivo lakonisch.

Carl verschlug es die Sprache. Unser Wirt schnappte nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen.

»Ihr… ihr… Ihr könnt euch doch nicht mit einem Profikiller anlegen…«

»Warum nicht?«, fragte Ivo in entwaffnender Schlichtheit.

»Ihr seid wahnsinnig!«, knurrte Carl frustriert, was wir allerdings nicht zu ernst nahmen, da er dies ständig über uns behauptete.

Trotz seiner Frustration versorgte er uns dann doch mit allem, was er über Ole Olson wusste. Wie es schien, war unser Profikiller ein recht umtriebiges und ausgesprochen geschäftstüchtiges Wesen. Allein in Tharbad nannte er fünf Immobilien sein Eigen, wovon zwei im Freihafen, eins im Zentrum und die beiden restlichen in zwei unterschiedlichen Industriegebieten lagen.

»Der Typ«, Carl meinte Ole Olson, »scheint es mit dir wirklich ernst zu meinen. Meine Informationsquellen behaupten, sie hätten noch nie erlebt, dass er dermaßen Druck macht.«

»Und wo steckt Ole Olson?«

»Das ist die Frage aller Fragen. Wenn er nicht gefunden werden will, findet man ihn auch nicht. Er findet dich. Man vermutet, dass er, außer den offiziellen Adressen Olson Transportation LLCs noch weitere, geheime Verstecke besitzt. Immerhin gibt es einen Hebel, bei dem man ansetzen könnte. Krossav, ein Orkhauptmann der Wache, steht auf Olsons Informatenliste. Er hat den Typen irgendwie in der Hand. Fragt mich nicht, woher ich das weiß, aber Krossav will Olson heute Mittag treffen. Möglicherweise, könnte sich euer Problem damit von selbst erledigen.«

»Wie meinst du das?«

»Krossav ist ein Typ, der Olson nie von sich aus kontaktieren würde, es sei denn, er will ihn in eine Falle locken.«

Eins musste man Carl zubilligen, er wusste, wie man Informationen beschaffte. Er lieferte uns nicht nur Zeit und Ort des Treffens, er hatte sogar den Grundriss des Etablissements, eines zwielichtigen Sexclubs, beschafft. Ich fand, dass es Zeit war, unseren Freund ein wenig zu motivieren.

»Hier!«, ein Türmchen von 12 Goldmünzen wanderte über den Tisch, »Wo die herkommen, gibt es noch mehr, vorausgesetzt, du stellst keine Fragen und kommst nicht auf die wirklich dumme Idee, dass jemand anderes mehr zahlen könnte. Ich hoffe, du hast unsere Kontakte nicht vergessen.«

Carl schluckte, nahm aber das Gold: »Keine Angst. Wir sind Partner. Und ich habe wirklich keine Lust, als Snack im Magen einer geflügelten Echse zu landen.«

»Brav!«, lobte Ivo mit sybillinischem Grinsen auf den Lippen.


Der Sexclub lag in dem heruntergekommensten Stadtteil Tharbads. Eigentlich hätte man für diese spezielle Heruntergekommenheit eine vierte Steigerungsform, nach Komperativ und Superlativ, erfinden müssen. Etwas in der Art wie Ultralativ. Vermutlich war es der einzige Ort Tharbads, den selbst Ratten und Kakerlaken mieden. Liefen sie doch Gefahr, in einem der unzähligen Sexclubs als Lustobjekt zu laden. Hier wurde wirklich jeder noch so abartige Wunsch erfüllt, vorausgesetzt, man verfügte über die notwendigen Mittel. Und wenn ich »jeden Wunsch« schreibe, dann meine ich auch jeden Wunsch. So war ein Club, soweit man Carl glauben konnte, dafür berühmt, seine Kundschaft mit den härtesten Phalli der Welt beglücken zu können. Die Schwänze waren im wahrsten Sinne des Wortes steinhart, da es sich bei ihren Eigentümer ausnahmslos um Bergtrolle handelte. Es wunderte mich nicht zu hören, dass die Mortalitätsrate in jenem Etablissement recht hoch sein sollte.

Die Lokalität an der sich Krossav mit Ole treffen wollte, musste man wohl eher zu den konventionellen Clubs zählen. Sein Vergehen bestand gerade einmal darin, dass die Damen des Gewerbes nicht notwendigerweise freiwillig arbeiteten. Für Tharbad eine fast schon lässliche Sünde.

Da Ole mich kannte und vor allem nach mir suchte, hielten wir es für angebracht, dass sich Ivo in den Club begeben und ich ihm aus sicherer Entfernung den Rücken decken sollte. Unser Plan bestand darin, Ole unter dem Vorwand aus dem Club zu locken, Informationen über mich liefern zu wollen.

Ivo, der sich mehr und mehr an seine menschliche Form gewöhnte, zeigte überraschende athletische Fähigkeiten als er einer Spinne gleich die Fassade des Sexclubs empor kletterte, wozu wir uns in eine dunkle Seitenstraße zurückgezogen hatten. Auf dem Dach angekommen, schlüpfte mein Drache durch eine Dachluke (Was täten wir nur ohne Dachluken) ins Gebäude.

Ivo hatte unsere mentale Verbindung verstärkt, so dass ich alles sehen und hören konnte, was er sah und hörte. Zwei Bilder gleichzeitig zu sehen, war anfangs etwas verwirrend, doch in der dunklen Seitengasse konnte ich die Welt vor meinen eigenen Augen halbwegs ausblenden.

Ivos Weg führte über eine Besenkammer in das oberste Stockwerk, dort einen Flur entlang, der von vielen Zimmern gesäumt wurde. Den Geräuschen nach mussten die Geschäfte des Clubs blendend laufen. Über eine Treppe gelangte Ivo ein Stockwerk tiefer. Das Gebäude besaß einen blödsinnigen Aufbau. Es gab keine Treppe, die von ganz unten nach ganz oben führte. Stattdessen verband eine Treppe immer nur jeweils zwei Stockwerke miteinander. Um zum übernächsten Stockwerk zu gelangen, musste man von einem Ende des Gebäudes durch einen Hauptflur zum gegenüberliegenden Ende laufen und die dortige Treppe nehmen.

»Hier scheint momentan wirklich Stoßbetrieb zu herrschen«, ließ mich Ivoricalad wissen.

»Deine Witze waren auch schon mal besser«, knurrte ich, »Du musst die nächste Kreuzung…«

»Warte!«, unterbrach mich Ivo, »Hier stimmt was nicht. In diesem Stockwerk ist es still, zu still.«

Ivo hatte recht. Im Flur des Stockwerks, in dem sich Ivo gerade befand, war es mucksmäuschen still. Kein Gestöhne, kein Quietschen von altersmüden Bettgestellen drang durch die Türen. Über allem lag eine lauernde, fast bedrohliche Stille. Ivo tastete sich vorsichtig vor. Als er die von mir erwähnte Kreuzung erreichte, an der ein Korridor vom Hauptflur abzweigte und zu einem kleinen Saal führte, schmiegte sich Ivo dicht an die Holztäfelung der Wand.

