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Kopfgeister
Meine Insel
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Informationen
- Story: Kopfgeister
- Autor: Nero
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Coming Out, Krimi, Abenteuer, Comedy, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung oder Ein paar ernste Worte vorweg
- Prolog
- 1.1. Über das Inselleben und andere Katastrophen
- 1.2. Surfen mal anders - mit ohne Wasser
- 1.3. Sonnenuntergang - oder Kitsch komm raus, du bist umzingelt
- 1.4. Ein ehrenwerter Hacker
- 1.5. Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt
- 1.6. Fragen über Fragen - und Antworten, die man eigentlich nicht will
- 1.7. Landeier in der Großstadt
- 1.8. Ich und mein dummes Gesicht
- 1.9. Merk mal was!
- 1.10. My Home Is My Castle
- 1.11. TexMex - oder heiße Nachrichten zu heißem Essen
- 1.12. Jugend forscht!
- 1.13. Trübe Zukunftsplanung
- 1.14. Mutterwitz und Planspiele
- 1.15. Kleine Überraschungen erhalten die Freundschaft
- 1.16. T minus Null
- 1.17. Jan und das Fegefeuer der Eitelkeiten
- 1.18. Ein Engel namens Felix
- 1.19. We will see again...
- Nachwort
Vorbemerkung oder Ein paar ernste Worte vorweg
1. Dieser Text ist reine Fiktion. Es existieren weder die darin vorkommenden Leute, Orte und Handlungen. Sollte sich jemand wiedererkannt oder auf den Schlips getreten fühlen, sorry, das war keine Absicht.
2. Obwohl dieser Aspekt nicht im Vordergrund steht, in der Geschichte kommen schwule sexuelle Handlungen vor. Wen sowas stört, dem kann ich nur sagen: Niemand wird gezwungen, diesen Text zu lesen. Wer rein rechtlich zu jung ist, der darf natürlich nicht weiterlesen.
3. Dies ist mein erster Versuch, eine Geschichte zu schreiben. Liebe Leser, seid bitte nachsichtig mit mir. Es ist sauschwer, mit der super Qualität der anderen Autoren mitzuhalten.
4. Mir geistert noch eine ganze Menge im Kopf rum. Deswegen ist dies auch der erste Band von Kopfgeister . Ich habe noch mindestens drei weitere Bände in der Pipeline. Die ersten Skizzen der Handlung sind schon fertig. Stay tuned!
5. Ich stehe mit der deutschen Rechtschreibung etwas auf dem Kriegsfuß. Ok, das sind wohl nicht die besten Voraussetzungen, um Geschichten zu schreiben. Also bitte, lasst Nachsicht walten. Denkt immer: Der gute Vorsatz zählt.
PS: Der Prolog mag etwas verwirrend sein und nicht zur Geschichte passen. Ich sage nur Abwarten...
PPS: Viel Spaß !
Prolog
»Komm ..., es ist spät ...«
Ja, das war es wohl. Aber mir war es egal - Scheißegal.
Sag mal weinst du oder ist es nur der Regen, der von deiner Oberlippe tropft?
Es waren Tränen. Meine Tränen und ein passender Ort dafür.
»Einen Augenblick noch ...«, meine Stimme war kraftlos.
»Schon gut ...«
Ein Friedhof im November. Es war feucht und es war kalt; was auch sonst? Die Kälte kroch mir in die Knochen. Aber auch das war mir egal. Es war alles ziemlich sinnlos. Aber seit wann mach Dummheit Sinn?
Die Blumen auf dem Sarg schienen der Kälte des Wetters und der Kälte des Momentes trotzen zu wollen. Obwohl die Dämmerung bereits eingesetzt hatte, ging von ihnen ein wunderbares Leuchten aus, ein Reflex von Schönheit und Liebe. Als wenn die sterblichen Überreste, die dort in dieser Kiste verwahrt wurden, der Endgültigkeit des Todes, Lügen strafen wollten. Seht her. Hier bin ich. Mir kann Nichts etwas anhaben - Jetzt nicht mehr!
Stiefel und Fäuste hatten es gekonnt. Mit genug Hass und Gewalt lässt sich das Leben aus seiner zerbrechlichen Hülle heraus treiben.
Meine Tränen wetteiferten mit dem Nieselregen.
Wenn es einen Gott gab, dann war er wohl im Moment zu ziemlich zynischen Witzen aufgelegt: Die Sonne war inzwischen soweit gesungen, dass sie am Horizont unter der Wolkendecke hindurch strahlte. Ein paar rot-goldene Strahlen fielen direkt auf den Sarg und ließen ihn im herbstlichen Dunst überirdisch schön aufglühen - Wie kitschig! Bäh!
Erleuchtung? Ich bin weiß Gott kein religiöser Mensch, aber im Anblick dieses Lichts kippte meine Stimmung um. Die Trauer war wie weggeblasen. Die Tränen versiegten. Ob ich es wollte oder nicht, ich weiß es nicht mehr, aber irgendwie schlich sich ein Grinsen auf meine Lippen. Eine Idee machte sich in meinem Kopf breit. Eine sehr, sehr böse Idee.
Es war spät - Aber es war nicht zu spät etwas zu tun. Ganz im Gegenteil. Es war Zeit ein Zeichen zu setzen! Auf meine Art!
1.1. Über das Inselleben und andere Katastrophen
Die Ereignisse, von denen ich berichten will, begannen in den Sommerferien am Ende der 9. Klasse. Das liegt jetzt fast drei Jahre zurück. Drei Jahre in denen viel passiert ist. Nein falsch, in denen alles passiert ist.
Vielleicht sind ein paar Daten zu meiner Person ganz hilfreich: Mein Name ist Sven. Sven Jacobsen, und ja, ich werde Svenni genannt. Das ist bei diesem Namen wohl unvermeidlich. Ich bin (fast) 16 Jahre alt, so um die 1,76 Meter groß (oder klein, je nach Geschmacks- und Ansichtssache), blond (Das sagt ja schon mein Vorname. Alle die Sven heißen sind ja bekanntlich blond.) und natürlich bin ich auch blauäugig. Was kann ich für meine skandinavischen Gene? Beschwert euch bei meiner dänischen Mutter.
Zu Beginn dieser Geschichte lebte ich mit meinen Eltern auf der Ostseeinsel Fehmarn. Man mag es kaum glauben, aber selbst auf diesem provinziellen Eiland hatten wir nicht nur Fernsehen und Telefon (die Buschtrommeln wurden 1980 abgeschafft), nein, es gab sogar eine Schule: das Inselgymnasium. Unter uns Schülern auch liebevoll »unser Inselknast« genannt. Ich wurde nicht auf Fehmarn geboren. Dafür, dass ich dort lebte und wohnte, war mein Paps verantwortlich, beziehungsweise seine Lieblingssportart: das Windsurfen. Da er es sich leisten konnte, hatte er, als ich so ungefähr 3 Jahre alt war, ein Haus auf Fehmarn gebaut und ist mit uns dort hingezogen.
Allerdings hatte sich das mit dem Surfen bei meinem Paps inzwischen weitgehend gelegt. Zum einem hatte er kaum noch Zeit. Als Bankmensch war er mit einem 14-Stunden-Tag gesegnet und pendelte täglich zwischen Kiel und Fehmarn. Manchmal, wenn's mal wieder Dick kam, bleib er sogar die ganze Woche in seiner Stadtwohnung. Der andere Grund, warum er kaum noch surfte: Ich surfte um Klassen besser als er! Das schien ihn wohl zu wurmen. Tja, es hatte ihn ja niemand gezwungen mir das Surfen unbedingt beibringen zu wollen. Selbst Schuld!
Damit hätte ich auch gleich meine eigene Lieblingssportart erwähnt: Windsurfen, und neuerdings Kitesurfen. Kitesurfen ist nur etwas für völlig durchgeknallte Idioten, also zum Bleistift für mich. Man nehme einen zu groß geratenen Lenkdrachen, stopfe noch aufblasbare Luftschläuche (Tubes) rein (damit das Ding nicht sinken kann) hänge vier Leinen dran und sich selbst an die Leinen. Danach lasse man sich dann mit einem Kite- oder Wakeboard über und aus dem Wasser ziehen. Wahnsinn!
Alles hat natürlich seine zwei Seiten, auch der Sport und ich. Ich war zwar megasportlich und fit wie ein 5 Jahre alter Turnschuh, aber sobald Bälle ins Spiel kamen (egal ob Fuß-, Hand-, Basket- oder Wasserbälle): Totalausfall. Ich dürfte in unserer Klasse die sportlichste Sportniete aller Zeiten gewesen sein. Oder anders ausgedrückt: Ratet mal, wer als Letztes bei der Mannschaftsauswahl gewählt wurde. Bingo, klein Svenni!
Ach ja, dann bin ich ja auch noch schwul, am Anfang dieser Geschichte noch Jungfrau und ungeoutet. Das war eines meiner vielen Probleme, die anderen lauerten schon hinter der nächsten Straßenecke, haben aber erst später in meiner Geschichte ihren großen Auftritt.
An diesem Schuljahresende war ich eigentlich fast zufrieden mit mir. Das Klassenziel so halbwegs geschafft, mit mir selbst ins Reine gekommen (mein privates Coming Out) und am wichtigsten: endlich Ferien.
Das mit dem Klassenziel und dem ins Reine kommen hingen natürlich zusammen. Hatte ich doch die letzten eineinhalb Jahre mehr Phasen durchlebt als jeder bessere Zwei-Phasen-Gebiss-Reiniger.
Ihr kennt das doch sicherlich:
Phase I - Die Erkenntnis. Mann stellt fest, dass irgendetwas mit einem anders ist. Die anderen Jungs beginnen mit den Mädchen zu fummeln, aber man selbst fummelt nur an sich selbst rum. Fantasien von Mädels wollen sich dabei aber partout nicht einstellen. Stattdessen schieben sich immer wieder Bilder von süßen Jungs (etwa dem Schnuckel aus der Parallelklasse) herein. Irgendwie merkwürdig und auch etwas unheimlich.
Phase II - Gespanntes Abwarten. Es ist wohl nur eine Phase und die geht wieder vorbei. So denkt man. Immerhin stand es so in der Bravo von der Schwester des Schulfreunds. So oder so ähnlich läuft das dann eine ganze Weile. Doch irgendwie will diese »homoerotische Phase« nicht aufhören. Ein leichter Anflug von Panik machte sich langsam in einem breit. Mann ist reif für die nächste Phase:
Phase III - Warum ich. Der Zeitpunkt an dem Mann eine Entscheidung treffen muss.
Bei mir lautete die Entscheidung: Nachlesen. Homosexualität, sexuell abnormes Verhalten zum eigenen Geschlecht, Geisteskrankheit, siehe auch Perversion. Ok, das Medizinlexikon war schon ziemlich alt, aber wer achtet schon als 15 jähriger auf ein Erscheinungsdatum: 1964. Ich hatte erst mal mit dem Schock zu kämpfen, ein perverser Geisteskranker zu sein, auch wenn ich mich nicht unbedingt so fühlte. Aber was in wissenschaftlichen Fachbüchern steht, ist ja bekanntlich die Wahrheit, oder? So richtig sicher war ich mir da nicht - nicht mehr. Phase III schien sich zur unfreundlichsten Phase zu entwickeln.
Das war so ungefähr der Zeitpunkt, an dem ich für die erwachsene Umwelt ziemlich unerträglich gewirkt haben muss. Meine schulischen Leistungen trudelten prompt von einer guten Zwei auf eine wackelige Vier. Irgendwie begann ich von nun an, so ziemlich alles in Frage zu stellen. Nach Außen! Nach Innen stellte ich mir eigentlich nur eine Frage: Warum ich. Könnte das nicht jemand anderen treffen. Wie wär's mit dem fetten Carsten aus der Parallelklasse, den mag eh niemand? Erstaunlicherweise ließen mich meine werten Eltern während dieser Zeit halbwegs zu Frieden.
1.2. Surfen mal anders - mit ohne Wasser
Phase IV - Erkenntnis. Gelobet sei das Internet, preiset den Gott CPU und seine Engel, die Speicher und Festplatten. Die letzten Weihnachten hatten mir einen PC samt Internetzugang eingebracht. Trotz meiner bescheiden-miserablen Schulnoten. Mami, Papi und Oma sei Dank! Computer hatten mich irgendwie schon immer interessiert und ich hatte auch bei Freunden schon mit solchen Dingern rumgespielt. Nein, das ist untertrieben. Wir hatten in unserer Schule eine Computer-AG. Die Kisten waren zwar aus dem letzten Jahrhundert und ein Internetzugang war auch nicht, aber immerhin.
Diese Weihnachten passten für mich und meinen neuen Computer perfekt: ich hatte Zeit (die anderen Jungs aus meiner Klasse hatten stattdessen ihre Freundinnen) und es war kein Surfwetter (Weihnachten fällt ja meistens in den Winter und wer surft schon gerne zwischen Eisschollen). Also ran an die Kiste. Als Erstes musste Windows dran glauben. Von meinem besten Freund Thimo, von dem gleich noch zu berichten sein wird, hatte ich mir Linux besorgt und ihn gleich noch als meinen persönlichen PC-Guru eingestellt (Thimo, nicht das Linux). Nach knapp zwei Stunden war alles installiert, eingerichtet, die ISDN-Leitung angestöpselt und los ging's.
Bei den ersten Schritten half mir also mein persönlicher PC-Wizard. Als ein echter PC-Crack durfte er die öde Konfigurationsarbeit machen und mir das Wichtigste verklickern: E-Mail, Surfen ohne Wind (geht-doch-gar-nicht!), Suchmaschinen, Spiele. Halt das ganze ABC der EDV wurde mir in einem Crash-Kurs verklickert. Thimo war geduldig (im Gegensatz zu mir) und erklärte mir wirklich alles (ein sehr mühsames Unterfangen), naja und ich bin halt auch nicht so dumm wie ich aussehe und kapierte das meiste doch recht schnell.
Dann, nach gut fünf Stunden, war es endlich soweit. Thimo ging nach Hause, ich war alleine! Nur ich, mein Rechner und das Internet: Suchmaschinen aufgerufen und die Suchbegriffe eingegeben, die ich seit Monaten eingeben wollte.
Ihr könnt euch sicherlich denken, welche Begriffe das waren. Und genau so könnt ihr euch denken, wie ernüchtert ich danach war. Was ich damit meine? Also wenn das, was ich da alles las und in eindeutigen Bildern sah, das war, was ich war, dann wollte ich nicht das sein, was ich nun mal war.
Kommen noch alle mit?
Mit anderen Worten: Ich war geschockt! Wenn schwul sein bedeutete, total aufgebrezelt oder in merkwürdigem Lederzeugs rumzulaufen und noch merkwürdigere Dinge zu machen, dann wollte ich doch lieber Mönch werden. Auch was so in den Chatrooms à la IRC und Co ablief, war überhaupt nicht mein Ding. Alle wollten nur Sex mit mir haben. Spätestens nachdem ich mein Alter, Größe und Aussehen beschrieben hatte. Ich wollte keinen Sex. Naja eigentlich wollte ich den schon, aber nicht als Selbstzweck. Und vor allen Dingen nicht mit Leuten, dessen Sabber schon fast aus der ISDN-Leitung gequollen kam. Ich wollte einen Freund haben. Jemand, der so fühlte wie ich, mit dem man reden konnte, jemanden mit dem man knuddeln und kuscheln konnte. Ich wollte jemanden, in den ich mich verlieben konnte.
Aber mein erster Versuch war Essig. Nein, es war eigentlich noch viel schlimmer. Ich war von dem, was ich im Internet las und sah angeekelt. Ich war von mir selbst angeekelt. Ich schaltete die Kiste aus und wimmerte mich in den Schlaf. Das medizinische Wörterbuch hatte also doch Recht. Ich war ein perverses Schwein!
Mein emotionaler Absturz dauerte zwei Tage. Danach begann die Vernunft und Neugier über den empfundenen Ekel zu siegen. Das, was ich bisher gesehen hatte, konnte doch nicht alles gewesen sein. Vielleicht war ich auch nur mit zu hohen oder falschen Erwartungen an die Sache rangegangen. Mit diesen Gedanken im Kopf, startete ich also einen zweiten Versuch. Diesmal wollte ich etwas systematischer vorgehen.
Also: Prozessor angeglüht, Linux hochgefahren und rein ins böse Internet.
Bingo! Das sah doch gleich viel besser aus. Es gab also auch noch eine andere Seite des Schwulseins. Endlich fand ich, was ich suchte: Coming-Out-Stories, Seiten für junge Schwule und die Erkenntnis: Ich bin nicht allein. Wow! Von am Boden zerstört zu Himmel hoch jauchzend in zwanzig Minuten war schon nicht schlecht.
Dies war der Moment! Langsam begann ich zu verstehen. Langsam begann ich zu begreifen, wer und was ich war und seit dem mit ganzen Herzen bin: schwul, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Die nächsten Monate war sehr viel surfen angesagt, allerdings weniger auf dem Wasser wie früher. Ich hätte nie gedacht, dass schwul zu sein ein Ausbildungsberuf ist. Aber ich lernte, las und, ich muss es zugeben, sammelte auch das eine oder andere Bild. Ok, ich sammelte alle Bilder, die ich finden konnten. So für gewisse einsame Momente, nach denen man dann eine andere Unterhose braucht.
Um Ostern herum hatte ich mir sogar soviel Mut angesurft, dass ich mich im IRC mit anderen Jungs über ihre Erfahrungen austauschen konnte. Obwohl ich mir bei manchen der Jungs nicht sicher war, ob die wirklich noch Jungs waren.
Einer stach aber von allen anderen heraus. Wir lagen sofort auf der gleichen Wellenlänge. Er schien genau das Gleiche durchgemacht zu haben wie ich, war aber wohl schon etwas weiter mit seinem Coming-Out. Er hörte mir zu (naja, eigentlich müsste das wohl heißen, er las mir zu. IRC ist doch sehr tastaturgebunden) und fand danach immer die richtigen Worte. Es schien, als wenn wir uns schon seit Jahren kennen würden. Aber das Wichtigste war: Er sorgte dafür, dass ich mich wieder selbst respektierte und mich so nahm wie ich war und bin. Ein tolles Gefühl.
Eine Sache hatte ich allerdings nicht übers Herz gebracht. Mein IRC Chat-Freund (Ircname #CKent77), so muss ich ihn wohl nennen, meinte, ich sollte es meinen Schulfreunden sagen oder zumindest meinem besten Freund. Ich hatte ihm von Thimo erzählt und er meinte, wenn er wirklich mein bester Freund sei, dann kann das gar nicht schief gehen. Vielleicht würde ich sogar eine positive Überraschung erleben. Er hatte Recht, ich hatte mir sowieso vorgenommen, dass Thimo es als erster erfahren sollte. Aber letzten Endes fehlte mir dann immer wieder der Mut. Naja, vielleicht in den Sommerferien.
1.3. Sonnenuntergang - oder Kitsch komm raus, du bist umzingelt
Wie gesagt, die Sommerferien hatten begonnen. Ich war schwul und stolz darauf (so still für mich alleine). In der Schule hatte ich auch nochmal die Kurve gekriegt und eigentlich allen Grund fröhlich zu sein. Doch trotzdem kam ich in melancholische Stimmung. Wenn schon schwul, dann doch bitte nicht alleine. Das Verhalten meiner Schulfreunde machte die Sache auch nicht besser, eher im Gegenteil. Um das zu verstehen muss, ich vielleicht kurz mal erklären, wie das hier auf unserer Insel im Sommer so läuft.
Fehmarn ist nicht nur eine Insel, es ist eine Ferieninsel. Sind (Schul-)Ferien, werden wir mit Touris überflutet. Hauptsächlich über 50jährige Ehepaare und junge Familien mit ihren Kids. Tja, wir sind halt eine familienfreundliche Insel. Und was machen Touris? Alles was man so im Urlaub macht: Baden, Sonnen, Biken, Surfen(!), Tauchen, Schwimmen und Shoppen, Shoppen und noch mal Shoppen. So ziemlich jeder Fehmarner, der ein Häuschen besitzt, hat auch ein oder mehrere »Fremden-« oder »Gästezimmer«. Die Insel lebt von den Urlaubern. Für uns Jungs und Mädels war das eher beschi...eiden. Fehmarn ist sauteuer, zumindest für jemanden mit durchschnittlichem Taschengeld wie mich. Aber es gab da noch eine andere Sache: die Töchter und Söhne der Gäste.
Dieses Jahr hatte Schläfrig-Hohlstein als eines der ersten Bundesländer Ferien bekommen. Erst in ein-zwei Wochen würden die ersten Urlauber mit ihren Kids bei uns eintreffen. Meine Freunde fieberten dieser Gästeflut schon sehnsüchtig entgegen. Wir nannten diese Jahreszeit deswegen auch immer die »Jagdsession«. Im Gegensatz zum blassen Großstadtbewohner waren wir meistens schon im Frühjahr ziemlich gebräunt, äh durchgeknuspert. Fehmarn ist eine Sonneninsel. Für uns eigentlich normal, waren die Stadtmädels immer ganz wild auf uns Inselboys. Oh ja, auf mich leider auch. Nach zwei, drei Tagen hatte so ziemlich jeder Junge aus meiner Klasse, der halbwegs passabel aussah, eine Freundin für die nächsten zwei, drei Wochen.
Naja, und während alle meine Freunde versorgt und glücklich waren, blieb ich solo. Denn selbst wenn die Gästeflut auch einen süßen schwulen Jungen an unsere Küste gespült hätte, ich hätte nie den Mut gefunden, ihn anzusprechen.
Das war der Grund, warum ich mich nicht richtig auf die Ferien freuen konnte. So vertrieb ich mir die meiste Zeit mit Surfen (diesmal auf dem Wasser). Tja, und dann passierte die Sache mit Thimos Vater.
Thimo Camron-Bach war mit Abstand mein bester Freund. Wir kennen uns seit ich drei Jahre war, also quasi seit unserer Sandkastenzeit. Wir waren immer unzertrennlich, egal ob Kindergarten, Grundschule oder Gymnasium. Thimo und Sven, das war das dynamische Duo. Nicht dass wir nicht auch andere Freunde hatten. Ganz im Gegenteil. Es gab da so eine lockere Gruppe von 7 bis 8 Freunden: Thimo, Maik und Maike, Sören, Stefan, Kai, Anne und ich. Die reinste Horrorgang. Sollte Bauer Hansen jemals erfahren, warum seine Güllegrube explodierte, werden wir wohl unseres Lebens nicht mehr froh werden. Aber die Beziehung zwischen Thimo und mir war immer was Besonderes. Nicht dass ihr mich jetzt falsch versteht. Thimo war durch und durch hetero. Was schade war, da er ziemlich gut aussah.
Zwischen Thimo und mir herrschte sowas ein Gleichklang des Geistes, wie es das nur zwischen besten Freunden gibt. Wir verstanden uns ohne Worte. Ein gegenseitig ausgetauschter Blick und wir wussten sofort, dass wir das Gleiche dachten. Oder es kam vor, dass ich was dachte und Thimo es aussprach. Das Ganze natürlich auch umgekehrt. Sören meinte irgendwann mal, dass man wohl unsere Gehirne miteinander verkabelt haben muss.
Durch einen Schicksalsschlag, anders konnte man das nicht nennen, wurde unsere Freundschaft dann absolut unzertrennlich.
