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Kopfgeister
Band 6 - Auf der Kippe
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Informationen
- Story: Kopfgeister
- Autor: Nero
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Coming Out, Krimi, Abenteuer, Comedy, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkungen
- 6.1. Wiedersehen mit Tim
- 6.2. We are the champions
- 6.3. All in all, it's just another brick in the wall
- 6.4. Der Arm des Gesetzes
- 6.5. Wie man eine Wiedersehensfeier nachholt
- 6.6. Tims Reflektionen über die Dialektik von Lust und Vernunft
- 6.7. Vater und Sohn - und der Versuch etwas richtig zu machen
- 6.8. Auf der Suche nach einem verlorenen Freund
- 6.9. Justitias Blindheit
- 6.10. Zurück auf Start
- 6.11. Nullzeit
- 6.12. Frühstück mit Ahornsirup
- 6.13. Der Prozess
- 6.14. Die Rache ist mein ... oder auch nicht!
- 6.15. Code "Blau"
- 6.16. Zeuge der Anklage
- Nachwort
Vorbemerkungen
1. Nach V kommt VI, und das haltet Ihr in euren virtuellen Händen. Es wird voraussichtlich der vorletzte Band von Kopfgeister sein. Das ist irgendwo sicherlich traurig, aber die Story scheint so langsam auf seinen Höhepunkt zuzulaufen.
Naja ...
2. Dramatik - Dem einen oder anderen ist es schon aufgefallen. Ich habe einen gewissen Hang zur Dramatik. Nennt es Kitsch, nennt es Schund, nennt es wie ihr wollt, Hauptsache, ihr habt Spaß an dem Zeug.
3. Rechtschreibung – Nun, der Patient ist soweit stabil und hat sich hoffentlich nicht verschlechtert.
4. Dieser Text ist exklusiv für Nickstories geschrieben.
5. Sex? Sicherlich, wieso denn auch nicht?
6. Ich habe eine neue E-Mai-Adresse.
11.9.2001 ein Datum erhält eine neue Bedeutung: Sprachlosigkeit, Entsetzen, Fassungslosigkeit, Trauer, Schmerz, Furcht, Betroffenheit, Unverständnis ...
6.1. Wiedersehen mit Tim
Berlin
Bisher assoziierte ich mit Bahnhöfen nur trübe Gefühle. Das lag hauptsächlich daran, dass ich in den meisten Fällen, in denen ich mich auf einem Fernbahnhof befand (sowas wie S- und U-Bahn zähl' ich jetzt mal nicht mit. Das sind ja gar keine richtigen Bahnhöfe.), ich mich von geliebten Menschen verabschieden musste.
Heute war es ganz anders. Ich absolvierte innerlich Luftsprünge. Timmy kam heute am Bahnhof Zoo an. Dass ich weit vor der Ankunftszeit schon auf dem Bahnsteig stand, störte mich nicht. Dass die Anzeigetafel erst 15, dann 30 Minuten und schließlich eine unbestimmte Verspätung anzeigte, nervte mich dann schon.
»Der ICE 712 Carolin Reiber aus München hält wegen einer Signalstörung unplanmäßig nicht in Bahnhof Zoo, sondern im Mutantenstadel ...«
Ich zuckte zusammen. Fortgeschrittene Demenz oder nur ein Tagtraum? Nur ein Tagtraum. Ich saß auf einem der sehr schön designten, aber völlig unbequemen Stahlrohrsitzen und träumte vor mich hin.
Die Geschichte mit Sven, sein Geständnis, uns an die Arschlöcher in unserer Klasse verraten zu haben lag jetzt zwei Tage zurück. Diese zwei Tage boten mir genug Zeit, alle möglichen und unmöglichen Reaktionen auf Svens Offenbarung durchzuspielen: Wut, Verachtung, Mitleid, blanker Hass, Unverständnis, Schuld, Zahnschmerzen, Verleugnung. Doch, ja, ich probierte alles durch, doch nichts wollte so richtig passen. Svens Motive waren für mich genauso rätselhaft, wie das mysteriöse Verschwinden einzelner Socken aus meinem Schrank.
Wobei das mit den textilen Fußwärmern nicht so schlimm war. Muttern sorgt schließlich für Nachschub. Die Sache mit Sven war einfach nur frustrierend, da ich ihn trotz allem immer noch mochte.
Vor lauter Grübeln und Träumen hatte ich fast noch das Einlaufen des Zuges verschlafen, doch die spontan einsetzende Hektik auf dem Bahnsteig brachte mich wieder zurück in die Realität.
Hatte ich erwähnt, dass es saukalt war? Nein. Es war saukalt. Es war Mitte Oktober und ein durchgeknallter Wettergott fand die Idee ganz neckisch, dem nordöstlichen Teil Deutschlands einen kleinen Vorgeschmack auf den Winter zu spendieren. Ich konnte auf solche Spenden gut verzichten.
Der weiße ICE mit seinem rote Rallyestreifen flutschte in den Bahnhof, bremste elegant ab und öffnete seine Türen. Der Zug ejakulierte. Anders konnte man das einfach nicht ausdrücken, denn es kamen Massen von Menschen aus den Türen gequollen.
Ich sah mich um. Ich ließ meinen Kopf hin und her rotieren und erspähte schließlich Timmy zwei Wagenlängen entfernt in der wogenden Menge mit seinen Händen fuchteln. Er hatte mich zuerst entdeckt. Dafür war ich im Gegensatz zu ihm nicht mit Gepäck beladen und konnte ohne Handicap auf ihn zustürzen.
Wow, hab' ich meinen Schatz vermisst. Sowas merkt man erst so richtig, wenn man ihn wieder in den Arm nehmen kann. Was ich natürlich auch sofort tat. Ein Rentnergeschwader sah uns zwar etwas scheel an, aber das störte mich nicht. Demonstrativ begannen wir mit einer leidenschaftlichen Küsserei und lösten damit einen handfesten Streit bei einem älteren Ehepaar aus. Sie wendete sich angewidert ab und kommentierte uns mit: »Ekelhaft, können die das nicht bei sich zu Hause machen?«, während er glücklich lächelte und wehmütig meinte: »Liebe ist etwas wirklich Schönes ...« Seiner Ehefrau entglitten die Gesichtszüge. Sie konnte sich einfach nicht entscheiden, worüber sie jetzt mehr entsetzt sein sollte: über uns oder über den Kommentar ihres Mannes über uns.
Wir überließen die beiden ihrem Schicksal. Ich schnappte mir eine von Tims Taschen und wir stiefelten Richtung U-Bahn (U9 Richtung Rathaus Steglitz).
Wie wir so die Gänge entlang gingen, fiel mir mit einem Mal ein, dass weder ich noch Tim ein einziges Wort gesprochen hatten.
»Ähm, hi ... schön, dass du wieder da bist. Ich hab' dich vermisst.«
»Ich dich nicht. Ich habe mich durch meine ganze Schwimmmannschaft gepoppt, und als ich alle durchhatte, hab' ich mit den anderen Mannschaften weiter gemacht. So 50 Jungs müssen das wohl gewesen sein ...«
»Haben die Kondome gereicht?«
Hehe, Tim drehte sich zu mir um und glotzte mich mit großen Augen an. Tja mein Kleiner, damit hast du nicht gerechnet, dass ich auf deinen Spruch so einsteige.
»Naja, ich mein ja nur ...«, immer schön den Unschuldigen spielen. »Seid ihr denn auch zum Schwimmen gekommen?«
»Arsch!«
»Wichser!«
»Imbahnhofverlaufer!«
»Badekappenträger!«
»Surfmastzerbrecher!«
»Ey, der war unfair!«
»Ok, ok, ok ... ich nehm ihn zurück. Ich bin froh, wieder hier zu sein. Mann hab' ich mich darauf gefreut, mich in deine Arme zu kuscheln ...«
»Sollst du alles haben ... gehen wir zu mir oder zu dir?«
»Lustmolch! Aber wir müssen erst mal zu mir. Ich brauch neue Klamotten. Danach könnten wir ...«
Wenn ich das Gewackel seiner Augenbrauen richtig interpretierte, konnte das noch ein sehr netter Nachmittag werden.
Der Rest der U-Bahnfahrt war recht kurzweilig. Für uns! Für die übrigen Fahrgäste mag ich das nicht beurteilen wollen. Wir stiegen Schlossstraße aus und waren nach 10 Minuten bei Tims Wohnung.
Die Wohnung war bei meinem ersten Besuch schon dunkel gewesen, aber dieser trübe Oktobertag ließ das Teil noch gruftiger erscheinen.
»Finster!«
»Wir wohnen hier schon seit Jahren. Man gewöhnt sich dran.«
»Wirklich?«
»Nö! Soll ich zu dir ziehen?«
»Klar!«
»Ähm ... naja, wer blöd fragt ... oh, du hier?«
Wir Graf Dracula selig, tauchte aus den Schatten des Flures Tims Vater auf. Dr. Rüdiger Mannteufels finsteres Gesicht wirkte im Dämmerlicht wie eine Totenfratze.
»Ach, schau an: die Schwuchtel, die mal mein Sohn war und der Grund unserer Probleme auch gleich im Schlepptau. Hatten wir Herrn Jacobsen nicht Hausverbot erteilt?«
»Ach, schau an: der Typ mit der Doppelmoral, der mal mein Vater war? Hatte dich Mum nicht rausgeschmissen?«
Also Angst vor seinem Vater hatte mein Timmy definitiv nicht mehr. Ein Faktum, das seinen Vater aus dem Konzept brachte. Direkten Widerspruch nicht gewohnt, schnappte er nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, lief violett-rötlich an und verließ ohne weitere Worte die Wohnung.
»Und den Typen hab' ich mal respektiert ...«
Tim schüttelte den Kopf und stiefelte in sein Zimmer. Dort ließ er seine Sachen auf den Boden fallen und warf sich in einen seiner bequemen Sessel. Ich tat's ihm gleich.
»Mann bin ich fertig. Das Leistungstraining war sehr erfolgreich. Wir haben unsere Zeiten deutlich verbessert. Aber es war auch scheiß anstrengend. Ich bin total alle!«
»Du spielen wie Flasche leer?«
»Hmmm«
Tim ließ seinen Blick durch sein Zimmer schweifen. Plötzlich verdunkelte sich sein Gesicht und seine Stirn warf sich in Falten. Ich folgte seiner Blickrichtung und entdeckte ihren Endpunkt. Ein Foto, das am Monitor seines PCs geheftet war, war der Auslöser. Kein Wunder. Das Foto zeigte die gesamte Gang: Biene, Dirk, Peter, Kuki, Tim und, natürlich, Sven!
»Hast du was von ihm gehört?«
Tim sah mich fragend an.
»Ja ...«, ich wich ihm aus und schaute lieber an die Decke. Nette Stuckarbeiten, müsste man mal vergolden, dann sehen die noch besser aus.
»Und?«
»Du willst es nicht wissen ...«
»So schlimm?«
»Schlimmer!«
»Oh! Der Tag entwickelt sich wohl doch nicht so toll, wie ich dachte.«
»Wenn es um das Thema Sven geht nicht, nein.«
»Los, erzähl schon. Meine Laune ist eh im Eimer.«
»Wenn ich fertig bin, wirst du nicht mehr wissen, was Laune ist.«
Ich erzählte. Tim machte sich die additive Farbmischung zu Nutze und wurde wechselweise rot, grün, blau und schließlich weiß.
»Es war Sven?«
»Ich wollte, es wäre anders, aber er hat es selbst zugegeben. Er ... ach, ich weiß auch nicht ... irgendwo versteh ich seinen Frust recht gut. Seit ich in Berlin bin, hat sich in der Tat zwischen euch - zwischen euch allen - viel geändert. Aber ich glaube nicht, dass das nicht ohne mich genauso passiert wäre. Sven scheint sich zurückgesetzt zu fühlen. Mann, Timmy, ihr wart die allerbesten Freunde ... und dann kam ich...«
»Ja, dann kamst du ...«, Tim brabbelte nachdenklich in seinen nicht vorhandenen Bart.
»Was wirst du mit oder wegen Sven tun?«
»Ihn zum Teufel jagen!«
»Das meinst du nicht ernst?«
»Ok, ich werde mit ihm reden und dann zum Teufel jagen.«
»Tim-my!«
»Mein Gott Sven, du bist ja sowas von verständnisvoll, das hält man im Kopf nicht aus. Der Arsch hat uns verraten. Nach Strich und Faden verraten und verkauft. Also, was erwartest du von mir? Dass ich zu Sven krieche und ihn um Verzeihung bitte, dass er uns betrogen hat. Mich bei ihm entschuldigen, dass seine Freundschaft eine Lüge war?«
»Nein, natürlich sollst du das nicht. Ach, ich weiß auch nicht, was man machen soll ... ich mein' ja nur, dass ... ach Scheiße ...«
»Genau das: ach Scheiße ...«
Timmy schmollte. Wer könnte ihm das verdenken. Ein wirklich tolles Wiedersehen.
6.2. We are the champions
Portland
Natürlich: Queen ... no time for losers ... alles andere wäre dem Anlass nicht angemessen gewesen. Cause we are the champions ... schließlich hatten sie es geschafft. Of the world!
Die Footballmannschaft der Liberty High hatte zum ersten Mal in der Geschichte der Schule die Meisterschaft des Bundesstaates Maine gewonnen. Das war die erste Sensation. Die zweite Sensation betraf die Wahl des MVP, des most valuable players. Es war nicht der Quarterback, es war auch nicht der Wide Receiver, es war überhaupt niemand aus dem Offense Team. Völlig gegen jede Regel, aber von jedem als absolut angemessen betrachtet wurde Samuel del Ray einstimmig zum MVP gewählt. Sein touch down hatte die Wende gebracht.
Das Stadion tobte und übertönte fast den Leadgesang von Freddy Mercury. Man hatte sich nicht lumpen lassen und ein Höllenfeuerwerk gezündet. Auf dem Feld herrschte Partystimmung. Skinner wurde von der Mannschaft auf Händen getragen. In einer VIP-Loge rauchte Prinzipal Franklin genüsslich eine Zigarre auf den Sieg. Überall sah man zufriedene Gesichter bei den Anhängern der Liberty High. Selbst die gegnerische Mannschaft zollte dem Team Respekt.