Wo hatte der Kerl von einem Drachen sowas nur gelernt? Zückte Ivo doch tatsächlich einen kleinen Spiegel aus der Beintasche seines Kampfanzuges und lugte damit um die Ecke des Flurs. Nichts. Der Gang war leer. Ivo ging weiter, bis er zu einer Tür kam, die einen Spalt offen stand. Und wieder überraschte mich Ivo. Aus dem Stand sprang Ivo hoch über die Tür und kam fast lautlos seitlich neben dem Spalt zu stehen. Ivo ging in die Hocke, zückte ein Messer und tippte damit den Türflügel an. Die Tür schwang ein Stück auf. Das Messer fest gepackt und bereit sofort zuzustechen, wartete Ivo ein paar Sekunden. Nichts geschah. Wieder kam der Spiegel zu Einsatz. Nichts. Ivo sprang, wirbelte, drehte sich quer durch die Luft und flog geradezu in das Zimmer. Ein hinter der Tür lauernder Angreifer wäre völlig überrumpelt gewesen. Es lag jemand hinter der Tür. Es war sogar möglich, dass es sich um einen Angreifer gehandelt haben könnte, doch dies wäre reine Spekulation. Der Mann war tot.

»Genickbruch!«, diagnostizierte Ivo, während ich mich fragte, seit wann mein Drache über das notwendige anatomische Wissen verfügte.

»Ich erkenne die Uniform. Sie gehört zu einer geheimen Spezialtruppe der königlichen Sicherheitspolizei«, endlich konnte ich auch mit meinem Wissen glänzen.

»Wer diesen Polizisten erledigt hat, war ein Profi. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass der Typ sich gewehrt hätte. Den hat sein Tod vollkommen überrascht. Ich geh’ mal weiter.«

Es war unheimlich zu sehen, wie Ivo sich absolut geräuschlos den Gang entlang schlich. An diesem Drachen war ein Assassine verloren gegangen. Ohne weitere Unterbrechungen erreichte er den in den Bauzeichnungen als Speisesaal bezeichneten Raum. Vor dem eigentlichem Saal vergrößerte sich der Flur zu einer Art Foyer mit Garderobe. Ivo sicherte sich auch hier ab und wurde hinter dem Garderobentresen fündig. Dort lagerten zwei weitere Leichen, ebenfalls Polizisten. Ihr Mörder schien Sinn für Humor zu besitzen. Beide leblosen Sicherheitspolizisten hatte man eine Garderobenmarke auf die Stirn gelegt.

Ivo schlich sich zur Saaltür vor. Diese war nicht ganz geschlossen, sondern stand einen Spalt offen.

»Nett!«, lachte Ivo in meinem Kopf, »Der Typ gefällt mir. Hat die Tür mit einem Quietscher gesichert.«

Ein »Quietscher« war ein eben so simpler wie effektiver Zauberspruch, der genau das tat, was sein Name ausdrückte, er quietschte. Genau genommen quietsche der Gegenstand, der mit diesem Spruch belegt war, beispielsweise ein Türflügel. Sollte jemand versuchen eine solche Tür, egal wie vorsichtig er dabei vorging, zu öffnen, würde dies auf jeden Fall von einem deutlichem, unüberhörbaren Quietschen begleitet werden. Es sei denn, man verwendete den Gegenspruch namens »Öler«, was Ivo natürlich sofort tat.

»Krossav, mein Freund«, hörte ich Ole Olson Stimme durch Ivos Ohren, »Was soll ich davon halten, mir eine Falle zu stellen?«

»Ole, bitte, du musst mir glauben!«, flehte eine Orkstimme, »Die wussten alles! Die haben nur darauf gewartet, dass jemand sich nach diesem Segato erkundigt. Ich bin direkt in ihre Falle gelaufen. Ich hatte keine Wahl. Die wussten alles über mich, sogar meine Speisegewohnheiten. Die stellten mich vor die Wahl, entweder ich brächte dich dazu, hierher zu kommen oder sie würden mich zu Hackfleisch verarbeiten. Das meinen die wörtlich.«

»Ähm, störe ich?«

Ich weiß nicht, welcher Floh Ivo plötzlich gebissen hatte, denn der öffnete die Saaltür und stolzierte fröhlich hinein.

Ole Olson stand hinter einem fetten Ork, der wohl gerade damit beschäftigt war, etwas zu verzehren, das entfernt an einen Zwerg erinnerte. Im Moment fraß der Ork allerdings nichts, sondern hockte ängstlich auf seinem Stuhl, was in Anbetracht der blitzenden Klinge an seiner Kehle durchaus nachvollziehbar war.

»Um ehrlich zu sein, ja! Du störst!«, entgegnete Ole Olson, wobei er als einziges Zeichen seiner Verwunderung die Augenbrauen zusammen zog.

»Oh, dass tut mir Leid«, entschuldigte sich Ivo, »Ich wollte dich nicht stören. Man sagte mir, du suchst jemanden mit dem Namen Segato?«

»Ähm, ja, Moment!«, entschuldigte sich nun Ole Olson und zu Krossav gewandt: »Tja, damit wäre unsere Zusammenarbeit wohl beendet.«

Mit einer wirklich eleganten Bewegung schnitt Ole Olson dem Ork die Kehle auf. Schwarzes Orkblut sprudelte aus der Wunde und ergoss sich, wie eine klebrige Soße über den Zwergenbraten.

»Bäh!«, meinte Ole angewidert, während er sein Messer mit einer Serviette säuberte, »Einfach ekelhaft, diese Orks.«

»Ist das gefüllter Zwerg auf dem Tisch?«, fragte Ivo ebenfalls leicht angeekelt.

»Ich befürchte, ja. Krossav liebte alles, was sich auf zwei Beinen bewegte«, Ole lächelte zynisch, wandte sich dann aber Ivo zu, »Du möchtest mir also Informationen über Segato anbieten?«

»Oh, mehr als das!«, entgegnete Ivo und zeigte ein wahrlich strahlendes Lächeln, das Ole Olson sichtlich beeindruckte, »Ich könnte dich zu ihm führen.«

Ole Olson musterte Ivo auf zweierlei Arten. Einmal schien er ihn mit seinen Augen komplett auszuziehen, was ich durchaus nachvollziehen konnte. Ivo besaß einfach einen megageilen Körper. Doch Ole Olson musterte Ivo auch auf eine andere Weise, die, mit der ein Profikiller ein Ziel musterte. Mir schien, als wenn er nicht sicher war, was er von Ivo halten sollte. Niemand anderes hätte auf Krossavs Exekution dermaßen lässig reagiert, wie Ivo. Ole Olson war absolut klar, dass Ivo gefährlich war. Nur wusste er nicht, wie gefährlich.

»Wir haben ein Problem«, meinte der Neovikinger schließlich.

»Und das wäre?«

»Ich trau dir nicht.«

»Oh, ich dir auch nicht«, entgegnete Ivo, »Ich hoffe, du nimmst mir das nicht persönlich.«

»Nein, absolut nicht!«, beeilte sich Ole Olson.

Die beiden Männer belauerten sich. Keiner wagte den ersten Schritt zu machen. Eine Sekunde der Ablenkung genügte, um von einem Profikiller erledigt zu werden.