Es gibt Dinge, die sollte man mit fünfzehn Jahren niemals erleben müssen. Thimos Vater starb. Nein, das ist untertrieben, er krepierte. Langsam und unaufhörlich zehrte ihn eine Form von Knochenkrebs auf. Wenn ich je ein harmonischeres und liebevolleres Verhältnis zwischen Vater und Sohn erlebt habe, als zu meinem eigenen Vater, dann war es das zwischen Thimo und seinem Vater. Um so mehr litt Thimo.
Ich weiß eigentlich nicht, was ich in dieser Zeit für ihn besonderes gemacht habe, aber es schien richtig gewesen zu sein. Im Grunde war ich einfach nur für ihn da, wenn er jemanden brauchte: um zu reden, um zu schweigen oder um sich an jemandes Schulter ausweinen zu können. Vielleicht hatte ich auch nur im richtigen Moment meine vorlaute Klappe gehalten. Ich empfand das als Selbstverständlichkeit: für einen Freund da zu sein, ob in guten, in schlechten oder, wie damals, in beschissenen Zeiten. Außerdem lenkte es mich ein wenig von meinen eigenen Problemen ab.
Die Leiden von Thimos Vater dauerten gut ein dreiviertel Jahr. Fast täglich wurden seine Morphiumdosen erhöht. Einen Tag werde ich nie vergessen. Wir waren bei ihm zu Hause, als sein Vater mich bat, mich alleine, ohne Thimo zu sprechen. Er war schon sehr dünn, hager und ausgezehrt, aber man sah immer noch seinen klaren Verstand hinter gleichzeitig müden und trotzdem hellwachen Augen aufflackern.
» Tu morturi salutant! - Die Todgeweihten grüßen dich! Sven ...« Thimos Vater versuchte unter schweren Schmerzen zu lächeln und sein Humor war noch bissiger als sonst. Doch dann wurde er plötzlich sehr ernst: »Ich möchte mich bei dir bedanken.«
Ich wollte gerade etwas erwidern, aber ein kurzes Kopfschütteln ließ mich sofort verstummen. Dann fuhr er fort.
»Ich spüre, dass es bald zu Ende geht. Ey, sei nicht traurig, für mich wird es eine Erlösung sein. Ich habe meinen Frieden mit der Welt geschlossen. Und außerdem, wer will schon immer so eine lebende Leiche im Hause haben? Als Urne auf der Fensterbank werde ich viel handlicher sein.«
Man hätte seinen Humor als ätzende Verbitterung missverstehen können, doch dann hätte man ihn falsch verstanden. Das war seine Art. Er meinte es genau so: »Hey, ist schon OK was passiert. Shit happens! «
»Ich möchte dir danken, dass du die ganze Zeit für Thimo da warst. Ich weiß, du willst jetzt sagen, dass das selbstverständlich war. Aber das war es nicht! Ich bin froh, dass er einen so guten Freund wie dich hat. Danke, Sven.«
Die kleine Rede schien ihn sehr angestrengt zu haben. Er schloss die Augen. Mir quollen die Tränen in die meinigen, mein Hals war zugeschnürt, das Atmen fiel mir schwer. Gerade als ich dachte, dass er eingeschlafen war, und mich davonschleichen wollte, öffnete Svens Vater seine Augen.
»Warte! Ich habe noch eine Bitte. Du solltest es ihm sagen! Er hat es verdient, es zu wissen. Frag mich nicht, woher ich es weiß. Versprich es mir!«
Ich musste schlucken. Thimos Vater wusste, dass ich schwul war und das genau zu einer Zeit, als ich noch selbst mit mir am Kämpfen war.
»Ich versprech's!«
»Danke, Sven!«
Er schloss die Augen. Dies waren die letzten zwei Worte, die ich je von ihm gehört habe. Zwei Tage später schlief er friedlich ein. Es mag herzlos klingen, doch der Tod von Thimos Vater war eine Erlösung für die ganze Familie. Die Trauerfeier war nochmals sehr hart, sowohl für Thimo als auch für seine Mutter. Aber danach begann es ihm von Woche zu Woche besser zu gehen. Er kam langsam über seinen Verlust hinweg, ohne ihn zu vergessen oder zu verdrängen. Ich hingegen hatte ein schlechtes Gewissen, eins das mit jedem Tag wuchs. Bisher hatte ich noch nicht den Mut aufgebracht, mein Versprechen gegenüber Thimos Vater einzulösen. Die Zeit verging. Es wurde Sommer.
1.4. Ein ehrenwerter Hacker
Wie ich surfte Thimo für sein Leben gern. Er hatte sich dieses Jahr verständlicherweise nicht der Mädchenjagd angeschlossen. Die Trauer um seinen Vater war noch zu groß.
Eigentlich war Thimo der Typ, auf den die Mädchen, und solche Jungs wie ich abfahren: eine tolle, nein geile, supersportliche, aber nicht übertrieben muskulöse Figur, ein süßes Gesicht mit sensiblen, melancholischen Augen, in denen man ertrinken könnte. Seine schlimmste Waffe aber war sein Hundeblick - entwaffnend und tödlich. Mit diesem Blick hatte er sogar unsere Lateinlehrerin kleingekriegt.
Allerdings war Thimo kein Draufgänger, der alle zwei Wochen eine Neue hatte. Dafür sind ihm Beziehungen zu wichtig. Er war der Erste in unserer Klasse, der mehr als ein Jahr mit der gleichen Freundin zusammen war. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wären sie wahrscheinlich immer noch zusammen. Naja, Maike, seine damalige Freundin, die Zwillingsschwester von Maik (Manche Eltern scheinen nicht zu wissen, was sie ihren Kindern mit solchen Namen antun.), hatte sich letztes Jahr der Jagd angeschlossen und hatte einen Jungen erobert, den sie aus meiner Sicht auch für sich behalten konnte. Diese Eroberung hielt sogar recht lange. Maike war eine fleißige Briefschreiberin. Ich glaube aber, der wahre Grund, warum Maike Schluss gemacht hat, war, dass sie nicht wusste, wie sie mit den Auswirkungen der Krankheit von Thimos Vater auf seine Stimmung umgehen sollte. Aber diese Überlegung behielt ich lieber für mich. Erstaunlicherweise hat sich Thimo zu diesen Dingen mir gegenüber nie geäußert. Weder zur Beziehung zu Maike noch warum sie zu Ende ging. Ich wollte auch nicht nachfragen. Wenn er darüber sprechen wollte, würde er es irgendwann tun.
Da wir nun beide (Thimo und ich) solo waren, verbrachten wir die meiste Zeit zusammen auf dem Wasser. Thimo surft mindestens so gut wie ich. Er war etwas stämmiger als ich gebaut. Während ich eher mehr so den Körper eines Schwimmers hatte und auch immer noch habe, war Thimo mehr der Typ eines Allroundathleten. Kein Fett, alles Muskeln, die dabei aber nicht unförmig wie bei einem Bodybuilder wirkten, sondern vielmehr die natürliche Form seines Körpers unterstrichen - Ein Traummann und dazu noch verdammt gelenkig. Thimo kam mit allen Arten von Ballspielen klar! Ich empfand es als totale Verschwendung, dass dieser Mann hetero war!
Es war ein Freitagabend. Wir hatten den ganzen Tag gesurft und waren jetzt ziemlich müde. Der Wind hatte sich gelegt und wir genossen die letzten Sonnenstrahlen am Strand. Eigentlich ein wunderschöner Tag. Doch irgendwie war die Stimmung merkwürdig gedrückt. Thimo war merkwürdig. Er war die ganze Zeit nicht richtig bei der Sache, als wenn er mit einer Entscheidung zu kämpfen hatte. Zum Abend nahm diese seltsame Stimmung noch zu.
Normalerweise reden wir recht viel. Doch als wir zusammen am Strand saßen, schwiegen wir diesmal nur. Mir wurde die Situation immer unbehaglicher.
»Thimo, was ist los?«
Ein tiefes Luftholen, ausatmen, Mut sammeln.
»Sven, du bist doch mein bester Freund?«
War das eine Fangfrage, das wusste er doch. Warum fragte er sowas? Ich wurde nervös. Hatte ich irgendwas falsch gemacht?
»Ich denke schon. Wieso?«
»Warum vertraust du mir dann nicht?«
Was war das? Wie jetzt? Mein Herzschlag setzte aus, ich spürte ein sehr unangenehmes Ziehen in meiner Brust. Was wollte er von mir?
»Wie meinst du das?«, meine Gegenfragen waren noch nie die intelligentesten.
Thimo holt nochmals tief Luft. Ich ahnte, dass mir der nächste Satz bestimmt nicht gefallen würde.
»Warum hast du mir nie erzählt, dass du schwul bist?«
Mir blieb die Sprache weg. Woher wusste Thimo, dass ich schwul war. Hatte seine Familie den sechsten Sinn? Eine Dynastie von Gedankenlesern? So richtig einen klaren Gedanken zu fassen war fast unmöglich. Ich saß nur da. Hatte meinen Blick auf mein Badetuch gesenkt und brachte kein Wort raus.
Tausende Gedanken gleichzeitig durchzuckten mein Hirn. Warum hatte ich so lange gewartet? Wer weiß es noch? Warum habe ich es ihm nie erzählt? Gibt es in der Hölle Eiscreme? Ich hatte mein Versprechen gebrochen. Könnte die Welt jetzt nicht explodieren. Warum passiert mir sowas?
Dann bekam ich auf einmal höllische Angst. Angst davor, dass er meine Freundschaft und ja auch irgendwie meine Liebe falsch verstehen könnte. Mir wurde in diesem Moment klar, dass ich diesen Jungen auf eine völlig asexuelle Art liebte. Diese Erkenntnis machte mir Angst. Angst ihn zu verlieren. Möglicherweise würde er auf die Idee kommen, dass, als ich ihn während der Krankheit seines Vaters getröstet hatte, ich mich nur an ihn ranmachen wollte und mich nun dafür hassen.
Ich schämte mich. Meine Augen wurden feucht und glasig. Die ersten Tränen sickerten aus meinen geschlossenen Liedern hervor. Mein Puls war zu einem ohrenbetäubenden Hämmern angeschwollen. Meine Hände ballten sich zu Fäusten.
»Also nochmal: Sven, bist du schwul?«, die Frage wurde klar, mit respektvollem Ernst aber auch sehr nachdrücklich gestellt. Diese eine Frage, gerade mal drei Worte, erlaubten keine Ausflüchte. Also dann: die Wahrheit.
»Scheiße! Ja!«, das kam ein Tick zu heftig. Ich öffnete schnell meine Fäuste und spreizte alle Finger. Nur nicht aggressiv werden. Hier stand jetzt alles auf dem Spiel. Meine in den letzten Monaten mühsam wieder erarbeitete Selbstachtung macht Puff und war weg. Und trotzdem fühlte ich mich wunderbar erleichtert. Beginnt so Schizophrenie? Meine Augen produzierten Sturzbäche von Tränen und ich fühlte mich gleichzeitig erleichtert. Ich stand völlig neben mir und hatte das Gefühl, alles aus weiter Ferne zu betrachten. Man kann es auch anders ausdrücken: Mir war zum Kotzen und ich flennte meinen ganzen Frust über meine Situation hinaus.
»Ey! Nicht doch! Komm her!«
Was war das? Thimo nahm mich in den Arm. Ich heulte ihn auf seine nackte Brust und er streichelte durch mein Haar. Was passierte hier?
»Thimo, hasst du mich denn jetzt nicht?«
»Sven, sag mal spinnst du! Warum sollte ich das?«
»Ich bin schwul! Einer dieser elenden Arschficker und perversen Säue.«
Meine Selbstachtung hatte sich definitiv in Nichts aufgelöst. Mein ganzer Selbsthass war wieder da. Warum eigentlich?
Thimos Gesicht wirkte schmerzhaft verzogen, als wenn ich ihn geschlagen hätte: »Hör sofort auf damit! Du bist der beste Freund, den man haben kann. Und nicht etwa obwohl du schwul bist. Sondern weil du so bist, wie du bist!«
»Was?«, meine Augen, die wohl aussehen mussten wie zwei rote Laternen, glotzten Thimo an.
»Sven, du bist ein Arschloch! Warum hast du mir nie früher gesagt, dass du schwul bist? Du bist der arroganteste, dickköpfigste Torfkopf auf der Welt. Warum musst du immer alles alleine durchstehen wollen? Warum lässt du dir nie von den Leuten die dich lieben helfen?«
»Ich hatte Angst!«, meine tränenverquollenen Augen bohrten kleine Löcher in mein Badetuch »Ich hatte solche Angst du würdest es nicht verstehen. Du würdest mich verachten! Mich hassen!«
Thimo nickte. Ein etwas gequältes Grinsen war auf seinem Gesicht. Mit einer nickenden Kopfbewegung, die alles Mögliche bedeuten konnte, kam dann eine Entgegnung, die ich nun überhaupt nicht erwartet hätte: »Ach Sven, ich weiß!«
Das war der nächste Schock. Woher wusste Thimo, dass ich schwul war? Aber Thimo schien noch viel mehr von mir zu wissen. Seinem Gesichtsausdruck war nichts zu entnehmen. Ich hätte losbrüllen können. Ich wusste einfach nicht, was gerade passierte. Ich versuchte irgendwie meine Gedanken zu sortieren. Also, Thimo wusste, dass ich schwul bin. Woher? Warum kommt er damit klar? Bisher hatte er noch nichts Negatives von sich gegeben. Soweit bestand wohl noch Hoffnung auf ein Happy End.
Irgendwas musste ich jetzt sagen, also versuchte ich die Flucht nach vorn: »Woher weißt du es?«
Thimo seufzte. Sein Gesichtsausdruck war merkwürdig. Er schien etwas sagen zu wollen, sagte dann aber nichts.
»Bitte! Thimo, ich muss es wissen! Woher weißt du es?«
Thimo sah mich nachdenklich an. Er schien zu überlegen. Seine Augen wirkten völlig nach innen gekehrt. Mir war, als wenn in Thimos Kopf ein Kampf zwischen zwei Alternativen ausgefochten wurde. Dann ging ein Ruck durch ihn hindurch. Er hatte eine Entscheidung getroffen. Ich konnte fast sehen, wie der andere Gedanke, was immer es auch gewesen sein mag, weit in die hintersten Winkel seines Kopfes geschoben wurde.
Ein verschmitzter Gesichtsausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit, dieser merkwürdige Moment von eben war verschwunden.
»Du bist manchmal ziemlich nachlässig und viel, viel zu vertrauensvoll.«
Oh-oh, wo hatte ich da was vertorft? Angst und Panik kehrten zurück. Das nächste Fragengewitter durchzuckte mein Gehirn. Wo war ich nachlässig gewesen? Wie hatte ich mich verraten? Wenn Thimo es wusste, wer wusste es sonst noch? Die zwei schwulen Zeitschriften, die ich mir bei einem Ausflug nach Lübeck mitgebracht hatte, waren immer gut versteckt und vor allen verschlossen. Da blieb eigentlich nur ...
»Mein Computer?«
»Nicht ganz! Junge, du warst ja sowas von vorsichtig. Aber eigentlich war genau das dein Fehler!«
Ich verstand gar nichts mehr. Mein verdatterter Blick löste bei Thimo ein spöttisch-überlegenes Grinsen aus: Hab dich Kleiner!
»Mein lieber Sven ...«, wenn Thimo so anfing, dann musste man sich auf eine längere Ansprache einstellen. Mir sollte es recht sein, dann musste ich wenigstens nichts sagen und konnte erst mal meine Gedanken sortieren.
»Du warst sehr vorsichtig, dich nicht zu verraten. Du bist aber an die Sache viel zu paranoid rangegangen. Ich habe noch nie erlebt, dass jemand, nachdem er im Internet gesurft hatte, sowohl die History als auch den lokalen Hauptspeicher- und Festplattencache des Browsers gelöscht hat. Außer bei dir! Nachdem du gesurft hast, war der Rechner jungfräulich. Antiseptisch sauber! Also irgendwas musstest du zu verbergen haben.«
Ich ahnte, worauf das hinauslief. Wenn die anderen aus unserer Gang bei mir mal gesurft hatten, konnte man später immer sehen, wohin: Spiele, Sport (meistens Ballsport - widerlich!) und hin und wieder eine Softsexseite, d.h. die eine oder andere weibliche Brustwarze. Ich hatte mir hingegen angewöhnt, immer nach mir aufzuräumen. Nicht dass jemand zufällig über einen süßen, knackigen Jungen stolpert. Ok, ich hatte natürlich auch ein paar Bilder, URLs und Stories gesammelt, aber die lagen alle in einem verschlüsselten Ordner. Thimo fuhr fort:
»Ich habe dann mal ein bisschen auf deinem Rechner weitergeforscht. Ich weiß, das hätte ich nicht tun sollen. Das ist ja eigentlich Privatsphäre. Naja, irgendwie war ich neugierig geworden und wurde dann auch prompt fündig. Ich fand Megabyte über Megabyte verschlüsselter Dateien. Du hattest was zu verbergen! Hundertpro!«
Man muss wissen, dass Thimo eins nicht mag: ungelöste Rätsel. Mit meiner offensichtlich zu neurotischen Aufräumerei auf meinem Rechner hatte ich genau das Gegenteil von dem erreicht, was ich eigentlich wollte. Ich hatte Thimo eine Nuss gegeben, die er einfach knacken musste. Hatte ich es schon erwähnt: ich bin ein Trottel. Eigentlich hätte es nur gereicht, ab und an mal ne nackte Frau als jpg rumliegen zu lassen und er hätte nichts bemerkt. Zu spät. Nun wäre das Fehlen von Bildern des anderen Geschlechts noch kein Hinweis auf Homosexualität, ich musste also noch mehr falsch gemacht haben. Thimo war aber auch noch nicht mit seinen Erklärungen zu Ende:
»Als Erstes überlegte ich mir, was das wohl sein könnte, das du zu verbergen versuchst. Also illegale Dinge schloss ich aus. Dass du was mit Drogen zu tun hast, glaubte ich eigentlich auch nicht. Dafür surfst du zu gut und bist viel zu fit. Was bleibt? Sex! Aber warum solltest du irgendwelche Sexbildchen verstecken, das tut nun wirklich niemand. Zumindest niemand, den wir kennen. Bei Maiks Computer sieht man die ersten Titten schon beim booten. Aber bei dir? Keine weibliche Brustwarze weit und breit. Dein PC ist so ziemlich der asexuellste, der mir je begegnet ist. Und das bei einem fast 16-jährigen Jungen, bei dem eigentlich die Hormone kochen sollten.«
Das mit den Hormonen stimmte schon. Aber bei Maik lag Thimo meiner Meinung nach falsch. Ich war mir ziemlich sicher, dass Maik seine Tittenbildchen nur deswegen so demonstrativ zeigte, um seine Schwester zu ärgern. Was auch immer prima funktionierte. Maike hat dann mal versucht, sich zu rächen. Dazu hatte sie das Bild eines perfekt gebauten, absolut geil aussehenden Jungen heimlich in Maiks Rechner als Boot- und Hintergrundbild installiert. Der Bildschirmschoner bestand zudem aus einer netten kleinen Stripslideshow des gleichen Jungen. Als diese Bombe explodierte, war ich gerade bei Maik. Naja, was soll ich erzählen: Maik wurde krebsrot vor Zorn und war drauf und dran, seine Schwester ermorden zu wollen. Ich hingegen lief aus ganz anderen Gründen rot an.
Glücklicherweise blieb mein kleines Geheimnis damals noch unentdeckt. So wie Thimo mich gerade sezierte, wäre die kleine Szene anders verlaufen, wenn er damals auch dabei gewesen wäre. Ach ja Thimo, einmal in Fahrt, war er kaum zu bremsen:
»Ich muss gestehen, ich hab' dann den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Es passte für mich nichts zusammen. Du hattest irgendwas zu verbergen, das niemand, oder besser ich, nicht sehen und wissen sollte. Es musste was mit Sexualität zu tun haben, aber nicht mit Frauen. Tja, da hatte ich wohl eine ziemlich lange Leitung, aber zu dem Zeitpunkt wäre ich nie auf die Idee gekommen du könntest schwul sein. Homos waren für mich was, über die man blöde Witze macht. Tut mir Leid Sven, aber ich hatte mir über sowas nie Gedanken gemacht.«
Thimo machte eine Pause. Ich merkte, dass das Nächste, was er sagen wollte, schmerzhafte Erinnerungen hervorholten.
»Dann krepierte Paps«, es sollte abgeklärt klingen. Die Tränen in Thimos Augen sagten aber etwas anderes. Er holte tief Luft, wischte die Tränen aus den Augen und fuhr dann mit gesenktem Blick fort: »Ich konnte mich mit der Sache nicht mehr beschäftigen. Ach, Scheiße, es war mir völlig egal. Ich war einfach nur froh, wenn ich mich bei dir ausheulen konnte. Mum war selbst völlig fertig, als dass ich hätte zu ihr gehen können.«
Thimo hob seinen Kopf und schaute mir direkt in die Augen. Er hielt mich mit seinen Augen fest: »Aber genau das war die Lösung! Du musstest schwul sein! Niemand der anderen Jungs hat mich je in der Zeit in den Arm genommen. Ganz im Gegenteil, die zuckten schon zurück, wenn sie sahen, dass ich schlecht drauf war, und haben sich sofort verpisst. Du bist nie zurückgezuckt! Für dich schien es nie unangenehm zu sein, von einem anderen Jungen berührt zu werden. Wie auch immer: Du bist nicht zurückgezuckt, ganz im Gegenteil, es kam Wärme und unendliche Zuneigung von dir rüber. Genau das, was ich brauchte.
Aber irgendwie merkte ich, dass du offensichtlich unter deiner Situation littest. Da beschloss ich, dir zu helfen!»
Wie hat er mir geholfen? Moment mal, er hat mir geholfen? Ich verstand nicht, was er meinte, und schaute Thimo fragend an. Statt einer Antwort öffnete er seine Moneybox, holte ein Blatt Papier heraus und schob es mir schweigend zu. Hochglanz Tintenstrahlpapier. Auf dem Papier war ein Farbbild. Das Farbbild zeigte ein Porträtfoto von mir!
Verdattert und entsetzt starrte ich mein Bild an. Was? Wie? Woher hat er das? Dann fiel es mir wie Schuppen aus den Haaren. Es gab nur einen einzigen Menschen, dem ich je ein Bild von mir gegeben hatte: #CKent77.
1.5. Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt
Aber du bist doch gar nicht schwul!», die Antwort auf das Bild war sicherlich nicht die intelligenteste, aber etwas Schlagfertigeres fiel mir nicht ein.
»Das ist doch egal. Nicht alle 16-jährigen Gayboys im IRC-Chat sind 16. Manche sind noch nicht mal männlich. Aber Sven, das ist doch gar nicht der Punkt! Du brauchtest eine Schulter, an der du dich endlich mal ausquatschen konntest. Und wenn du schon nicht die echte lebende Schulter wolltest, dann musste es halt eine virtuelle sein.«
»Wie hast du mich im IRC gefunden? Zufall? Geraten? Ich hab' immer einen anderen Nickname verwendet als sonst.«
Das etwas verlegene Grinsen von Thimo sprach Bände. Als er sich dann noch mit der Zunge über seine Zähne leckte, war mir klar: Der gute Junge hatte mal wieder gehackt.