Doch von all diesem Trubel unbeeindruckt standen drei Personen mitten auf dem Feld. Es waren drei sehr junge Menschen, nicht viel älter als 17. Wie im Auge eines Orkans herrschte bei den dreien absolute Stille, während um sie herum das absolute Chaos tobte.
»Verzeih mir, bitte ...«
Marcel sah aus, als wenn er diesen Satz zwar erwartet hatte, ihm aber, als er dann tatsächlich von Scott ausgesprochen wurde, Schmerzen verursachen zu schien. Anders konnte man seinen gequälten Gesichtsausdruck nicht interpretieren. Auch dass er vor seiner Antwort tief einatmete, war ein deutliches Indiz dafür.
»Scott, so läuft das nicht. Du kannst nicht einfach ankriechen und sagen: ,Hi Marcel, ich hab' dich zwar jahrelang vergewaltigt, gequält, wie Dreck behandelt und erpresst, aber jetzt tut es mir leid. Ich war ein böser Junge, bitte, bitte, verzeih mir!` Nee, sorry, Scott, so nicht ...«
Das war nicht die Antwort, die sich Scott gewünscht hatte, aber es war die Antwort, mit der er gerechnet hatte.
»Ok, was erwartest du von mir?«
»Nichts! Shit, ich erwarte rein gar nichts von dir! Außerdem glaube ich nicht, dass das hier der richtige Ort ist, um ...«, Marcel zögerte, eigentlich wollte er dieses Gespräch nicht führen. Das heißt, eigentlich wollte er schon, aber nicht in diesem Moment. Doch eine Frage bohrte in Marcel dann doch so sehr, dass er sich nicht zurückhalten wollte: »Ok, eine Frage hab' ich dann wirklich: warum?«
»Weil ich dich hasse!«, dumm nur, dass Scotts Mimik nicht die geringsten Anzeichen von Hass zeigte. »Und ...«, Scott atmete tief aus, »… weil ich dich auf eine merkwürdige Art auch liebe ...«
»Du bist doch krank, weißt du das?«, Marcel wollte das Thema Scott endlich abhaken. Endlich einen Schlussstrich ziehen und endlich ein neues Leben beginnen, und das am liebsten mit Thimo. Leider leuchtete in seinem Hirn in knallroten Neonbuchstaben ein Wort auf: »Aber!« (Nebenbei, das r von Aber flackerte und gab spratzende Geräusche von sich. Es war nicht die neueste Neonschrift, die in Marcels Schädel herumspukte.).
Aber ... wie soll man von jemandem wie Scott loskommen? Loskommen nach all den Dingen, die man die Jahre über erlitten hatte? Eigentlich war die Situation mit Scotts Offenbarung noch viel schlimmer als vorher geworden. Als Scott sich noch als das Megaarschloch benahm, war die Welt wunderbar einfach: Scott zwang Marcel zu Sex und der hatte damit sein Feindbild. Zumal es Scott Marcel auch extrem leicht machte, ihn zu hassen. Doch was soll man machen, wenn sich der Feind entschuldigt und, schlimmer noch, seine Fehler einsieht und um Verzeihung bittet?
»Ich bin nicht krank! Oder vielleicht bin ich das? Das ist doch völlig egal! Ich habe dich beschützt!«
»Du hast mich beschützt?«, Marcel flippte aus. »Kacke! Du hast mich vergewaltigt! Lies es von meinen Lippen: ,Ver-ge-wal-tigt`. Du Haufen Scheiße hast mich gedemütigt, misshandelt und gebrochen! Du hast mich gezwungen deinen scheiß Schwanz zu ertragen!«
Marcel schrie nicht, er brüllte. Tränen standen ihm in den Augen, als die verdrängten seelischen und körperlichen Verletzungen der letzten Jahre an die Oberfläche sprudelten.
»Weißt du was?«, Marcel wurde wieder leiser, »Als du mich das erste Mal gefickt hast, konnte ich eine Woche lang nicht sitzen! Ich habe hellrotes Blut geschissen! Ich hatte Fieber und Schmerzen gehabt! Aber das konnte ich verkraften! Aber hast du auch nur die geringste Ahnung, wie ich mich danach fühlte? Seelisch fühlte?«
Scott schwieg. Thimo versuchte in seinem Gesicht zu lesen, seine Gedanken zu erraten, aber das war nur schwer möglich. Scott biss sich auf seine Lippen, wirkte aber ansonsten wie versteinert. Empfand er wohlmöglich Scham? Ahnte er, was er angerichtet hatte?
»Scott du bist ein Psychopath, der in eine Anstalt gehört. Und du erzählst mir, du wolltest mich beschützen? Du tickst nicht ganz richtig ...«
»Nein, ganz im Gegenteil! Nun gut, dann denk mal über folgendes nach: Was wäre wohl aus Marcel Reynolds geworden, wenn Typen wie Brandon oder Espen mitbekommen hätten, dass du ... ähm, ... schwul bist?«
»Hast du immer noch Probleme mit dem Wort? Scott, es ist ganz einfach! Es lautet: Schwul! Schwul, schwul, schwul und schwul! Da ist kein ,ähm` nötig! Einfach nur schwul!«
»Verdammt, sei nicht so selbstgefällig! Mir fällt das schwer, basta! Und genau das war der Punkt. Dafür habe ich dich gehasst!«
»Was? Dass ich schwul bin?«
»Ja! Du hast unsere Freundschaft verraten! Du und ich! Wir waren die besten Freunde. Wir, wir beide haben zusammen das Baumhaus gebaut. Wir haben alles geteilt. Uns konnte keiner was. Aber du, du hast alles zerstört!«
»Wie bitte? Ich habe alles kaputtgemacht? Hast du den geringsten Schimmer, wie es in einem aussieht, wenn man erkennt, dass man anders ist? Wenn du merkst, dass dich Mädchen nicht interessieren, dafür aber deine männlichen Mitschüler?«
»Nein ...«
»Nein, natürlich nicht! Ja, Scott, du warst mein Freund. Mein bester Freund. Wem, wenn nicht seinem bestem Freund vertraut man so etwas an? Und was hast du getan? Nein, nicht ich habe unsere Freundschaft verraten. Das warst du ganz alleine! Ich hätte dich damals gebraucht. Ich hätte einen Freund gebraucht. Ich hätte dich gebraucht. Jemand der zu mir steht. Und was hast du daraus gemacht? Du hast mich zu deinem persönlichem Schulsklaven gemacht! Du hast jede Möglichkeit genutzt, mich vor anderen zu demütigen und ich konnte rein gar nichts dagegen tun. Du bist ein Monster gewesen. Und wenn Jana nicht ...«
Marcel sprach nicht weiter. Das war mehr, als er sagen wollte. Aber Scott kannte Marcel zu gut, um nicht sofort nachzuhaken.
»Was war mit dir und wenn nicht Jana ...?«
»Nichts!«
»Marcel, das ist das erste Mal seit Jahren, dass wir offen miteinander reden. Wenn ich mir etwas vorzuwerfen habe, wenn du mir für etwas die Schuld gibst, dann will ich gefälligst auch wissen, wofür!«
»Du willst es wissen? Du willst die Wahrheit wissen? Du erträgst die Wahrheit doch gar nicht! Du lügst dir doch selbst in die Tasche! Mit dieser Legende von deiner Beschützerrolle beruhigst du doch nur dein schlechtes Gewissen, weil du dir nicht eingestehen willst, dass du ein Monster bist, das mich gequält hat! Aber ich werde es dir sagen: Als du mir das erste Mal deinen Schwanz in den Mund gerammt hast, habe ich anschließend alle Schlaftabletten geschluckt, die ich im Medizinschrank meiner Eltern gefunden habe!«
Aus Scotts Gesicht wich alle Farbe. Er wirkte plötzlich alt und müde. Thimo dämmerte, dass Scott offensichtlich nichts von Marcels Selbstmordversuch gewusst hatte.
»Marcel, sag, dass das nicht wahr ist ...«
»Scheiße doch! Ich war schwul und was bedeutete das? Dass mein bester Freund mich dafür hasste! Wer will dann noch weiterleben?«
Scotts Farbe kehrte langsam zurück, ganz langsam. Allerdings stimmte der Farbton nicht. Der ging mehr ins grünliche statt ins rosig-hautfarbene.
»Marcel, entschuldige und vergiss, um was ich dich gebeten habe. Ich ... ach, Scheiße ...«
Begriff Scott tatsächlich?
Zu Thimos totaler Überraschung rannen Tränen über Scotts Wangen. Dieser Kotzbrocken zeigte Gefühle, die Thimo bei ihm niemals für möglich gehalten hatte.
Scott und Marcel schwiegen. Während Scott noch mit seinen Tränen kämpfte, schien sich Marcel zu beruhigen. Die letzten Minuten war ein Beben und Zittern durch seinen Körper gegangen, das seine innere Aufgewühltheit deutlich zeigte. Thimo nutzte die Gelegenheit, um Scott eine Frage zu stellen, die ihn schon länger bewegte.
»Woher rührt eigentlich dein plötzlicher Persönlichkeitswandel? Noch vor ein paar Monaten wolltest du mich zusammenfalten und hast Marcel noch ... ähm, also, du weißt schon. Was ist passiert?«
Aufgeschreckt durch Thimos Frage, fuhren Scott und Marcel, wie aus einem Tagtraum erwacht herum und sahen ihn an.
»Du bist passiert!«
»Hä?«
»Erinnerst du dich an deine erste Trainingsstunde?«
»Wie könnte ich die vergessen?«, so schmerzhaft, wie die am Ende war.
»Ja, ja, du kannst verdammt gut zuschlagen. Egal, für mich stellte sich die Sache so dar. Skinner wollte, dass du spielst. Ok, damit hab' ich kein Problem. Was würde so ein Weichei aus Europa schon von Football verstehen? Tja, du hättest das Ei nie fangen dürfen, nicht so, wie ich es dir zugeworfen hatte. Nur einer, der Football wirklich gut spielt, konnte den fangen. Weißt du, wie viele Jungs in unserer Mannschaft das geschafft hätten, mich eingeschlossen?«
Thimo zuckte pflichtgemäß mit den Schultern.
»Null! Keiner! Niemand! Was umgekehrt soviel hieß, dass du automatisch mein Feind warst. Ich hatte fest damit gerechnet, dass du meinen Job als Quarterback haben wolltest. Alle stimmten mir zu. Brandon, Espen. Du kennst sie ja. Verdammt, ich musste für das, was ich erreicht habe, hart kämpfen. Du kennst diese Schule, als QB bekomme ich automatisch bessere Noten und ich hab' sie verdammt nötig. Aber du ... du bist ein Naturtalent. Wie Marcel wenn er läuft. Hast du ihn mal laufen gesehen?«
»Ja, das hab' ich ...«, Thimo mit einem verklärten Gesichtsausdruck.
»Dann weißt du, was ich meine. Du bist genauso. Du fühlst mit dem Ball. Ich muss ihn beobachten und berechnen. Ich konnte doch unmöglich zulassen, dass so ein dahergelaufener Wichser mir meine Position an der Schule raubt.«
»Das hab' ich mir gedacht. Und weiter?«
»Was weiter? Zuerst nix. Wir haben uns belauert, das weißt du doch. Du hingst mit den Losern rum. Brandon meinte, wenn du nicht zu uns gehören willst und lieber mit denen rumhängst, dann sollte man dir möglichst bald auch mal klarmachen, dass man als Loser an der LH nichts zu melden hat. Doch bevor es dazu kam, kam der Tag ...«
Thimo nickte.
»Ich habe gehört, dass du die Unterhaltung zwischen mir und Marcel von deinem Auto aus gesehen hast?«
»Woher weißt du das?«
»Unwichtig, wichtig ist nur, dass ihr euch beide täuscht. Ja, ich hatte dich, Marcel wieder dazu gepresst mich zu treffen. Aber ich wollte dich nicht ... du weißt schon. Ich wollte mit dir reden. Ich weiß, dass ihr mir das nicht glaubt. Aber es war so. Naja, und dann bist du am See aufgetaucht und hast mich geschlagen, besiegt!«
»Ja danke auch. Die Sache hat mich fast mein Leben gekostet! Deine feinen Freunde und ihr Messer ...«
»Es sind nicht meine Freunde. Das waren sie wohl nie! Ich war Brandons Werkzeug und zu doof, dies zu erkennen. Aber du Thimo, du hast mir die Augen geöffnet. In mehrfacher Hinsicht. Wie war der Satz? ,Die Tunte, die dich gerade zu Brei schlägt, beweist dir gerade das Gegenteil!` Mann, so eine Schwuchtel zeigt Rückgrat und tritt für jemand anderen ein. Was ich an Marcel immer gehasst habe war, dass er immer alles mit sich hat machen lassen. Typisch Homo! Aber auch das war falsch. Du hast das für einen Freund getan, was ich hätte tun müssen. Das ist mir jetzt klar. Aber da gibt es noch mehr. Nachdem du mich K.O. geschlagen hattest, ging ich zu Boden und war weg. Als ich wieder zu mir kam, lag ich in Brandons Auto. Keiner im Auto sagte etwas. Bis Brandon schließlich bei mir zu Hause ankam. Tja, und dann kam's: ,Scott, du bist draußen. Sprich uns nie wieder an. Keinen von uns. Du hast dich von so einem perversen Schwein schlagen lassen. Ich fass es nicht! Du hättest ihn alle machen müssen und stattdessen nietet dich dieser Schwanzlutscher um. Scott, damit bist du untragbar.` Tja, und damit war ich draußen. Ende der Geschichte.«
»Mir kommen die Tränen!«, eiskalter Zynismus waberte von Marcel herüber. »Und jetzt sollen wir mit dir Mitleid haben, oder wie? Seht her, der arme, arme Scott. Wurde von seinen super Freunden verstoßen, weil er sich von einer Schwuppe hat schlagen lassen. Aber, oh Wunder, dieser Schlag und diese Verbannung aus dem edlen Kreis der aufrechten Männer haben zu einer Läuterung seiner Seele geführt. Bußfertig und gebrochen ersehnt er Gnade und Vergebung bei seinen Opfern. Verdammt, Scott, wach auf! Das ist das wahre Leben und keine Daily Soap! Bevor ich dir vergebe, friert eher noch die Hölle ein!«
»Oh, ja, super! Endlich kannst du dich an mir rächen. Darauf hast du lange gewartet. Aber weißt du was? Damit bist du nicht besser, als ich es bin.«
»Oh, hör auf damit. Das ist doch lächerlich. Scott, das arme Opfer ... frag' doch mal Amber, ob sie dich als Opfer sieht!«
»Was willst du damit sagen?«
»Das weißt du doch genau. Ich hab's doch selbst erlebt. Du warst noch nie sehr zartfühlend.«
»Ach, du glaubst also wirklich, ich hätte Amber geschlagen?«, das erste Mal, dass Scott lachte, wenn auch hysterisch.