»Du gehörst nicht zur Bruderschaft der Meuchelmörder, oder?«, fragte Ole.

»Nein, nicht wirklich«, Ivo lächelte freundlich, war aber hell wach.

»Freischaffender Assassin? Legion der Exekutoren?«

Ivos Drachensinnen entging nicht, dass Ole versuchte ihn mit seinen Fragen abzulenken. So bemerkte er sofort, dass der Neovikinger begann, seinen linken Arm so zu halten, dass die Innenseite von Hand und Handgelenk für Ivos Augen verdeckt waren. Ivo brauchte nicht zu sehen, was vorging, es reichte, dass er es hörte. Ein leises Klicken entwich Oles Ärmel, als der dort drin verborgene Mechanismus ein Wurfmesser in Oles Hand beförderte.

Der Neovikinger war schnell, Ivo war schneller. Als das Messer die Stelle erreicht, an der Ivo gestanden hatte, traf es nur noch auf eins, auf Luft, flog daher unvermindert weiter und beendete seinen Flug in der Holztäfelung des Saals. Ivo stand zwei Meter gelangweilt daneben, verfolgte die Flugbahn des Messers, schüttelte amüsiert den Kopf und kommentierte das im Holz steckende und noch zitternde Messer: »Tstststs, dass wird dem Clubbesitzer bestimmt nicht gefallen. «

Wenn Ole Olson überrascht war, dann zeigte er dies nicht, stattdessen entgegnete er trocken: »Ein bisschen Möbelpolitur und der kleine Kratzer ist nicht mehr zu sehen. Du nimmst mir meinen kleinen Versuch dich zu beseitigen doch wohl nicht übel, oder?«

»Ich bitte dich!«, meinte Ivo freundlich, »Ich wäre gekränkt, hättest du es nicht versucht. Ich möchte dich allerdings darum bitte, es nicht weiter zu versuchen. Es könnte sonst noch jemand zu schaden kommen und das werde garantiert nicht ich sein.«

Ole Olson starrte Ivo verwundert an. Dieses mal schien er genauer hinzusehen. Dabei versuchte er, sich nicht von Ivos überirdisch attraktivem Körper ablenken zu lassen, was gar nicht so einfach war. Nach ein paar Sekunden zog der Neovikinger seine Augen zusammen und hielt den Kopf leicht schief: »Moment, du bist kein Mensch, oder?«

Ivo strahlte fröhlich: »Nein, ich bin kein Mensch. Aber das hilft dir auch nicht weiter. Mein Angebot steht, ich kann dich zu Segato führen.«

»Was bist du?«

»Das willst du nicht wissen!«, antwortete Ivo, »Entweder kommst du mit oder du lässt es bleiben. Glaub mir, wenn ich dich hätte töten wollen, würdest du Krossav längst schon Gesellschaft leisten.«

»Gutes Argument!«, gab Profikiller Ole Olson zu, »Sollen wir?«

»Nach dir!«, entgegnete Ivo freundlich und wies Ole mit einer Geste den Weg. Der ging voran und sammelte im vorbeigehen sein Messer wieder ein.

An der Kreuzung, an der der ihr Gang in den Hauptflur einmündete, wollte Meuchelmörder Olson den Weg Richtung Erdgeschoss einschlagen, stoppte aber, als ihnen Stimmen entgegenschlugen, die weniger nach Sexclubkundschaft sondern mehr nach Staatsmacht klangen.

»Ähm, vielleicht sollten wir…«, kommentierte Ole lässig das herannahende Problem.

»Yap, suchen wir unser Heil in der Höhe«, pflichtete Ivo mit unerschrockener Fröhlichkeit bei.

Ole und Ivo vollführten eine Drehung um 180 Grad und liefen in Richtung Dachgeschoss. Beide Männer waren so leise, dass niemand ihr Kommen und Gehen bemerkte. Ohne auf weitere Hindernisse zu stoßen, erreichten man das Dach.

»Und jetzt?«, fragte Ole, der ebenso wie Ivo den Grundriss des Clubs kannte und wusste, dass es vom Dach aus keinen Fluchtweg gab.

»Klettern wir runter. Du erlaubst?«

Ivo wartete Oles antwort nicht ab, sondern packte ihn mit seiner linken Hand und hob ihn hoch, als würde der Neovikinger über keine signifikante Körpermasse verfügen. Mit seiner anderen Hand krallte sich mein Drache an der Dachkante fest und schwang sich hinunter. Jeden noch so kleinen Vorsprung nutzend, krabbelte Ivo die Wand hinunter, als würde sie horizontal und nicht vertikal verlaufen. Ich hatte mich in einer absolut finsteren Ecke verkrochen, in der mich Ole nicht entdecken konnte. Im Gegensatz zu ihm wusste Ivo genau, wo ich mich befand und setzt Ole mit dem Rücken zu mir ab.

Ivo baute sich vor Ole auf: »Und jetzt solltest du nicht mal daran denken, auch nur mit dem kleinen Finger zu zucken.«

Ole schluckte. Ivos Demonstration körperlicher Perfektion, Kraft und Beweglichkeit, sagten ihm, dass er einem Gegner gegenüber stand, dem er auf keinen Fall gewachsen war. Ganz vorsichtig gab er Ivo mit einem fast nur angedeuteten Nicken zu verstehen, dass er ihn verstanden hatte.

Ich trat aus meinem Versteck und stellte mich hinter Ole Olson: »Man sagte mir, dass du mich suchst?«

Ole schluckte erneut: »Segato, bist du das?«

»Ja und ich empfinde es als ausgesprochen unfreundlich, von einem Profikiller gesucht zu werden.«

»Ich will dich nicht umbringen. Ich bin mit Erogal nach Tharbad gereist, um dich…«

»Erogal, natürlich!«, unterbrach ich Ole, »Ich sollte mich geehrt fühlen, dass mein lieber Lehrer die Omegadirektive selbst umsetzen will.«

»Oh, Segato, mein lieber Segato!«, hörte ich plötzlich Erogals Stimme hinter mir, »Hast du immer noch nicht gelernt, dass ich dir nie etwas Böses antun könnte?«

Lokril

»Frieden? Wer kommt denn auf solche perversen Ideen?«

Entsetzter Kommentar General »Cornelis Secundus« zum Friedensschluss von Weißenfurth

Kein normales Schwert wäre unter normalen Umständen jemals in der Lage gewesen, der Haut eines Drachen auch nur einen Kratzer zuzufügen. Doch weder Uskavs Schwert noch die Umstände waren normal. Sie waren alles andere als normal. Toldin wollte verletzt, ja sogar getötet werden. Ein Drache war zu vielem fähig, zu schönen, zu beängstigenden, zu komischen und auch zu grausamen Dingen. Über eines sprachen sie nicht, denn es betraf ihr Innerstes, die Quelle ihrer Kraft und Unverletzlichkeit. Sie war nicht physisch gegeben. Keine Funktion von Haut und Schuppen. Für normale Waffen unverletzlich zu sein, war für einen Drachen eine Entscheidung, es entsprach ihrem magischen Wesen. Eine Drache konnte entscheiden, auf seine Unverletzlichkeit zu verzichten.