»Naja, das war schon ein bisschen, äh, heikler. Nee, keine Angst nix Illegales. Also, du hast beim Surfen eigentlich immer einen Messenger an - unter deinem allgemein bekannten Nickname. Fehler, mein Junge! Ganz, ganz großer Fehler! Einen Ping und ich hatte deine IP-Adresse. Schnell ein paar Agenten von der Leine gelassen, die alle einschlägigen Channels abgrasten und nach ein paar Minuten hatte ich dich im Sack: #SurfBoy ! Was für ein einfältiger Nickname. Du Trottel, du!«
Ich hatte zwar nur die Hälfte verstanden von dem was Thimo da erzählte, aber das mit meinem Alter-Ego-Nickname stimmte - leider! Oh, verdammter Shit! Erst jetzt wurde mir so richtig klar, was ich gemacht hatte. #CKent77 gegenüber hatte ich mein ganzes noch recht kurzes Leben ausgekotzt: allen Frust und alle Ängste. Aber auch alle meine Wünsche und Träume hatte ich gebeichtet. Halt ein Seelenstriptease in Reinkultur.
Ich dachte, dass ich immer sehr vorsichtig beim Chatten gewesen war, und hatte eigentlich nie etwas von mir erzählt. Bis auf #CKent77, er schien mich genau zu verstehen, er wusste immer schon vorher, was ich sagen wollte und wie ich etwas meinte. Was für ein Wunder: #CKent77 alias Thimo kannte mich seit der Sandkiste, da sollte er einen schon ganz gut kennen.
Wieder mal war es an der Zeit, meine Gedanken zu sortieren. Eigentlich hatte Thimo mich beschissen, als er diese #CKent77-Nummer abgezogen hatte. Auf der anderen Seite wäre ich wohl nie ohne seine Hilfe mit meinem persönlichen Coming-Out klargekommen. Wie war denn jetzt der Spielstand? Etwas peinlich war, dass ich #CKent77 ziemlich genau erzählt hatte, wie geil ich Thimos Aussehen fand.
»Und?«, irgendwas musste ich sagen.
»Äh, tja, sorry Sven. Eigentlich wollte ich dich nicht ausspionieren, aber ...«
»Aber was?«, oops, war meine Stimme etwas aggressiv? Thimo sah mich traurig an, aber auch eine Spur von Angst war in seinen Augen zu sehen. Wieso?
»Ich merkte, dass dich was bedrückte. Ganz besonders, nachdem Paps starb. Mensch, Scheiße, Sven, mach mir das nicht so schwer! Verdammt, ich wollte dir doch nur helfen... Jetzt guck nicht' so böse.«
Mist, das wollte ich eigentlich gar nicht. Eigentlich wollte ich Thimo in den Arm nehmen und knuddeln. Um ehrlich zu sein, ich ärgerte mich vielmehr über mich selbst. Warum war ich nicht ehrlich zu Thimo gewesen statt zu seinem Alter-Ego? Warum hatte ich nicht das Versprechen eingelöst? Aber da war noch mehr. Unterschwellig lag noch etwas anderes Luft, etwas, das ich nicht greifen konnte. Thimo strömte eine Form von Verletzlichkeit aus, die ich bisher noch nie bei ihm erlebt hatte. Ich kam mir schuldig vor, so aggressiv reagiert zu haben.
»Thimo, bitte, ich bin nicht böse auf dich. Ich bin nur sauer auf mich!« und dann erzählte ich Thimo von meinem Versprechen, das ich seinem Vater gab. Und dass ich es gebrochen hatte.
»Puh, mein alter Herr war schon ziemlich cool. Aber warum denkst du, dass du das Versprechen gebrochen hast. Du hast es mir doch erzählt. Naja, nicht direkt und du wusstest auch nicht, dass du es mir erzählt hast. Aber erinnere dich, was ich dir im Chat geschrieben habe: Erzähl deinem besten Freund, dass du schwul bist, er wird es verstehen!«
»Witzbold! Du, Thimo, jetzt nicht #CKent77, hast mir aber immer noch nicht gesagt, was du davon wirklich hältst ...«
Statt einer Antwort nahm mich Thimo in den Arm: »Ich bin dein Freund! Reicht das als Antwort?«
Das war er wieder, dieser traurige Blick: »Ich muss dir noch etwas anderes sagen ...« Aha, jetzt kam er endlich raus damit. Mir wurde plötzlich wieder unbehaglich.
»Mum und ich verlassen die Insel. Wir ziehen in Mums Heimatstadt.«
»Nö, sag, dass das nicht wahr ist. Wann denn? Warum? Ich brauch dich jetzt! Mit wem soll ich denn sonst alles bequatschen?«
Das war wirklich ein ziemlicher Dämpfer. Wenn man weiß, aus welcher Stadt Thimos Mutter kam, wird einem erst die Tragik der Situation klar: Portland, Maine, USA.
»Ich möchte hier eigentlich auch nicht weg. Das heißt, ich weiß es eigentlich nicht genau. Teilweise will ich schon. Aus den gleichen Gründen wie Mum. Irgendwie erinnert hier so viel an Paps. Mum kommt damit wirklich schlecht klar. Noch schlechter als ich. Naja, gestern kam sie mit dem Vorschlag, einen Neuanfang zu wagen.«
Mir wurde übel, etwas griff nach meinem Herz: Thimo zog weg: »Wann?«
»In einem Monat. Wir sind noch die ganzen Ferien da. Aber dann ...«
»Sag, mal sind wir für diese ganze Scheiße nicht viel zu jung?«
»Kann schon sein ...«
Tja, und so saßen wir Schulter an Schulter am Strand und schauten zu, wie die Sonne vor unseren Augen in die Ostsee plumpste.
1.6. Fragen über Fragen - und Antworten, die man eigentlich nicht will
Wir saßen noch eine ganze Weile am Strand. Wir sprachen nicht miteinander. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Erst viel später auf dem Heimweg fanden wir unsere Sprache wieder.
»Sag mal, sollen wir dir nicht in den nächsten Wochen einen netten Jungen einfangen? Du weißt doch, Jagdsession!«
»Thimo, mach keinen Scheiß. Und halt dich bitte zurück! Über mein nächstes Coming-Out will ich selbst entscheiden!«
»Wie? Soll ich etwa Svens-Coming-Out-Seite wieder vom Netz nehmen? Die hat mir echt Arbeit gemacht.«
»Thieh-moh!«
»Ok! Ok! War nur ein Scherz. Ganz locker bleiben ... Aber wie sieht es denn nun wirklich mit deinem Sexualleben aus?«
»Traurig. Es findet nicht statt. Aber das weißt du doch, #CKent77! Was bedeutet das eigentlich?«
»Noch nie was von Clark Kent gehört?«
»Thimo der Supermann - Naja, Einbildung ist auch ne Bildung«, das war eine Lüge. Thimo hatte nun wirklich den Körper eines Supermanns. Lechz!
»Ok, aber mal im ernst. Ist es wirklich so schlimm? Dir müssten die Jungs doch zu Füßen liegen, so wie du aussiehst.«
Ja, Thimo, bitte, bitte, erzähl mir mehr. Das geht ja runter wie Öl. War aber leider nur von theoretischer Bedeutung: »Wenn ich sie denn finden würde. Wie sieht man denn einem Jungen an, dass er schwul ist? Ich habe kein Gaydar! Und die, denen man es ansieht - naja, ich weiß nicht. Manche sehen ja auch ganz nett aus, aber wenn ich mit denen was anfangen würde, dann weiß es morgen die ganze Insel. Du weißt doch, was das hier für ein Dorf ist.«
»Zugegeben. Aber was suchst du denn eigentlich?«, die Frage sollte ganz unverfänglich klingen.
»Sowas wie uns. So wie du, oder wie ich - OK nicht wie ich, das würde ich wohl nicht ertragen. Halt einen ganz normalen schwulen Jungen. Keine Modetucke, keinen dieser Gayclones und - das Auge isst ja mit - es sollte auch kein Zombie sein. Sportlich wäre auch ganz nett ... Gut gebaut. Muskulöser, aber nicht übertriebener Oberkörper ...«
Mir war so, als wenn ich ein kurzes Aufblitzen in Thimos Augen gesehen hätte: »Ich glaube, ich habe sowas mal in einem Ü-Ei gefunden. Aber sonst bist du ja recht bescheiden mit deinen Wünschen ...«
So ging das noch eine ganze Weile. Wir entschieden, dass wir erstmal zu mir gingen. Meine Mutter wusste, dass man im Sommer selten vor Einbruch der Nacht mit uns rechnen konnte. Aber meistens stand dann doch noch etwas zu Essen zum Aufwärmen bereit. Wofür gibt es denn sonst Mikrowellen.
»Hi Mum!«, meine Mutter saß mit meinem Vater in der Küche. Eigentlich hätte ich beide vor der Glotze erwartet, dieser Ort war zur vorgerückten Stunde ungewöhnlich.
»Na ihr zwei! Und Thimo, freust du dich auf euren Umzug?«
Hm, Neuigkeiten verbreiten sich schnell: »Erfahre ich hier mal wieder alles als Letzter? Ich habe es eben erst von Thimo erzählt bekommen. Woher weißt du das den schon wieder?«
»Eben erst von Ellen. So ungefähr vor einer halben Stunde. Sie war vorhin hier und hat es uns erzählt. Naja, dann dürfte der kleine Schock, den wir für dich noch haben, etwas kleiner ausfallen.«
Wer ich? Was kommt den heute noch alles?
»Tja Svenni, wir ziehen auch um, beziehungsweise weg!«
Ich brauchte erst mal einen Stuhl. Thimo schaute ähnlich verblüfft aus der Wäsche wie ich: »Ihr zieht auch weg?«
An Thimo gerichtet: »Frag mich nicht?« An meine Mum gerichtet: »Wir ziehen auch weg?«
Jetzt schaltete sich mein Vater ein: »Tja, also ich ertrage es einfach nicht, dass du besser surfst, als ich. Um das Thema ein für alle Mal zu beenden, ziehen wir aufs trockene Land!«
Das meinte er nicht ernst, oder doch?
»Nein, vergiss es, das war nicht ernst«, kann mein Vater Gedanken lesen? »Ich bekomme einen neuen Job. Ich werde die Leitung einer Biotechfirma übernehmen und sie an die Börse bringen. Das geht aber nicht aus der Ferne. Svenni, es tut mir echt leid, aber wir müssen umziehen. Ich weiß, du hast hier deine Freunde und es ist nicht gerade fair, dich da raus zu reißen. Ich, nein wir, deine Mutter und ich, werden das irgendwie wieder gut machen. Versprochen!«
Ich schaute Thimo an, Thimo schaute mich an. Mir fiel die Gabel aus der Hand. Tja, damit war wohl ein Lebensabschnitt gerade zu einem Ende gekommen. Ein Neuanfang stand uns bevor.
Ich hätte eigentlich traurig sein sollen, aber dem war nicht so. OK, ich begann jetzt schon, meine Freunde zu vermissen. Aber derjenige, wegen dem es mir wirklich schwerfallen würde wegzuziehen, zog ja selbst weg. So stellte sich die Frage, was würde ich wirklich verlieren und was könnte ich umgekehrt gewinnen?
Thimo meldete sich zu Wort: »Unser kleiner Svenni hier scheint ja die Sprache verloren zu haben. Also stell ich mal die Frage: Wohin geht ihr denn?«
»Habe ich das noch nicht gesagt? Berlin! Wir ziehen nach Berlin.«
Oh nein, nicht in diesen Moloch von Stadt. Bitte nicht dorthin.
»Warum denn ausgerechnet da hin?«, die Berliner Touris auf Fehmarn waren zahlenmäßig immer stark vertreten. Naja, ich hatte das nicht wissenschaftlich genau gemessen; sie fielen mir aber immer am unangenehmsten auf. Und ausgerechnet da mussten wir jetzt hinziehen. Da hatte doch jeder Schrebergarten mehr Einwohner als unsere ganze Insel. Und surfen? Wo kann ich da surfen? Auf dem Wannsee?
»Svenni, du siehst ja nicht sehr begeistert aus?«, wo lernen Mütter eigentlich diesen speziellen, besorgten Blick. Ob es dafür wohl Kurse gibt?
»Ich weiß nicht! Das ist doch ne riesige Stadt. Ich kenn da niemanden. Lübeck und Kiel sind mir ja fast schon zu groß und in Hamburg verlauf ich mich. Ach, ich will nicht alle meine Freunde auf einmal verlieren. Es reicht mir schon, dass Thimo wegzieht.«
»Wir sehen ja ein, dass das nicht leicht für dich wird!«, Papa mal wieder. Die Vernunft in Person. »Das Problem ist: Ich muss umziehen. Nicht für eine Woche, einen Monat oder ein Jahr, sondern wahrscheinlich für die nächsten 10 Jahre. Die Gelegenheit, die sich da bietet, kommt wahrscheinlich nur einmal in Leben. Finanziell wird sich das für uns auf jeden Fall lohnen. Einmal vorausgesetzt, dass alles klappt, werden wir recht sorgenfrei in die Zukunft sehen können.«
Mir war damals nicht klar, was er damit meinte. Obwohl, verstanden hatte ich das schon, aber begriffen hatte ich es nicht. Wir waren nie arm, aber wohl auch nicht reich. Ich hatte also keine Vorstellung davon, was es heißt, um seinen Arbeitsplatz Angst haben zu müssen. Also, eigentlich interessierte mich das auch gar nicht. Unter einem sorgenfreien Leben stellte ich mir etwas ganz anderes vor und das war männlich und sah gut aus.
Mum versuchte sich mal wieder als Moderator: »Was dein Vater sagen will, ist: Es tut ihm leid, dass wir umziehen müssen. Aber es muss sein und es wird uns hoffentlich alle weiterbringen. Wir werden es irgendwie auch bei dir wieder gutmachen, dass wir dich hier rausreißen. Das verspreche ich dir. Großes Indianerehrenwort. Es wird für uns alle eine große Umstellung werden, nicht nur für dich. Und noch was: Wir geben dieses Haus nicht auf. Wir werden es als Gästehaus bewirtschaften lassen. Aber es wird immer ein Zimmer, nein, dein Zimmer bereitstehen, wenn du zum Surfen oder um deine Freunde zu besuchen herkommen willst.«
Naja, das war schon mal ein Wort. Das mit dem »wieder Gutmachen« wollte ich mir aber trotzdem merken und bei passender Gelegenheit darauf zurückkommen. Eigentlich war das mit dem Umzug gar nicht so schlimm. Ich hatte hauptsächlich Angst davor, dass ich nicht wusste, was mich erwarten würde. Ich maulte daher noch ein bisschen rum. Bevor ich ins Bett ging, verabschiedete ich mich noch von Thimo, der nach Hause wollte.
»Ach Svenni, ich wollte noch ...«, Thimo brach den Satz ab, wieder dieser traurige Blick in seinen Augen.
»Was?«, ich war wirklich müde und das hörte man meiner Stimme wohl auch an.
»Ach, nicht so wichtig ... Das hat noch Zeit. Bis Morgen dann.«
»Bis Morgen.«
Ich war todmüde und konnte nicht schlafen. Die erste Hälfte der Nacht verbrachte ich mit Grübeln. Umzüge, Thimo, ich, Berlin ... Das konnte ja heiter werden.
1.7. Landeier in der Großstadt
Uns Inselbewohnern sagt man eine gewisse Trägheit und Behäbigkeit nach. Wenn wir etwas bräsig wirken, dann liegt das wahrscheinlich an der plattdeutschen Sprache. Aber der Eindruck täuscht. Es muss nur alles immer wohl durchdacht und überlegt werden. Das braucht seine Zeit. Wir machen uns sogar einen Plan bevor wird aufs Klo gehen. Dafür passiert es uns dann aber auch nie, dass wir ohne Klopapier dasitzen.
Die Nacht über hatte ich alles nochmals wiedergekäut: Thimo, seinen Umzug, mein Schwulsein, meinen Umzug, meine Freunde, mein Coming-Out und und und. Es schien alles miteinander in einem Knäuel verheddert zu sein, und ich steckte mittendrin.
Eigentlich, wenn ich ehrlich zu mir war, gab es nur eine Lösung: Augen zu und durch.
Nach dieser grundlegenden Entscheidung wurde meine Laune prompt besser. OK, wir ziehen nach Berlin, kann ja auch ganz spannend werden. Vor allen Dingen soll man's ja als Schwuler dort viel, viel leichter haben.
Das Frühstück verwendete ich deswegen hauptsächlich dazu, mehr Informationen über unseren geplanten Umzug herauszubekommen. Die Daten waren ganz interessant. Der Umzug war für in vier Wochen geplant, einen Tag, nachdem Thimo wegzog. Wir würden in den Südwesten von Berlin ziehen (Zehlendorf). Eine Schule in der Nähe war auch schon für mich ausgesucht worden, die sogar ganz ordentlich sein sollte. Der neue Laden meines Vaters befand sich außerhalb von Berlin in Teltow, einer Stadt südlich im Speckgürtel. Nach unserem Umzug würde ich noch zwei Wochen Zeit haben, mich einzuleben, da die Schulferien in Berlin dieses Jahr zwei Wochen später lagen, als in Schläfrig Holstein. Aber das wusste ich ja schon vorher. Fürs Wochenende war geplant, schon mal rüberzufahren, um uns das Haus und Berlin anzusehen. Ach ja, meine Eltern hatten uns das Haus in Berlin gekauft.
Das klang doch alles gar nicht so schlecht. Thimo, den ich am späten Vormittag an unserem Stammstrand traf, war der gleichen Meinung.
»Sag mal, meinst du, dass ich da am Wochenende mal mitkommen könnte. Ich steh hier meiner Mutter bei unserer Umzugsvorbereitung eh nur im Weg und würde gern mal Berlin sehen, bevor ich Deutschland Auf Wiedersehen sage.«
»Warum eigentlich nicht. Wir können ja mal fragen.«
Die Antwort meiner Eltern fiel erwartungsgemäß positiv aus. Sie hatten wohl auch insgeheim die Hoffnung, dass der Einfluss von Thimo mich gnädiger stimmen könnte.
Um einen ganzen Samstag zu haben, fuhren wir bereits am Freitagabend. Nach viereinhalb Stunden Fahrt erreichten wir Berlin. Erstaunlicherweise fand mein Vater sogar unser Hotel, aber das lag wohl weniger an seinem Orientierungssinn, als an seinem neuen Navigationssystem. Die Übernachtung im Hotel war nötig, unser neues Haus hatte ja noch keine Möbel geschweige denn ein bzw. mehrere Betten. Lange Autofahrten machen mich immer recht müde, daher blieb ich nicht mehr lange auf und verabschiedete mich schon bald. Thimo und ich teilten uns ein Zimmer, meine Eltern hatten ein anderes.
»Ok, ich gehe dann mal. Thimo kommst du auch?«
»Geh schon mal. Ich komm in einer halben Stunde oder so nach. Ich muss noch kurz was mit deinen Eltern besprechen.«
Thimo hatte was mit meinen Eltern zu besprechen. Das war merkwürdig. Aber ich war zu müde, um mich damit auseinanderzusetzen. Ich war sogar so müde, dass es mir zwar auffiel, aber nicht weiter in mein Hirn vordrang.
Am nächsten Morgen fand erst einmal eine kurze Lagebesprechung statt. Wir saßen alle am Frühstücksbuffet und machten uns über die reichhaltige Auswahl her. Währenddessen diskutierten wir den Tagesplan durch. Mein Vater erzählte, dass er die Schlüssel für das Haus erst am späten Nachmittag erhalten würde. Wir hätten also noch genug Zeit, uns das Stadtzentrum anzusehen. Einen Stadtplan und eine U-Bahn-Tageskarte würde es an der Hotelrezeption geben. Wir sollten nur gegen 16:00 Uhr wieder im Hotel sein. Auf meine Frage, was wir denn machen sollten, wenn wir uns verlaufen sollten (Ich war mir meines Orientierungssinns in dieser Stadt nicht sicher, ach, was heißt in dieser Stadt, ich verlaufe mich in jeder Stadt), begann meine Mutter zu grinsen und legte eine kleine in Geschenkpapier verpackte Schachtel auf den Tisch.
»Hier, ein kleines Geschenk dafür, dass du das Schuljahr doch noch geschafft hast. Und als kleine Wiedergutmachung für den Umzug.« Ich liebe Bestechungsversuche meiner Eltern.
Aber mit einem Geschenk hatte ich nicht gerechnet. Im Mittel hatte ich dieses Schuljahr gerademal ne Vier. Deswegen war ich um so mehr erstaunt, als ich die Schachtel öffnete. In ihr fand ich ein Handy mit Prepaid-Karte. Wow! Als Wiedergutmachung für den Umzug gar nicht so schlecht.
»Wir dachten uns, dass das Ding in dieser Stadt ganz hilfreich sein könnte.«
»Danke! Wow! Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet«, und eigentlich auch nicht verdient.
Zwei Erziehungsberechtigte sahen sich glücklich und strahlend an. Was wollte ich mehr.
»So und nun schwirrt ab!«
1.8. Ich und mein dummes Gesicht
Wir schwirrten ab. Als Erstes versuchten wir rauszubekommen, wo wir uns eigentlich in Berlin befanden, was soviel hieß, wie das Hotel auf einem unhandlichen Faltplan wieder zu finden. Offensichtlich hatten meine Eltern ein Hotel im westlichen Zentrum Berlins ausgesucht, unweit von Kudamm, Zoo und Gedächtniskirche. Also direkt dort, wo wohl jeder Touri anfängt; also genau solche Leute wie wir. Da es sowohl Thimos als auch mein erster Besuch war, entschieden wir uns erst mal, den Empfehlungen eines kleinen Stadtführers (gab es im Hotel) zu folgen und die üblichen Trampelpfade des typischen Berlintouristen abzulaufen: KaDeWe, Europacenter, Gedächtniskirche und Kudamm.
So gegen Mittag saßen wir gerade bei McDoof und schoben uns einen BigMac rein, als Thimo mit einem Mal begann, mich ziemlich blöd anzugrinsen. Er schien sich über irgendwas sehr zu amüsieren. Eigentlich war er eher dabei, sich über mich zu amüsieren. Ich war mir aber keiner Dummheiten bewusst. Soweit ich sehen konnte, steckten mir keines Pommes in der Nase und mit Soße hatte ich mich, ausnahmsweise, auch nicht bekleckert.
»Was ist?«
»Äh, nichts. Was soll sein«, sprach's und grinste blöd.
»Thimo, du grinst wie ein Honigkuchenpferd, was ist los. Hängt mir Ketchup von der Nase?«
»Nee, nichts, hmmpfff, alles in Ordnung.«, das Grinsen verbreiterte sich zu einem Lachen. Ich kam mir hingegen immer blöder vor.
»Lügner! Du platzt doch gleich.«
»Na gut, aber ich warne dich, das wird für dich sehr schwer werden. Bist du sicher, dass du es wirklich wissen willst?«
»Raus mit der Sprache, was ist an mir so komisch?«
»Noch nichts. Aber das Gesicht, das du gleich machen wirst. Ich habe dich gewarnt!«
»Das ich gleich machen werde ?«
»Hihi, Genau!«, jetzt begann er sich auch noch vor Lachen zu krümmen und mit den Fäusten auf den Tisch zu klopfen.
»Schieß los!«
»Moment noch!«, damit schnappte er sich seine Digicam und richtete sie direkt auf mich aus. »Dann dreh dich doch bitte mal um und schau auf die Straße!«
Was konnte denn auf der Straße so Merkwürdiges sein, dass ich ein dummes Gesicht machen werde? Es werden ja wohl kaum nackte, tanzende Männer darauf rumhüpfen.
Ich setzte mein bestes Pokerface auf und drehte mich demonstrativ gelangweilt ganz langsam um. Der sollte was erleben, es gibt nichts, was mich beeindrucken könnte.
Ich hatte mich getäuscht, es gab etwas: Tanzende halb nackte Männer!