»Ich finde das ziemlich glaubwürdig!«, Marcel war nicht zum Lachen zu Mute.
»Jungs, seid nicht so naiv und glaub' alles, was erzählt wird. Ich habe Amber niemals angerührt. Hast du schon mal versucht, mit einer Alkoholikerin zu schlafen? Ok, das war eine blöde Frage. Natürlich habt ihr das nicht. Also, es funktionierte einfach nicht. Glaubt mir oder lasst es bleiben, aber da ist wirklich nichts gelaufen. Ich weiß, sie schießt gerne mit Andeutungen um sich. Mal ist Amber Maso, mal ist sie die harte Domina, aber das ist nur Show. Da ist nix Wahres dran. Nur ihr armseliger Versuch, interessant zu wirken und im Gespräch zu bleiben.«
»Ich meinte aber nicht Amber!«, Marcels Stimme hatte die Kälte eines Blizzards, »Ich meinte Jana! Du hast sie geschlagen! Mehrfach!«
»Ja!«, Scott sah auf den Rasen.
»Das ist alles? Mehr willst du dazu nicht sagen?«
»Nein!«, Scott wurde plötzlich einsilbig. Marcel hatte einen wunden Punkt getroffen und seine Motivation war alles andere als edel. Endlich konnte er Scott am eigenen Leibe spüren lassen, wie es ist, von jemandem psychisch gequält zu werden.
»Na, wo ist denn jetzt der neue, ehrliche, offene Scott? Der Scott, dem ich verzeihen soll? Warum hast du Jana geschlagen?«
»Das gefällt dir, was? Mich endlich in der Hand zu haben. Du bist wirklich keinen Deut besser als ich es bin. Ja, verdammt, ich hab' sie geschlagen und ich hasse mich dafür und ich hasse dich dafür. Jana fing immer und immer wieder von dir an. Scheiße, die Frau war nie in mich verliebt sondern in dich! Aber ich liebte Jana! Aber ich konnte niemals mit dir konkurrieren. Als sie schließlich mitbekommen hatte, dass du schwul bist, da hatte ich sie endgültig verloren! Von da an wollte sie nur noch dein Schutzengel sein. Verdammt, Marcel, wie soll man mit sowas mithalten? Wie kann ich bei dem Einsatz vor Jana bestehen. Marcel, sie vergöttert dich! Sie würde alles für dich tun! Das war das zweite Mal, dass du mich verraten hast. Erst hast du unsere Freundschaft vernichtet und dann auch die zwischen Jana und mir ...«
Scott zitterte. Sein ganzer Körper war in Aufruhr. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Seine Stimme wurde genau so zittrig wie er. Sehr leise, beim Lärm im Stadion kaum verständlich, sprach er weiter.
»Und das Schlimmste war, dass ich euch nicht verlieren wollte. Ich versteh mich ja selbst nicht. Auf der einen Seite wollte ich dich für das, was du mir angetan hast, bestrafen. Ich wollte, dass du dich dafür hasst, schwul zu sein ...«
»Oh danke, das ist dir perfekt gelungen!«
»... aber auf der anderen Seite wollte ich in deiner Nähe sein. Ich wollte, dass es so war wie früher. Wir alle, du, Jana, ich auf unserem Baumhaus. Marcel, ich war bei jedem deiner Rennen. Du hast mich nie gesehen, aber ich war immer da. Marcel, bitte hilf mir ...«
Mit seinen letzten Worten brach Scott in Tränen aus und sank auf den Rasen. Was für ein Bild: Scott kniete flehend vor Marcel! Für Marcel ging damit ein Traum in Erfüllung. Ein Traum mit der Überschrift Genugtuung.
Aber wieder einmal zeigte sich, wie unterschiedlich Traum und Realität sein konnte. Während Marcel in seinen schlimmsten Zeiten von dieser Art Triumph gezehrt hatte - einer Utopie, die ihm half zu überleben - so zeigte die reale Szene ein hässliches Gesicht. Der Triumph schmeckte bitter. Das Gefühl der Genugtuung war da, aber sorgte nicht für die ersehnte seelische Befreiung. Wider aller Vorsätze empfand Marcel so etwas wie Mitleid für Scott.
Marcel drehte seinen Kopf zu Thimo und sah ihn fragend an: »Und jetzt?«
»Das ist deine Entscheidung. Ich habe keine Probleme mit Scott. Nicht mehr. Was wir miteinander ausgetragen haben, muss man wohl unter jugendliche Revierkämpfe ablegen. Aber was dich und Scott verbindet ...«, Thimo zuckte mit seinen Schultern. Er war nicht sonderlich einfach, objektiv zu bleiben, wenn eine Streitpartei der eigene Liebhaber ist, »... das geht tiefer. Aber ich denke, du musst das nicht jetzt entscheiden.«
»Scott, was du mir erzählt hast ... also, ich weiß noch nicht, wie ich damit umgehen soll. Du hast da Sachen an die Oberfläche gebracht, die ich eigentlich vergessen wollte. Aber das geht wohl nicht so einfach ... Thimo hat Recht, ich sollte über alles nochmal gründlich nachdenken.«
»Es besteht also noch Hoffnung?«
»Ja, für was auch immer!«
6.3. All in all, it's just another brick in the wall
Berlin
»Na ihr zwei Prinzessinnen, seid ihr auch schön am schmusen?«
»Nico, verpiss dich!«
Ich saß immer noch mit Timmy in seinem Zimmer. Die letzten 20 Minuten hatten wir mehr oder weniger geschwiegen. Die Stimmung lag weit unter dem Gefrierpunkt. Man musste befürchten, dass sich an Tims Fenstern Eisblumen bilden würden. Tim war sauer. Er war sauer auf Sven, auf mich, auf sich, auf die Farbe seiner Socken und eigentlich auf alles. Mit anderen Worten: Er war wunschlos unglücklich. Ich hingegen schmollte, weil ich mir das Wiedersehen mit Tim anders vorgestellt hatte und nicht einsehen wollte, dass Svens Verhalten dies ruiniert hatte.
In diese super tolle Stimmung platzte nun Nico, Tims kleiner Bruder und hauptberufliche Nervensäge.
»Oh, ihr seid ja toll drauf! 'Tschuldigung! Ich geh' ja schon!«
Knurrend und maulend machte Nico auf seinem Absatz kehrt und war bereits dabei, das Zimmer wieder zu verlassen. Tim seufzte und rollte seine Augen.
»Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht anschnauzen ...«
»Hast du aber!«
»Ja verdammt, das hab' ich! Und? Reißt du mir jetzt den Kopf ab?«
»Mal sehen ... nö, werd' ich nicht. Aber ihr zwei verratet mir sofort, warum hier eine Stimmung herrscht, wie auf einer Beerdigung. Ist jemand gestorben?«
»Ja, Sven ist für mich gestorben!«
Nicos Augen wurden riesig und starrten mich an. Der Kleine war entsetzt.
»Nein, nicht Sven sondern Sven!«
»Du solltest dir einen anderen Namen zulegen. Was ist denn mit Sven?«
»Unser lieber, alter Freund war so nett, uns an André und die anderen Arschlöcher zu verkaufen. Es war Sven, der dafür gesorgt hat, dass unsere Sachen sabotiert wurden. Aber das ist jetzt egal, der Typ ist Geschichte!«
»Du bist zwar mein Bruder und ich lass nix auf dich kommen, aber in diesem Fall muss ich dir sagen: ,Du bist ein Arschloch!`«
»Ich danke dir für deine qualifizierte Meinung. Du kannst gehen...«
»He! So nicht, Tim! Du machst dir das etwas zu einfach!«, ich war erstaunt, wie Nico mit seinem Bruder umsprang. Als verzogenes Einzelkind waren für mich die interbrüderlichen Psychospielchen ein Buch mit sieben Siegeln.
Nico fauchte weiter: »Hast du dir für zwei Sekunden mal überlegt, warum Sven getan hat, was er getan hat?«
»Nein! Will ich auch nicht ...«
»Nein, natürlich nicht! Es könnte ja sein, dass mein selbstgerechter Bruder auch ein paar Fehler gemacht hat!«
»Ich habe niemandem einen Mast angesägt! Mir ist egal, warum Sven das getan hat. Dass er es getan hat, reicht mir ... also erzähl mir nicht, dass ich Fehler gemacht hätte!«
»Du redest wie Paps!«
Tim zuckte zusammen. Es war, als wenn Nico ihn mit einer unsichtbaren Peitsche geschlagen hätte. Auch ich ging unwillkürlich in Deckung. Ich fühlte mich unwohl. Dieser Streit zwischen den beiden Brüdern war heftig, heftiger als alles, was ich je bei den beiden erwartet hätte. Es waren weniger die Worte, die zur Schärfe der Auseinandersetzung beitrugen, als vielmehr die Art und mit welchem Ton sie ausgesprochen wurden.
Tim war sprachlos. Er wollte etwas entgegnen, öffnete seinen Mund und blieb dennoch stumm.
»Nein, das wollte ich nicht sagen. Timmy, es tut mir leid. Ich hab' das nicht so gemeint ...«
Nico merkte sofort, dass er über sein Ziel hinausgeschossen war. Doch gesagt war gesagt.
»Du hast aber Recht ...«, völlig unerwartet war Tims Zorn verpufft. Es schien mir, als wenn er aus einem wahnähnlichen Zustand aufgewacht war. »... ich war nicht objektiv. Sven hat mich enttäuscht... verdammt, warum hat er das getan? Kann mir das einer von euch beiden erklären?«
»Ja, ich!«, wieder Nico. Verblüfft und überrascht glotzten wir den Kleinen an.
»Nun glotzt nicht so! Ich habe auch meine Informationsquellen und außerdem hab' ich doch gesagt, dass ich mich um die Sache kümmern wollte.«
»Äh?«
»Oh Mann, habt ihr eine lange Leitung. Erinnert ihr euch noch an die Krisensitzung in Kukis Sommerhaus? Nach eurer missglückten Sexorgie?«
»Ja tu' ich! Danke, dass du uns daran erinnerst!«
»Gern geschehen! Ich hatte damals versprochen, dass ich mich um die Sache kümmern wollte ...«
»Und?«
»Ich hab' mich drum gekümmert ...«
»Ahhhhh, Mann! Dann red' doch endlich. Was hast du rausbekommen?«
»Nu' nicht' hetzen! Immer mit der Ruhe!«
»Ni-co!«
»Tim-my!«
»Ok, ok, ok, erzähl einfach ...«, Tim musste einsehen, dass er gegen die Dickköpfigkeit seines Bruders nicht den Hauch einer Chance besaß. Das musste wohl in der Familie liegen.
»Gut! Also, ich hab' mich mal unter meinen Leuten umgehört. Es gibt ja noch andere Figuren, die ältere Brüder und Schwestern haben. Nicht nur mich. Und ein paar dieser Geschwister gehen sogar in eure Klasse. Euer lieber Svenni wurde generalstabsmäßig über Wochen als Torpedo gegen euch scharf gemacht! Sagt euch der Name Nina etwas?«
Tim sah mich an. Ich sah Tim an. Fragezeichen leuchteten über unseren Schädeln.
»Im Endeffekt ist natürlich unser Inselboy hier an allem schuld ...«
»Keine schlechten Scherze bitte.«
»Oh, das war ganz ernst gemeint. Natürlich kannst du nichts dafür. Aber ihr zwei versteht immer noch nichts, oder? Oh Mann, und sowas behauptet, mein älterer Bruder zu sein. Ich glaub' ich muss ganz weit vorne anfangen ...«
Und dann begann Nico zu erzählen. Er erzählte, was er in Erfahrung gebracht hatte, was er sich zusammengereimt hatte und welche Schlüsse er daraus gezogen hatte. Ich war wieder einmal über Tims Bruder erstaunt. Der Typ hatte einen messerscharfen Verstand. Seine Überlegungen hatten Hand und Fuß und waren erschreckend sachlich, fast klinisch korrekt. Die Details präsentierten sich dabei folgendermaßen:
Ich war - natürlich - der Auslöser für die Tragödie. Sven fühlte sich durch mich zurückgesetzt. Bis zu meinem Erscheinen war er Tims bester Freund gewesen. Ich hatte ihn verdrängt und das auf eine Weise, mit der er nicht konkurrieren konnte. Zusätzlich bestand sein Problem auch noch darin, dass er Tim und mich mochte. Wäre dem nicht so gewesen, er hätte sich einfach zurückgezogen und jeder wäre seinen eigenen Weg gegangen. So aber schürte es nur seinen Frust.
In dieser angeschlagenen Stimmung wurden André, Rolf, Sascha, halt die ganze hirnlose Muskelfraktion, auf ihn aufmerksam. Wie die Aasgeier witterten sie Svens verletzte Gefühle und kultivierten sie fleißig. Sascha hatte vor seiner kleinen Schwester mit einem Plan geprahlt, wie sie einen Keil zwischen Sven und uns treiben würden. Dumm nur für Sascha, dass seine Schwester wiederum vor ihrem Freund mit seinem Plan hausieren ging. Dieser Freund war seinerseits ein sehr guter Freund von Nico. Womit auch erklärt war, wie Nico an seine Informationen gekommen war.