Uskavs Schwert war ebenfalls etwas Besonderes. Es war ein Meisterwerk magischer Schmiedekunst. Verziert mit Runen der Stärke, Unbeugsamkeit und Kraft. Es verlor nie an Schärfe, lief nicht an, rostete nicht, wurde nicht schartig und zerschmetterte zu Not auch Stein, wenn sich jemand fand, der entschlossen genug war, die Klinge richtig zu führen.

Toldin spürte, wie der heißkalte Stahl in ihn eindrang, sich seinen Weg zum Herz bahnte und es tödlich verletzte. Der große silberne Drache seufzte. Ein einzelne silberne Träne quoll aus seinem Auge, lief seine Wange entlang und bildete einen Tropfen. Glänzend verweilte der Tropfen an Toldins Kinn, fing das Sonnenlicht auf und schien es in sich zu bündeln und aufzusaugen. Dann fiel er herab. Er stürzte nicht, er schwebte. Die Zeit schien zu gefrieren, alles Leben hielt für einem Moment inne. Die Stille der Ewigkeit breitete sich auf dem Plateau der Drachenreiterschule und darüber hinaus auf ganz Daelbar aus. Jedes lebende Wesen in Daelbar fühlte diese Stille und tief in ihr die lautlose Melodie eines Drachens und seiner Seele.

Dann prallte der Tropfen auf und zerstob in Myriaden glitzernder silberner Funken. Toldins Herz hatte aufgehört zu schlagen. Der große Silberne Drache schloss seine Augen, legte sich langsam auf den sonnenbeschienenen Boden, lächelte zufrieden und starb.

Und so, wie das Leben aus Toldin wich, wich es auch aus Turondur. Uskav war sofort zu ihm geeilt. Der Elb griff sich an die Brust. Er spürte den Schmerz des Stahls in Toldins Herzen. Turondur wankte, strauchelte, doch Uskav fing ihn auf, hielt ihn und hockte sich sanft mit ihm zusammen auf den Rasen. Die großen Augen des Elbs schauten Uskav an. Sie wirkten traurig, aber nicht verbittert.

»Es tut mir Leid, dass ich euch nicht mehr beistehen kann«, flüsterte Turondur, dessen Kräfte zusehends schwanden. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, keins, dass Humor ausdrücken wollte, sondern ein Lächeln der Zufriedenheit. »Sei nicht traurig, mein liebenswerter Uruk. Wir, Toldin und ich, haben unseren Weg gewählt. Keine Bitterkeit und kein Bereuen! Uskav, mein Freund, sei stark! Kämpfe für uns. Kämpfe für alle Drachen und für all das, für was wir stehen. Kämpfe für das Gute in der Welt!«

Uskav weinte. Ein Uruk ergab sich seiner Trauer und ließ seinen Tränen freien Lauf. Turondurs Kopf und Oberkörper ruhten auf Uskavs Brust. Der Uruk hatte sich über Turondur gebeugt, hielt ihn zärtlich und stand seinen letzten Momenten bei.

»Was seh’ ich da? Ein weinender Uruk?«, scherzte Turondur an der Schwelle des Todes. Uskav war unfähig zu antworten. Mit einer Zärtlichkeit, die niemand einem Uruk zugetraut hätte, strich er Turondur über Wagen und Haar. Stockend und gebrochen bekam er ein paar Worte heraus: »Turondur, Toldin, Elb der Drachen, bitte verzeih mir.«

Noch einmal lächelte Turondur Uskav mit offenen, strahlenden Augen an: »Es gibt nichts, was ich dir verzeihen müsste. Ich, Turondur, Drache Toldin, bin es und werde es immer, über alle Zeit und allen Raum, sein, dein, dich liebender, Freund.«

Dies waren die letzten Worte des Turondurs. Er schloss seine Augen, lächelte zufrieden und starb. Uskav spürte wie die Kraft, das Leben, aus dem Körper des Elben wich. Ein tiefer Schmerz durchbohrte die Seele des Uruks. Er hob den Körper Turondurs sanft an und drückte ihn an sich. Noch nie in seinem Leben, hatte Uskav einen derartigen Schmerz empfunden. Uskav war ein Kämpfer, eine Mordmaschine, für die es eine Lust war, zu töten. Doch dies war keine Lust, dies war bitterer als Galle, quälender als jeder Schwerthieb. Das erste mal in seinem Leben hasste Uskav, ein lebendes, empfindendes Wesen getötet zu haben – Toldin und Turondur, seinen Freund.


In seiner Trauer bekam Uskav nicht mit, was um ihn herum geschah. Mit Toldins Tod waren Heerscharen von Zauberern, Alchemisten und Biologen erschienen, hatten sich dem Drachen respektvoll genähert und begonnen, sein Blut, das aus der einen Brustwunde sickerte, aufzufangen. Alles geschah, ohne dass auch nur ein einziges Wort fiel. Schweigend ging man seiner Arbeit nach. Doch ein Blick in ihre Gesichter sprach Bände. Jeder empfand Trauer, fühlte den schmerzhaften Verlust eines Freundes, eines Vorbildes oder einfach nur eines guten Elben. Jeder spürte das Loch, das Turondurs Opfer in ihr Herz riss, doch war auch jedem klar, dass Toldins Opfer die einzige Chance für ihrer aller Rettung war. Es gab nur eins, was sie tun konnten, ihre Aufgabe erfüllen und aus dem Blut ein Mittel gegen das Orkheer erschaffen.

Während die schlausten Köpfe der Drachenreiterschule ihrer Arbeit nachgingen, erschien ein Drache nach dem anderen und erwiesen Toldin und Turondur die letzte Ehre. Sie kreisten über dem friedlich im Gras vor der Drachenreiterschule liegenden silbernen Drachen, ließen sich neben ihm nieder, verbeugten sich, verweilten einen Moment und flogen schweigend wieder davon. Die ganze Zeit kniete Uskav daneben, hielt Turondur in seinen Armen und versank in einen Zustand seelischer Isolation, die alles um ihn herum ausblendete. Es gab nur noch Uskav, den Schmerz in seiner Brust und die Trauer.


Eine Hand legte sich auf Uskavs Schulter. Sie tat es weder sanft, noch mit sonderlich viel Nachdruck. Sie lag einfach da, ruhig und anteilnehmend.

»Komm mein Freund, es wird Zeit Turondur gehen zu lassen.«

Es war die Stimme Thonfilas, die Uskav zurück in die Wirklichkeit holte. Er schaute auf und blickte in die traurigen, aber auch dankbar strahlenden Augen seines Freundes und Liebhabers. Niemand anderes, nicht einmal Roderick, hätte Uskav aus jenem Schockzustand der Trauer befreien können, in den ihn Toldins und Turondurs Tod versetzt hatte. Nur Thonfilas weiche, elbische Stimme, seine fast schon ätherische Berührung und seine Liebe zu Uskav, besaß die notwendige Kraft, den trauernden Geist des Uruks, zurück in die Wirklichkeit zu holen.