In meinem Kopf machte es Klick, ich ließ meinen BigMac aufs Tablett platschen, der Auslöser der Digicam macht Piep und Thimo brach in einen Lackkrampf aus.
»W-W-W-W...«, mein Gehirn hatte offensichtlich mein Sprachzentrum abgeschaltet.
»Was ...«, Thimo versuchte, mir beim Artikulieren ganzer Wörter zu helfen.
»Was iss...isst..ist...«, Thimo hatte recht gehabt. Ich muss das dümmste Gesicht aller Zeiten gemacht haben. »Was ist das?«
»Ahhh, haben wir unsere Sprache wieder gefunden?«, Thimo genoss die Situation. Offensichtlich wusste er ganz genau, was da auf dem Kudamm vor sich ging. »Ich wusste, es würde dir gefallen.«
Nach mehreren Minuten ungläubigen Starrens meldete sich langsam mein Verstand zurück. Als Erstes, d.h. nachdem ich die motorische Kontrolle über meinen Körper zurückerlangt hatte, verließ ich das amerikanische Schnellrestaurant und trat auf die Straße hinaus. Langsam, ganz langsam wagte ich es mich umzublicken.
Was ich sah, sprengte mein Vorstellungsvermögen: Der ganze Kudamm, und damit meine ich nicht den Fußweg, sondern die Fahrbahn, war übersät mit tanzenden Menschen: halbnackte, gutaussehende Jungs und Männer tanzten zu House- und Technomusik ,die von Verstärkerwagen verströmt wurde. Ich kannte solche Bilder nur aus dem Fernsehen von der Love-Parade, aber die war soweit ich wusste erst in zwei Wochen. Aber ich sah noch mehr: Sich küssende Jungs, Männer und Frauen in den schrillsten Verkleidungen, in Leder und Gummi (merkwürdig, sehr sehr merkwürdig), Frauen, die andere Frauen küssten (wie kann man nur Frauen küssen?), noch mehr Musik, Transparente, Regenbogenfahnen, junge Leute, alte Leute, aber vor allen Dingen fröhliche, feiernde Leute. Schwule und lesbische Menschen, wohin das Auge sah. Und alle am feiern.
»Willkommen auf dem CSD, Svenni!«, Thimo war neben mich getreten.
1.9. Merk mal was!
»Du wusstest es! Du alter Arsch wusstest es und hast nix gesagt.«
»Schuldig im Sinne der Anklage. Um nichts in der Welt wollte ich dein dummes Gesicht verpassen.«
So zeigte sich mal wieder, dass ich viel zu kopflastig strukturiert bin. Natürlich wusste ich alles über den CSD, alles, was man über das Internet erfahren konnte. Aber leibhaftig hatte ich sowas noch nicht gesehen. Theorie 1, Praxis 5, so müsste meine Note wohl ausfallen.
Es war überwältigend. Ich gebe zu, ich hatte weiche Knie und Tränen in den Augen. Tränen der Freude. Als wenn eine magische Energieform aus den feiernden Menschen ausströmte und in mich einsickerte. Diese Erfahrung war berauschend. Meine Gefühle machten mich regelrecht high.
Mehr und mehr Wagen kamen an uns vorbei, jeder unter einem anderen Thema. Schwulenverbände präsentierten sich, ein Lesbenclub, diverse schwule Clubs, eine Pornofilmfirma (na, wer es braucht), noch mehr Clubs und Discos, eine Selbsthilfegruppe schwuler Väter (ziemlich spät für ein Coming-Out, Jungs!), eine Schwulengruppe des DGB, der Sozis, der Verband der schwulen Unternehmer in Anzug und Krawatte (grusel), schwul-lesbische Sportvereine und eine schwule Jugendgruppe, deren Adresse und Telefonnummer ich mir natürlich sofort notierte. Zwischen all diesen Wagen tummelte sich das Fußvolk: ganz normale Jungs wie Thimo und ich, viele in unserem Alter, viele auch etwas älter, aber auch Transen, Drag-Queens, dicke, dünne, grüne und blaue (ja wirklich, zwei Jungs hatten sich blau und grün angemalt), angezogene, halb- und ganznackte Schwule, Lesben und sogar Heteros. Es gab nichts, was es nicht gab. Wahnsinn. Konkret. Konkret krasser Wahnsinn.
Ok, mit manchen Dingen konnte ich nichts anfangen, z.B. zog eine Lederlesbe ihre Sklavin am Halsband quer hinter sich her. Naja, wenn's denn Spaß macht. Aber genau das war ein Punkt, der haften blieb und der mich am meisten beeindruckte: Alles wurde hier akzeptiert. Man war einfach schwul oder lesbisch und verdammt stolz darauf. Ich fühlte mich - ja wie eigentlich - zu Hause. Hier konnte ich das sein, was ich bin. Kein Verstecken, kein zurückhaltendes Überlegen, ob es auffiel, wenn ich einen anderen Jungen mit den Augen auszog und anschmachtete.
»Ich will dich nicht aus deinen Träumen reißen, aber wir müssen los.« Thimo tippte mit dem Finger auf seine Uhr. Vor lauter Staunen hatte ich völlig das Zeitgefühl verloren.
Ganz geistesabwesend brachte ich nur ein »Schon?« über die Lippen.
»Ja, leider. Komm jetzt oder wir kommen zu spät ins Hotel.«
»Schade - Du, ich möchte da am liebsten mitwandern.«
»Ich weiß«, seufzte Thimo und sah dabei merkwürdig traurig aus.
Schweren Herzens riss ich mich los. Allerdings war das gar nicht so einfach. Bisher hatte ich nur Augen dafür, was auf der Straße passierte. Neben der Straße sah es aber nicht besser aus. Der ganze Straßenrand war gesäumt mit Schaulustigen jeder Farbe: Schwule und Lesben, die lieber der Demo zusahen, anstatt mitzumarschieren, ein japanisches Ehepaar, das das alles nicht glauben wollte und daher ihre Fotokamera heiß laufen ließ, normales Touristenvolk, das einfach nur neugierig war (»Seht, das ist Berlin!«), Funk- und Fernsehreporter, die offensichtlich intensiv berichteten (später erfuhr ich, dass der ganze CSD live im 3. Berliner Fernsehprogramm übertragen wurde), eine Horde Omis, die mit vergnügter Stimmung dem Treiben wohlwollend zuschauten.
Es gab aber auch unschöne Bilder, die mich stimmungsmäßig wieder etwas drückten. Eine Kleinfamilie (Vater, Mutter und Kind) stand an einer Straßenkreuzung und wollte den Kudamm überqueren, schienen aber panische Angst zu haben.
Sie: »Herbert, hier kommen wir nicht rüber!«
Er: »Wir warten auf eine Lücke und dann schnell rüber!«
Sie: »Nein. Das kann ich nicht, die sind alle widerlich!«
Kind: »Du Mami, warum küssen sich die zwei Männer da?«
Sie: »Weil sie krank sind! Schau da gar nicht hin - Sie haben Gott gefrevelt und werden dafür schwer bestraft werden!«
Angewidert wendete ich mich ab. Denen war eindeutig nicht mehr zu helfen.
Im Großen und Ganzen blieb aber meine gute Stimmung erhalten. Eigentlich fühlte ich mir großartig. Ich hätte Bäume ausreißen können. Möglicherweise ist meine Beschreibung auch etwas zu klischeehaft ausgefallen, aber man muss mir zugutehalten, dass ich wohl nicht ganz zurechnungsfähig war. Ich sah alles nur durch eine wunderschöne rosa Brille. Thimo schien das zu spüren: »Mensch, du glühst ja regelrecht vor Glück. Du schwebst ja geradezu ...«
»Stimmt! Und noch was: ich habe einen Entschluss gefasst. Schnell, lass uns los!«
Thimo nickte, grinste, sagte aber nichts.
Es war der perfekte Tag, heute musste es einfach sein.
1.10. My Home Is My Castle
Im Hotel angekommen wurden wir schon von meinen Eltern erwartet. Mein Vater hatte inzwischen die Schlüssel für das Haus aufgetrieben, so dass wir gleich losfahren konnten. Die Fahrt dauerte etwas über eine dreiviertel Stunde, hauptsächlich deswegen, weil wir wegen der CSD-Demo nirgends richtig durchkamen. Die meisten Straßen in der näheren Umgebung waren gesperrt. Das Navigationssystem im Auto schien vom CSD nichts zu wissen und versuchte uns natürlich immer wieder mitten in die gesperrten Straßen zu leiten. Nach mehreren Versuchen und einem nicht unerheblichen Umweg waren wir dann aber doch auf dem richtigen Pfad.
Wir ließen den Innenstadtbereich hinter uns und fuhren in Richtung Südwesten Hohenzollerndamm, Clayallee, Mexikoplatz und dann dort irgendwo in die Büsche. Anders konnte ich mir das damals nicht merken. Wie gesagt, mein Orientierungssinn ist nicht der Beste. Jedenfalls bogen wir irgendwo da in der Nähe in eine kleine Straße mit Kopfsteinpflaster ein. Die Grundstücke schienen alle recht groß zu sein (für Berliner Verhältnisse), aber nicht riesig. Stadtvillen, ein paar Neubauten aus den 70er und 90ern, ein paar hässliche Hütten aus den 30ern, alles war vertreten. Überwiegend waren die Häuser schon etwas älter. Das Gleiche galt für die Vorgärten. In vielen Fällen, insbesondere bei den Stadtvillen, waren die Häuser weit auf dem Grundstück nach hinten gesetzt, während der vordere Bereich von sehr hohen und wohl auch alten Bäumen bewachsen war. Alles wirkte schon etwas angestaubt aber trotzdem gemütlich.
Mein Vater hielt den Wagen vor einer ehemals weißen Mauer an und wir stiegen aus. Am linken Ende der Mauer befand sich eine verschlossene Einfahrt für Autos und ein Tor für Fußgänger. Während Paps das Tor aufschloss, erläuterte er unser neues Zuhause.
»Unser neues Haus wurde in Ende der Sechziger von einem Architekten als Designstudie gebaut. Letztes Jahr wurde es renoviert und auf den neuesten Stand der Technik gebracht.«
Wir traten durch das Tor, aber von einem Haus konnte ich nichts erkennen. Ein Kiesweg zog sich ein Stück weg von der Autoeinfahrt zu einem Carport hin. Von unserem Fußgängertor verlief ein Steinweg verschlungene Pfade zwischen üppigen Hecken, Sträuchern, Wällen und Bäumen entlang. Dies war kein normaler Garten, eher die Idealvorstellung eines romantischen Waldes. Es war Anfang Sommer und Sommerzeit, so dass gegen 18:30 die Sonne noch recht hoch stand und das Grundstück in ein mildes Licht tauchte. Durch die Blätter der hohen Bäume lag ein Teil im Schatten, ein Teil im Sonnenlicht und ein anderer Teil war gesprenkelt mit Lichtstrahlen. Alles wirkte etwas verwunschen, märchenhaft und irrlichternd. Keiner konnte sich der bezaubernden und berauschenden Wirkung dieses Gartens entziehen.
Nach einer letzten Biegung sahen wir endlich unser neues Haus. Wie nicht anders zu erwarten war dieses Haus auch anders als alle Häuser, die ich bisher kannte. Es schien aus mehreren Ebenen zu bestehen, die ineinander übergingen. Typisch für die späten Sechziger war natürlich, dass es keine runden Ecken hatte. Dafür hatte es massenweise Erker, Einbuchtungen, Ausbuchtungen. Es war eigen oder wie mein Vater sagte eine Designstudie.
Wir hatten uns von der Nordseite genähert, an der sich auch die Eingangstür befand. Diese Seite hatte fast keine Fenster, nur schmale Schlitzfenster mit Riffelglas, wahrscheinlich das Klo. Paps schloss das Haus auf, wir traten ein und standen sofort im Wohnzimmer, einen Flur gab es nicht. Aber ein Wohnzimmer im eigentlichen Sinn auch nicht. Der Eingangsbereich bildete eine kleine Ebene, die den Blick auf den gesamten Raum ermöglichte. Zur Linken ging eine kleine, breite Steintreppe fünf Stufen zu einer anderen Ebene hinauf. Dort schien die Küche mit einem Tresen und Esstisch zu sein. Außerdem bildete diese Ebene quasi eine Galerie, die sich noch ganz an der linken Wand entlang zog. Von der Galerie gingen zwei Türen zu anderen Räumen ab.
Rechter Hand gab es einen Durchgang zu anderen Räumen. Aber am beeindruckendsten war der Raum vor mir. Ein paar Meter vom Eingang führten fünf Stufen in das eigentliche Wohnzimmer hinab. Die Südseite war vollständig zu einer riesigen Terrasse hin verglast, an der rechten Seitenwand befand sich ein offener Kamin, die Sitzgruppe, eine ledergepolsterte Bank, davor war nochmals eine Ebene tiefer gelegt (zwei Stufen) und zog sich im Halbrund um den Kamin herum. Auf der linken Seite befand sich das normale Wohnzimmer.
Das ganze Haus wirkte gigantisch, allerdings fehlten noch sämtliche Möbel. Man kennt das ja, ist ein Raum erst mal vollgemüllt, wirkt er gleich viel kleiner. Mein Urteil stand jedenfalls sofort fest: ein Traumhaus.
»Paps, das Haus ist cool. Ich nehm's! Wo wohnt ihr?«
»Nicht so schnell mein Sohn, du wohnst hier nämlich gar nicht.«
Wieso betonte er das du so merkwürdig und warum sollte ich hier nicht wohnen.
»Komm mal mit!«
Zwei Fragezeichen leuchteten in meinen Augen auf, aber ich folgte. Wir gingen durch den Durchgang rechts vom Eingang und befanden uns in einem Flur. Drei Türen, zwei Stufen hoch, eine 90 Grad Biegung nach links, zwei Türen, eine 90 Grad Biegung rechts, drei Stufen abwärts und dann eine Außentür. Paps schloss sie auf. Rechter Hand (das müsste Norden) sein befand sich eine weiße Mauer, links war der Garten, und vor uns lag ein ungefähr 5 Meter Steinweg, der mit einem Glasdach abgedeckt war. Am Ende befand sich ein Bungalow (Flachdach) und eine Tür. Paps schloss sie auf. Hinter der Tür kam ein kleiner Flur ins Bild.
Auf der rechten Seite gab es zwei Türen und in der Mitte einen Abzweig zu einem weiteren Eingang, wahrscheinlich zum Pfad, der an die Straße führte. Hinter einer der Türen war ein tolles großes Badezimmer, hinter der anderen Tür ein leerer kleiner Raum. Die linke Seite hatte nur eine Tür.
»Willkommen in deinem neuem Zuhause!«, Paps strahlte mich an.
Wir hatten gerade die Tür durchschritten und standen in einem riesigen Wohnzimmer. Die Süd- und ein Teil der Ostseite bestanden aus Glasschiebetüren, die von der Decke bis zum Fußboden gingen (wie auch schon im Haupthaus). An der linken Seite der Rückwand befand sich eine Miniküche, ebenfalls mit Tresen. Ansonsten war der Raum auch unmöbliert.
»Das hier war als Gästebungalow geplant. Mum und ich dachten uns, dass du alt genug wärst, um in die eigenen vier Wände zu ziehen. Du hast einen eigenen Eingang und bekommst einen eigenen Schlüssel. Na was meinst du?«
Ich meinte gar nichts. Ich war platt. Mein eigenes Häuschen. Ich konnte nur dankbar und treudoof in Paps Augen gucken.
Thimo, dröge wie eh und je, brach dann das Schweigen: »Gratuliere!«
Tja, was soll ich sagen. Ich war begeistert. Thimo war unverhohlen neidisch. Mum und Paps waren glücklich, dass ich nichts zu mäkeln hatte und offensichtlich mit allem einverstanden war. Friede, Freude, Eierkuchen.
Wir schauten uns dann noch den Rest des Hauses an. Es gab einen Keller mit Sauna und Swimmingpool (Wow!), dabei ist Keller nicht das richtige Wort, da man aus einer Seite des Kellers durch große Glasfenster in den Garten schauen konnte.
»Der Pool wird übrigens von Sonnenkollektoren beheizt. Es gibt einen Erdwärmespeicher, der die Hitze des Sommers aufnimmt, so dass man sie im Winter nutzen kann.«
Dann waren da noch Schlaf-, Arbeits- und Gästezimmer. So langsam wurde mir unheimlich, hatten meine Eltern im Lotto gewonnen? Das Haus muss doch mindestens eine Million Mark gekostet haben.
»Es war teurer. Aber mach dir darüber keine Gedanken. Es gehört uns und wir mussten uns dafür nicht verschulden. Erinnerst du dich an Tante Margarethe?«
»Entfernt«, ich war 5 Jahre als sich starb. Tante Margarethe lebte in den USA, sie war Anfang der Fünfziger ausgewandert. Tantchen galt, soweit ich das wusste, als reich.
»Die gute Seele hatte keine Nachkommen und hat dich, ihren Großneffen, zum Erben erklärt. Allerdings nicht sofort und nicht auf einmal und auch nicht alles. Das Vermögen steckt in einer Treuhandgesellschaft. Ein Teil geht an wohltätige Zwecke und einen Teil erhältst du. Tantchen hatte zwei Auflagen an dein Erbe gebunden: Die Stiftung muss erhalten bleiben und das Geld was du erhältst, soll für Heim und Hof und eingesetzt werden.«
»Für mich?«, ich kam mal wider nicht mit.
»Ja! Dies alles ist mehr oder weniger deins. Da du noch nicht volljährig bist, haben wir da einfach über deinen Kopf entschieden.«
»Hmpf«, war dieser Tag noch zu toppen? Erst der CSD, jetzt schon Großgrundbesitzer, »Thi-mo?«
»Ja?«
»Kneif mich mal!«
»Kein Problem.«
»Au! Das tut weh!«
Nein, kein Traum! Ich war wohl doch im siebten Himmel. Jetzt müsste eigentlich nur noch ein Traummann aus den Wolken fallen ...
»Sagt mal, was haltet ihr davon, zur Feier des Tages schön Essen zu gehen?«
»Perfekt!«
»Jo!«
»Ich dachte schon, hier wird nie danach gefragt.«
1.11. TexMex - oder heiße Nachrichten zu heißem Essen
Diesmal übernahm meine Mutter die Initiative. Wir saßen alle im Wagen und fuhren zu einem nahe gelegenen Restaurant. Meine Mum hatte eine Empfehlung von einer Freundin erhalten und wollte es daher mal ausprobieren. Wir kannten ja sonst noch nichts in Berlin.
Es handelte sich um ein schönes, neues, modernes Restaurant mit leicht mexikanisch angehauchter Küche. Auch die Einrichtung war im lateinamerikanischen Stil gehalten. Wir mussten einen Augenblick an der Bar warten, bekamen dort aber einen Cocktail (Thimos und meiner natürlich ohne Alkohol).
Nach kurzer Zeit wurden wir zu unserem Tisch geführt und gaben unsere Bestellungen auf. Ich entschied mich für Fajitas, Thimo nahm Buritos, Paps ein Steak und Mummi gegrillten Fisch. Die Getränkebestellung war unspektakulär: Cola, Cola, Weizenbier und ein Weißwein, Wasser gab es ohne Bestellung.
Das Essen schmeckte vorzüglich. Nach kurzer Zeit fühlten wir uns alle pudelwohl und lehnten uns gesättigt in den bequemen Restaurantstühlen zurück. Jetzt war es an der Zeit, meine Bombe platzen zu lassen. Wenn nicht heute, wenn nicht in diesem Moment, so dachte ich mir, wann denn sonst. Der Tag war so perfekt gelaufen, es konnte gar nichts schief gehen.
»Mum, Paps, ich möchte mich nochmals bedanken. Das Haus ist toll, wir werden da sicherlich alle gut wohnen. Ich glaub ich kann mich inzwischen durchaus mit dem Gedanken anfreunden, nach Berlin zu ziehen.«
Es schadet nie, erst mal eine gute Stimmung zu verbreiten. Ein Blick in die glücklichen Augen meiner Erziehungsberechtigten ließ keinen Zweifel aufkommen, meine kleine Einleitung hatte ihr Ziel erreicht.
»Aber ich möchte euch noch etwas Wichtiges erzählen. Etwas, das mir sehr, sehr wichtig ist ...«
Alle Augen waren auf mich gerichtet. Thimo nickte mir kaum merklich aufmunternd zu - Danke Thimo.
»Mummi, Paps - Ich bin schwul! So nu ist es raus ...«
Schweigen, Stille, die Zeit friert ein. Mir kommt es so vor, als wenn im Restaurant schlagartig alle Geräusche verstummt sind. Mein Blick nimmt die Umgebung in Superzeitlupe war. Kurzzeitig bin ich aus der normalen Realität getreten. Was, was wird passieren. Quälende Sekunden vergehen, Sekunden, die mir wie Stunden vorkommen. Ich brüllte in mich hinein: Mensch sagt doch was. Irgendwas! Herrgott nochmal!
»Wolltest du uns nicht noch etwas Wichtiges sagen?«, das war mein Paps. Mit einem Ruck war ich wieder im normalen Raum-Zeit-Kontinuum.
»Shit! Das hab' ich doch! Ich bin schwul. Euer Sohn ist einer dieser Homosexuellen.«
»Ja und? Was erwartest du jetzt?«, wieder Paps.
»Ja, aber - äh, dass ist doch ... ich meine ... müsste man da nicht ...«
»Stimmt! Da war was. Erinnere mich Montag daran, den Sparvertrag für deine zukünftigen Töchter oder Söhne zu kündigen. Das entfällt ja jetzt.«
Hilfe, in welchen Film war ich denn da rein geraten. Mein Sprachzentrum versagte mir den Dienst, mein Kleinhirn wollte einen Tequila und mein Großhirn wusste mal wieder nichts mit solch einer Situation anzufangen und weigerte sich daher, einen Kommentar abzugeben. Dumm gelaufen. Meine Idee mit meinem Coming-Out war wohl doch nicht zu schlau.
In solchen Situation kann ich eine Sache besonders gut: dumm gucken. Ich guckte also dumm und schaute dabei der Reihe nach alle Anwesenden an.
Thimo grinste. Thimo grinste? Warum grinste dieser blöde Kerl. Moment mal, bei meiner Mum begannen die Mundwinkel zu zucken. Sie versuchte krampfhaft ein Lachen zu unterdrücken. Ich hoffte inständig, dass ich bei ihr keinen hysterischen Anfall ausgelöst hatte.
»Klaus, du bist gemein. Verarsch Svenni nicht. Dem ist das verdammt wichtig.«
Jetzt grinste auch mein Vater: »Sven, es ist alles Ok. Ich bin stolz auf dich. Nicht weil du schwul bist. Das ist für uns völlig Ok. Nein, ich bin, wir sind stolz auf dich, dass du uns vertraust. Und wir versprechen dir, dass wir dein Vertrauen nie enttäuschen werden. Du wirst immer auf uns bauen können. Ich glaube, wir haben da einen ziemlich passablen Sohn großgezogen.« Sprachs und knuffte mich in die Seite, während meine Mum mir durch die Haare wuschelte. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass in diesem Moment in großen, leuchtenden Buchstaben »Dorftrottel« auf meiner Stirn aufflammten.
»War doch gar nicht so schlimm - Gibt's hier noch was zu trinken?«, dieser Kommentar kam - natürlich - von Thimo.