Wie gesagt, Nico hatte den analytischsten Verstand, den ich je gesehen habe. Dieser Typ war einfach unheimlich. Nachdem er von Saschas Schwester erzählt hatte, fügte er sofort als Kommentar hinzu, dass man dem natürlich nur bedingt glauben kann, da die Geschichte über drei Ecken kam. Er begann also, alles Erfahrene mit anderen Quellen gegenzuprüfen. Schließlich kristallisierte sich ein Bild heraus.
Die tödlichste Waffe im Arsenal unserer Intimfeinde war Nina. Sie war absolut perfekt, weil sie selbst von ihrer Rolle nichts wusste. Sie tratschte gerne (wer tut das nicht?), aber leider hinterfragte sie selten die Dinge, die man ihr eingetrichtert hatte. Dadurch wurde sie zu einem optimalen Werkzeug, um Sven von uns zu entfremden. In regelmäßigen Abständen erzählte man ihr kleine Geschichten, natürlich total wahr. Mit absoluter Sicherheit würde jede dieser Geschichten innerhalb kürzester Zeit bei Sven landen. Jede dieser Geschichten war ein kleines Kunstwerk aus Lüge und Intrige mit dem alleinigen Ziel, Svens Frust zu steigern. Ein Beispiel gefällig?
Sascha an Nina: »Vorgestern hab' ich Tim, Kuki und diesen norddeutschen Typen, Sven, bei Häagen-Dazs gesehen. Komisch, dein Sven war gar nicht dabei.«
Und später Nina zu Sven: »Ich hab' gehört Tim war mit Svenni Eisessen, haben sie dich gar nicht mitgenommen?«
Und wieder ein Stein mehr in der Mauer zwischen Sven und uns. Wir waren natürlich niemals Eisessen gewesen und wenn, dann hätten wir Sven selbstverständlich mitgenommen.
Nico erzählte weiter, dass die anderen schließlich der Meinung waren, dass Sven reif zu Ernte war. Sein Frust, seine Wut und seine Entfremdung schienen ausreichend zu sein, dass man direkten Kontakt zu ihm aufnehmen konnte. Natürlich ganz zufällig und unverfänglich. Und wieder wurde sein Frust genährt; durch den direkten Kontakt sogar mit Intensivnahrung.
»Jedenfalls war er endlich so weit, dass er euch, nein, uns verraten würde. Rolf soll sich totgelacht haben. Wenn ich der Freundin seiner Schwester glauben kann, hat er sich köstlich darüber amüsiert, dass Sven das alles nur getan hat, weil er hoffte, unsere Aufmerksamkeit zu erwecken. Weil er uns als Freunde wiederhaben wollte. Oder um ganz genau zu sein, um euch beide zurückzugewinnen. Es war für ihn zuerst gar kein Verrat, sondern eine wirklich krude Form eines Hilferufs. Das musste natürlich total in die Hose gehen. Auf der Rückfahrt von Rügen hat er wohl begriffen, was er eigentlich wirklich getan hatte und dass er die ganze Zeit nur ein Werkzeug gewesen war. Er hat Rolf, Sascha und André versucht zur Rede zu stellen und ist natürlich hoffnungslos abgeblitzt. Für die hat er seine Aufgabe erfüllt. Jetzt ist er ihnen nur noch lästig. Sie verachten ihn und ich fürchte, er verachtet sich auch.«
»Verdammt, ich hätte es merken müssen!«, Tim biss sich auf die Unterlippe. Der Zorn von vorhin war in Verbitterung umgeschlagen.
»Wie konntest du das? Du warst mit so vielen anderen Dingen beschäftigt. Deinem Coming Out ... die Sache mit deinem Vater ...«
»Verdammt, er war mein Freund! Ich wäre es ihm schuldig gewesen ... jetzt wird mir einiges klar. Seine Andeutungen in letzter Zeit. Er schien ja in letzter Zeit auch immer irgendwas mit sich rum zu schleppen. Er war nicht mehr so fröhlich wie früher. Warum hab' ich das nicht gemerkt? Verdammt, verdammt, verdammt, ich habe versagt! Ich hab' als sein Freund versagt!«
»Timmy! Stopp!«, ich musste ihn einfach stoppen. »Du läufst schon wieder Amok! Vorhin wolltest du Sven noch zum Teufel jagen und jetzt drehst du alles um, erklärst dich für schuldig und betreibst öffentliche Selbstgeißelung. Beides ist Dünnpfiff. Wir sollten lieber zusehen, dass wir das wieder gekittet bekommen - wenn das überhaupt noch möglich ist ...«
6.4. Der Arm des Gesetzes
Portland
»Sind Sie Thimo Camron-Bach?«, der Officer war ein Bulle von riesiger Gestalt. Seine Uniform war tiefschwarz. Seine Mimik war undurchdringlich.
»Ja, wieso?«, Thimo sah verschlafen und verstört in die Läufe der gezückten Waffen. Das Haus seiner Mutter war von den blinkenden Irrlichtern dreier Polizeiwagen der Portland Metropolitain Police erhellt.
»Im Namen des Gesetzes: Sie sind wegen Mordverdachts an Scott Edward Richardsen verhaftet. Alles was Sie sagen, kann und wird gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht zu schweigen. Sie haben das Recht einen Anwalt hinzuzuziehen. Sollten Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird vom Gericht ein Anwalt für Sie gestellt. Haben Sie Ihre Rechte verstanden?«
Thimo fühlte nichts. Er hatte geschlafen. Als der Lärm an der Haustür losging, war er aufgewacht und hatte als Erstes auf die Ziffern seines Radioweckers geschaut. 4:36 Uhr. Zusammen mit seiner Mum war er zur Haustür geschlurft und hatte sie geöffnet, um gleich von einer Herde wildgewordener Polizisten umstellt zu werden.
Was war geschehen?
Nach dem Spiel und der Unterhaltung mit Scott hatten Thimo, Scott und Marcel noch mit der Mannschaft ihren Meisterschaftssieg gefeiert. Anschließend brachte Thimo Marcel noch nach Hause. Obwohl nicht ganz. Marcel durfte das Spiel sehen und auch Feiern, sich aber natürlich nicht von Thimo nach Hause bringen lassen. Thimo ließ Marcel daher einen Block vor dem Haus seiner Eltern aussteigen. Danach fuhr Thimo nach Hause, allerdings nicht direkt. Er fuhr zu dem See, an dem er mit Scott gekämpft hatte, hockte sich auf eine Bank und dachte nach. Als er schließlich zu Hause ankam, war es Viertel vor vier.
»Scott ist tot?«
Schlaftrunken, wie er war, hatte Thimo einige Schwierigkeiten, einen klaren Kopf zu bekommen. Die auf ihn einflutenden Informationen wurden von seinem Gehirn nur bruchstückweise verarbeitet. Dass man ihm soeben Handschellen angelegt hatte und er in ein Polizeiauto des PMPD (Portland Metropolitain Police Department) verfrachtet wurde, war noch nicht zu ihm durchgedrungen. Apathisch und völlig neben sich schaute er mit glasigen Augen aus dem Polizeiauto. Natürlich bekam er auch die Diskussion seiner Mutter mit dem Police-Detective nicht mit.
»Das ist mein Sohn! Der hat niemanden umgebracht! Sie sind wohl wahnsinnig.«
»Es gibt Beweise und ich empfehle Ihnen dringend, sich einen Anwalt zu suchen. Können Sie sich einen Anwalt leisten?«
»Ja, das sollte kein Problem sein. Aber ich versteh das nicht. Mein Sohn hat niemanden umgebracht!«
»Das sieht der Staatsanwalt ganz anders. Sie sollten sich den besten Anwalt besorgen, den sie bekommen können. Glauben Sie mir!«
Thimos Mutter blickte entgeistert vom Detective zu ihrem Sohn.
»Thimo, sag' denen nichts! Ich besorg' dir einen Anwalt. Wir kriegen das wieder hin!«
»Mr. Reynolds? Man hatte mir gesagt, dass mein Anwalt da sei, aber dass Sie das sind ...«
»Sag' Jimmy zu mir. Deine Mutter hat mich sofort angerufen.«
»Was ist überhaupt los? Warum bin ich hier?«
»Gleich. Erstmal, behandelt man dich gut?«
»Ja, sie haben mich in eine Einzelzelle gesteckt. Nicht mit den andere in eine Sammelzelle. Man hat meine Personalien aufgenommen und mir gesagt, ich hätte Scott ermordet. Dann wollten sie mich verhören, aber ich habe gesagt, dass meine Mum mir gesagt hat, dass ich nichts sagen soll, bevor mein Anwalt kommt. Naja, sie haben es dann noch ein paar Mal versucht, aber ich habe nichts gesagt. Ich weiß ja nicht mal, was passiert ist ... ist Scott wirklich tot? Mein Gott, wir haben nach dem Spiel noch miteinander geredet.«
»Ja, Scott ist wirklich tot. Erstochen mit einem Messer. Ich weiß noch nicht wieso, aber man hält dich für den Täter.«
»Wahrscheinlich weil ich ein Motiv habe.«
Dies war eine Tatsache, die Thimo erst in dem Moment klar wurde, indem er sie aussprach. Marcels Vater wurde blass.
»Du hattest ein Motiv? Thimo, Shit, nun red' schon!«
»Ich kann nicht. Nicht Ihnen gegenüber!«
»Ich bin dein Anwalt. Strafrecht ist meine Spezialität. Alles, was du mir sagst, unterliegt der Schweigepflicht. Außer mir erfährt es niemand!«
»Ich weiß, aber ...«, Thimo konnte Jimmy Reynolds, Marcels Vater nicht in die Augen sehen, »Sie sind auch Marcels Vater ...«
Marcels Vater wurde noch ein paar Schattierungen blasser.
»Marcel? Was hat Marcel damit zu tun?«
»Alles, er ist der Schlüssel. Und ich glaube, er ist auch der Grund für Scotts Tod! Mein Gott, wo bin ich nur reingeraten?«
Thimo wurde schwarz vor Augen. Er brauchte ein paar Augenblicke, um sich wieder zu fangen. Die Welt drehte sich in seinem Kopf. Scott, Marcel, Jana, Rob, Brandon, Amber, Espen ... was war das für ein Albtraum. Thimo rieb sich seien Augen und fuhr sich mit den Händen durch sein Haar.
»Thimo, bitte, du musst es mir sagen. Wegen Marcel, aber insbesondere wegen dir. Der Staatsanwalt hat durchblicken lassen, dass er den Fall für glasklar hält. Der Mann hat politische Ambitionen und die erreicht man hierzulande durch eine hohe Verurteilungsquote. Ich will dich nicht beunruhigen, aber die Lage ist extrem ernst. Er will auf Mord ersten Grades raus und dich nach dem Erwachsenenstrafrecht anklagen. Du weißt, was das bedeutet?«
»Es geht um alles?«
Jimmy nickte: »Deswegen musst du mir alles erzählen. Bitte, was ist los?«
»Versprechen Sie mir, niemals, wirklich niemals Marcel davon zu erzählen, was ich Ihnen jetzt erzähle?«
»Ja, wenn das deine Bedingung ist. Aber, ich dachte ihr seid zusammen. Wieso hast du Geheimnisse vor ihm?«
»Das hab ich nicht. Es ist vielmehr die Geschichte von Marcel, wie Sie sie nicht kennen.«
Jimmys Augen weiteten sich. Sein Spitzbubengesicht wich kurzeitig dem Gesicht eines alten Mannes: »Ich verspreche es! Ehrenwort!«
»Nun, vielleicht sollte ich mit dem Tag anfangen, an dem ich in die Liberty High kam. Sie waren damals noch mit ihrer Frau in Europa. Ich war gerade mal zwei Wochen in Portland ...«
Thimo erzählte. Er erzählte die ganze Geschichte. Wie er durch Tom Peter, Rob, Jana und Marcel kennen gelernt hatte. Sein erster Kontakt mit Scott. Wie er sich bei Rob verraten hatte und schließlich, wie ihn der Schlag getroffen hatte und er sich in Marcel verliebt hatte.
Jimmy hörte aufmerksam zu, lächelte und musste manchmal sogar schmunzeln. Doch Thimo erzählte weiter. Wie Marcel vor ihm weglief, wie er Scott zur Rede stellte und wie er von Scotts Freunden niedergestochen wurde.
Jimmys Mine verfinsterte sich. Doch Thimo war noch nicht am Ende. Es folgte das Krankenhaus, die Suche nach Marcel und die Nacht und der Morgen auf dem Baumhaus.
»Scott hat meinen Sohn vergewaltigt?«
Das Entsetzen entstellte Jimmys Gesichtszüge. Seine Stimme war nur ein dünner, kraftloser Ton. Thimo antwortete nicht, er sah Marcels Paps nur aus traurigen Augen an und nickte.
»Jesus, wir haben nichts davon bemerkt ...«
Jimmys Blick kehrte sich nach innen und wurde ausdruckslos. Als er schließlich sprach, sprach er zu sich selbst.
»Was bin ich für ein Vater? Marcel, wie konnten wir dich nur so im Stich lassen? Wie konnte ich nur so versagen? Was hab' ich dich durchstehen lassen? Ich...«
Jimmy Reynolds rannte zur Tür des Besprechungsraums und rief nach einem Wärter.
»Haben Sie Zigaretten?«
»Hier ist rauchen verboten!«
»Shit! Das hab' ich nicht gefragt! Haben Sie Zigaretten, verdammt!«, Jimmy Reynolds fauchte den herangeeilten Wächter an. Völlig verschreckt und mit weit aufgerissenen Augen tastete er seine Jacke ab und fand schließlich ein Päckchen Sargnägel.
»Ja, doch ...«, der Wärter gab ihm eine Zigarette, Jimmy Reynolds nahm die ganze Schachtel.
»Hier und geben sie mir Feuer!«, eine zehn Dollar Note wechselte ihren Besitzer. Der Wärter entspannte sich und grinste. Zehn Dollar für eine halbleere Schachtel Camel, nicht schlecht.