»Thonfilas, mein Freund, was habe ich getan?«

»Was notwendig war und was nur du tun konntest!«

Thonfilas kniete sich neben Uskav hin, legte eine Hand auf Turondurs Stirn, schloss dessen Augen und verharrte eine Weile.

»Danke, mein Bruder. Dein Opfer wird nicht vergebens sein. Jeder Drache wird deinen Namen in Ehre halten, jede Seele wird deiner gedenken. Du gabst dein Leben, um das unsere zu retten. Geh nun Heim zu den Gestaden deiner Vorväter und finde Frieden.«

Mit jenen Wort auf den Lippen packte Thonfilas vorsichtig Turondurs Körper und legte ihn zu Toldin auf den Rasen. Dort lagen sie, friedlich beschienen von einer strahlenden Sonne. Es war, als schienen sie einfach nur zu schlafen, sich etwas auszuruhen, von den Mühen des Tages. Thonfilas begann leise einen sehr alten hochelbischen Text, eine Art Gebet, zu rezitieren. Während er dies tat, tauchten plötzlich alle möglichen Leute, Freunde und Weggefährten Toldins und Turondurs auf, stellten sich still zueinander, weinten, griffen nach der Hand des anderen neben sich und gaben einander Trost, während sie Thonfilas Worten lauschten und Toldins und Turondurs gedachten.

Uskav wollte seinen Augen nicht trauen und glaubte, die Trauer würde seine Sinne benebeln und ihm einen Streich spielen. Doch tatsächlich, Toldin und Turondurs leblose Körper veränderten sich. Sie begannen durchsichtig zu werden, ihre Haut schien nur noch ein Geflecht aus silbernen Fäden zu sein, die in der Sonne glitzerten. Doch es war wahr, Drache und Seele entschwanden der Welt. Die silbernen Fäden lösten sich auf, wurden zu kleinen funkelnden Punkten, die langsam in den Rasen sanken und verschwanden.

Von jenem Tag an war der Garten vor den Toren der Drachenreiterschule nicht mehr derselbe. Alle Pflanzen in ihm schienen üppiger, kräftiger und lebendiger zu wachsen. Die Blüten der Blumen blühten kräftiger, ihre Farben leuchteten kräftiger, farbiger, dass es nur so eine Pracht war. Doch auch die Menschen, Elben, Zwerge, ja jedes Lebewesen, das durch den Garten wandelte, fühlte eine Veränderung. Wer sich hier aufhielt, den erfasste sofort eine weiche, melancholische Art von Glücklichkeit. Sehr schnell wurde dieser Ort zu einem Zufluchtspunkt derer, die Ruhe suchten, weil sie mit sich haderten, Trost brauchten oder einfach ihrer Seele etwas Balsam angedeihen lassen wollten.

Mit Turondurs und Toldins körperlichem Verschwinden verschwand auch die Trauer. Sie war nicht vergessen, doch sie lastete bei weitem nicht mehr so schwer auf der Seele. Uskav schöpfte neuen Mut und neue Kraft. Er schaute zu Thonfilas, der weiterhin neben ihn stand und fragte: »Wird Toldins Opfer uns wirklich retten?«

»Soweit es ein Gegenmittel betrifft, ja, das wird es. Aber Daelbar braucht jemanden, der uns in die kommende Schlacht führt. Jemand, der weiß, wie Kriege zu gewinnen sind. Uskav, wir brauchen dich, wir alle. Die Zeit des Gedenkens wird kommen, doch jetzt ist die Zeit des Kampfes. Dort liegt dein Schwert, ergreife es!«

Thonfilas hatte Recht. Uskavs Schwert lag genau an der Stelle auf dem Rasen, wo Uskav es nach seinem tödlichen Stich fallen gelassen hatte. Der Uruk ging hin, zögerte einen Moment, bevor er das Heft packte und sein Schwert vom Rasen hob. Die Waffe hatte sich verändert. Ein magischer Glanz lag auf der Klinge. Uskav schaute hin. Sein Gesicht spiegelte sich im blank polierten Metall der Schneide, doch sah er noch mehr. Es schien, als ob man in den Stahl hinein schauen konnte. Lodernde Flammen wirbelten in dem Metall umher. Ein wahrer Feuersturm tobte im Inneren des Schwertes. Ein Sturm, den man auch fühlen konnte. Die Klinge schien brennend heiß zu sein. Vorsichtig tippte Uskav dagegen. Sofort spürte er eine brennende Hitze, die aber an den Stellen verschwand und kühl wurde, an denen er, Uskav, das Metall berührte.

»Was ist das?«, fragte Uskav Thonfilas.

»Toldins letztes Geschenk an dich. Was du in den Händen hältst, ist Lokril, die Drachenflamme. Führe es als leuchtende Fackel der Freiheit und in Gedenken an Toldin, der sein Blut für uns gab«, verkündete Thonfilas feierlich.

Voller Ehrfurcht hielt Uskav sein Schwert, packt es mit beiden Händen, riss es senkrecht hoch über seinen Kopf. Mit einem Blitz flammte die Schneide auf, Flammen züngelten empor. Das Schwert loderte wie eine Fackel.

Als Toldins Blut die Klinge benetzte, verband es sich, durch den Willen Toldins, mit dem Metall. Wie Thonfilas sagte, es war ein Geschenk. Toldins Blut hätte genau so gut die Klinge auch verätzen und auflösen können, doch der Drache hatte anders entschieden und die Klinge, die ihn tötete, veredelt.

»Lokril, Drachenflamme, Fackel der Freiheit!«, rief Uskav laut aus.

Als ob das Schwert wusste, was Uskav vorhatte, erlosch die Flamme sofort, als er sein Schwert senkte. Die Klinge wurde schlagartig kalt und Uskav konnte sie gefahrlos in ihrer Scheide verstauen.

»Komm, mein Freund, wir haben eine Schlacht zu gewinnen!«, forderte Thonfilas Uskav auf, ihm zu folgen.


Die Nacht vor Schlacht brach an. Späher kehrten von ihren Erkundungen zurück und berichteten, dass das Orkheer noch etwa vier Stunden von Daelbar entfernt sei. In den Laboratorien der Drachenreiterschule arbeiteten Chemiker, Magier, Drachenkundler, Hexer und Druiden unermüdlich am Gegenmittel. Toldin hatte ihnen mehr als genug Blut hinterlassen. Das Problem der langwierigen Prozedur wurde vom Dekan des Lehrstuhls für höhere, transmethaphasische Quantenmagie, sehr elegant mit Hilfe einer Zeitkapsel gelöst, die kurzerhand das ganz Labor einhüllte. Kurz vor Mitternacht war es soweit, dass man sich wieder im großen Saal der Drachenreiterschule versammeln konnte.

»Es ist vollbracht!«, die Professoren Xelmachus und Bogenhausen, »Allerdings…«

»Was?«, fragte Uskav nervös nach.

Vor auf dem Tisch vor ihm stand die erste Phiole des Gegenmittels. Ein sanftes golden und blaues Schimmern ging von ihr aus, was im allgemeinen ein untrügliches Zeichen für Magie darstellte. Xelmachus kratzte sich verlegen am Kopf.