Der restliche Abend verlief einfach super. Meine Eltern wollten natürlich alles ganz genau wissen: wann ich es zuerst gemerkt hatte und ob und wie ich damit klar kam. Andererseits waren sie erstaunlich respektvoll und zurückhaltend. Peinlichkeiten wurden netterweise ausgelassen. Ihr kennt das doch sicherlich, Mütter haben diese einzigartige Gabe immer exakt das auszusprechen, was man auf alle Fälle unbedingt für sich behalten will. Aber an diesem Abend war alles anders. Ein lockeres, entspanntes und doch ernstes Gespräch. Ich sprach über meine Ängste und Träume, meine Eltern hatten ihre Fragen und die waren sogar erstaunlich intelligent - für Eltern. Im Nachhinein muss ich eingestehen, dass ich ziemliches Glück hatte, solche Eltern zu haben. Aber sowas gibt man ja nur ungern zu.
Sehr beeindruckt waren Mum und Paps von der Geschichte mit Thimos Vater und meinem speziellen Versprechen. Wie Thimo waren auch sie der Meinung, dass ich auf eine zwar ziemlich verquere, aber für mich wohl absolut typische Weise, das Versprechen doch noch eingehalten hatte, indem ich Thimo alles im IRC gebeichtet hatte. Mum und Paps bedankten sich dann bei Thimo, dass er mir während der Zeit meines eigenen Coming-Out beigestanden hatte.
Ich konnte natürlich nicht umhin meine Eltern zu fragen, ob sie sehr überrascht waren, dass ich schwul bin. Nein, eigentlich nicht, war die Antwort meiner Mutter. Sie hatte es seit gut einem Jahr vermutet. Mütter halt - die wissen immer wie es ihrem Baby geht.
Auf meine Frage, ob sie das denn nicht stören würde, wurde Paps nochmals sehr ernst. Wirklich sehr ernst.
»Sven, das ist jetzt sehr wichtig. Mich stört es nicht, dass du schwul bist. Genauso wenig wie es deine Mutter stört. Aber uns stört etwas anderes ...«
Das klang ernst.
»Was mich oder besser uns stört, ist, dass du überhaupt diese Frage stellst.«
Ich versuchte seinem Gedankenganz zu folgen, kam aber noch nicht ganz mit.
»Wie meinst du das?«
»Ok, das ist jetzt wohl von hinten durch die Brust ins Auge: Wenn du uns fragst, ob uns dein Schwulsein stört, dann betrachtest du es selbst offensichtlich als Makel. Etwas für das man sich schämen müsste.«
Stimmt, da war was dran. Irgendwo schlummerte immer noch ein Rest Schamgefühl in mir, das Homosexualität als anormal betrachtete.
»Ich glaub, ich weiß was du meinst.«
»Gut! Denn du solltest das niemals tun. Du bist ein ganz lieber Junge. Ein toller Sohn, der viel zu gut surft. Und jetzt sag mir, was soll dran verkehrt sein einen anderen Menschen zu lieben.«
»Nichts«
»Genau. Und warum sollte dann das Geschlecht des anderen oder der anderen eine Rolle spielen? Genau - gar keins! Du weißt, ich bin kein religiöser Mensch. Aber ich denke, die Fähigkeit zu lieben ist wohl eine der besten und schönsten Gaben, die wir Menschen mitbekommen haben. Nutze sie, dass du und dein zukünftiger Freund glücklich seid. Das kann einfach nicht falsch sein, egal was andere sagen mögen. Akzeptiere dich wie du bist! Naja, was Eltern sagen ist den Kindern meistens eh egal. Mir war's egal. Aber bei dieser Sache, glaub mir mal nicht als dein Vater, sondern als einen Freund: Schäm dich niemals dafür, wer oder was du bist! Niemals! Verstanden?«
Ich hatte meinen Paps noch nie so ernst gesehen, es war ihm wirklich sehr wichtig. Ich verstand, was er meinte. Wenn ich selbst nicht zu mir stehe, bin ich verwundbar. Das war genau das, was ich mit Thimo erlebt hatte, als er mich fragte, ob ich schwul sei. In dem Moment war ich verwundbar gewesen. Entsetzlich verwundbar. Wie sehr verstand ich erst jetzt. Hätte Thimo damals anders reagiert, ich wüsste nicht, wie es dann weitergegangen wäre.
»Paps - danke!«
»Komm her Kleiner!«, auch wenn's mal wieder kitschig klingt, Paps nahm mich in den Arm. Und das Schlimmste daran, es war mir nicht mal peinlich.
1.12. Jugend forscht!
In dieser etwas nachdenklichen Stimmung klang der Abend aus. Thimo war schon die ganze Zeit sehr still gewesen. Naja, die meiste Zeit hatten wir auch nur von mir gesprochen, wahrscheinlich kam er sich etwas deplatziert vor. Ich würde mich dafür noch bei ihm entschuldigen müssen.
»Du Thimo, tut mir Leid, dass wir den ganzen Abend nur von mir gesprochen haben!«
»Ey, ist schon gut ...«, das klang irgendwie traurig.
Wir fuhren ins Hotel zurück und sagten uns Gute Nacht. Nach einer kurzen, aber erfrischenden und reinigenden Dusche nach dem langen Tag lagen wir dann in unseren Hotelbetten. Das Licht war schon aus, als ich Thimos Stimme hörte.
»Svenni, schläfst du schon?«
»Nein ...«
»Darf ich dich was fragen?«
»Schieß los! Soll ich das Licht anmachen?«
»Nein - bitte - lass es aus.«
»Ok!« Thimo klang bedrückt. Wieso?
»Wie merkt man eigentlich, dass man schwul ist?«
»Hm, warum fragst du?«, was hatte er denn?
»Bitte antworte einfach ...«
»Naja, so wie ich es vorhin beschrieben hatte oder wie ich es dir im Chat erzählte habe. Frauen, Mädchen, irgendwann merkte ich, dass ich mit denen nichts anfangen konnte. Alle in der Schule hatten eine Freundin und gaben damit auch mehr oder weniger an. Das war wohl der Punkt: Ich verstand das nicht. Was ist an den Mädels dran? Denk mal an Maik mit seinem Tittentick. Ich empfand dabei nichts, wenn er die Vorzüge von großen und kleinen Brüsten erklärte. Mädchen lassen mich kalt. Das klingt jetzt blöd. Mit manchen kann man sich unterhalten. Ja, manche sehen gut aus, sehr gut sogar. Aber, das ist es irgendwie nicht ... Wenn ich hingegen manche Jungen sehe, schnürt es mir den Hals zu. Ich kann nicht anders, als mit den Augen über ihn streicheln. Der Körperform zu folgen. Es tut fast weh. Es schmerzt. Du möchtest ihn berühren, lieben. Wie sagt man dazu: Schmetterlinge im Bauch? «
Ich musste Luft holen. Mir war das selbst noch nie so klar gewesen. Leider wurde mir dann aber noch etwas anderes klar. Nach einer kleinen Pause fuhr ich mit leicht trauriger Stimme fort.
»Diese Momente, wenn ich einen Jungen begehre, mich nach einem Menschen sehne ihn zu lieben, zu berühren, zu halten ... Es sind die einsamsten Momente in meinem Leben.«
Das Sprechen fiel mir hörbar schwer.
»Wie könnte ich ihn ansprechen. Wahrscheinlich ist er hetero. Wird er mich auslachen? Wird er mich vielleicht schlagen? Das sind die Fragen, die mir dann durch den Kopf schießen. Deswegen hab' ich die Sommer immer so gehasst: Alle Jungs hatten eine Freundin. Und was war mit mir: Durch Burg liefen die süßesten Typen rum und alle unerreichbar ...«
Es war still. Ich hatte meine feuchten Augen geschlossen. Eigentlich hatte ich mehr mit mir selbst gesprochen, als auf Thimos Frage von vorhin zu antworten.
»Ich weiß!«, Thimos Stimme klang belegt und sehr leise. Ich hatte den Eindruck, ein Schniefen zu hören.
»Thimo?«
»Svenni, ich glaub ich hab' mich in dich verliebt ...«
»Wie ...«, ich war irritiert. »Wie verliebt ...«
»Sven, ich habe auch diese Gefühle. Mir zerreißt es das Herz! Mir schnürt es den Hals zusammen! Mir ist schwindelig! Aber ...«
Weiter kam er nicht. Ich hatte mich in meinem Bett aufgesetzt. Das Licht von der Straße war hell genug, um zu sehen, wie Thimo seinen Kopf in seinem Kopfkissen vergrub. Er weinte.
»Aber du bist doch hetero!?«, war das jetzt eine Frage oder eine Feststellung. Oder wollte ich mir nur etwas selbst bestätigen?
»Wieso bist du dir da so sicher ... Ich bin mir da nämlich nicht sicher, ich glaub ich bin nicht hetero ...«, nicht hetero, ja was ist er denn dann?
»Aber du hattest Freundinnen ...«
»Hmpf«
»Hmpf, was?«
»Das war nichts. Weißt du, warum Maike Schluss gemacht hat? Willst du es wirklich wissen? Ich hab' ihn nicht hoch bekommen. Wir haben rumgeknutscht und solch Zeugs. Aber Maike wollte Sex. Poppen! Ich konnte nicht, er wollte nicht. Nein falsch, ich wollte nicht. Ich fand das nur merkwürdig und antörnend. Naja, du kennst Maikes direkte Art. Mit so einem Schlappschwanz wollte sie nichts zu tun haben. Sie meinte, ich wäre wohl doch noch zu jung und unreif.«, Thimo kotzte die Worte unter heftigem Schniefen raus.
»Und weiter ...«, ich versuchte so vorsichtig und einfühlsam wie nur möglich zu sprechen.
»Ach nichts weiter. Ich dachte mir nichts dabei. Vielleicht hatte Maike ja Recht und ich war wirklich noch zu unreif. Oder sie war einfach nicht die Richtige. Bei der Richtigen würde es bestimmt klappen.«
Ich schwieg. Manchmal muss man einfach seine Klappe halten können. Thimo wurde etwas ruhiger.
»Dann kam die Sache mit Paps. Und dann kam die Sache mit dir. Was du da geschrieben hast, in deinen E-Mails, im Chat. Deine Gefühle, Ängste, Wünsche ... Sie sprachen mich an. Ich verstand sie sofort. Ich glaube, mein Alter-Ego #CKent77 war nur deswegen schwul, weil ich es auch bin ...«
Ja lieber Leser, Svenni verdient den ersten Preis für die längste Leitung. Der Groschen fiel in Superzeitlupe, verharrte kurz im Münzschacht und lachte mich aus. Ich Idiot war die ganze Zeit so ich fixiert, so egozentrisch, dass ich nicht gemerkt hatte, was Thimo mir die ganze Zeit, die ganze Zeit seit dem Abend am Strand mitteilen wollte. Er war auch schwul. Thimo war schwul! Und ich war blind, blind in meiner ichbezogenen Ignoranz, es nicht zu merken. Svenni, der Nabel der Welt. Der größte Idiot der Welt. Ich war ein Arsch von einem Freund.
»Thimo, oh Thimo. Es tut mir leid. Ich bin ein Arsch, ein Idiot. Ich war so egoistisch mit meinem Coming-Out und hab' nichts gemerkt. Es tut mir leid. Aber warum hast du, um Himmelswillen nie was gesagt?«
Eine blöde Frage. Er hatte es die ganze Zeit versucht, ich habe es nur nicht gemerkt. Auf der anderen Seite, warum hat er nie die Klappe aufgemacht und es offen ausgesprochen? Ok, wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
»Ich wollte dich nicht verlieren ...«
»Warum denn das?«
»Du bist mein bester Freund. Wenn ich dir gesagt hätte, dass ich schwul bin ...«, er fing wieder an zu weinen. Nicht mehr.
»Ich versteh dich nicht. Ich bin schwul, du bist schwul. Toll! Endlich jemand mit dem man sprechen kann. Wo ist das Problem?«
Ich verstand ihn wirklich nicht mehr. Was lief hier verkehrt? Thimo holte tief Luft, ich sah wie er sich die Tränen mit dem Oberbett aus den Augen wischte.
»Sven. Ich will dich nicht als besten Freund!«
Mein Herzschlag setzte aus. Eine Pause. Eine Ewigkeit.
»Ich will dich als Freund, als meinen Freund. «
Wäre das Licht im Zimmer an gewesen, hätte man sehen können, wie mein Unterkiefer runter klappte. Endlich machte es wirklich Klick. Mein Traummann wollte mich! Och nö. Konnte Liebe so kitschig und blöd sein. Er hatte nichts gesagt, weil er in mich verliebt war und nicht wusste, wie ich reagieren würde. Und ich, der ihn für hetero gehalten hatte, hab' aus dem gleichen Grund ihm nie gesagt, wie vernarrt ich in ihn wirklich bin. Schön blöd!
»Svenni! Scheiße, sag doch was! Bist du jetzt sauer? Wenn ich nicht dein Typ bin, sag es einfach. Vergiss es. Shit, hätte ich doch nur die Klappe gehalten ...«
Da gab es nur noch eins: Ich stand auf, ging zu Thimos Bett, nahm sein Gesicht in meine Hände und sagt: »Halt den Mund!« Dann küsste ich Thimo. Ich hatte noch nie einen Mann, einen Jungen so geküsst. Ich streichelte sein Haar, seine Stirn, seine Wangen. Thimos Augen, in denen ich schon immer versinken wollte, wurden immer größer. Einen kurzen Moment wurde er stocksteif, Abwehrhaltung, bis er begriff, was passiert war, dann war es vorbei und er ließ sich gehen. Tränen schossen in seine Augen - Tränen des Glücks.
Ich schlüpfte zu Thimo ins Bett. Irgendwie entledigten wir uns unserer Nachtkleidung. Wir hatten uns schon ein paar Mal in den Armen gehalten, aber dieses Mal war es anders. So eng umschlungen, so nah, ich spürte das Glühen seines Körpers, jedes feine Zittern unter den Berührungen meiner Hände. Ich spürte wie er es genoss sich hinzugeben.
Da lagen wir im Bett, eng umschlungen, fast nur ein einziger Körper. Wir küssten uns. Küsse, die ich so tief und intensiv noch nie erlebt hatte. Ich hätte nie gedacht, dass man von Küssen dermaßen berauscht werden kann. Ich begann seine Brust zu küssen. Erst die linke, dann arbeitete ich mich zu rechten vor. Thimos Körper war perfekt ausgearbeitet, keine Haare. Meine Lippen wanderten über die Wellen seines Bauchs abwärts. Ich konnte jeden Muskel seines Waschbrettbauchs mit meinen Lippen spüren und liebkosen. Irgendwann erreichte ich seinen Schwanz. Stahlhart stand er steif empor. Da hatte Maike aber wirklich was verpasst.
Ich zuckte zurück, ich hatte doch noch nie ...
»Bitte Svenni, hör nicht auf ...«
Braucht man für Sex eine Anleitung? Wozu? Ich wusste was mir gefällt, das war immer ein Ausgangspunkt. Und so nahm ich das erste Mal in meinem Leben den Schwanz eines anderen Jungen in meine Hand. Glühend und hart wie Fels, aber trotzdem weich und zart. Er fühlte sich lebendig, kraftvoll, energiegeladen an, ganz anders als wenn ich Klein Svenni in die Hand nahm. Thimo stöhnte leicht auf. Ich war auf dem richtigen Weg. Ich massierte sein gutes Stück, mal mit festem Druck, mal weich, fast streichelnd. Ein Schauer durchströmte Thimos Körper, ich fühlte, dass er eine Gänsehaut bekam. Er atmete schwer und tief.
Ich berührte mit meinen Lippen seine Eichel und küsste sie leicht. Thimo fing an zu vibrieren, Muskeln spannten sich, um sich gleich wieder zu lösen. Die Atmosphäre war mit Hochspannung geladen. Langsam arbeitete ich mich vor. Thimo krallte seine Hände in das Bettlacken. Spastische Muskelkontraktionen wanderten in Wellen von seinem Kopf bis zu den Füßen.
»Mach weiter, bitte ...«, seine Sprache war nur noch ein Wimmern.
Und dann tat ich es. Was für ein Erlebnis. Ich spürte ihn; intensiver als ich mir das je vorstellen konnte. Und er schmeckte gut, wirklich gut.
Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber Thimos Schwanz wurde in meinem Mund noch härter und sogar noch etwas größer. Nach ein paar Minuten war er nicht mehr zu halten, unvorstellbar kräftige Krämpfe durchzuckten Thimos Körper, als er kam. Und es kam viel, sehr viel und sehr gewaltig. Thimos Schwanz explodierte geradezu. Berauscht von seinem Orgasmus, diesem Naturereignis, gab es für mich auch kein Halten mehr. Ich kam, so wie ich noch nie gekommen war. Ich schleuderte eine Fontäne direkt auf Thimos Bauch. Völlig entkräftet sank ich auf Thimo nieder. Wir umarmten uns, wir hielten uns fest. Tränen rannen aus unseren Augen. Das erste Mal hätte nicht besser sein können.
Völlig erschöpft lagen wir nebeneinander. Eng aneinander gekuschelt, uns gegenseitig streichelnd. Ich glaube wir waren sogar beide kurz eingeschlafen, wachten dann aber beide kurze Zeit später wieder auf.
»Thimo, nach meinen intensiven Untersuchungen muss ich feststellen: Maike hat keine Ahnung. Du bist nicht zu unreif. Sie war wohl einfach nur die Falsche für dich.«
»Du kannst wohl nie ernst bleiben?«
»Nö, aber so willst du mich doch, oder?«
»Soll ich dir das beweisen?«
»Wie willst du denn das machen?«, das war die falsche Frage. Jetzt war ich es, der sich am Bettlacken festkrallen musste. Eben noch schlaff und klein, wurde mein kleiner Svenni wach geküsst und stand prompt wie ne eins. Thimo schien ganz genau zu wissen, was man dafür tun musste, dass er auch genau so blieb oder noch etwas zunahm.
Dieser kleine Teufel, in null-komma-nix war ich dem Wahnsinn nahe. Jetzt merkte ich, wie sich jeder einzelne Muskel in meinem Körper verkrampfte. Meine Hände krallten sich dermaßen in das Bettlacken und ballten sich dabei zu Fäusten, dass ich meine Fingernägel in meinen Handballen spürte. Und dann passierte es. Ich hatte mal irgendwo gelesen, dass man sagt, der Orgasmus ist der kleine Tod. In diesem Moment verstand ich, was damit gemeint ist. Ich starb diesen Tod. Und war glücklich.
»Thimo ich liebe dich.«
»Ich weiß ...«
1.13. Trübe Zukunftsplanung
Obwohl unsere Nacht sehr kurz war, waren wir rechtzeitig zum Frühstücksbuffet anwesend. Es war gegen neun Uhr und wir waren sogar relativ frisch. Wir waren sogar vor meinen Eltern am Frühstückstisch. Ich hatte einen Pott Milchkaffee vor meiner Nase, Thimo ein großes Glas O-Saft. Für ein Hotel war der Kaffee sogar genießbar.
»Das gestern Nacht ...«, begann ich etwas verträumt.
»Ja ...«, die Stimme hatte ein schnurren wie bei einer Katze.
»Es war ...«
»Genau ...«
Wir sahen uns an und grinsten. Da war es wieder, jeder wusste, was der andere dachte.
»Aber?«, Thimo war wieder dabei meine Gedanken zu lesen.
»Es hätte nicht passieren dürfen ...«, nicht dass wir es nicht beide wollten, oder es etwa bereuten.
»Ja, ich weiß was du meinst. Wir haben ein sehr feuchtes Problem.«
»Und das Problem heißt Atlantik. Wie viele Kilometer liegen zwischen Portland und Berlin?«
»Zu viele!«
»Und? Was nu?«
»Willst du es wirklich wissen? Wir haben noch gut drei Wochen! Drei Wochen nur für uns. Wenn die auch nur ansatzweise so sind wie gestern, dann reicht das für ein ganzes Leben.«
»Stimmt, nach drei Wochen mit dir im Bett muss ich ins Pflegeheim!«
»Und mich muss man künstlich ernähren ... Aber mal im Ernst, meinst du wirklich, zwischen uns wird sich was ändern, nur weil da ein paar tausend Kilometer Salzwasser zwischen uns liegen. Nie! Nie und nimmer.«
»Du meinst ...?«
»Genau. Wir werden immer Freunde bleiben. Immer - so oder so! Und denk nicht so heterosexuell in diesen eingefahrenen Zweierkisten. Glaubst du wirklich, dass ich von dir erwarte, keusch und enthaltsam zu leben und dich für mich in den Ferien aufsparst. Niemals! Ich verlange sogar von dir, dass du dir einen Freund suchst. Darum hast du all die Jahre gewartet. Dafür hast du mit dir und deinem Gewissen gekämpft. Du musst dich ja nicht gleich durch das Berliner Telefonbuch poppen. Aber das wirst du auch nicht, dafür kenn ich dich viel zu gut.«
»Du bist ein Lügner, allerdings der süßeste den ich kenne. Du kannst mir nichts vormachen. Du wirst in drei Wochen dein Kopfkissen voll heulen, genauso wie ich meins. Musst du wirklich nach Amiland ziehen, kannst du nicht bei mir bleiben?«
»Nein, das kann ich nicht. Genauso wenig wie du mit mir nach Amiland ziehen kannst.«
»Also ist unsere Beziehung schon am Ende bevor sie angefangen hat?«
»Meinst du das wirklich?«
»Nein, eigentlich nicht ... Ich glaube, es wäre anders, wenn ich dich gestern erst kennen gelernt hätte. So in der Art der erste Freund. Aber mit dir ist das irgendwie anders.«
»Ah, jetzt siehst du was ich meine. Kopf hoch, wir haben noch drei wundervolle Wochen.«
»Erinnere mich, dass ich mir eine Familienpackung Vitamintabletten kaufe, sonst steh ich das niemals durch.«
»Arsch!«
»Wichser!«
Für die nächsten drei Wochen hatte ich den Gedanken an unsere unfreiwillige Trennung in die hintersten Winkel meines Gehirns verdrängt.
Endlich tauchten auch meine Eltern auf.
»Was ist den mit euch beiden?«, meine Mutter glotzte wechselweise Thimo und mich an.
»Nichts? Was soll sein«
»Haben wir uns mit dem Frühstücksei bekleckert?«
»Nein, ihr beiden strahlt wie zwei Kernbrennstäbe.«
War das so offensichtlich.
»Hat Thimo dir sein kleines Geheimnis gebeichtet?«
»Was? Ihr wusstet das?«
Thimo griff sofort ein: »Seit zwei Wochen. Deine Eltern machten sich Sorgen, weil du zum Ferienanfang so deprimiert, zugeknöpft und melancholisch warst. Wie deine Mum dir ja schon gestern erzählte, ahnte sie ja schon länger, dass du schwul bist. Naja, vor zwei Wochen sprach mich deine Mum an und fragte mich als deinen ältesten und besten Freund, ob ich wüsste, warum du traurig warst und ob es sein könnte, dass du vielleicht homosexuell sein könntest.«
»Aber ...«, weiter kam ich nicht.