Mit zitternder Hand nahm Jimmy Reynolds eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie sich an: »Das ist die erste seit 15 Jahren ...«
»Es ist nicht Ihre Schuld. Als ich merkte, dass ich schwul bin, war meine Mutter sicherlich nicht die erste Person, der ich das sagen wollte. Marcel liebt Sie. Er wollte Ihnen Kummer ersparen ...«
»Nein, er hat Angst vor seiner Mutter ... genau wie ich! Ich habe versagt, kläglich versagt.«
»Sie geben sich die Schuld? Komisch, das hat Marcel auch getan. Muss in der Familie liegen. Aber es war Scott, der Marcel das angetan hat! Weder Marcel noch Sie tragen eine Schuld daran, was passiert ist.«
»Erzähl bitte weiter ...«
Thimo fuhr mit seiner Geschichte fort. Sein erneuter Krankenhausaufenthalt, die Stimmung an der Schule, seine Enttarnung durch Amber, wie er von seiner Mannschaft akzeptiert wurde, die Sache mit der Kantine (an die sich Jimmy sehr gut erinnern konnte, da dies schließlich der Grund für seine vorzeitige Rückkehr aus Europa war) und zum Schluss erzählte Thimo haarklein den gestrigen Tagesablauf mit der Footballmeisterschaft.
»Ihr habt euch also mit Scott gestritten?«
»Nicht wirklich. Wir haben ein paar Dinge klargestellt. Aber von außen konnte es wie ein Streit ausgesehen haben, ja, leider. Und, wie sieht es aus?«
»Willst du eine ehrliche Antwort?«
»Ja! Ich muss es wissen!«
»Verdammt schlecht. Du hast Recht! Du hattest Motiv und Gelegenheit für den Mord. Man hat dich mit Scott streiten gesehen. Ich bin mir fast sicher, dass der wehrte Staatsanwalt all das bereits weiß. Irgendjemand muss ihm diese Informationen zugespielt haben. Ich kann ihn bereits hören: ,Mord aus Rache!`. Wie ich ihn kenne, wird er eine Schlammschlacht veranstalten und er wird Marcel gegen dich aussagen lassen.«
»Kann er das?«
»Oh ja, ohne Probleme. Es gibt im Bundesstaat Maine keine gesetzlich geschützte gleichgeschlechtliche Partnerschaft. Marcel wird aussagen müssen. Außerdem ist er minderjährig. Wir haben nur eine Chance ...«
»Und die wäre?«
»Den wahren Mörder finden!«
6.5. Wie man eine Wiedersehensfeier nachholt
Berlin
»Kann ich mit zu dir?«
»Das brauchst du nun wirklich nicht zu fragen.«
Nico war gerade wieder verschwunden. Nach dem vorläufigen Ende unserer kleinen Lagebesprechung zum Projekt ,Die Errettung von Sven` jagte klein Nico wieder aus der Wohnung. »Wichtige Termine ...« faselte das Energiebündel im Rausgehen, während er gleichzeitig dabei war, mit seinem Handy drei SMS zu versenden.
»Was gebt ihr Nico eigentlich ins Essen? Kaffee? Speed? Extasy?«
»Von allem ein bisschen?«, Timmy grinste, »Du hast Recht, der Kleine wird immer quirliger. Aber was is' nu'? Kann ich mitkommen?«
»Ja doch! Warum fragst du das dauernd?«, verstört sah ich Tim an. Bisher hatte er mich noch nie gefragt, ob er mit durfte. Tim wirkte unruhig und auch etwas unsicher.
»Ok, was ist los?«
»Nichts, gar nichts! Ich pack nur noch meine Sachen ...«
Was für ein Euphemismus. Das nur noch bestand darin, dass Tim als Erstes seine Reiseklamotten, als da wären Wäsche für die letzte Woche zuzüglich seiner Sportsachen, wie Badehose, Handtücher und Trainingsanzug, auspackte und umständlich in die schmutzige Wäsche einsortierte. Als er nach einer Ewigkeit damit fertig war, begann er ein paar frische Sachen zusammenzupacken, wobei er natürlich tausendmal hin oder herüberlegte, welches T-Shit zu welchem Sweatshirt denn besser passen würde. Eine lächerliche dreiviertel Stunde später, traten wir vor die Haustür und setzten uns in Richtung S-Bahnhof Steglitz in Bewegung.
Endlich in meinem Bungalow angekommen, drehte ich als Erstes meinen Heizkörper ein Stückchen auf. Es war kalt geworden. Es war Ende Oktober und wir hatten schon die ersten Bodenfröste gehabt. Herbst in Berlin war so ganz anders als Herbst auf Fehmarn. An der Küste gab es häufig dichten Nebel oder als totales Alternativprogramm heftige Stürme. Eine gute Zeit zum Surfen. Den richtigen Neoprenanzug vorausgesetzt. Im Herbst legte ich immer die besten Stürze hin, um dann über Weihnachten meine geprellten Rippen auszukurieren.
In Berlin wirkte der Herbst wie eine große Schläfrigkeit. Die Natur wurde müde. Zu müde zum Nebel, meistens reichte es nur zu einem feuchten Dunst. Dieser Dunst tauchte zusammen mit der schwachen Herbstsonne alles in ein unwirkliches Licht.
Die Blätter der Bäume auf unserem Grundstück verfärbten sich und leuchteten in allen möglichen Rot- und Brauntönen auf, wenn sie von den gold-gelben Lichtstrahlen der Herbstsonne erhellt wurden. Ein grandioses Naturschauspiel. Aber teilweise halt auch saukalt!
Mir fröstelte und ich hielt meine Finger an den Heizkörper. Tim stand unschlüssig mitten im Zimmer, noch in seiner Lederjacke, die Sporttasche mit seinen Klamotten in der Hand haltend.
»Willst du nicht mal deine Sachen abstellen und deine Jacke ausziehen?«
»Ähm, ja ...«
Unsicher und total umständlich, als wenn er das noch nie gemacht hätte, legte Tim seine Sachen ab.
»Ok, Babe, was ist los?«
»Nix!«
»Ach, nix? Wie interessant? Erst fragst du mich, ob du mit darfst? Dann brauchst du ewig, um deine Sachen zu packen. Hier stehst du mitten im Raum, als wenn du das erste Mal bei mir wärst und jedes Mal, wenn ich frage, was los ist, sagst du ,Nix!` Babe, ich glaub dir nicht.«
Tim flackerte kurz rot auf. Erwischt!
»Ich ... wir haben uns fast eine Woche nicht gesehen ...«, streifte sein Blick ganz unauffällig über mein Bett?
»Ja, stimmt auffallend!«
»Ich habe dich tierisch vermisst ...«, der Blick streifte nicht nur das Bett, er blieb daran hängen. Timmy flackerte erneut rot auf.
»Oh, ich sehe, wo das hinführt. Aber?«
»Sven?!«
»Ja, das ist mein Name.«
»Nein, nicht du ... er ... ich weiß nicht, ob es passend ist, wenn wir ... oder ob du noch böse auf mich bist ...«
»Warum sollte ich böse auf dich sein ...«, es war immer wieder nett, Tim etwas zappeln zu lassen.
»Ich war vorhin wohl nicht so wirklich nett zu dir ...«
»Unfair?«, ich sah Tim lächelnd an, meinen Kopf leicht schräg haltend.
»Möglich ...«
»Zickig?«, ein provozierender Blick von mir.
»Wahrscheinlich ...«
»Zynisch?«, ein diabolisches Grinsen.
»Vielleicht ...«
»Sauer?«, mit den Fingern an meiner Nase reibend.
»Auf jeden Fall!«
»Gekränkt!«, direkt und ohne Maske.
»...«, Tim war sprachlos. Und genau so sprachlos nickte er Zustimmung.
Ich fixierte seine Augen. Der Raum um ihn herum trat in den Hintergrund und wurde überstrahlt von Timmys Aura. Dies war wieder einer dieser Momente, in denen mir schlagartig die Natur meiner Liebe zu ihm in ihrer Gänze bewusst wurde. Es war, als wenn ich das Universum innerhalb einer einzigen Sekunde verstehen würde. Es war ein perfekter Moment.
Meine Liebe wurde in Tim wie von einem Prisma gebrochen und wie Myriaden farbiger Lichtstrahlen reflektiert. Es funktionierte. Es funktionierte, weil es in beide Richtungen wirkte. Ich spürte einfach, dass Tim das Gleiche für mich empfand, wie ich für ihn.
»Oh Mann, hör auf damit ...«, das Zucken brach an Tims rechtem Mundwinkel aus und pflanzte sich über den gesamten Mund fort. Tim musste einfach losprusten und seinen Blick abwenden. Lachend schüttelte er seinen Kopf: »Junge, du machst mich schwach. Ich zick rum und verhalte mich wie ein Arschloch und du? Statt zurückzutreten, ziehst du mir den Teppich unter den Füßen weg. Womit hab' ich dich nur verdient?«
»Oh, du wirst dafür bezahlen müssen ...«, erneut umspielte ein teuflisches Grinsen meine Lippen, »Ich war über eine Woche ohne Mann ... ich hätte mich natürlich nach jemand anderem umsehen können. Ich mein', da war dieser schnuckelige Spraydosenverkäufer ...«
»Untersteh dich!«, mit einem Satz war Tim aufgesprungen, hatte mich gepackt und uns beide auf mein Bett geworfen. »Weißt du, ich hätte ja auch so meine Möglichkeiten gehabt. Da war so ein megageiles Tier im Leistungszentrum. Perfekte Bauchmuskeln und eine Brust, für die man morden könnte. Ich ...«
»Untersteh du dich!«, Tim hatte seinen Griff um mich gelockert, was ich nutzte, um ihn zu packen und auf den Rücken zu drücken. Mit meinen Beinen hockte ich auf seinen Beinen. Meine Arme fixierten seine Arme auf dem Bett. Tim sah mich frech und provozierend an. Sein Zungenpiercing blitzte zwischen seinen Lippen kurz auf. Ich beugte meinen Kopf zu seinem herab.
»Hilfe, ein wildfremder Mann will mich küssen!«
»Erbarmungslos!«
»Hilfe, ich ... hmmm ...«, meine Lippen hatten ihr Ziel erreicht.
»Du hast mir gefehlt!«
»Du mir auch!«
Womit wohl alles gesagt wäre. Meine Lippen berührten erneut seine Lippen. Beide Lippenpaare öffneten sich und gaben unseren Zungen ihren Weg frei.
Es war anders!
Es war besser!
Es war besser und schöner als je zuvor. Ich berührte Tim, wie ich ihn noch nie berührt hatte. Zumindest fühlte es sich so an. Die Küsse waren intensiver als alle, die wir je vorher ausgetauscht hatten.
Langsam und trotzdem ungeduldig pulte ich Tim aus seinem T-Shirt. Sein Körper war frisch rasiert, vollkommen glatt und ohne die Ahnung eines Härchens. Typisch Schwimmer. Meine Hände glitten wie auf einem Luftkissen über seinen Oberkörper. Sie erfühlten jede Erhebung, jede Struktur und sei sie noch so klein: die Wellen seiner Bauchmuskeln, die Kurven seiner Brustmuskulatur, seine Hüften, seine Schultern, seine Schenkel und seine Arme. Es war, als wenn ich mit meinen Fingern eine Landkarte lesen würde. Die Landkarte eines geheimnisvollen, verzauberten Landes.
Tim spreizte seine Arme. Da ich seine Handgelenke festhielt, senkte sich mein Körper auf seinen herab. Meine Brust kam auf seiner Brust zu liegen. Mir wurde schwindelig von dieser Berührung und ich schloss meine Augen.
Tim flüsterte mir etwas in mein Ohr: »Ich will dich in mir!«
Muss ich erklären, was folgte?
Wir hatten Sex. Natürlich. Das war an und für sich nichts Besonderes. Sex hatten wir schon mehrfach gehabt. Aber diesmal war es wirklich anders. Ich wusste zu Anfang nicht warum. Es war absolut eindeutig, dass Tim dasselbe empfand wie ich.
Warum nachdenken? Wir ließen uns fallen und genossen einfach was passierte.
Erschöpft und glücklich lagen wir halb auf, halb nebeneinander, als Tim zu sprechen anfing.
»Weißt du was?«
»Nö? Was denn?«
»Ich weiß ja nicht, wie es dir ging, aber was wir da eben gemacht haben ...«
»Stimmt!«, er brauchte nicht weiterreden. Ich wusste, was er meinte.
»Ich hätte nie gedacht, dass sowas möglich ist.«
»Man soll ja nie nie sagen.«
»Witzbold! Nein, ich habe gerade etwas begriffen?«
»Ach, was denn?«
»Wir sind hoffnungslos ineinander verliebt!«
»Oh Gott! Nur das nicht!«
»Tja leider, aber es ist die Wahrheit!«
»Wie kommst du darauf?«
»Eigentlich ganz einfach. Was wir bisher so gemacht haben ... im Bett meine ich ... also das war immer nur pure Geilheit. Schnell, hart und heftig. Es hat zwischen uns körperlich gefunkt. Du bist einfach 'ne totale Sahneschnitte.«
»Danke für die Blumen ...«
Timmy zeigte ein Haifischgrinsen.
»Außerdem passen wir von unserer Mentalität gut zusammen. Du warst der richtige Mann zur richtigen Zeit. Ich war reif für mein Coming Out und du warst die perfekte Unterstützung. Dann die Sache mit meinem Vater ... sowas verbindet. Aber ...«
»Ich weiß, was du sagen willst. Es war der Reiz des Neuen. Körperlich, aber auch beziehungsmäßig.«
»Mmmmmhhh, genau! Bei meinen Freundinnen wäre das jetzt der Punkt, an dem wir immer Schluss gemacht hätten ...«
»Timmy, red' jetzt keinen Scheiß!«, mein Puls war auf 180. Ein Adrenalinstoß sorgte für Schweißausbrüche.
»... aber bevor wir miteinander Schluss machen würden, würde ich uns eher umbringen!«
»Krass!«
»Und todernst!«, Tim küsste mich zärtlich. »Ich habe dich die letzte Woche vermisst, wie ich noch nie jemanden vermisst habe. Ich habe schlecht geschlafen und dann immer nur an dich gedacht. Mir fehlte die andere Hälfte von dem hier ...«, Tim nahm seinen Anhänger mit der Goldmünze in die Hand, griff nach meinen und fügte beide Bruchstücke zusammen.