»Die Jungs von »Boldin Dynamics« hatten mehrere Jahre Zeit ihre Drachenorks zusammenzustoppeln. Wir hatten nur ein paar Stunden«, erklärte Bogenhausen.

»Drei Wochen. In der Zeitkapsel«, korrigierte Xelmachus, wohl wissend, dass Bogenhausen die Existenz von Zeitreisen aus prinzipiellen Gründen leugnete.

»Wie auch immer!«, knurrte Bogenhausen, »Es könnte zu, ähm… zu Nebenwirkungen kommen.«

»Nebenwirkungen?«, hakte Uskav skeptisch nach, der sich langsam fragte, ob die ganze Sache Toldins Opfer wert gewesen war.

»Ähm, das Feuer der Drachen…«

»Ja?«

»Es kann sein, dass es zu Anfang nicht zündet und wenn es dann zündet, kann es zu merkwürdigen Effekten kommen.«

»Du meinst, die Drachen können ihr Feuer nicht nutzen?«, Uskav stöhnte. In knapp vier Stunden würden sie einem Heer von hunderttausenden Orks überrannt. Das Einzige was zwischen Überleben und Untergang stand, waren ein paar hundert Drachen, deren größte und effektivste Waffe ihr Feuer war. Doch statt mit diesem Feuer zuschlagen zu können, sollten ihnen nur Krallen, Klauen und Fänge bleiben? Uskav überlegte, spielte schnell ein paar Kampfszenarien durch. Massen tumber, unerfahrener Orks gegen ein paar hundert, kampferfahrene Drachen?

Uskav knurrte frustriert. Ein paar hundert Drachen? Vielleicht. Ja, es könnte funktionieren. Sie hatten eine Chance, wenn auch keine große. Hier war Taktik und Strategie gefragt. Eins war Uskav klar, selbst wenn sie siegen würden, so stand ihnen zuvor eine hässliche und blutige Schlacht bevor.

»Es ist nur eine Reaktion auf das Gegenmittel«, versuchte Xelmachus zu erklären, »Wir vermuten, dass das Feuer schnell zurückkehren wird. Zu Anfang könnte es aber zu ein paar magischen Effekten kommen.«

Uskav nahm die Phiole in die Hand, betrachtete sie eine Weile und nickte: »Gut! Verteilt das Gegenmittel. Die Stadt soll sich bereit machen. Die Drachenreiterstaffeln sollen sich bei ihren Startbasen einfinden. Alle anderen sollen die Wehrtürme und -mauern besetzen.«

Uskav hielt einen Moment inne. Neben den Wissenschaftlern und Magiern hatten sich auch die Mitglieder des Rates von Daelbar eingefunden. Uskav ließ seinen Blick schweifen. Man schaute zu ihm, Uskav, dem Uruk auf, man harrte seinen Entscheidungen, seiner Worte. »Sie erwarten, dass du sie anführst, dass du sie rettest. Sie vertrauen dir«, dachte Uskav. In einer hinteren Reihe entdeckte er Roderick und Thonfilas, die ihm respektvoll zunickten.

Uskav reckte sich, kletterte auf einen Stuhl, dass ihn jeder sehen und hören konnte: »Drachenreiter, Drachen, Bürger, Daelbaner, Freunde – Daelbar, zur Zeit meines Dienstes für den König Goldors war dies der Name des Feindes. Ihr alle habt mich eines Besseren belehrt. Daelbar ist ein funkelnder Stern der Freiheit, ein Ort, an dem jeder, egal ob Mensch, Elb, Zwerg, Gnom oder sogar ein Uruk glücklich werden kann. Hier, bei euch, mitten unter euch, lernte ich den Wert des Friedens. Es gibt keine Worte, die meine Dankbarkeit dafür auch nur ansatzweise angemessen wiedergeben würden. Es gibt nur eins, was ich tun kann, etwas, für das ich erschaffen wurde, den Kampf. Wenn ich früher in den Kampf zog, dann weil mir jemand anderes dafür einen Befehl erteilt hat. Doch hier und jetzt werde ich kämpfen, um als freier, unabhängiger Uruk das zu verteidigen, was mir mehr bedeutet, als alles andere in der Welt, meine Freundschaft und Liebe zu dieser Stadt und ihren Bewohnern. «

Mit einer blitzschnellen Bewegung zog Uskav sein Schwert aus der Scheide und reckte es hoch empor. Lokril, die Drachenflamme loderte hell auf.

»Freunde, ich rufe euch auf. Folgt mir in die Schlacht, lasst uns unsere Freiheit Seite an Seite verteidigen. Für Daelbar, für die Freiheit!«

»Für Daelbar, für die Freiheit!«, schallte es Uskav entgegen. Daelbar zog in den Krieg.

Schiffsmeldungen

»Der schnellste Weg im Barad Baul zu landen?
Beauftrage einen Anwalt deinen Fall zu vertreten.«

Tharbadianisches Sprichwort

»Tharbad«, verkündete Kapitän Frederick Gustavson als sein Schiff in den Hafen der größten Seestadt Goldors einlief.

Von der Seeseite aus war der Anblick der Stadt durchaus imposant. Obwohl Tharbad in Wirklichkeit steingewordene Hässlichkeit repräsentierte, wirkte sie aus der Entfernung durchaus beeindruckend. Überragt von der spitzen Nadel des Barad Bauls erstreckte sich entlang der Bucht von Tharbad eine stolze Skyline. Man durfte nur nicht darüber nachdenken, um was es sich beim Barad Baul wirklich handelte.

Kurz nachdem man in die Bucht eingeschwenkt hatte, kam ein Lotse an Bord, der das Schiff zu einem der Anlegeplätze des Freihafens manövrierte. Kaum hatte man die Kaimauer erreicht, wurden Taue geworfen, mit denen das Schiff sofort sicher festgemacht wurde. Minuten später rollte Kräne heran, um die Ladung zu löschen.

Tharbad war ein Hafen, der keinen Feierabend kannte. Rund um die Uhr kamen Schiffen, wurden beladen und gelöscht. Bei so viel Betrieb war es natürlich schwierig, unentdeckt vom Bord zu gelangen, insbesondere, wenn man kein Mensch, sondern ein Drache der Extragröße, wie Mithval war. Frederick Gustavson war ein weiser Kapitän, der dieses Problem vorausgesehen und entsprechend disponiert hatte. Statt einen der Hauptpiers anzusteuern, wählte er einen etwas abgelegenen, an dem nicht ganz so viel Betrieb herrschte.

Der erste, der das Schiff verließ, war Anger, Kapitän Gustavsons Neffe und Palles Sohn. Bevor er verschwand, gab er Gilfea und Gildofal den dringenden Rat, sich selbst, aber insbesondere Mithval, Tingalen und Eargilin nicht blicken zu lassen. Die Drachen und ihre Reiter warteten, während die Ladung des Schiffs gelöscht wurde. Nach knapp eineinhalb Stunden tauchte Anger wieder auf.