»Nix aber. Ich habe natürlich nichts gesagt. Ich meinte, wenn dem so sei, würdest du es ihnen sicherlich irgendwann sagen. Was ich aber sagte, war, dass ich schwul bin. Das fiel mir übrigens alles andere als leicht. Ich wusste aber, dass man deinen Eltern vertrauen kann. Außerdem konnte ich die Richtung, wohin alles lief, besser steuern. Aus meinen eigenen und unseren gemeinsamen Erfahrungen wusste ich, dass du eher zumachen würdest, wenn deine Eltern dich direkt fragen würden. Dann kam die Sache mit dem Umzug und ich hatte das Gefühl, dass die Zeit drängte. Bevor ich über den großen Teich segelte, wollte ich, dass du endlich dein Coming-Out hattest. Das war ich dir nach allem was du für mich getan hast schuldig.«
»Und weiter?«
»Den Rest kennst du. Ich zwang dich am Strand dazu, endlich auszupacken. Es war nicht fair.«
»Doch war es. Und ich bin dir dankbar.«
»Wie auch immer ... Die zweite Sache war das mit deinen Eltern. Wie bekommt man dich dazu, es endlich deinen Eltern zu erzählen. Da kam mir die Idee mit dem CSD. Außerdem wollte ich dir ja auch noch was beichten ...«
»Dann hatte ich die ganze Zeit nur das gemacht, was du mit mir geplant hast?«
»Oh, mein Kleiner hat es begriffen. Du warst meine Marionette ...«, Thimos Grinsen war eine Frechheit, aber süß. Ich hätte über diesen Schnuckel sofort wieder herfallen und ihn durch die Stimulierung tiefer liegender Körperregionen für seine kleinen Intrigen bestrafen können. Wie ich schon sagte, wir Norddeutschen machen für alles und jedes einen Plan. Thimo war da keine Ausnahme. Er hatte mein Coming-Out generalstabsmäßig geplant.
»Aber deswegen strahlt ihr doch nicht so, oder?«, meine Mutter schaltete sich wieder ein.
Thimo und ich liefen knallrot an. Ertappt. »Oh, ihr zwei habt ...« Schuldbewusstes Nicken unsererseits.
»Oops, tut mir leid. Das war jetzt wohl etwas indiskret. Äh, herzlichen Glückwunsch. Ihr seid wirklich ein süßes Paar!«
»Lass die beiden. Das ist denen peinlich. Sind doch fast noch Kinder.«
Eltern, wie schaffen sie es immer wieder, dass man sich am liebsten in Luft auflösen möchte?
Nach dem Frühstück war unsere Rückreise nach Fehmarn geplant. Koffer packen und los. Auf der A24 war sehr wenig los und wir kamen gut durch. Die A1 war dafür umso verstopfter. Höhe Neustadt kamen wir in einen Stau vor einer Baustelle, aber auch die ließen wir letztendlich hinter uns zurück. Am frühen Nachmittag waren wir wieder auf unserer Insel. Mir kam sie plötzlich sehr klein vor. Eng und klein. Ich war schon mittendrin mich von meinem früheren Inselleben loszulösen. Thimo erging es nicht anders.
Wir waren an unserem Stammstrand. Gute 4Bf aus südöstlichen Richtungen waren Ideal für eine Runde Kitesurfen. Fliegen, schweben, träumen ...
Am Ende lag ich mit Thimo am Strand. Eng umschlungen. In einem Kitschroman, solchen, die meine Oma immer las, hätte gestanden: »Sie surften auf den Wellen ihrer Gefühle, auf der Brandung ihrer Liebe.« - oder so ähnlich. Es mag superkitschig klingen, aber so fühlten wir uns. Die Farben von Meer, Sonne, Wolken, Getreidefeldern und Wiesen waren kräftiger. Die Gerüche von Erde und Wasser dufteten intensiver. Ich fühlte mich seit sehr langer Zeit wieder richtig lebendig und war mir sicher, dass es Thimo genauso ging.
»Was machen wir eigentlich mit den anderen?«
»Na die werden doch alle mit ihrer Jagdbeute beschäftigt sein.«
»Das mein ich nicht. Sollen wir ihnen von uns erzählen?«
»Was Outen, hmmm ... Warum eigentlich nicht. Die Bombe möchte ich zum Abschluss noch gern platzen lassen.« Regieanweisung: Hämisches Grinsen einblenden.
»Du Arsch! Und wenn's nicht gut ankommt und die total ätzend reagieren?«
»Und wenn schon. Nicht mal ne Woche später sind wir weg. Wenn die tatsächlich die totalen Spießer sind, who cares! Außerdem denke ich, du hast noch was mit Maike zu klären. Ich kann doch unmöglich zulassen, dass sie meinen Kleinen als Schlappschwanz in Erinnerung behält.«
»Untersteh dich!«
»Nö ...«
»Warte, dir zeig ich wie du dich unterstehen wirst ...«, und schwups wurde ich von zwei kräftigen Händen zu Boden gedrückt. Ich ergab mich natürlich nicht sofort. Etwas Gegenwehr musste schon sein. Nur etwas - nicht zu viel.
1.14. Mutterwitz und Planspiele
In den nächsten zweieinhalb Wochen waren wir mit zwei wichtigen Dingen beschäftigt. Zum einen beschäftigten wir uns intensiv miteinander. Sehr anstrengend, aber auch sehr, äh, befriedigend. Wir drangen sehr tief in unsere Freundschaft ein. (Man möge mir diesen Kalauer verzeihen. Kommt auch nicht wieder vor! Versprochen!)
Die andere Sache, mit der wir uns beschäftigten, war eine Party, oder besser die Party, die wir als Abschied von unseren Freunden und unserem Inselleben planten. Inzwischen hatte es sich natürlich rumgesprochen, dass sowohl Thimo mit seiner Mutter, als auch ich mit meinen Eltern wegziehen würde. Das traf die anderen aus unserer kleinen Inselgang hart, wurde doch kurzerhand die Gruppe um ein Viertel dezimiert. Ein paar andere Leute, deren Namen ich aus verständlichen Gründen nicht preisgeben werde, waren aus ganz anderen Gründen entsetzt. Wussten sie doch jetzt nicht, wo sie sich ihre Hausaufgabenlösungen herholen sollten. Da gab es dann in Zukunft nur eins: selber denken. O-Ton eines Betroffenen: »Ich und selber denken: Welch absurde Idee! Svenni, das kannst du mir nicht antun!« Doch konnte ich: mit einem Lächeln auf den Lippen.
Die einhellige Meinung zu unseren Wegzügen war Bedauern und miese Stimmung. Erst die Aussicht auf eine fette Abschlussfete ließ die Laune wieder etwas steigen.
Für die Fete hatten wir uns die Scheune von Thimos Großeltern (väterlicherseits) ausgesucht. Sein Opa lebte nicht mehr und Oma hatte nichts dagegen. Mit der Landwirtschaft hatten sie schon vor Jahren aufgehört und die Felder mit einer satten EG-Abfindung stillgelegt. Von dem Geld hat sie sich dann einen kleinen Windpark angelegt. Ziemlich pfiffig die alte Dame. Und da Thimo ihr absoluter Lieblingsenkel war (Welch Kunststück, er war auch ihr einziger Enkel) gab es hin und wieder Recht ordentliche finanzielle Zuwendungen. Segel und Bretter sind teuer.
Wir nutzten die Scheune hauptsächlich als Lagerplatz für unsere Surfbords und Segel und als Treffpunkt für unsere Inselgang. Dazu hatten wir das Teil in den letzten Jahren wieder auf Vordermann gebracht. Das Gebäude war zwar nicht verfallen, aber ziemlich verwahrlost gewesen. Das Dach war an vielen Stellen undicht. Aber über die Zeit haben wir das Teil saubergemacht, das Dach abgedichtet, frisch gemalt, Stromleitungen und Licht (teilweise bunt und in Farbe) verlegt, eine Soundanlage installiert und einen kleinen, beheizbaren, verglasten, abschließbaren Raum mit Tisch und Stühlen eingebaut. Mit anderen Worten: der ideale Platz für Feten.
Wenn Party, dann Mitbringparty. Funktionierte immer. Es gab immer mehr als genug zu essen und zu trinken. Je mehr kamen, desto besser war auch die Auswahl. Nur die Getränke organisierten wir per Umlage vorher. Genau so war auch unsere Abschlussfete geplant. Alle wurden eingeladen, das heißt nicht nur der Kern, sondern die ganze Klasse inklusive Anhang. Wenn jemand noch jemand anders mitbringen wollte, toll! Party On. Wobei ich allerdings die ganze Zeit insgeheim hoffte, dass bestimmte Leute nicht kommen würden. Aber einladen mussten wir sie. Als Thimo und ich dann mal zusammenzählten, wie viele wohl aufkreuzen würden, kamen wir auf über fünfzig Leute. Das konnte wirklich lustig werden. Die Chancen, dass ich die Hälfte der Leute auf meiner eigenen Party nicht kennen würde, standen nicht schlecht.
Während der ganzen Zeit behielten Thimo und ich unser kleines, gemeinsames, romantisches Geheimnis für uns. Dass wir wenige Tage nach unserer Fete für Monate getrennt sein würden, verdrängten wir. Im Verdrängen von Wahrheiten hatten wir ja Übung. Jetzt war erst mal Spaß angesagt.
Zwischenzeitlich kümmerten sich unsere Eltern, meine und Thimos Mutter, um die jeweiligen Umzugsvorbereitungen. Möbel wurden ausgesucht. Toll, ich sollte eine komplett neue Zimmereinrichtung erhalten. Aber irgendwie waren sie froh, dass wir uns nicht in die Vorbereitungen einmischten.
Eine Woche vor der Party bat mich Thimo, abends mit ihm nach Hause zu kommen. Er hatte geplant, sich an diesem Abend gegenüber seiner Mutter zu outen, wollte dies aber nicht alleine tun.
Thimos Mutter kocht mindestens so gut wie meine, d. h., wir saßen am Abendbrottisch. Abendbrot ist allerdings das falsche Wort. Thimos Mutter arbeitet tagsüber und in den Sommerferien ließen wir meistens das Mittagessen ausfallen. Stattdessen wurde abends warm gegessen. Es gab Curryhuhn, eines meiner Lieblingsgerichte.
Wir saßen alle noch gemütlich zusammen am Esstisch in der Küche und hatten gerade unseren letzten Happen verdrückt. Der übliche Smalltalk lief.
»Und wie laufen eure Partyvorbereitungen?«
»Gut Ellen. Thimo hat die Soundanlage auf Vordermann gebracht. Kai wird als DJ zufrieden sein können. Ich muss mich noch um das Licht kümmern. Einer der Strobes hat ne kaputte Röhre«, ich duzte Thimos Mutter, auf ihren ausdrücklichen Wunsch, schon seit Jahren.
»Nicht so technisch. Thimo! Was ist ein Strobe!«
»Stroboskop! Die Blitzlichtdinger ...«
»Danke, dass du mich vorwarnst! Wenn ihr die habt, werde ich bestimmt nicht vorbeischauen.«
So ging das schon den ganzen Abend. Belangloses Geplauder. Hauptsächlich zwischen Ellen und mir. Ich merkte, dass Thimo die ganze Zeit dabei war, seinen Mut zu sammeln und den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Uns war klar, dass er es seiner Mutter vor der Party erzählen musste. Ich versuchte daher, das Gespräch langsam absterben zu lassen, damit Thimo eine Möglichkeit bekam, loszulegen.
Ellen wollte gerade aufstehen, um die Teller in den Geschirrspüler zu stellen, als Thimo sich einen Ruck gab.
»Mum, bitte bleib sitzen! Ich hab' dir was Wichtiges zu sagen.«
»Oh, das klingt ernst. Was hast du ausgefressen? Habt ihr wieder einen Gülletank gesprengt?«
Oops, sie wusste davon? Woher wusste sie das?
»Nein Mum. Bitte jetzt keine Witze. Ich mein es ernst.«
»Entschuldigung Thimo. War nicht so gemeint.«
Na, welche Variante würde Thimo wohl wählen: Die direkte oder die indirekte.
»Mum, ich bin verliebt!«
Ok, das war die indirekte. Das gab ihm aber auch nur maximal 30 Sekunden Schonfrist.
»Na super. Wie heißt denn die Person?«
Ach schau an, Ellen wählte die geschlechtsneutrale Formulierung. Thimo du hast gewonnen, deine Mutter weiß es längst. Aber Thimo schien die Brücke, die ihm seine Mutter baute, nicht bemerkt zu haben.
»Es ist komplizierter ...«, Ich konnte nur zusehen, wie er sich wie ein Wurm wand. Helfen konnte ich ihm jetzt nicht. Das Einzige was ich machen konnte war, ihm einen aufmunternden Blick zuzuwerfen.
»Ist es nicht ... Thimo ich bin deine Mutter. Was soll daran schwierig sein, in jemanden verliebt zu sein?«
»Ach, Mum, es ist kein Mädchen ...«, er schämte sich. Was er nicht sollte, aber wer kann schon über seinen eigenen Schatten springen. Ich war ja auch nicht viel besser.
»Es ist ein Junge ... Es ist Svenni! Ich bin schwul!«
Thimos Augen waren feucht geworden.
»Ich weiß ...«, jetzt wusste ich wo Thimo diese zwei Worte her hatte. Das schien wohl das Familienmotto zu sein.
Thimo, der bisher seinen Blick nach unten gerichtet hatte, schaute sofort hoch, in die Augen seiner Mutter. Ellen lächelte. Und schüttelte den Kopf.
»Glaubst du wirklich ich weiß das nicht. Mütter wissen sowas.«
»Und?«
»Nix und! Kauf dir Kondome!«
»Das ist alles?«
»Wollt ihr Nachtisch?«
»Mummi!«
»Ok, es ist nicht ganz alles mein Sohn. Wenn du unbedingt die Langversion willst, sollst du sie bekommen. Erst mal das Selbstverständliche: Ich liebe dich, ob schwul, bi, hetero oder was auch immer. Ich will, dass du glücklich bist. Svenni ist süß!«, und wurde sofort knallrot »Und damit du das alles richtig einordnen kannst, werd ich euch jetzt was erzählen, was nur sehr wenige Menschen wissen. Vielleicht wird es dich überraschen, aber bevor ich deinen Vater kennengelernt habe, habe ich ein paar Jahre mit einer Frau zusammengelebt und durchaus auch ein paar homoerotische Erfahrungen, die ich für mein Leben nicht vermissen möchte.«
»Du?«, Thimos Augen sprangen fast aus seinem Gesicht raus. Er war wirklich verblüfft.
»Ja ich! Ich weiß, Kinder können sich das nicht vorstellen, aber Eltern haben auch Sex. Nicht dass ich lesbisch oder bi bin, ich würde mich immer als hetero bezeichnen. Aber das mit Susan war etwas völlig anderes. Es war schön und vor allen Dingen anders. Irgendwie weiblicher.«
»Tante Susan aus New York?«, Tante Susan war eine von Thimos Nenntanten, also keine echte Verwandte.
»Genau die!«
»Uff!«
»Eine Sache noch. Svenni, ich find es toll, dass ihr zusammengefunden habt. Ihr passt gut zusammen. Aber ihr habt auch ein Problem. Kaum habt ihr euch gefunden, reißen wir, ich und deine Eltern, euch gleich wieder auseinander ... Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, wie ich das ändern kann ...«
»Ja, wissen wir!«, Thimo und ich im Chor.
»Und was macht ihr?«
»Nicht drüber nachdenken und es verdrängen.«, ich konnte einfach nur sagen was ich dachte.
»Wir wissen, dass in drei Wochen Schluss ist. Nein, nicht Schluss. Dass uns dann tausende Kilometer Wasser trennen. Ich kann von Svenni nicht erwarten, dass er treu und enthaltsam bleibt. Das ist Unsinn. Dafür liebe ich ihn viel zu sehr. Aber ...«, Thimo sprach nicht weiter.
Es gab eine längere Pause, in der niemand etwas sagte. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
»Wir kennen uns seit wir drei sind. Thimo kennt mich besser als ich mich selbst. Ich glaube, unsere Beziehung ist anders. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Wenn Thimo drüben einen Freund findet, mit dem er glücklich wird, dann macht mich das auch glücklich. Es würde auch nichts an unserer Beziehung ändern. Ich glaube, wir sind über sowas schon hinaus.«
»Hmmhmm,...«, Zustimmung von Thimo.
»Ich wünsch euch viel Glück. Wirklich!«, Ellen schaute mich und dann Thimo an »Ich glaub sogar, dass das bei euch funktionieren kann.«
Damit war das Thema Umzug erledigt. Den restlichen Abend mussten wir Ellen alles über uns und wie wir letztendlich zueinander gefunden haben erzählen. Ellen erzählte dann noch ein paar sehr interessante Geschichten von Susan und ihr. Es wurde ein toller und interessanter Abend. Gegen zwölf schickte uns Ellen dann ins Bett (zusammen), was wir uns natürlich nicht zweimal sagen ließen.
1.15. Kleine Überraschungen erhalten die Freundschaft
D-day. Der Tag der Fete. Ich hatte am Vortag noch Ersatz für die Strobelampen auftreiben können. Dazu war ich mit Kai mit dem Zug nach Lübeck gefahren. Ich klapperte die Elektronikbastelläden ab, während Kai sich um seine Plattensammlung kümmerte. Ich sage nur Vinyl! Kai war DJ und das professionell. Rave in the Fields - Alien Nation unsere Mikro Insel-Love-Parade war er einer der Main-Acts, bei der er mitgemacht hatte. Bei einer von N-Joy veranstalteten DJ-Battle hatte er den ersten Preis gemacht. Kai wusste, wie man mit Platten umgeht.
Alles war vorbereitet. Turntables und Technik waren im Glaskasten, dem extra Raum in der Scheune, aufgebaut und getestet. Kai hatte eine Profi-PA-Anlage aufgetrieben. Wir würden also Watt satt haben.
Da für den Tag und die Nacht trockenes warmes Sommerwetter mit Tiefsttemperaturen nicht unter 21 Grad angegeben wurden, verlegten wir die Bar nach draußen. Zwei große Grills und ein Lagerfeuer waren ebenfalls vorbereitet. Ein leerer Geräteschuppen wurde mit Strohballen ausgekleidet, abgedunkelt und gedämpftes Licht installiert und sollte als Chill-Out-Zone herhalten.
Gegen Mittag war alles fertig.
»Svenni?«
»Ja, mein Schatz?«
»Wollen wir uns wirklich vor rund 50 Leuten outen?«
»Dumme Idee, oder?«
»Bist du dir absolut sicher, was du da vorhast?«
»Nein!«
»Gut, ich auch nicht. Und?«
»Wir tun es!«
»Mehr wollte ich nicht wissen!«
Wir hatten noch Zeit bis zum Start, der für um sieben geplant war, und zogen uns noch mal in die private Abgeschiedenheit zurück.
T minus 3 Stunden. Die Getränke und eine Kühlanlage, gesponsert von Oma, wurden angeliefert. Wir hatten hauptsächlich Coke und anderen Nonalk-Stuff geordert. Bisher hatten uns die Eltern aller Partyteilnehmer vertraut, dass wir keinen Scheiß machen würden und das ganze in ein wildes Saufgelage ausarten würde. Wir haben sie dann auch nie enttäuscht. Ok, die eine oder andere Bierdose gab es auch, aber nie ist jemand dabei über die Stränge geschlagen. Hätten wir auch nur einmal versagt, wäre das bestimmt die letzte Party gewesen. Dafür waren die Veranstaltungen aber auch immer Off-Limits für alle Erziehungsberechtigten gewesen.
T minus 2 Stunden. Wir waren ja keine Kinder mehr. Das Jüngste was wir erwarteten war gute 15, die meisten waren 16 oder 17. In diesem Alter sollte man mit den biologischen Funktionen des Köpers vertraut sein. Alle mit der Planung betrauten Leute waren sich einig, dass es wohl zu Fummeleien kommen würde, und dass wir wohl vorsichtshalber Verhüterlis bereitlegen sollten. Also wurde in unsrer sehr kuscheligen Chill-Out-Zone eine runde Glasschale randvoll mit Kondomen gefüllt. Die Gummis wurden von Sörens Eltern gesponsert. Sörens Vater hatte eine Arztpraxis und seine Mutter führte eine Apotheke. Kommentar von Sörens Alten: »Sehr vernünftig, dass ihr an sowas denkt. Aber übertreibt es nicht!« Typisch, immer noch gleich etwas schlechtes Gewissen einreden.
T minus 1,5 Stunden. Thimo rannte wie angestochen hin und her. Mein Kleiner war wohl etwas übernervös. Je ruhiger ich wurde, desto zappeliger wurde mein Liebling.
»Wieso hast du so die Ruhe weg?«
»Weil alles vorbereitet ist. Sound Ok, Licht Ok, Holzkohle und Holz Ok, Getränke Ok, es fehlen nur noch die Gäste. Komm her, lass dich umarmen!«
Etwas Schmusen beruhigte Thimo. Eigentlich konnte es losgehen.
T minus 1 Stunde. Der Rest der Inselgang traf ein.
»Ihr seid eine Stunde zu früh!«, Thimo mit der Freundlichkeit eines Vorschlaghammers.
»Nein sind wir nicht! Wir wollten euch noch sprechen, bevor der ganze Trubel losgeht.« Kai stand vor den anderen und machte offensichtlich den Anführer.
»Ok, passt mal ganz genau auf ihr beiden«, und dann begann er, eine Schriftrolle zu entrollen und mit grausam übertriebenem Pathos vorzulesen.
»Wegen der unverzeihlichen Arroganz und Frechheit uns, den Rest der Inselgang Fehmarn in der Ostsee, auf dieser Insel alleine sitzen zu lassen und wegen des nicht minderschweren Verbrechens stets gute Freunde, Hausaufgabenabschreibhilfen, Chaoten und durchgeknallte Spinner gewesen zu sein, verleihen wir euch hier und heute die lebenslange Ehrenmitgliedschaft in der Gang Fehmarn in der Ostsee. Mein herzliches Beileid, ihr Idioten!«
Sprachs und überreichte uns unter dem Beifall und Gejohle der anderen jeweils eine persönliche Ehrenmitgliedsurkunde.
»Wir können doch nicht zulassen, dass ihr euch einfach aus dem Staub macht.«
Damit war der Startschuss gegeben. Maike, Sören, Kai, Stefan, Maik und Kai traten auf uns zu und packten kleine Abschiedsgeschenke aus. Wir waren baff. Das hätten wir nicht erwartet.
»Mensch Leute, was macht ihr denn?«, mir schossen Tränen in die Augen. Auch Thimo war sichtlich gerührt.
»Naja, damit ihr uns nicht ganz vergesst ...«, ein verschmitztes Grinsen von Maike.
Die Geschenke waren echt niedlich und auch ein bisschen bösartig. Stefan war ein absolutes Fotogenie. Er machte alle Fotos selbst. Mit Chemie, also nix mit Computer. Im Keller des Hauses seiner Eltern hatte er sich eine richtige Dunkelkammer eingerichtet. Seine Fotos und Abzüge waren immer fantastisch. Wir, Thimo und ich, erhielten jeweils drei riesige Bilder. Es waren Fotos vom Surfen, und zwar die peinlichsten Momente, die wir je erlebt haben. Ein spektakulärer Sturz von Thimo, bei dem er im hohen Bogen über das Segel flog und sich anschließend vor Schreck in den Anzug schiffte, ein Bild von mir, wie ich mit der Finne meines Bretts ein fremdes Segel aufschlitze (ein teurer Prototyp. Wenn schon, denn schon) und so weiter.
Von Kai gab es jeweils eine von ihm persönlich selbst gemixte CD. Von Anne gab es Gedichte. Naja, sie ist halt ein Mädchen. Aber eigentlich sind ihre Minigedichte ganz süß.