»Sven? Ich war mir noch nie so sicher, dass ich wirklich in einen Menschen verliebt bin. Abhängig bin. Hoffnungslos verfallen bin. Und dieser Mensch bist du!«
Ich strich Tim durch seine Haare und über seine Wange. Oh, wie ich doch sein Gesicht liebte. Einfach darin versinken können!
»Mir ging es nicht anders. Du bist einzigartig. Weißt du, wie ich mich die letzte Woche gefühlt habe? Wie an meinem ersten Tag in Berlin! Einsam, allein und verlassen! Das ist mir noch bei keinem Menschen passiert. Nicht mal bei Thimo.«
»Tja und dann der Sex eben ...«
»Was war mit dem?«
»Nichts! Er war phänomenal. Hast du mal auf die Uhr gesehen? Wir waren mehr als drei Stunden beschäftigt ...«
» Was? Mir kam es bestenfalls wie 30 Minuten vor! Allerdings die besten 30 Minuten meines Lebens!«
»Weißt du, was das war? Wir haben uns wirklich geliebt! Nicht einfach nur unsere Geilheit befriedigt. Du hast ja nicht so die Erfahrungen mit wechselnden Beziehungen ...«
»Tja, ich bin halt ein braver Junge!«
» Darüber müsste man nochmal genauer sprechen. Also, was ich sagen wollte. In der Anfangszeit einer Beziehung ist der Sex immer geil. Man ist halt noch total scharf aufeinander. Aber mit der Zeit verliert sich so der Reiz des Neuen. So war es bei all meinen Freundinnen. Ok, kommt natürlich noch hinzu, dass das halt Frauen waren und ich ja eher auf Männer ... egal. Die Tatsache bleibt: Wenn man sich aneinander gewöhnt hatte, wurde es deutlich langweiliger. Mit manchen bin ich anfangs fast täglich ins Bett gestiegen, später dann fast nie.«
»Was willst du mir jetzt eigentlich sagen?«
»Dass es mit dir anders ist. Total anders. Ich wollte nicht deinen Körper, ich wollte dich! Stärker als je zuvor. Ich kann von dir einfach nicht genug bekommen. In dich eindringen, dich in mir spüren, dich zu küssen, mit dir zu verschmelzen.«
»Du hast Recht. Wir sind hoffnungslos ineinander verliebt. Was machen wir denn jetzt?«
»Na, wie wär's mit dem, was wir die letzten Stunden gemacht haben?«
»Gute Idee ...«
Ich sah nur noch Timmys Lächeln, schloss meine Augen und fühlte seine Liebe in mir.
6.6. Tims Reflektionen über die Dialektik von Lust und Vernunft
»Guten Morgen ihr zwei!«
»Kuki?«, müde öffnete ich meine trägen Augen. »Was machst du denn hier?«
»Eigentlich wollte ich mit dir Frühstücken und dann zu Timmy. Aber den zweiten Teil können wir uns wohl sparen«, Kuki spielte amüsiert mit seinem Septumring. »Ihr scheint ja schon ausgiebig Wiedersehen gefeiert zu haben.«
Tim lag neben mir auf seinem Bauch, den Kopf in ein Kissen vergraben und versuchte das Unvermeidliche, das Aufstehen hinauszuzögern. Was Kuki so amüsierte, war, dass es absolut offensichtlich war, was wir die letzte Nacht so miteinander getrieben hatten. Tims Körper war nur halb mit der Bettdecke bedeckt. Vom Hals bis zur linken Pobacke war seine nackte Haut zu sehen. Und auch wenn mir die Decke bis zum Bauchnabel reichte, konnte man sich an fünf Fingern abzählen, dass der Rest meines Körpers genauso nackt war, wie der Teil der oberhalb der Decke lag.
»Ihr solltet übrigens mal Lüften. Es riecht hier, wie in einem Käfig voller rolliger Tiger.«
»Eifersüchtig?«
Ein verträumter, melancholischer Blick von Kuki auf uns beide: »Ja!«
»Kuki, entschuldige! Ich wollte nicht ...«, der Kleine war immer noch in mich verliebt. Ob sich das je ändern würde? »Es war ein blöder Spruch. Ich ...«
Es war mir unangenehm. Ich war mal wieder im Schlusssprung ins Fettnäpfchen gesprungen.
»Ist schon gut. Das Thema hatten wir schon. Shit, ich könnte trotzdem einfach so über dich herfallen!«
»Dann tu es doch!«
Ich zuckte zusammen! Das Kissen neben mir hatte etwas Dumpfes gemurmelt.
»Wie bitte?«, ich drehte mich zu dem murmelnden Kissen und sah Timmy sich blöd grinsend aus der Kopfunterlage erheben.
»Wieso denn nicht? Dein Bett ist doch breit genug ...«
»Das meint der jetzt nicht ernst, oder?«, Kuki zog seine metallischen Augenbrauen schief.
»Ich weiß' nicht so genau. Du kennst ihn doch eigentlich besser als ich.«
Zwei verwirrte Augenpaare schauten Tim irritiert an. Doch der entblößte nur seine Zähne und schenkte uns ein schneeweißes Zahnpastagrinsen.
»Ich glaub ich warte lieber drüben.«, womit das Haus meiner Eltern gemeint war. Welches Kuki sich jetzt schickte auszusuchen. Oder zu flüchten ...
Für ein paar Minuten war ich mit Tim wieder allein.
»Das war jetzt nicht dein Ernst, oder?«
»Was denkst du?«
Oh Mann. Tim überraschte mich immer wieder. War das ein Test meiner Treue zu ihm? Oder wollte er wirklich mit mir und Kuki zusammen ein paar Zärtlichkeiten austauschen?
Angst befiel mich. Mit Timmy hatte ich auf jeden Fall einen wirklich attraktiven, megaschnuckeligen Kerl abgeschossen. Gut, Geschmäcker sind verschieden, manchmal sogar sehr verschieden, aber Tim würde wahrscheinlich nicht die geringsten Probleme haben, innerhalb kürzester Zeit jemand anderen zu finden. Und das machte mir Angst. Könnte ich ihn auf Dauer an mich binden? Gestern noch diese Bekundung ewiger Liebe, doch jetzt eben diese direkte Anmache von Kuki.
»Was denkst du?«, Tim sah mich besorgt an.
»Was sollte das eben?«, meine Reaktion war etwas zu scharf.
»Was?«
»Das mit Kuki! Wenn das ein Scherz sein sollte, dann ...«
»Sven, du bist zu kopflastig!«
»Was soll das denn jetzt wieder heißen?«
»Ich geh' duschen!«, sprach's und verschwand im Bad. Knurr.
Dieser kleine Arsch ließ mich einfach in meinem Bett sitzen und schmoren. Verdammt, je dichter ich Tim kam, je näher er mir ans Herz wuchs, desto komplizierter wurde alles. In der einen Sekunden Sex, dass sich Balken bogen, in der anderen Sekunde Streit. Tim machte mich porös. Er schien das alles auch nicht sonderlich ernst zu nehmen und grinste mich umso stärker an, je mehr ich mich ärgerte.
Ich köchelte immer noch leise vor mich hin, als Tim völlig nackt aus dem Bad kam. Wie beim ersten Mal in diesem Zimmer, hatte er auch diesmal ein Handtuch in der Hand, hopste auf einem Bein und versuchte das Wasser aus seinen Ohren zu bekommen. Nebenbei bemerkt, sein Schwanz stand halberigiert von seinem Körper ab. Lechz! Dieser Mann machte mich definitiv porös.
»Sven, darf ich dir eine Frage stellen?«
»Hm?«
»Was wird zwischen dir und Thimo passieren, wenn ihr euch nach Weihnachten trefft?«
Treffer und versenkt! Die Frage traf mich ohne jede Vorwarnung, drang durch mein Brustbein ein und blieb in der rechten Vorkammer meines Herzens stecken. Ich ließ mich erst mal wieder in mein Bett fallen.
»Ich weiß es nicht ...«, ich wusste es wirklich nicht. »Ich versuch der Frage seit Monaten aus dem Weg zu gehen.«
»Du würdest gerne wieder mit ihm schlafen, oder?«
Wie schaffte Tim es, gleichzeitig so total megalieb und schnuckelig, aber auch gleichzeitig erbarmungslos hart zu sein?
»Ich befürchte mal: ja!«, immerhin war ich ehrlich.
»Das Thema heißt wohl Eifersucht, oder?«, Tim grinste mal wieder, das heißt, er hatte eher so ein hintersinniges Mona Lisa Lächeln aufgelegt. So langsam begriff ich, dass er Dinge, die ihm sehr, wenn nicht sogar extrem wichtig waren, immer mit einem Lächeln unterlegte.
»Red' weiter ...«
»Ok, was denkst du, wird passieren, wenn du oder ich oder wir beide gleichzeitig jemanden entdecken, den wir ... nun sagen wir mal, nicht von der Bettkante stoßen würden. Würdest du mit so jemand nicht schlafen?«
»Uff, Junge, du bist hart drauf! Und das vor dem Frühstück.«
»Du sollst ja deine Curryheringe gleich haben. Aber jetzt beantworte erstmal die Frage. Was würdest du tun?«
»Himmel, das weiß ich doch jetzt nicht!«, ich zuckte wild mit meinen Schultern, um meine Unwissenheit zu unterstreichen. Versuchen konnte ich es immerhin. »Frag mich, wenn es passiert!«
»Das ist grade passiert. Nur dass Kuki zum Frühstück geflüchtet ist.«
»Tim! Shit! Was willst du von mir hören? Dass ich Kuki superniedlich finde? Ja, ich finde Kuki superniedlich! Dass ich gerne mal mit ihm kuscheln möchte? Ja, ich würde gern mal mit ihm kuscheln! Dass ich gerne mit ihm Sex haben möchte? Ja, auch das! Aber, dass ich es wirklich tue? Nein, denn ich habe einen Freund, nämlich dich und nur dich! War es das, was du hören wolltest?«
»Teilweise ...«, Timmy legte sich wieder zu mir ins Bett und streichelte mich sanft, »Was denkst du, gibt es einen Unterschied zwischen Liebe und Sex?«
»Auf jeden Fall, wieso?«
»Was würdest du mit mir machen, wenn ich mit jemand anderem außer dir Sex hätte? Sex, keine Liebe!«
Da musste ich erstmal nachdenken. Eifersucht? Ich kannte das Wort und wusste auch, was es bedeutet. Allerdings hatte ich selbst noch keine Bekanntschaft mit der Eifersucht geschlossen. Bis zum vergangenen Sommer war ich faktisch beziehungsfrei gewesen. Dann war die Zeit mit Thimo einfach zu kurz und gleichzeitig viel zu lang, dass ich mir darüber Gedanken machen konnte. Marcel? War ich auf Marcel eifersüchtig, dass er jetzt der Mann an Thimos Seite war? Nein, eigentlich nicht. Genau genommen freute ich mich für die zwei. Timmy? Bisher hatte mir Timmy keine Gelegenheit zur Eifersucht gegeben. Und ich ihm auch keine.
»Ich weiß es nicht. Ich war noch nie in der Situation. Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde.«
»Das stimmt nicht ganz. Was war auf Rügen?«
Mein Gott, hatte ich die Sache im Pool schon so verdrängt? Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. An die Sache im Pool zu denken, war so wie in einen Abgrund zu schauen.
»Ähm, ich ... aber wir wollten doch alle ...«
»Wieder aller Vernunft?«
»Wieder aller Vernunft!«
»Aus purer Geilheit?«
»Aus purer Geilheit!«
Timmy! Hilfe, was willst du von mir? Ich bekam Bauchschmerzen. Mir wurde tatterig und mein Körper bebte. Tim machte mich nervös. Mehr als nervös, er provozierte eine ausgewachsene Panik in mir. Wollte er Schluss machen? Worauf liefen seine Fragen hinaus?
»Sven, es ist ok. Sieh mich nicht so panisch an«, Tim nahm mich zärtlich in den Arm und hielt mich fest. Allein von dieser Berührung begann ich mich zu beruhigen. »Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich habe mir nur Gedanken gemacht. Das beschäftigt mich schon länger. Genau genommen seit der Sache im Pool. Was machen wir, wenn die Lust in unserem Köpfen die Vernunft kurzschließt. Du weißt doch, was im Pool passiert ist? Wir haben zusammen rumgealbert und plötzlich, peng, standen unsere Schwänze stramm. Und wir wollten es alle!«
»Und wir haben es getan!«
»Wieder aller Vernunft!«, Tim seufzte, »Es könnte wieder passieren ...«
»Und dann ...«
»Das ist, was ich mich die ganze Zeit frage? Mann, im Leistungszentrum waren geile Jungs, teilweise megageile Schnittchen ... mit dem einen oder anderen hätte man sicher was anfangen können. Wohlgemerkt¸ ich spreche in der Konditionalform: hätte können. Da ist nix gelaufen ...«
»Aber du fragst mich, wie ich reagiert hätte, wenn da was gelaufen wäre?«
»Ja, mehr oder weniger.«
Ich lauschte in mich hinein. Ich horchte. Was wäre wenn?
»Das ist jetzt nur unter Vorbehalt. Also, ich denke, ich könnte damit leben. So es nur Sex wäre. Solltest du dich aber in jemand anderen verlieben, muss ich leider ein Blutbad anrichten. Irgendwo hat mein Paps noch eine Axt!«
Für die Axt fing ich mir einen Schlag mit dem Kopfkissen ein.