»So, alles vorbereitet«, verkündete er, »Heute Nacht, wenn hier sowieso am wenigsten los ist, wird völlig unerwartet und überraschend die Flutlichtanlage des Piers ausfallen. Ich schätze, wie haben dann knapp fünf Minuten Zeit mit den Drachen in den Lagerschuppen meines Vater zu verschwinden.«

Eine genau Uhrzeit, zu der das Licht ausfallen sollte, konnte Anger leider nicht sagen. Es sollte dann passieren, wenn am wenigsten los war. So würde die Suche nach dem Fehler länger dauern und die Drachen mehr Zeit haben, um im Schuppen zu verschwinden.

Eine unruhige Wache begann. Gildofal, Anger und Gilfea packten ihre Sachen und deponierten sie griffbereit an Deck. Die drei Drachen hockten im Laderaum, der nur von einer locker aufgelegten Plane bedeckt war, die, sobald das Licht ausfiel, blitzschnell entfernt werden konnte. Die ganzen Vorbereitungen benötigten nicht mal eine Stunde, dann begann das Warten. Mit Einbruch der Dämmerung begannen überall starke künstliche Lichter aufzuflammen, die ein kaltes, blauweißes Licht abgaben. Es war alles andere, als ein schönes Licht, das die Lampen verbreiteten. Die wohlige Wärme und Brillianz von Elbenlichtern war etwas völlig anderes, als diese kühle, gleißende aber effiziente Arbeitsbeleuchtung. Das Licht war dermaßen effektiv, dass Gilfea fast schon das Gefühl hatte, besser als bei Tageslicht sehen zu können. Er meinte sogar beobachten zu können, wie die Geschäftigkeit am Pier zunahm.

Stunden vergingen, ohne, dass im Hafen auch nur ansatzweise etwas Ruhe einkehrte. Kräne fuhren hin und her. Lastgleiter tauchten auf, wurden mit Containern beladen und verschwanden wieder, während andere Gleiter frische Container anlieferten, die entweder am Pier gestapelt oder in die Bäuche wartender Schiffe verfrachtet wurden.

Erst gegen Mitternacht schien langsam die Geschäftstätigkeit ein klein wenig abzuflauen, was hauptsächlich daran lag, dass zu jener Zeit das Haupttor des Freihafens für vier Stunden geschlossen wurde, und daher keine Ware von der Landseite den Freihafen erreichen oder verlassen konnte. In dieser kurzen Zeit wurden nur noch die Dinge verladen, die sich bereits im Hafen befanden, was aber immer noch eine Menge darstellte.

Eine halbe Stunde später wurde es dann spürbar ruhiger. Anger kam zu Gilfea an Gildofal und meinte: »Haltet euch bereit. Es müsste jeden Moment soweit sein.«

Am Liegeplatz von Frederick Gustavsons Schiff waren die Ladearbeiten beendet. Alle Stauer, Packer, Kranführer und Staplerfahrer waren verschwunden. Der Kai wirkte verwaist. Erst ein paar hundert Meter weiter herrschte an einem anderen Schiff wieder hektische Betriebsamkeit, bis es passierte.

Die Scheinwerfer der Flutlichtanlage begannen zu flackern, um plötzlich mit einem kurzen finalen Aufblitzen auszufallen. Der halbe Hafen tauchte sofort in absolute Dunkelheit.

»Jetzt!«, rief Anger und packte zusammen mit Gilfea und Gildofal die Abdeckplane zum Laderaum. Blitzschnell zogen sie sie weg und gaben die große Ladeluke frei. Anschließend packten sie ihre Sachen und sprangen auf die drei Drachen. Tingalen machte wieder den Anfang, da Anger genau wusste, wo sie hin mussten. Die Drachendame katapultierte sich aus dem Lagerraum, sprang zur Wasserseite über Bord, schwebte im Tiefflug das Hafenbecken entlang, drehte an einer Kreuzung in ein anderes Becken, flog dieses entlang, hielt auf die Kaimauer am Ende zu, um direkt davor mit einem Satz aufzusteigen. Direkt am Pier, etwa hundert Meter vom Wasser entfernt, lag ihr Ziel. Ein großer Lagerschuppen, dessen Rolltore weit geöffnet standen. Tingalen schwebte direkt hinein, dicht gefolgt von Eargilin und Mithval. Noch bevor die zwei anderen Drachen landeten, war Anger bereits abgesprungen und zum Rolltor gelaufen. Mithvals Schwanz hatte das Tor noch nicht durchquert, als der junge Neovikinger es bereits begann zu schließen. Doch die Torflügel waren schwer und bewegten sich nur langsam, weswegen Gilfea und Gildofal sofort mit anpackten. Genau im dem Moment, als sich das Tor schloss, flammten die Scheinwerfer der Fluchtlichtanlage wieder auf und tauchten den Hafen in gleißende Helligkeit.

»Puh, das war knapp!«

Angers Bemerkung traf die Situation präziser, als es sein flapsiger Tonfall vermuten ließ. Das Flutlicht hatte seine volle Helligkeit noch nicht erreicht, da füllten bereits wieder die ersten Stapler die Fläche vor der Lagerhalle.

»Sind wir hier sicher?«, Gildofal war zu Anger gelaufen, der durch ein schmutziges Glasfenster nach draußen schaute.

»Vorerst«, meinte Anger, »Dieses Lagerhaus gehört meinem Vater. Hier wird ein Großteil des Warenverkehrs der Neovikinger abgewickelt. Der Freihafen ist exterritoriales Gebiet. Der König selbst hat Tharbad die Freihafenrechte verliehen, weil sein Reich auf den Handel angewiesen ist. Bestimmte Bodenschätze muss Goldor importieren, zu einem Teil auch von seinen Feinden. Da man von ihnen nicht direkt kaufen kann und will, gibt es den Freihafen. Unabhängige Kaufleute treten als Zwischenhändler auf und niemand muss mit seinem Feind direkte Geschäfte tätigen. Nur aus diesem Grund ist der Freihafen für uns halbwegs sicher. Natürlich wimmelt es von Spionen und Agenten. Jeder will wissen, was der andere tut. Daher solltet ihr vorerst in Deckung bleiben.«

»Und was ist mir dir?«

»Ich?«, Anger grinste frech, »Ich bin doch nur der kleine Sohn vom Chef. Mich nimmt doch niemand ernst.«


»Ah, sind wir wieder aufgewacht?«

Zwei Tage waren vergangen, seid Suman in Gefangenschaft geraden war. Oder waren es drei? Suman war sich nicht sicher. Er hatte sich Stunden über Stunden wach gehalten, doch irgendwann weigerte sich sein Körper weiter die Augen offen zu halten und er schlief ein. Wie lange er geschlafen hatte, wer konnte das schon sagen? Man hatte ihn unter Deck in eine Kammer ohne Fenster gesperrt. Sein PDA-Implantat, das ihm das genaue Datum und die Uhrzeit hätte sagen können, war gestört. Wobei nicht klar war, ob dies durch den Sturz von Tingalen oder irgend etwas, das seine Bewacher getan hatten, verursacht wurde. Selbst zu seinem Drachen kam Suman nicht richtig durch.