Den Hammer hatte aber sich mal wieder Maik ausgedacht, wenn er auch noch nicht wusste, wie sehr er damit daneben gehauen hatte. Jedenfalls zog Maik jeweils ein rotes Heft aus seinem Rucksack hervor und überreichte es mit einem anzüglichen Grinsen und den Worten: »Für einsame Stunden!«
Es waren Sammlungen von Tittenbildern. Oh Mann, der Mann muss einfach hormonell gestört sein. Sowas Notgeiles wie Maik ist mir nie wieder begegnet. Kaum hatte ich die Mappe geöffnet, musste ich auch schon losprusten vor Lachen. Ich schaute zu Thimo rüber und sah, dass es ihm genauso ging. Thimo wieherte vor Lachen. Maik sah im Gegensatz ziemlich irritiert aus: »Ey, ich hab' mir echt Mühe gegeben und die besten und geilsten Schnitten aus meiner Sammlung rausgesucht!«
Thimo fand als erster wieder Worte: »Nichts für ungut Maik, aber ich glaube, wir müssen euch was beichten. Svenni, was meinst du?«
Ich war immer noch mit Lachen beschäftigt und konnte nur »Mach! Mach!« japsen.
»Tja, meine lieben Freunde. Wir hätten es euch später sowieso noch gesagt, aber der Moment ist einfach perfekt. Maik, nicht jeder Junge fährt auf Brüste ab. Ich will's mal auf deine Sprache runter skalieren: Es gibt Jungs, die auf Schwänze abfahren!«
Na das hatte bei Maik und den anderen noch nicht ganz Klick gemacht.
Ich setzte also nach: »Mit anderen Worten: Wir sind schwul und zusammen!«
Pause ...
»Ihr zwei seid Arschficker, äh, ich mein Schwanzlutscher, nein äh schwul!«
Wenn es nicht Maik gewesen wäre, der da sprach, hätte er sich für diese Worte ein paar eingefangen. Aber ich kannte Maik, er war schon immer etwas vulgärer gestrickt, Mädchen sind für ihn auch nur Mösen.
»Ich würde es nicht ganz so prollig ausdrücken, aber ja, so im Großen und Ganzen hast du Recht.«
»Oh Mann, boh. Ey, sorry Boys, aber das war nicht so gemeint. Mann, Thimo und Svenni sind schwul. Cool!«
Und damit war das Eis gebrochen. Wir hatten uns in unseren Freunden nicht getäuscht. Super, Cool, Wow waren die meistbenutzten Worte. Am meisten verblüffte mich Kai: »Wahnsinn, ich hab schwule Freunde! Krass!« Ich war mir nicht sicher, was daran so toll ist, aber wenn er meint. Kurze Zeit später lagen wir uns alle in den Armen.
Anne fasste die Sache kurz zusammen: »Danke Jungs, dass ihr es uns gesagt habt. Ich denk mal, wir sind alle mächtig stolz darauf, dass ihr solches Vertrauen in uns setzt. Ihr zwei seid wirklich krass.«
»Naja, ich vermute, das hier ist dann wohl das passendere Geschenk.«
Maike grinste uns blöd an und reichte jedem von uns ein rotes Heft, ziemlich ähnlich denen, die uns Maik gegeben hatte.
Die Hefte waren voll mit Bildern von süßen Jungs.
»Maike, du wusstest es?«
»Nicht ganz. Ich vermutete es ...«, sprachs und schaute Thimo an, der wie auf Kommando einen knallroten Kopf bekam.
»Jetzt erzählt aber mal, wie habt ihr zueinander gefunden.«
Die nächste Stunde waren wir dann damit beschäftigt, unsere Story zu erzählen. Maik war natürlich hauptsächlich an den derberen Teilen interessiert, sprich am Sex. Der Junge denkt einfach nur mit seinem Schwanz: »Mir ist es eigentlich egal, ob mir ne Frau oder n Kerl einen bläst.«
Für den Spruch bekam Maik von seiner Schwester einen Schlag in die Seite.
»Maik, du bist ein vulgäres, sexistisches Schwein. Aber dafür mögen wir dich ja alle so. Aber da fällt mir ein, wir haben ja auch noch ein paar Kleinigkeiten für euch.«
Thimo und ich hatten ein paar Abschiedsgeschenke gekauft. Wir wussten nicht, dass die andern das gleiche vorhatten.
»Hier Maik! Das ist für dich, damit jeder gleich vor dir gewarnt ist!«
Thimo überreichte ihm ein kleines schwarzes Päckchen, das sofort aufgerissen wurde. Zum Vorschein kam ein schwarzes T-Shirt. Auf der Vorderseite war ein Aufdruck wie man ihn von CDs kennt: » Parental Advisory - Explicit lyrics!«
»Ihr Schweine!«, Maik war offensichtlich von seinem Geschenk begeistert und zog es auch sofort an.
1.16. T minus Null
Es war soweit, die ersten Gäste trudelten ein. Ziemlich entspannt und locker ließen wir, Thimo, die anderen und ich, den Abend auf uns zukommen. Es kommt selten vor, aber ich fühlte mich im Einklang mit dem Universum.
Gegen halb acht war die Party im vollen Gange. Es waren nicht fünfzig, sondern weit mehr als sechzig Leute gekommen. Wie ich vermutet hatte, war mir weniger als die Hälfte der Leute bekannt. Eine ganze Reihe Mädels und Jungs waren Kinder von Feriengästen, wie sich leicht am Dialekt feststellen ließ. Schwäbisch, sächsisch, hessisch, berlinerisch alles war vertreten, mir war so, als wenn ich sogar niederländisch gehört hätte.
Der Zeitpunkt war gekommen für Thimos kleine Ansprache, schließlich war es ja die Scheune seiner Oma.
Ein Blick zu Kai und die Musik machte eine akustische Kurve, um sich in einen leisen, sanften Beat als Hintergrundberieselung zu verwandeln. Thimos Mikro war offen.
»Äh, Hallo erst mal ...«
Irritierte Blicke richten sich auf Thimo. Der stand zwischenzeitlich mitten im Lichtkegel eines kleinen Verfolgerscheinwerfers. Mein kleiner als MC.
»Ok, hab' ich mal kurz eure Aufmerksamkeit?«
Nicken, murren, fragende Gesichter, aber ja, die Aufmerksamkeit war da.
»Also, die Locals kennen ja die Regeln. Keinen harten Alk, keine harten Drogen. Bier ist da. Knallt euch aber bitte nicht völlig zu.«
Als Antwort gab es ein widerwillig zustimmendes Gemurre von den einheimischen Inselbewohnern und fragende Blicke bei den anderen.
»Also, das Ganze noch mal zum mitschreiben für unsere auswärtigen Gäste. Wie ihr sicherlich bemerkt habt, ist das hier eine erwachsenenfreie Zone. Das funktioniert aber nur, weil der Event bei unserem Dorfbullen angemeldet ist und uns unsere Erziehungsberechtigten halbwegs vertrauen, was sie bisher auch immer konnten. Naja, mehr oder weniger ...«
Bei manchen kam es zu einem verlegenen Grinsen und ein paar Köpfe liefen rot an.
»Wer Scheiße baut, wird sofort gegangen. Ich denk mal, wir sind alt genug, dass jeder für sich selbst weiß, was man darf oder was nicht. Also, behave und macht keinen Stress! Ansonsten gilt: habt Spaß! Futter gibt es draußen, hier legt Kai auf, Chill-Out ist im Schuppen, und wenn zwei sich finden, Lümmeltüten gibt's da auch, für ohne Geld! Macht nichts was ich nicht auch machen würde.«
»Ja Mama! Mach hinne«, Maik präsentierte sein loses Mundwerk.
Damit war der von allen erwartete offizielle Teil abgeschlossen. Normalerweise kommt jetzt noch ein »Party On« und Kai legt los. Aber die Musik blieb auf Säusellevel. Ich konnte schon das eine oder andere fragende Gesicht ausmachen, da rief es auch gleich aus dem Publikum: »Thimo, nu los! Komm in die Puschen! Was is' denn noch ...«
Thimo ließ sie zappeln und grinste.
»Ok, noch eine winzige Kleinigkeit. Wie wohl allgemein bekannt sein dürfte, werden ich und unser lieber Svenni hier - Svenni, komm doch mal her zu mir - unser heißgeliebtes Eiland verlassen ...«
Ohhh und Schade-Rufe des Bedauerns aus dem Publikum.
»Tja sorry. Ihr müsst ohne uns erwachsen werden. Ich weiß! Ich weiß! Es wird hart werden. Sehr, sehr hart! Und so manch einer wird sich fragen: ,Wie soll ich das schaffen.' Oder: ,Wie können sie mich in der schwersten Zeit meines Lebens alleine lassen, in meiner Pubertät.' Und es wird besonders schwer für diejenigen unter euch werden, die ohne uns ihre Hausaufgaben selbst machen müssen. Doch, so wahr ich hier stehe, rufe ich euch festen Glaubens zu: ,Ihr werdet es überleben und ihr werdet daran wachsen.' Halleluja!«
Gejohle und ein paar rot angelaufene Gesichter. Thimo war mal wieder zur Hochform aufgelaufen. Seine Laienpredigerimitation war berüchtigt.
»Und damit, meine lieben Brüder und Schwestern, möchte ich schließen. Gehet hin und amüsieret euch! Halleluja ...«
Er senkte schon sein Mikrofon, hielt dann aber doch inne, grinste und fuhr fort: »Stopp! Eine Detailinformation hab' ich doch fast vergessen. Das geht jetzt an alle, die sich Hoffnungen gemacht haben, unseren kleinen Svenni hier zu ergattern und heute als Beute abzuschleppen. Liebe Mädels und liebe Jungs: Der Mann ist vergeben ...«, bei diesen Worten zog er mich mit in den Lichtkegel, dicht an sich heran. Kurz bevor mich das Licht blendete, konnte ich ein paar traurige Mädchengesichter erkennen. Ich wusste gar nicht, dass ich bei denen so beliebt war.
»Dieser süße Kerl ist nämlich meiner!«
Sprachs und küsste mich. Der Kuss war leidenschaftlich, was soviel heißt, dass sich unsere Zungen aneinander vorbei in den gegenüberliegenden Mund schoben. Wir standen mitten im Lichtkegel. Jeder konnte sehen, wie wir uns umarmten und dass wir uns liebten. Ich hingegen bekam von meiner Umgebung nichts mit. Ich hatte die Augen geschlossen und war ganz eins mit Thimo.
Es dauerte dann auch etliche Sekunden, bis wir aus unserem Traum erwachten und die Realität um uns wieder wahrnehmbar wurde. Das Publikum grölte, jubelte, applaudierte.
» Party On!«
Kai übernahm die Regie.
Thimo und ich verließen fluchtartig die Scheune und wollten uns erst einmal mit ein paar Grillwürstchen stärken; aber da hatten wir wohl die Wirkung von Thimos Rede unterschätzt. Kaum draußen wurde ich von einem Mädchen, ich glaube Conny aus der Parallelklasse, bestürmt.
»Du bist schwul? Aber das geht doch gar nicht!«
»Wieso denn das nicht?«, ich versuchte höflich zu sein.
»Aber du bist doch sooo süß und niedlich! Du brauchst doch gar nicht schwul sein!«, bei diesen Worten himmelte sie mich mit ihren graugrünen Augen an.
»Tja, wo sie Recht hat, hat sie Recht ... Mit dem niedlich meine ich natürlich!«, Thimo war kurz davor, loszuprusten.
»Äh, Conny! Ich glaub, das hat damit nicht viel zu tun, wie man aussieht.«
»Vielleicht hast du nur nicht die Richtige gefunden. Was meinst du?«
Es war überdeutlich, wen sie mit der Richtigen meinte. Doch selbst wenn ich hetero wäre, dann wäre Conny definitiv keine Option. Ganz im Gegenteil, Conny war ein absolut plausibler Grund, schwul zu werden. Gut erzogen wie ich bin, blieb ich diplomatisch und höflich.
»Conny, dass tut mir jetzt echt leid für dich, aber ich hab' mir das nicht ausgesucht. Ich glaub, es ist hoffnungslos, ich steh' auf Jungs! Da ist wirklich nix zu machen.«
»Och, schade! Du bist so süß.« Dabei schaute sie Thimo böse an, als wenn er ein giftiges Insekt wäre, und schwirrte ab. Thimo platzte los vor Lachen.
»Svenni, du bist sooooo süß.«
»Danke gleichfalls - Iss deine Wurst, sonst wird sie kalt!«
1.17. Jan und das Fegefeuer der Eitelkeiten
»Camron-Bach bleib stehen!«
Wir waren gerade in Richtung Chill-Out-Schuppen unterwegs, als uns eine harte, eisige, männliche Stimme hinter uns anrief. Diese Stimme gehörte einer Person, bei der ich gehofft hatte, sie an diesem Abend nicht hören zu müssen. Es war die Stimme von Jan.
Ich hielt Jan für ein Arschloch. Arrogant und eingebildet. Jan war 17 und Kapitän der A-Jugend unserer Fußballmannschaft. Er sah, objektiv gesehen gut aus, war aber nicht mein Typ. Oder besser gesagt, er hätte mir gefallen können, wenn er nicht so ein Arsch gewesen wäre. So war er nur ein absoluter Unsympath. Aber er war das Alphamännchen, der Leitwolf der anderen Jungs. Die Mädchen rissen sich um ihn und hätten wohl auch alles für ihn getan. Mein Verhältnis zu Jan konnte man nur als nicht vorhanden bezeichnen. Da meine Abneigung von Ballsportarten jeglicher Art weithin bekannt war, schien mich Jan als eine niedere Lebensform zu betrachten, und ignorierte mich daher weitgehend.
Bei Thimo war das völlig anders. Jan wusste, dass Thimo um Klassen besser Fußball spielte als er. Wenn im Schulsport Fußball gespielt wurde, konnte man das sofort sehen. Thimo trickste Jan immer aus. Mit absoluter Leichtigkeit und Eleganz nahm er ihm jeden Ball ab.
Zwei Dinge brachten Jan zum Kochen: Dass jemand besser war als er und dass ein Balltalent wie Thimo die Frechheit besaß, nicht in einen Fußballverein einzutreten und stattdessen solch Schwachsinnsportarten wie Kitesurfen vorzog. Thimo war also das optimale Hassobjekt. Beide begegneten sich daher immer nur mit ausgewählter Gehässigkeit. Und bei Gehässigkeiten konnte mein kleiner auch ganz gut austeilen. Ein Ritual der beiden war, sich ausschließlich mit Nachnamen anzusprechen.
Kaum hatte Thimo Jans Stimme erkannt, ließ er die Schultern hängen. Ich wusste genau was er dachte: »Nicht der auch noch!«
»Mayerbrock, was willst du?«
Wir drehten uns um. Ich merkte sofort die Anspannung in Thimo. Diese Konfrontation der beiden war lange erwartet worden. Jetzt stand sie unmittelbar bevor. Zu viele Dinge hatten sich zwischen den beiden aufgestaut. Meine Nackenhaare sträubten sich. Ich bekam eine Gänsehaut. Die Luft zwischen den beiden war geladen.
»Ist es wahr? Du lutscht seinen Schwanz ...«, ein kurzer Seitenblick auf mich.
Thimos Hände ballten sich zu Fäusten. Trotz der 22 Grad Celsius wurde es eisig kalt. Zwei Raubtiere kurz vor dem Sprung. Man konnte den Eindruck haben, die Funken in der ionisierten Luft sehen zu können.
»Und er lutscht meinen! Was dagegen ...?«
Gut gekontert. Jan fixierte Thimos Augen. Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt. Wenn nicht ein Wunder geschah, würden die beiden jeden Moment beginnen, aufeinander einzuschlagen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das verhindern sollte.
Endlose Sekunden vergingen. Thimo hielt Jan mit seinen Augen fest und Jan Thimo. Das Funkeln in ihren Pupillen war unheimlich. Es war wie in einem schlechten Western, bei denen die beiden Revolverhelden einander gegenüberstanden. Jeder wartete darauf, dass der andere seine Waffe zuerst zog.
Und dann war das Funkeln in Jans Augen plötzlich weg ... Klick. Als wenn jemand einen Schalter umgelegt hätte. Jan war weg. Nicht physisch. Er stand ja noch vor uns. Aber der Kotzbrocken Jan war weg. Vor uns stand mit einem Mal ein süßer, schnuckeliger Jan mit einem frechen Grinsen und fröhlichem Gesichtsausdruck.
»Nö, nix dagegen. Ich find's gut!«
»Wie bitte?«, kam es synchron von Thimo und mir.
»Naja, glaubt ihr, ihr seid die Einzigen, die Schwänze lutschen? Es ist manchmal gar nicht so leicht, das Arschloch zu sein ...«
»Du?«
»Yep! Damit hättet ihr jetzt nicht gerechnet?«
Nee, wirklich nicht. Ich hätte mit allem gerechnet, zum Beispiel, dass nächstes Jahr Weihnachten und Ostern auf einen Tag fallen würde oder ich 10 Millionen im Lotto gewinne, ich eine eins in Latein schaffe (auf meinem letzten Zeugnis stand eine hübsche 5) aber dass Jan schwul sein könnte, lag weit außerhalb meiner Vorstellungskraft.
»Das ist jetzt keine Verarsche von dir?«
»Svenni, warum denn? Ist denn das so schwer vorzustellen.«
»Ja! Eigentlich ist es gar nicht vorstellbar! Was ziehst du hier für 'ne Show ab? Was willst du von uns?«
»Ok, ich versteh', dass du skeptisch bist. Du hast auch allen Grund dazu, aber lasst es mich bitte erklären. Herrgott, Ich-bin-schwul! Das ist die Wahrheit«
Thimo warf mir einen fragenden Blick zu, seine Lippen formten lautlos einen Satz: »Was meinst du?«
Ich meinte gar nichts. Ich war genauso ratlos wie Thimo und konnte nur mit den Schultern zucken.
Jan sah uns beide fragend an: »Können wir uns setzen?«
»Ach was soll’s? Ok«
Wir hockten uns aufs Gras der Wiese vor dem Schuppen. Das flackernde Licht von Fackeln und Kerzen, die wir zwischen Scheune, Schuppen und den Essensständen aufgestellt hatten, beleuchteten Jans Gesicht. Ich weiß nicht, ob es der warme Farbton der Kerzenflammen war, aber Jan wirkte wirklich viel netter, freundlicher. Das ganze arrogante Gehabe war wie weggewischt. Eigentlich machte er eher einen schüchternen Eindruck. Jan hielt sein Kopf schräg und grinste verlegen, als er uns ansah. Mit unsicherer und für ihn ungewöhnlich leiser Stimme legte er dann los.
»Es stimmt. Wirklich. Ich weiß es seit zwei Jahren. Ihr seid mit die Ersten, die es erfahren. Was ihr da vorhin abgezogen habt ... Mann ...«
Jan schüttelte seinen Kopf, nahm seine rechte Hand vor den Mund und knabberte an der Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger, den Arm dabei auf sein angewinkeltes Knie gestützt. Sein Blick richtete sich Hilfe suchend zum dunklen, sternenklaren Himmel. Er sammelte Kraft. Dann schloss er seine Augen, atmete tief ein und richtete seinen Blick wieder auf uns. Im Schein der Lichter sahen wir den feuchten Glanz von unterdrückten Tränen in seinen Augen.
»Das war wirklich heftig. Es hat mich umgehauen. Ihr habt euch vor all diesen Leuten geoutet. Ich war stocksauer. Wieder mal warst du besser als ich und hattest dein Publikum ... Und eben, da wollte ich das zwischen uns klären, ein für alle Mal!«
Ein schüchterner Blick zu Thimo.
»Naja, macht keinen Sinn, oder? Da hätte ich mich gleich selbst schlagen können. Leute, es tut mir leid. Ich war wohl nie so richtig nett zu euch ... Und auch nicht fair ...«
Blicke zu mir und Thimo. Jan sprach ziemlich konfus, trotzdem kristallisierte sich ein gewisser Sinn heraus. Wir hörten weiter zu.
»Thimo, ich muss erklären. Ich ... Also, ich ... Ich war in dich verliebt ... Scheiße, ich verliebt in einen Jungen. Das ist doch verrückt, krank, anormal ...«
Jan sprach nicht nur, sein ganzer Körper sprach. Zweitweise hatte er die Augen geschlossen, zeitweise schauten sie ins Leere. Kopf, Hände und Körper bewegten sich und sprachen ihre eigene Sprache. Das war auf keinen Fall eine Show, die Jan abzog. Das war echt. Ich konnte es fühlen und ich konnte fühlen, was er fühlte.
»Naja, wenn ich mich in einen Jungen verliebte, dann musste das wohl bedeuten, dass ich schwul war. Ich wollte aber nicht schwul sein. Auf keinen Fall. Schwule sind Weichlinge, Memmen, Warmduscher. Also hasste ich dich! Ich hasste dich dafür, dass du diese Gefühle in mir auslöstest. Ich hasste dich dafür, dass du mir immer und immer wieder zeigtest, dass ich schwul bin.«
Jan machte eine Pause, in der er sich beruhigte. Das verlegene Lächeln war wieder da, ein spöttischer, schelmischer Blick lag in seinen Augen.
»Das war wohl nicht sehr intelligent, oder? Ich war ein verdammter Hohlkopf und wohl auch ein ziemliches Arschloch. Aber das ist vorbei. Thimo, ich möchte mich bei dir entschuldigen. Es tut mir leid ...«
Thimo wurde rot. Mein kleiner war richtig gerührt. Als er antwortete, klang seine Stimme belegt, als wenn er erst einen dicken Kloß runterschlucken müsste.
»Es gibt nichts, für was du dich entschuldigen musst. Jan, ich versteh' dich ... Ich hätte mir nur gewünscht, dies hier wäre früher passiert. Dass wir uns viel früher ausgesprochen hätten. Und in soweit, es ist Ok. Und wenn ich mich dir gegenüber falsch verhalten habe, was ich auch bestimmt tat: Es tut mir ebenfalls leid. Nebenbei, ich bin froh, dass wir uns nicht geprügelt haben ... Ich glaub, du bist stärker ...«
Man konnte Jans Erleichterung förmlich sehen. Mit Thimo war es ausgestanden. Jan richtete sich als nächstes an mich.
»Und du Svenni! Tja, du warst natürlich der Oberarsch ...«
Wieder war da dieses spitzbubenhafte Grinsen, mit dem Jan seine Verlegenheit zu überspielen versuchte.
»Ich war tierisch eifersüchtig auf dich und deine Freundschaft mit Thimo. Du hattest ihn mir weggenommen ...«
Ich konnte nicht mehr und musste loslachen: »Oh Mann! Schwule und ihre Beziehungskisten! Jan es ist gut. Mir geht es wie Thimo, ich versteh dich und was du durchgemacht hast. Uns ging es doch nicht anders ...«
»Du bist mir nicht böse?«
»Tja, lass mich mal überlegen, ich weiß nicht so recht? Ich hab' den Eindruck, mir sitzt jemand ganz anderes gegenüber, als der, den ich zu kennen glaubte. Also dem alten Jan würde ich wohl böse sein, aber dir ... Du bist so anders. Weich, nett, auch ganz schnuckelig, aber hauptsächlich scheinst du mir das erste Mal, seit ich dich kenne, du selbst zu sein. Wo hast du den Kotzbrocken gelassen?«
Jan wurde rot, soweit man das im Licht der Fackeln sehen konnte.
»Diesen Kotzbrocken hab' ich gehasst. Genauso gehasst wie ich es hasste, schwul zu sein. Aber er war ein guter Panzer. Eine perfekte Schutzmauer um mein Ego. Alle wollten mit mir zusammen sein. Aber niemand wollte mit mir wirklich befreundet sein. Die hatten alle eher Angst mich nicht als Freund zu haben. Denn was der Leithammel sagt, ist wahr und richtig. Oh Mann, wie mich das ankotzte.«
Man merkte deutlich die Verachtung, die Jan seiner früheren Persönlichkeit, seiner Schutzhülle um sein wahres, verletzliches Ich aufgebaut hatte, entgegenbrachte. Seine Stimme war voll Abscheu. Als er sprach, starrte er mit gesenktem Blick auf den Boden vor sich.