»Meinst du das ernst?«
»Ich denke schon«, das dachte ich wirklich. »Was soll's. Wir haben beide erlebt, was passiert, wenn wir mit dem Schwanz zu denken anfangen. Ich glaub' nicht, dass ich so willensstark bin, dann wirklich nein zu sagen. Wenn es passiert, dann passiert's. Das kann man nicht ändern. Scheiße wäre es nur, wenn dann immer ein schlechtes Gewissen mitschwingen würde. Das Einzige, was ich fordere, ist Offenheit. Wir sollten uns immer alles sagen. Alles! Versprochen?«
»Jetzt weiß ich, warum ich mich in dich verliebt habe. Du bist einfach einzigartig. Aber, die Bedingung ist ok! Versprochen! Hm, ich glaub zwar nicht, dass ich einen anderen Mann ohne dich alleine anrühren würde, aber ...«
»Sehr nett von dir. Wer sagt denn, dass ich auf die gleichen Kerle wir du stehe?«
»Und was ist mit Kuki?«, Tim grinste fies.
»Tja ...«, ich fiel in das Grinsen mit ein, »... was ist mit Kuki? Das wäre aber mehr als nur Sex! Kuki ist ein Freund. Ich könnte mich in ihn verlieben.«
»Ich auch ... und?«
»Ich denke, dass das Bett ja eigentlich breit genug für drei ist ...«
6.7. Vater und Sohn - und der Versuch etwas richtig zu machen
Portland
»...«, Ellen Camron-Bach hatte es die Sprache verschlagen.
Es hatte an der Tür geklingelt. Sie war hingegangen und hatte geöffnet.
Und dann stand er da. Jimmy Reynolds, älter, reifer, aber noch genauso anziehend wie zur Abschlussfeier der Highschool. Ellens Gedanken sprangen 23 Jahre in die Vergangenheit zurück - in ihre gemeinsame Vergangenheit.
Sind Erinnerungen schwarz-weiß, so wie alte Filme?
Für einen Moment fühlte Ellen ihre Jugend. Ihr Verstand spielte ihr einen Streich. Sie konnte das Aroma der Vergangenheit riechen. Sie hörte die Stimmen, das Lachen, das Flüstern, das Kichern, aber auch die Tränen.
So sehr Ellen diesen Moment festhalten wollte, er verflog so schnell, wie er gekommen war. Zurück blieb die Realität.
»Ähm«, das zaghafte Räuspern von Jimmy Reynolds löste Ellens Stasis.
»Hallo Jimmy!«, was für eine Stimme. Ellen errötete, als sie bemerkte, dass sie schüchtern flüsterte wie ein Backfisch, dessen Vater jeder Sekunde hinter ihr auftauchen könnte, um ihren neuen Freund zu begutachten. Als Ellen dann noch bemerkte, dass sie errötete, lief sie komplett knallrot an.
»Hallo Ellen ...«, Jimmy lächelte. Er hatte Ellens Reaktion durchaus bemerkt, doch war er viel zu höflich, um darauf einzugehen. »Darf ich reinkommen?«
»Ja, natürlich ...«, ein weiteres Aufflackern der Vergangenheit in der sich Ellen noch einmal jung fühlte. In dem Moment, in dem Jimmy Reynolds über die Schwelle ihres Hauses trat, kehrte die Wirklichkeit zurück und die sah alles andere als romantisch aus.
Ellen Camron-Bach führte Jimmy Reynolds in ihr Wohnzimmer. Ellen setzte sich auf die Couch, Jimmy in einen Sessel. Er öffnete seine Aktentasche und holte ein paar Dokumente heraus.
»Wie geht es Thimo?«
»Soweit ganz gut. Er ... sie behandeln ihn gut.«
»Übernimmst du den Fall?«
»Ja ...«, Jimmy Reynolds zögerte, »Ja, ich übernehme den Fall. Insbesondere, insbesondere da er für mich eine unerwartete persönliche Bedeutung genommen hat.«
»Marcel? Dein Sohn ist ein netter Junge. Mein Gott, ich hätte es sehen müssen. Er ist eindeutig der Sohn seines Vaters.«
»Wohl eines schlechten Vaters ...«, Jimmy wirkte niedergeschlagen.
»Sag' das nicht. Ich kenne dich besser. Ich ...«
»Wusstest du, dass dein Sohn schwul ist, bevor er es dir gesagt hat?«
»Ja, aber ...«
»Ich habe es nicht gewusst! Marcel ist einfach so neben mir aufgewachsen und ich habe es nicht bemerkt!«
»Väter merken sowas nicht.«
»Hat dein Mann es gewusst?«
»Natürlich nicht. Erst, als ich es ihm gesagt habe. Ihr seid Männer, ihr verdrängt sowas! Söhne von Vätern sind nie schwul. Sie werden harte Footballspieler ...«
»Das ist nicht fair.«, Jimmy war nicht wirklich sauer. Er kannte Ellens kleine Sticheleien.
»Nein, ist es wohl wirklich nicht. Trotzdem, wie stehst du dazu?«
»Dass mein Sohn homosexuell ist?«
»Ja! Übrigens es heißt ,schwul`!«
»Ok, schwul! Ich will ehrlich zu dir sein. Ich weiß es einfach nicht. Der Gedanke ist neu.«
»Ach komm, was war mit Peter, Chris und Jan? Du erinnerst dich doch noch an die, oder?«
»Oh mein Gott, Jan, die heißeste Schwester unserer Schule. Wir Jungs haben ihn beneidet. Ihr Mädels lagt ihm zu Füßen, stattdessen war er hinter dem Quarterback her. Chris und Peter! Wie konnte ich die vergessen. Erinnerst du dich an das Kiss-In. Der Direktor ist ausgerastet. Wie hieß der noch?«
»Capenter. Dick Capenter war 55 und hatte eine Glatze. Der alte reaktionäre Drecksack wollte die beiden von der Schule schmeißen. Aber wir, linksliberal wie wir damals alle waren, haben ihm eine Lektion in politischer Korrektheit vermittelt.«
»Stimmt. Du hast Recht. Mein Gott, all die Jahre hab' ich daran nicht mehr gedacht. Chris lebt übrigens immer noch in Portland. Er hat das Autohaus seines Vaters übernommen und inzwischen Filialen im ganzen Bundesstaat. Soweit ich weiß, ist er formal verheiratet, lebt aber mit seinem Freund zusammen.«
»Oh, wie verlogen ...«
»Ja, aber nicht von ihm. Ellen, das sind die Vereinigten Staaten, nicht Europa. Unsere Moral ist verlogen und heuchlerisch. Heule mit den Wölfen und alle lassen dich in Frieden dein Ding machen. Hauptsache der Schein bleibt gewahrt«, Jimmy fuhr sich durch seine Haare, »Was ist aus Jan geworden? Er ist doch damals mit dir auf die New York State gegangen.«
»Du weißt es nicht?«, der Schatten eines Schmerzes verdunkelte Ellens Gesicht.
»Nein, was denn ...«
»Jan ist tot. Ich war auf seiner Beerdigung. Er ist 1988 gestorben.«
»Was?«, Jimmy war entsetzt und betroffen.
»Ein Autounfall. Ein Betrunkener verlor die Kontrolle über seinen Wagen und kam auf die Gegenfahrbahn. Frontalzusammenstoß. Jan starb an der Unfallstelle, der Fahrer lebt. Er hatte gute Anwälte und ist auf Bewährung freigekommen.«
Ellen ärgerte sich über sich selbst. Immer wenn ihr dieses Thema über den Weg lief, schlug ihre Verbitterung sofort in Zynismus um.
»Aber wir wollten ja nicht über die Vergangenheit sprechen. Du wolltest mir erzählen, wie du zu deinem Sohn stehst.«
»Ellen, was denkst du? Dass ich mich ärgere, weil Marcel schwul ist? Quatsch, was ich auch immer davon halten mag, ich liebe ihn, ich bin stolz auf ihn und ich freu mich für ihn, dass er jemanden gefunden hat, der ihn liebt - nach allem, was er durchstehen musste ...«
»Du weißt, was mit Marcel los war?«
»Scott?«
»Scott!«, Jimmy wirkte plötzlich alt und müde. Träge strich er sich über seine Augen. »Ich weiß nicht, wie ich meinem Sohn je wieder in die Augen sehen kann. Ich hätte für ihn da sein müssen, als er mich brauchte. Das ist doch die Aufgabe eines Vaters, oder? Ich habe versagt!«
»Nicht nur du! Wir versuchen immer das Beste für unsere Kinder zu tun. Doch letztlich scheitern wir fast immer. Als Jens erkrankte und langsam krepierte, habe ich alle Energie auf ihn verwendet. Auch ich habe meinen Sohn im Stich gelassen. Ich ließ ihn mit der Situation allein klarkommen. Aber er hatte einen Freund, Svenni, ein wirklich netter Junge. Aber selbst das habe ich vernichtet. Kaum hatte ich die Entscheidung gefällt, wieder hierher zu ziehen, fanden Sven und Thimo zueinander. Ja, Sven war plötzlich nicht nur Thimos bester Freund, er war auch sein erster Freund. Du weißt, was ich meine?«
»Ich denke schon ...«
»Die beiden hatten nur einen Monat ...«
»Ich verstehe ...«
»Und jetzt sitzen wir hier und ...«, Ellen musste plötzlich zu einem Taschentuch greifen. Ihr Nervenkostüm war angegriffener, als sie es wahr haben wollte. Kurzeitig hatten die Erinnerungen an die Vergangenheit dafür gesorgt, dass sie die Gegenwart vorübergehend verdrängen konnte. Jimmy gab ihr Zeit, sich zu fangen.
Ellen wischte sich die letzten Tränen weg: »Entschuldige bitte, ich wollte nicht weinen, aber ...«
»Es ist ok!«
»Jimmy, ich muss es wissen, wie steht es um meinen Sohn?«
»Ich wünschte, du hättest nicht gefragt ...«, Jimmy Reynolds holte tief Luft, »Ich bin hundert Prozent davon überzeugt, dass Thimo nichts Schlechtes getan hat. Insbesondere hat er Scott nicht ermordet. Aber ...«, noch eine Pause, in der sich Jimmy sammelte, »... er hat kein Alibi ...«
Ellen erbleichte: »Braucht er denn eins?«
Jimmy seufzte: »Dringend ...«
»Marcel?«, Ellen sah überrascht an Jimmy Reynolds vorbei. Sein Sessel war der Tür abgewandt, weder konnte er seinen Sohn noch dieser ihn sehen.
Jimmy Reynolds versteinerte. Hin- und hergerissen von seinen Gefühlen wusste er nicht, wie er reagieren sollte.
»Ich ... oh, entschuldige bitte, dass ich so reingeplatzt bin. Ich wusste nicht, dass du Besuch hast. Ich wollte nur wissen, ob es etwas Neues von Thimo gibt.«
Der Sessel hatte eine recht hohe Rückenlehne. Von hinten war es Marcel unmöglich zu erkennen, wer in ihm saß.
»Marcel, komm bitte rein. Ich glaube mein Gast kann dir das genauer erklären.«
Jimmy Reynolds riss seine Augen weit auf und starrte Ellen entgeistert an. Er schwieg, aber sein Blick sprach: »Warum tust du das? Ich kann mit meinem Sohn nicht sprechen, noch nicht!«
Ellen erkannte den Blick und wusste ihn zu deuten. Ihre Antwort folgte genau so nonverbal wie die Frage: »Doch du kannst! Und zwar jetzt!«
In der Zwischenzeit war Marcel von der Tür zur Zimmermitte vorgedrungen und umrundete grade den Sessel.
»Paps?«, verblüfft und erstaunt zuckte er zurück.
»Hallo Sohn!«, Ok, da muss ich jetzt wohl durch. Danke Ellen!
»Paps, du verteidigst Thimo?«
»Ich bin Anwalt.«
»Äh, ja, natürlich. Aber was ist mit Mum?«
»Vergiss deine Mutter. Meine Mandanten such ich mir immer noch selbst aus. Und das ist eines der wenigen Privilegien, die mir deine Mutter nicht versagen kann.«
»Hast du mit Thimo gesprochen?«, Marcels Frage klang schüchtern und vorsichtig, genau so, wie man eine Frage stellen würde, deren Antwort man kennt, bei der einem aber die Richtung, in die die Antwort einen führt, nicht gefällt.
»Ja, das habe ich«, Jimmy versuchte die Antwort so neutral wie möglich klingen zu lassen.
»Und?«, dir Frage verrät den Fragenden.
»...«, Jimmy schwieg, aber sein Blick beantwortete die Frage.
»Oh... «, Marcels Augen wurden feucht, » ...ich verstehe.«
»Thimo wollte es nicht erzählen. Erst als ich ihm klar machte, dass sein Leben davon abhängt ... Marcel, warum hast du uns nie etwas gesagt? Warum muss ich von deinem Freund erfahren, dass Scott dich ...«
Jimmy konnte das Wort nicht aussprechen. Marcel konnte: »…vergewaltigt hat?«
»Ja.«
Fast unbemerkt schlich sich Ellen aus dem Zimmer. Dies war ein Gespräch unter vier Augen zwischen Vater und Sohn.
»Marcel, es tut mir leid. Ich hab' als Vater versagt. Ich hab' dich im Stich gelassen, wo du mich gebraucht hättest.«
»Quatsch!«, Marcel blaffte seinen verblüfften Vater an. »Gar nichts hättet ihr tun können. Weder du noch Mum. Rein gar nichts!«
»Aber ...«
»Nichts aber! Was wäre denn passiert? Ohne Zeugen? Eine absurde Anschuldigung einer verweichlichten Schwuchtel gegen den Quarterback und Captain der Footballmannschaft. Die hätten mich umgebracht!«
»Es hätte andere Möglichkeiten gegeben. Eine andere Schule ...«
»Und was wäre da anders? Wäre ich da nicht schwul? Würde es da keinen Scott geben? Außerdem, was denkst du, wie Mum reagiert hätte, wenn sie von der Sache erfahren hätte. Du kennst sie doch. Homosexualität ist ein Problem anderer Leute. Ihr Sohn ist niemals schwul! Für Mum wäre ich doch auch noch ihr lieber kleiner Heterojunge, wenn ich mit einer ganzen Horde Männer im Bett liegen würde.«
Mit jedem Satz steigerte sich Marcels Lautstärke. Am Ende schrie er. Aufgestaute Wut bahnte sich ihren Weg.