Sie waren auf hoher See, das zumindest war sicher. Einmal mussten sie ihre Reise unterbrochen haben. Das Dröhnen der Motoren setzte aus und das Boot schaukelte nicht, während man an Deck Stimmen und Fußgetrappel hören konnte. Suman schätzte diesen Aufenthalt auf etwa zwei Stunden, dann wurde die Fahrt fortgesetzt.

Während der ganzen Zeit ließ man ihn zufrieden, was hieß, dass man, außer um ihm etwas Essen zu bringen, sich nicht einmal blicken ließ. So vergingen Stunden über Stunden. Die kleine Kammer, die schlechte Luft, die trübe Beleuchtung begann an Sumans Nerven zu zerren. Zum Glück beherrschte er einige Entspannungs und Konzentrationstechniken, um dem drohenden Effekt einer Einzelhaft entgegen zu wirken. Trotzdem, der Verlust seines Zeitgefühls ärgerte Suman. Auch das PDA-Implantat, das eigentlich über eine Selbstreparaturfunktion verfügen sollte, meldete nach wie vor eine Störung.

»Essen! Du kennst die Prozedur, stell dich mit den Händen an die Wand!«, tönte es durch ein paar Lüftungsschlitze.

Suman kannte die Prozedur. Sie wiederholte sich mit enervierender Regelmäßigkeit. Immer, wenn einer seiner Bewacher seine Kammer betreten wollte, musste er aufstehen und sich mit Händen auf und dem Gesicht zur Wand hinstellen. Erst dann öffnete sich die Tür.

»Was habt ihr mit mir vor?«

Nachdem er bisher geschwiegen hatte, meinte Suman seine Strategie, soweit man es als eine solche bezeichnen konnte, zu ändern. Warum sollte er nicht versuchen, etwas über seine Gegner in Erfahrung zu bringen.

»Wir? Nichts!«, lachte sein Bewacher bösartig, »Wir bringen dich nur zum Barad Baul. Dort wird man sich intensiv um dich kümmern.«

»Wenn ihr mich als Spion hinrichten wollt, dass ginge auch gleich hier auf hoher See.«

»Wer sagt denn, dass man dich hinrichten will? Nein, mein Freund, du wirst bereits sehnlichst erwartet.«

»Wer erwartet mich?«

»Das, mein Lieber, ist ja gerade die Überraschung. Jemand, der dich sehr, sehr gern hat, wartet bereits sehnsüchtig auf dich. Oh, du wirst euer Wiedersehen richtig genießen!«, nach diesen Worten brach der Wächter in ein fieses Gelächter aus und ließ Suman in seiner Kammer verwirrt zurück.


»Wie sieht es aus?«

Den ganzen nächsten Tag warteten die drei Drachen, Gilfea und Gildofal im Lagerschuppen auf die Ankunft des Schnellboots mit Suman an Bord. Anger hatte den Lagerschuppen verlassen, um die Lage zu sondieren und sofort Alarm zu schlagen, sollte Suman eintreffen. Gegen späten Nachmittag kehrte er zurück. Das Boot mit Suman war nicht eingetroffen. Während Anger auf Suman wartete, vertrieb sich Gilfea die Zeit damit, nervös im Schuppen umher zu laufen. Erst als Gildofal ihn sanft packte und in den Arm nahm, wurde Gilfea etwas ruhiger. Doch kaum kehrte Anger zurück, riss sich Gilfea los und stürmte auf den Neovikinger zu.

»Schlecht! Keine Spur von eurem Freund. Die Boote hätten längst in Tharbad sein sollen«, beantwortete der junge Neovikinger Gilfeas Frage. »Die Wachen am Barad Baul und seinem Anleger wurden verstärkt. In der Stadt wimmelt es von Geheimpolizei und Klerikern. Man könnte meinen, Tharbad stehe kurz vor einer Explosion. Jedenfalls bereitet man sich auf etwas verdammt großes vor.«

»Wie stehen die Chancen, unseren Freund zu befreien?«

»Kniffelig«, Anger wirkte nicht wirklich optimistisch, »Wollt ihr meine ehrliche Meinung hören?«

»Natürlich!«

»Die Stadt steht unter totaler Überwachung. Euren Freund auf dem Weg vom Boot zur Kerkerfestung abzufangen, halte ich für ausgeschlossen. Allerdings könnten wir versuchen euren Freund aus dem Barad Baul zu befreien.«

»Moment, ich dachte der Barad Baul sei absolut aus- und einbruchssicher?«

»So sagt man«, Anger grinste breit, wobei er zwei Reihe schneeweißer Zähne entblößte, »Jeder behauptet, der Barad Baul wäre absolut sicher. Nicht mal eine Kakerlake würde das Gebäude betreten können, ohne dass die Wächter dies nicht bemerken würden. Oh, Tharbad ist mächtig stolz auf seinen Superknast. Ausgerüstet mit den modernsten Sicherheitssystemen könne einfach niemand dort einbrechen und jemanden herausholen. Nun ja, vielleicht sollten wir sie eines besseren belehren? Ihre größte Schwäche ist nämlich ihre vermeintliche Perfektion. Die Wächter verlassen sich vollständig auf die Sicherheitssysteme. Solange die nicht ›Pieps‹ machen, dösen sie gelangweilt vor sich hin.«

»Hm, das klingt zwar nach einer interessanten Idee, doch für die Umsetzung eines solchen Plans bräuchten wir einen Profi, der sich mit Sicherheitssystemen und Einbrüchen auskennt«, gab Gilfea zu bedenken.

»Vielleicht gibt es jemand, der uns da helfen könnte. Ich kenne jemanden, der genug Erfahrung besitzt und verrückt genug wäre, um so etwas durchzuziehen. Er treibt sich viel in der Welt rum, scheint aber gerade in der Stadt zu sein. Wenn er nicht gerade mit anderen Dingen beschäftigt ist, könnte ich bei ihm mal vorfühlen, ob er, gegen ein entsprechendes Honorar, sich nicht unserer Sache annehmen könnte.«

»Gegen ein Honorar? Der Mann ist ein Söldner?«, Gilfea war nicht überzeugt, ob die Idee wirklich so gut war. Überhaupt, konnte er es riskieren, Sumans Leben einem Fremden anzuvertrauen? Andererseits stellte sich die Frage, welche Optionen es überhaupt noch gab. Gilfea musste sich eingestehen, dass er zwar ein Drachenreiter mit einem wirklichen Monster von einem Drachen war, ihn aber sonst nichts für solche Aufgaben, wie militärisch präzis geplante Rettungsaktionen, qualifizierte. Ihm fehlten die Erfahrung und das nötige Wissen. Uskav wüsste, was zu tun war. Doch Gilfea war nicht Uskav. Wenn also ein Profi, ein Söldner, Suman befreien könnte, warum sollte man es dann nicht versuchen?

»Und dieser Profi, ist er vertrauenswürdig?«, fragte Gilfea und wählte dabei einen Tonfall, der klar machte, wie wichtig ihm die Frage war.

»Ja!«, war Angers knappe Antwort, »Absolut!«

»Anger, warum tust du dies alles für uns?«

»Ist das nicht klar?«, Anger schaute zu Mithval, Eargilin und Tingalen hinüber, »Ich möchte ein Drachenreiter werden!«

Lesemodus deaktivieren (?)