»Das Perverse daran war: Je ätzender ich wurde, je mehr ich das Schwein rausließ, desto mehr Leute fanden mich cool und wollten in meiner Nähe sein. Pah, billige Scherze auf Kosten anderer war alles was ich tat ... Nicht unbedingt ein Mensch, den man gern mag.«
Als ich Jan so zuhörte und er mit erstaunlich viel Tiefgang erzählte, wurde mir klar, wie ungerecht wir ihn behandelt hatten. Er war gar nicht der harte Kerl, eher ein sensibler Typ, der Schwierigkeiten hatte, den richtigen Weg zu seinem Coming-Out zu finden. Was er durchgemacht hatte, war uns, Thimo und mir, nicht unbekannt.
»Und wie hast du dann die Kurve gekriegt?«
»Oh das ... Das passierte vor knapp einem Monat, unmittelbar nach Ferienanfang. Mein Schutzpanzer war zwischenzeitlich undurchdringbar. Niemand kam mehr an mich ran. Ich ließ aber auch niemanden mehr an mich ran. Die Typen, mit denen ich sonst rumhing, zogen sich zurück. Ich stritt mich mit jedem. Eltern, Freunde, Lehrer. Der Trainer vom Fußball wollte mich rausschmeißen und niemand in der Mannschaft sagte auch nur ein Wort. Die Kacke war verdammt am dampfen.«
Jan wurde plötzlich ganz Still. Tränen sickerten aus seinen Augen.
»Ich wollte Schluss machen ...«
Ich war sprachlos. Das hätte ich nie vermutet.
»Dann rettete mich Felix ...«
1.18. Ein Engel namens Felix
Bei diesem Namen kam Jans Fröhlichkeit zurück. Er wischte sich seine Tränen weg.
»Wer ist Felix?«
»Dreht euch um!«
Hinter uns, in diskretem Abstand, stand ein Junge, so um die 17 Jahre alt, mit blond-gefärbter Igelfrisur, wachen, fröhlichen Augen und einem unverschämt süßen Grinsen.
»Felix, komm bitte her. Ich will dir Thimo und Sven vorstellen.«
Felix kam und setzte sich zu uns, das heißt, er kuschelte sich an Jan.
»Dieser freche Kerl hat mein Leben gerettet.«
»Hallo, ihr zwei.«
»Hallo Felix!«
Jan erzählte, was passiert war. Er hatte sich fest vorgenommen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Ein schrecklicher Gedanke. Eine Option, die sich für mich nie gestellt hatte. Ich empfinde Selbstmord als absurd. Eine feige Kapitulation. Aber so wie Jan sein Leben beschrieb, konnte ich seine Beweggründe immerhin nachvollziehen.
Sein Plan war, sich von der Fehmarnsundbrücke zu stürzen. Nicht sehr originell, aber äußerst effektiv. Er war mit seinem Fahrrad bis zur Brückenmitte gefahren. Sein Fahrrad hatte er ans Geländer gelehnt. Es war schon später Abend. Die vorbeifahrenden Autos auf der Bundesstraße würden ihn in der Dunkelheit kaum bemerken. So spät würden auch keine Fußgänger oder Fahrradfahrer die Brücke überqueren. Jan erzählte, dass er schon dabei war, über das Geländer zu klettern, als ihn eine Stimme wie aus dem Nichts kommend ansprach.
»Hast du mal Feuer?«
So blöd der Spruch auch war, er brachte Jan aus dem Konzept. Völlig verdattert brachte er nur ein »äh, Moment.« über die Lippen und begann seine Taschen nach seinem Zippo zu durchsuchen.
Es war Felix' Stimme. Er hatte genau das beabsichtigt: Jan aus dem Konzept bringen, seine Gedanken in andere Bahnen lenken. Jan gab Felix Feuer.
»Danke! Aber ich glaube, ich hab' dich von was Wichtigem abgehalten.«
»Was?«, Jan war völlig verunsichert.
»Du wolltest doch gerade runterspringen. Nur zu! Lass dich von mir nicht aufhalten. Ist aber eigentlich schade.«
»Wer bist du? Was willst du? Was machst du hier?«
»Felix. Nichts, da ich ja gerade Feuer bekommen habe. Rauchen. Noch andere Fragen ... Ziemlich hoch die Brücke.« Felix schaute vom Geländer runter »Willst du wirklich da runter springen. Du hast echt Mut. Schade, was für eine Verschwendung.«
»Wie meinst du das? Ich versteh nicht? Woher weißt du, was ich hier machen will?«
»Ok, ich finde es schade, dass du deinen Mut an so einen Scheiß wie Selbstmord verschenken willst. Aber du hast Mut, wenn du sowas tun willst. Ich hab schon weiche Knie, nur weil ich auf der Brücke stehe. Höhenangst, du verstehst? Dich versteh ich jedenfalls nicht. Wenn du wirklich so mutig bist, warum stellst du dich nicht deinem Problem?«
Jan starrte Felix an, sagte aber kein Wort.
»Und nu? Ich hab' nicht den ganzen Abend Zeit. Willst du springen oder reden?«
»Bist du ein Seelenklempner oder was?«
»Klar! Mit 17 Seelenklempner und mein Medizinstudium hab' ich im Kindergarten gemacht? Nix da! Ich bin ein ganz normaler Junge wie du, nur dass ich das, was du da machen willst, schon hinter mir habe.«
»Du wolltest dich umbringen?«
»Yep!«
»Warum?«
»Ich vermute aus den gleichen Gründen wie du ...«
»Was weißt du von meinen Gründen? Du kennst mich doch gar nicht!«
»Ich hab' aber Augen im Kopf. Und ich seh', wenn jemand leidet. Und du leidest.«
Jan sackte langsam in sich zusammen. Er hatte sich mit dem Rücken ans Geländer gelehnt, den Kopf zwischen den Knien und die Arme schützend über dem Kopf verschränkt. Felix hörte das leise Weinen.
Felix senkte seine Stimme, nahm jede Aggressivität aus ihr heraus und ging zu Jan in die Hocke: »Ich bin auch schwul.«
»Ich bin nicht schwul!«, ruckartig richtete Jan seine verweinten Augen auf Felix und starrte ihn an.
Die Blicke der beiden Jungen trafen sich und hielten sich aneinander fest, als Felix antwortete: »Doch, das bist du. Deswegen bist du hier. Du hast jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder du akzeptierst das und lässt dir helfen, oder ... naja, da ist das Geländer.«
Mit gesenktem Blick und leiser Stimme fügte er hinzu: »Ich möchte nicht, dass du es tust. Es gibt einen Menschen, der dich vermissen würde.«
Ich war sprachlos. Jans Schilderung war heftig und hatte mich aufwühlt. Mein Magen hatte sich zusammengezogen. Außer Jan hatte niemand gesprochen. An manchen Stellen nickte Felix zustimmend. Gelegentlich musste er schmunzeln. Wir saßen ein paar Minuten still da.
Es war Jan, der das Schweigen brach: »Felix, erzähl doch mal deine Seite der Geschichte.«
Felix war noch nicht lange auf der Insel. Er war auch kein Gast, sondern mit seinen Eltern zum Ferienanfang von Bremen hergezogen. Beim Erkunden der neuen Heimat war ihm dann irgendwann zufällig Jan über den Weg gelaufen. Felix war gerade dabei, sich beim Handballverein anzumelden, als er einen Streit des Fußballtrainers mit einem seiner Spieler miterlebte. Der Trainer war gerade dabei, diesen Spieler aus der Mannschaft zu werfen. Es war Jan.
Die Art und Weise, wie Jan auf den Rausschmiss reagierte, wie er, ohne sich zu verteidigen, einfach passieren ließ, völlig ohne Emotionen, ließen Felix erschaudern. Die Szene erweckte verdrängte Erinnerungen in ihm. Dunkle Erinnerungen voller Schmerz. Zufällig kreuzten sich die Blicke von Felix und Jan. Nur kurz. Aber dieser kurze Blick genügte, um Felix Ahnungen zur Gewissheit werden zu lassen. Es war ein Blick in seine eigene Vergangenheit.
Felix Selbstmordversuch lag zwei Jahre zurück. Er war damals 15. Mit 14 war ihm klar, dass er schwul war. Das war für ihn aber kein Problem, er wusste nicht mal was schwul bedeutet. Es war nur ein Schimpfwort. Nichts, was irgendeinen Sinn machte. Nur ein Wort. Ein Wort, das für alles und jedes benutzt wurde, was man ablehnte. Was es wirklich bedeutet, wusste Felix nicht. Felix Problem war ein falscher Freund. Als er seinem besten Schulfreund anvertraute, dass er Jungs viel schöner und netter findet als Mädchen, wurde ihm die wirkliche Bedeutung des Wortes »schwul« schmerzhaft klargemacht: »Ihh. Du bist schwul. Das ist pervers. Verpiss dich!«
Das war der Anfang. Sein bester Freund war ein ehemals bester Freund. Eigentlich wurde er ganz das Gegenteil. Er wurde sein erbittertster Feind, als wenn er damit erreichen könnte, sich vor einem ekelhaften Geruch reinzuwaschen. Zuerst suchte er nur möglichst viel Abstand. Aber mit der Zeit reichte ihm das nicht mehr. Er begann über Felix Andeutungen und zweideutige Bemerkungen zu machen. Das Mobbing begann. In Felix alter Klasse wurde abweichendes Gruppenverhalten schon immer bestraft. Innerhalb von vier Wochen war Felix ein Ausgestoßener, ein Unberührbarer.
»Mit 15 wünscht man sich eigentlich was anderes. Was mich am meisten getroffen hat, war, dass ich mir keiner Schuld bewusst war. Ich verstand nicht, warum mich auf einmal jeder hasste. Naja, irgendwann hatten sie es mir dann sehr deutlich mitgeteilt ...«
Bei dieser Erinnerung zuckte Felix schmerzhaft zusammen. Felix fuhr mit seiner Erzählung fort. Nachdem er aus dem Klassenverband völlig ausgegrenzt war und auch nicht wusste, an wen er sich wenden sollte, stützte er in ein Loch von Einsamkeit und Selbstmitleid. Und fand keinen Ausweg ...
Wie bei so vielen Selbstmordversuchen mit Tabletten, war die Dosis viel zu schwach, um tödlich zu sein, wäre aber stark genug gewesen, um bleibende Schäden zu hinterlassen. Glücklicherweise kotzte Felix die meisten Tabletten gleich wieder aus und wurde von seinen Eltern schnell gefunden. Der Psychiater der Klinik war ein Idiot und hätte fast einen weiteren Selbstmordversuch ausgelöst. In der Zwischenzeit hatten Felix Eltern einen Abschiedsbrief gefunden. Erst mit diesem Brief ging ihnen ein Licht auf.
Danach ging alles ganz schnell. Im Gegensatz zu Felix schlimmsten Befürchtungen wurde er von seinen Eltern nicht verstoßen, obwohl ihm seine lieben Klassenkameraden sowas vorhergesagt hatten. Ganz im Gegenteil. Felix Eltern handelten. Felix landete in einer super Therapiegruppe. Eine junge, liebe und intelligente Psychologin baute Felix erst mal wieder auf und sorgte dafür, dass er sich wieder akzeptierte. Zu guter Letzt drückte sie Felix die Adresse einer schwulen Jugendgruppe in die Hand. Der erste Schritt über deren Türschwelle war der schwerste in Felix Leben.
»Es war aber auch der wichtigste Schritt.«
Bei Felix Erzählung wurde mir recht mulmig. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Coming-Out auch dermaßen nach Hinten losgehen konnte. Andererseits freute ich mich für Felix, dass er doch noch die Kurve gekriegt hatte, er schien mir ein wirklich liebenswerter Junge zu sein. Genau der Richtige für Jan.
»Soweit meine eigene Geschichte. Ihr versteht jetzt, warum ich sofort wusste, was mit Jan los war. Dieser Gesichtsausdruck, diese traurigen leeren Augen, die mit der Welt abgeschlossen hatten. Ich musste einfach was tun.«
Felix erzählte weiter.
»Irgendwie fühlte ich auch, warum Jan so traurig war. Nee, keine Angst, ich seh' das normalerweise niemandem an, dass er schwul ist. Aber bei Jan war das anders. Ich hab' ihm vielleicht 5 Sekunden in die Augen gesehen. Da wusste ich es. Fragt mich nicht wieso. War einfach so.«
Die nächste Frage, die sich Felix stellte, war: Was nun? Er entschied sich erstmal dazu, Jan unauffällig zu folgen. Natürlich nur soweit das vernünftig möglich war. Die nächsten zwei Tage lag Jan tagsüber unter permanenter Überwachung.
»Jan bemerkte mich nicht. Hätte er aber müssen. Unauffälliges Beschatten ist was anderes. Ich dackelte einfach nur überall hin, wo er auch hinlief. Das war nicht kompliziert. Jan saß die meiste Zeit am Strand und blies Trübsal. Am dritten Tag war alles anders. Der traurige Gesichtsausdruck der vergangenen Tage war einem kalten, entschlossenen Ausdruck gewichen. Da läuteten bei mir alle Alarmglocken. Wenn er es tun wollte, dann jetzt. Ich ließ ihn keine Sekunde mehr aus den Augen. Am Abend war es dann soweit. Jan fuhr mit seinem Fahrrad auf die Brücke und ich folgte ihm. Als ich ihm am Geländer stehen sah, war die Sache klar.
Ich fange jetzt noch an zu zittern, wenn ich daran denke. Als Jan vorhin erzählte, was ich tat, hat er nicht erzählt was ich fühlte. Ich hatte die Hosen gestrichen voll! Scheiße! Wie hält man jemanden von sowas ab. Einfach zu brüllen »Tu es nicht!« ist doch Mist, das funktioniert nicht. Ich musste ihn ablenken. Seine Gedanken auf etwas völlig anderes richten. Da fiel mir nur »Hast du mal Feuer ein!« . Ich bin nicht so tough wie das vorhin klang. Aber als ich Jan auf der Brücke stehen sah ... Erst da merkte ich, dass ich mich in Jan verliebt hatte.«
»Felix war das Beste, was mir passieren konnte. Wer will sich wirklich selbst umbringen. Eigentlich hatte ich genau das gesucht. Jemanden, der schreit »Stopp!«. Jemanden der mir einen Grund gab, weiterzuleben. Wir saßen bis zwei Uhr nachts auf der Brücke. Felix erzählte seine Geschichte. Auf eine merkwürdig verdrehte Art hielt er mir einen Spiegel vor. Ich hätte gut einer seiner alten Peiniger sein können, so wie ich Thimo verachtet hatte. Aber das ist Geschichte. Mein Schutzengel hat mich gerettet.»
Mit diesen Worten küsste Jan Felix. Ein Happy End was will man mehr.
Wir klönten noch eine Weile mit den beiden und schlenderten dann wieder zurück auf die Fete. Im Chill-Out-Schuppen war das allgemeine Fummeln ausgebrochen, das heißt, diverse Pärchen waren intensiv mit sich selbst beschäftigt. In der Scheune heizte Kai dem Tanzvolk mächtig ein. Der Grill war weitestgehend leergefressen, dafür war die Getränkelage noch völlig im grünen Bereich. Zufrieden sah ich Thimo an, der prompt nickte.
»Läuft gut, oder?«
»Yo!«
»Tanzen?«
»Mit dir?«
»Hmmm...«
»Klar!«
1.19. We will see again...
Die letzten Gäste verschwanden gegen halb fünf. Das Licht des Morgens tauchte alles in ein völlig eigenes Licht. Thimo und ich lagen aneinander gekuschelt in einem Strohhaufen. Die Musik war aus. Es war fast windstill. Alles war ruhig und friedlich. Glücklich und zufrieden schliefen wir ein.
Gegen Mittag wachten wir wieder auf. Ein unbekannter, fürsorglich denkender Mensch hatte einen großen Sonnenschirm aufgestellt, so dass wir die ganze Zeit im Schatten lagen. Andernfalls wären wir völlig verbrannt worden. Dieser Augusttag sollte einer der heißesten des Jahres werden. Um zwölf zeigte das Thermometer bereits 31 Grad.
Der erste Weg führte mich unter die Dusche. Kaffee und Frühstück gab's bei Oma. Dort trudelten auch bald Thimo, Kai, Maik und Maike und der ganze Rest der Gang ein. Für die Aufräumarbeiten sollte man gut gestärkt sein.
»Und wie fandet ihr's?«, ich muss doch wissen, wie unsere Party angekommen ist.
»Suhpah! Mit Abstand das coolste Event der letzten Zeit.«
»Haben wir irgendwas nicht mitbekommen? Waren alle brav?«
Das war eine Frage an Maik, der informell als der Beauftragte für Securityfragen galt. Bei seinen körperlichen Attributen gab es wenige, die ihm wagten zu widersprechen. Kraftsportler mit 196cm Köperhöhe.
»Das Übliche. Drei Kids hab' ich vom Hof geschmissen, die versucht haben E's zu verkaufen...«
»Da hatten wir auch schon mal mehr ... Noch was.«
»Wenn man mal von den gebrochenen Mädchenherzen absieht, die ihr zwei mit eurem Geständnis verursacht habt, nichts weiter. Naja, bis auf ...«
»Ja, ich höre ...«
»Da war'n paar Typen. Keine von hier. Also Gäste, ich glaub Berliner. Die fingen an zu stänkern. So »Scheiß Schwulenparty« und »Pass auf, dass du dich nicht bückst« Die hab' ich auch rausgeworfen.«
»Naja, ich hab' mit sowas gerechnet. Irgendwelche Schäden? Technik? Getränke? Lebensmittel?«
»Ein paar kaputte Glühbirnen. Sonst nichts.«
»Es wurde alles aufgefressen. Bei den Getränken haben wir noch knapp 5 Prozent übrig.«
»Und zufrieden?«
»Ja ... War nett.«
Damit war das Frühstück beendet und der Abbau der Fete begann. Zum Abend waren wir mit allem und wir selbst völlig fertig. Die Wettervorhersage hatte Recht behalten. Der Tag war mit 34 Grad tierisch heiß. Kais Vorschlag baden zu gehen wurde daher ohne Widerspruch angenommen. Wir packten Holzkohle, ein paar Getränke und Grillfleisch zusammen und machten uns auf den Weg. Wir haben einen kleinen, abgelegenen Spot, der nicht so sehr von Touris überlaufen ist. Weniger gut geeignet fürs Surfen, dafür aber umso besser fürs Baden. Kurz bevor wir ankamen, fiel mir mein neues Handy ein, das ich auch prompt für ein konspiratives Gespräch nutzte.
Von Hitze, Party und Aufräumarbeiten erschöpft war die kühle Ostsee eine Wohltat. Kai und Maike kümmerten sich um den Grill. Es gab am Spot eine Lagerfeuerstelle, die auch zum Grillen geeignet ist.
Wir saßen am alle am Strand. Die Würstchen brutzelten auf dem Rost. Wir hingen gemütlich ab. Die Stimmung war schön, aber melancholisch. Es war der Sonntag vor der letzten Ferienwoche und Thimo und ich würden in drei Tagen wegziehen. Jeder für sich hing seinen Gedanken nach. Es wurde wenig gesprochen.
»Was will der Kotzbrocken denn hier!«, Maik war mal wieder sehr direkt.
»Dieser Kotzbrocken kommt auf meinen ausdrücklichen Wunsch. Hallo Jan! Hallo Felix! Schön, dass ihr da seid.«
»Auf deinen Wunsch? Ihr könnt euch doch nicht ausstehen. Von Thimo will ich gar nicht erst anfangen.«
»Das, lieber Maik, war einmal!«
»Häh?«
Damit war es an mir, Maik und die anderen über die aktuelle Entwicklung aufzuklären. Also erzählte ich, dass Jan, nach zähem Ringen mit sich selbst und mit Hilfe von Felix, schwul ist und dass die beiden zusammen sind. Die genauen Details ließ ich aus. Alles was ich erzählte, war mit Jan telefonisch abgestimmt. Als ich Jan anrief, hatte ich die Idee, dass Felix und Jan für unsere Inselgang einen guten Ersatz für uns abgeben würden.
Die anderen waren zuerst noch etwas zurückhaltend, aber im Verlauf des Abends lockerte sich die Atmosphäre auf. Jan und Felix gehörten ab sofort mit zur Familie. Bei einem Quatschkopf wie Felix konnte das noch lustig werden.
»Wenn jetzt jeder schwul wird, sagt ihr mir rechtzeitig Bescheid, wenn mir das auch passiert.«
»Maik, ich will dich nicht diskriminieren, aber ich halte das für ausgeschlossen. Hundertpro!«
Die letzten Tage vergingen wie im Flug. Je näher der Tag des Abschieds kam, desto finsterer wurde meine Laune. Thimo erging es nicht anders.
Und dann war es schließlich so weit. Wir standen auf dem Fährbahnhof Puttgarden. Der Eurocity Kopenhagen-Hamburg kam aus der Fähre von Rodby gerollt. Möbel, Kleidung, eigentlich alles was Thimo und seine Mutter nicht auf der Haut trugen oder unterwegs benötigten, war schon nach Portland unterwegs. Außer mir waren auch meine Eltern gekommen, um sich zu verabschieden.
Ich stand mit Thimo etwas Abseits.
»Scheiße! Ich hatte mir fest vorgenommen, nicht die weinerliche Tunte zu geben. Aber ich werde wohl nicht durchhalten ...«
»Sehen wir uns bald wieder?«
»Ich weiß nicht. Mal sehen, vielleicht bekomm ich das Geld für einen Flug zusammen. So über Sylvester in den Weihnachtsferien. Aber das ist noch ein halbes Jahr hin ...«
»Oh man, Svenni. Schau mich nicht so traurig an! Ich heul' sonst auch gleich los ...«
Ich will ehrlich sein und nichts verschweigen. Wir fielen uns in die Arme und heulten wie zwei Schlosshunde. Ich hasse Abschiede.
Gute Freunde erkennt man daran, dass sie für einen da sind, wenn man sie braucht. Thimo und ich hingen noch wie zwei Kletten aneinander, als wir mit einem Mal von Kai, Maike, Felix, Maik, Jan, Sören, Stefan und Anne umringt wurden.
Gruppengroßmaul Maik: »Jungs! Kopf hoch! So schlimm ist das doch nicht ... Oh, Scheiße jetzt fang ich auch noch an ...«
Wunder über Wunder, Maik zeigte Nerven und feuchte Augen.
Der Rest lief ab wie in einem schlechten Film oder Kitschroman. Wir verabschiedeten uns. Thimo stieg in den Zug, um Sekunden später hinter dem Fenster seines Abteils aufzutauchen. Wir drückten beide unsere Handflächen an das Zugfenster und schauten uns ein letztes Mal für lange Zeit in die Augen. Der Bahnhofsvorsteher pfiff in seine Pfeife. Die Türen schlossen sich. Der Zug fuhr ab. Mit ihm verließ mich ein Teil von mir selbst.
Ich war allein.
Nachwort
Dies ist das Ende von Band I - Meine Insel . Band II wird Svens Leben in Berlin begleiten, während Band III Thimo in Portland gewidmet ist. Ob in den nächsten beiden Bänden alles so einfach und schön ablaufen wird, wie im ersten Band, wage ich zu bezweifeln. Die beiden Junx haben beim Schreiben der Geschichte einen eigenen Willen entwickelt und manchmal war es gar nicht so einfach, sie in die richtige Richtung zu stupsen ...
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