»Beruhige dich doch.«
»Ich will mich aber nicht beruhigen! Shit, was für ein Mist. Was für eine Scheiße habe ich durchgemacht«, zur Wut gesellten sich die obligatorischen feuchten Augen. »Aber wenn du Mum fragst, wirst du sicherlich hören, was für eine behütete, glückliche Kindheit ich hatte. Mit einem Selbstmordversuch ...«
Jimmy wurde kreidebleich: »Was? Du hast versucht ...«
»Ja, fuck, zweimal! Weißt du wie das ist, wenn du gegen deinen Willen genommen wirst. Wenn man dir mit aller Gewalt in den Arsch fickt oder einen Schwanz in deinen Mund rammt? Wie man sich dann fühlt? Du kanntest Scott, er war kräftig. Mehr als kräftig. Als er fertig war, habe ich geblutet wie ein Schwein. Ich konnte mehr als eine Woche nicht vernünftig sitzen. Aber das war nur körperlich. Ich wurde von ihm seelisch beherrscht und missbraucht. Ich wollte das nicht mehr! Ich wollte meine Freiheit zurück! Der einzige Weg dahin war eine Packung Schlaftabletten. Wenn Jana damals nicht gewesen wäre ...«
Marcel hatte gedacht, dass er über diese Sache hinweg war. Spätestens nach der Nacht mit Thimo auf dem Baumhaus. Der ersten Nacht, in der er jemandem wirklich sein Herz ausgeschüttet hatte. Aber dem war nicht so. Das Erlebte steckte einfach zu tief und hatte zu schwere Wunden aufgerissen, als dass es von heute auf morgen verschwinden würde. Marcel brach vollends in Tränen aus.
Jimmy zögerte nur einen kurzen Augenblick, dann nahm er seinen Sohn in den Arm. Marcel wehrte sich nicht. Ganz im Gegenteil, er ließ sich von seinem Vater halten und das in mehrfacher Hinsicht. Seit vielen Jahren war dies das erste Mal, dass sich Vater und Sohn so nah gekommen waren.
»Paps, ich liebe dich! Bitte rette Thimo ...«
Wenn das so einfach wäre ... niemand sah den dunklen Schatten, der über das Gesicht des erfahrenen Prozessanwalts lief.
6.8. Auf der Suche nach einem verlorenen Freund
Berlin
»Wo ist Sven?«, Biene sah sich in der Klasse um. Sven I war nicht zu sehen.
Es war der erste Schultag nach den Herbstferien. Der Oktober war fast vorbei. Aber dann, pünktlich zu Ferienschluss, dem Montag, an dem wir wieder unsere Bildungsanstalt aufsuchen mussten, zeigte sich noch einmal ein Abglanz des Sommers. Der Oktober wurde wohl zum letzten Mal sonnig und strahlte golden. Mit fast 21 Grad war er sogar fast warm. Verrückt.
Ich saß auf meinem Platz direkt neben Timmy. Eigentlich saßen wir alle auf unseren Plätzen. Alle, bis auf Sven. Sollten wir uns Sorgen machen?
Meine Gedanken wanderten zu dem etwas merkwürdigen Gespräch zurück, das ich mit Tim am gestrigen Tag geführt hatte. Wir waren übereingekommen, dass Sex und Liebe zwei Paar Hüte sind, obwohl ich noch so meine Zweifel hegte, ob man sowas einfach so beschließen könnte. Tim meinte: »Ja, das geht!«
Nachdem auch ich mich angezogen hatte, gingen wir ins Haus meiner Eltern, wo meine Mum bereits mit dem Frühstück auf uns wartete.
»Morgen ihr zwei Langschläfer.«
»Moin Mum!«, mit der Sitte meiner Mutter morgens einen Kuss auf die Wange zu geben, hatte ich bereits vor drei Jahren gebrochen. »So so, das ist also deine Art jemanden zum Frühstück einzuladen?«
Das war an Kuki gerichtet, der ganz scheinheilig an einem Ohrring spielte: »Wieso, steht hier etwa kein Frühstück?«
»Doch, doch ...«
»Was ist denn noch bei eurer wichtigen Besprechung rausgekommen?«, Kuki, die Neugier in Person.
»Dass Svens Bett wohl breit genug ist ...«, ha, das saß. Kuki starrte uns fassungslos und verwirrt an. Er blickte von mir zu Tim und wieder zurück, erntete aber nur die Gesichter zweier grinsender Honigkuchenpferde.
Die erste Portion Curryheringe musste dran glauben.
»So, freut ihr euch schon auf die Schule?«
»Danke, Mama, dass du uns daran erinnerst ...«, Mum war ja eigentlich ganz nett, aber manchmal hatte sie die Sensibilität eines Vorschlaghammers. Wenn ich eins nicht ausstehen konnte, dann war das, am letzten Ferientag an die Schule erinnert zu werden.
Nach dem Frühstück besuchten wir Dirk und trafen dort auch, wenn wundert„s, Biene. Eigentlich fehlte nur noch Sven. Da Dirk, Biene und Kuki noch nicht im Bilde waren, schließlich war dies unser erstes Zusammentreffen nach der Rügenfahrt, gab es ein kurzes Briefing.
»Rolf, Sascha und André, warum bin ich nicht sonderlich überrascht?«, Biene leicht wütend.
»So richtig überrascht ist wohl niemand von uns«, Dirk war mal wieder ganz der nüchterne Analytiker. »Aber unser lieber Svenni hat trotzdem Scheiße gebaut. Wollen wir ihn wirklich als Freund wiederhaben?«
»Ja natürlich!«, Kuki wirbelte zu Dirk herum, dass seine Piercings klimperten.
»Yap!«, Biene kurz und sachlich. »Plus einen Tritt in den Arsch!«
»Willst du ihn etwa nicht wiederhaben?«, die Frage kam von mir. Dirk hatte noch am wenigsten Stress mit Sven gehabt, deswegen war ich von seiner Reaktion überrascht.
»Ich wollte es doch nur wissen, ok?«, Dirk sah sich schüchtern um. »Man wird doch wohl noch fragen dürfen, oder? Immerhin war das schon etwas heftiger, was er da angerichtet hat. Tim, du hast noch nichts gesagt.«
Etwas abwesend begann Tim zu sprechen. Er hatte sich verkehrt herum auf einen Bürodrehstuhl gesetzt und umklammerte die Rückenlehne mit seinen Armen. Ab und zu versetzte er den Stuhl mit seinen Beinen in Drehung, während er das Muster auf Dirks Teppich betrachtete.
»Ich kenne alle Argumente. Ich hab' mich auch schon mit meinem Svenni hier deswegen angelegt. Mein erster Gedanke war: ,Verreck du Arschloch`. Bis mir dann Nico den Kopf gewaschen hat. Ok ... ich bin an all dem nicht unschuldig. Sind wir alle nicht. Seht euch um! Vor 'nem Jahr waren wir alle noch mehr oder weniger solo. Also ich meine damit keine ernsten Beziehungen oder so. Das hat sich geändert ...«
»Aber holla!«, Dirk demonstrierte Zustimmung.
»Na ihr zwei ward ja auch die Ersten«, Tim sah Biene und Dirk an. »Die Ersten, bei denen man von sowas wie einer echten Zweierkiste sprechen könnte. Und inzwischen? Ihr habt euch immer noch, Kuki hat Holger und ich hab' meinen Inselboy. Und wen hat Sven I? Er ist auf der Strecke irgendwie zwischen die Räder gekommen. Ja, ich denke, wir sollten ihn retten ...«, und dann grinste Timmy, »... und ihm anschließend eine Lektion erteilen.«
»An was denkst du denn du da so?«
»Och, ich bau da auf unsere Kreativität. Irgendwas, das er nie vergisst und uns trotzdem nicht übel nimmt. Strafe muss sein!«
»Sadist!«
»Aber ja doch! Immer gerne zu Diensten ...«
»Oh, Timmy, bitte mach's mir. Peitsch mich aus!«, Dirk stieg auf Tim ein.
Kuki schmunzelte.
»Nee Dirk, das geht jetzt nicht. Meine Peitsche ist noch ganz nass, nachdem ich gestern Nacht meinen Inselboy blutig geschlagen habe und sie erstmal waschen musste. Da musst du dich noch gedulden ... aber ich kann dir ein Nagelbrett anbieten ...«
»Tim-my!«, so langsam musste ich eingreifen. Man kommt ja so schnell in einen schlechten Ruf.
»Schweig, Sklave!«
»Aufhören!«, Kuki krümmte sich vor Lachen.
Ich stand auf und kniete mich vor Timmy hin: »Oh, wird mir mein Meister noch einmal verzeihen, dass ich ihm ins Wort gefallen bin?«, wenn ich ihn schon nicht stoppen konnte, musste ich eben mitspielen.
»Das muss ich mir noch überlegen. Heute Nacht wirst du in deinem Käfig schlafen. Das soll dir eine Lehre sein, mich zu unterbrechen!«
»Danke Meister! Verzeiht ihr mir?«
»Ich kann nicht mehr! Bitte, hört auf!«, Kuki prügelte mit seinen Fäusten auf den Teppich vor sich ein. Ihn hatte ein totaler Lachkrampf erwischt.
»Dein Meister ist gnädig! Ich verzeihe dir!«, Tim versuchte ernst zu bleiben und die Rolle durchzuhalten - es gelang ihm nicht. Die letzten zwei Worte waren kaum verständlich. Krampfhaft versuchte mein Babe, nicht laut loszuprusten, doch der Lachreiz war stärker. Kaum lachte Tim los, durchzuckte es mich ebenfalls. Eben noch vor ihm spielerisch kniend, kringelte ich mich neben Kuki vor Lachen auf dem Teppich.
»Die spinnen doch alle ...«, meinte Biene bierernst, um anschließend selbst die Kontrolle über ihre Lachmuskeln zu verlieren.
Es dauerte ein paar Minuten, bis wir uns wieder beruhigten.
»Das sind ja ganz interessante neue Neigungen, die wir da an dir entdecken«, Dirk schmunzelte immer noch.
»Nicht wahr ...«, Tim lächelte noch einmal, wurde dann aber plötzlich ernst. »Aber wir sollten unser Ziel nicht aus den Augen verlieren. Wir müssen erst einmal Sven finden. Und wenn wir ihn gefunden haben, müssen wir ihn noch dazu bringen, dass er überhaupt mit uns spricht.«
»Naja, spätestens morgen wird er wieder in der Klasse sitzen.«
Wie sich herausstellen sollte, war diese Einschätzung deutlich zu optimistisch gedacht.
»Wo ist Sven?«, Biene sah sich in der Klasse um. Sven I war nicht zu sehen.
Doc Rüdigers Deutschstunde fand ohne Svens Beteiligung statt. Der Unterricht ging sich zäh an. Da unsere lieben Pädagogen immer noch von dem Projektarbeitsvirus befallen waren, bestand ein Großteil des Unterrichts darin, dass die einzelnen Gruppen einen Statusbericht abgaben. So richtig viel hatten wir zu unserem Thema »schwule Jungs« noch nicht zustande gebracht. Eigentlich fast gar nichts. Ich sah Timmy fragend an und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sollten wir wirklich sagen, dass wir uns »mit dem ganzen Körper in unsere Aufgabe gestürzt hätten, um konkrete praktische Erfahrung zu sammeln«?
Tim reagierte; er prustete los.
»Tim möchten Sie mit Ihrem Gruppenbericht fortfahren?«, typisch Lehrer. Sie reagieren wie pawlowsche Hunde und haben die Gesinnung von Diktatoren. Doc Rüdigers Frage war natürlich keine, sondern eine Aufforderung, der man nachzukommen hatte.
»Ok, ähm, ja ... also ... wir ...«, Tim sah mich hilfesuchend an. Ich nickte ihm zu und legte so, dass es kaum jemand bemerkte, meine Hand gegen seine. Tim fasste sich sofort: »Wir haben uns bisher mit dem Quellenstudium beschäftigt. Sie hatten völlig Recht, es ist ein sehr schwieriges Thema. Wir haben uns entschieden das Thema an einem konkreten Beispiel zu präsentieren und anschließen mit Datenmaterial zu untermauern ...«
Doch Rüdigers Stirn kräuselte sich.
»... Sven, der andere, der heute leider nicht da ist, kümmert sich um das Quellenmaterial. Kuki, Sven und ich hatten vor, uns mit ein paar Betroffenen zu unterhalten und haben das auch schon teilweise in die Tat umgesetzt.«
Aus der Ecke von Rolf und André kam ein Raunen.
»Na das klingt doch schon sehr vielversprechend. Habt ihr also schon Kontakt gefunden? Ich schlage sonst vor, dass ihr euch an eine Jugendgruppe wendet. Sowas gibt es.«
Was du nicht sagst, du kleines Lehrerchen! War Doc Rüdiger wirklich so naiv, oder war das nur eine Masche von ihm. Jedenfalls ließ er uns sichtlich beeindruckt vom Haken und wendete sich einer anderen Gruppe zu.
»Sven macht Quellenstudium?«, ähnlich beeindruckt wie unser Lehrer musste ich bei meinem Tim dann doch nochmal nachhaken.
»Warum denn nicht? Mir fiel auf die Schnelle nichts Besseres ein. Außerdem ist er gerade nicht da ...«
»Genau das macht mir sorgen!«
»Mir auch!«
Schulschluss. Wir trafen uns alle vor der Schule, das heißt fast alle.
»Hat jemand was von Sven gehört?«
Auf unserer Schule waren neuerdings Handys verboten. Wer mit einem telefonierend erwischt wurde, war es erst einmal los. Ich hatte so meine Zweifel, ob so eine Beschlagnahme rechtlich überhaupt zulässig war. Auf der anderen Seite wollte ich auch nicht leichtfertig mein Telefon riskieren. Das galt für uns alle, soweit Mann oder Frau über ein Handy verfügte. Jeden Morgen vergruben wir unsere kabellosen Kommunikationskisten tief in unseren Rucksäcken, versicherten uns allerdings vorher gewissenhaft, dass die Viecher auch ausgeschaltet waren und nicht plötzlich lospiepten. Die Teile schalteten wir erst wieder ein, nachdem wir das Schulgrundstück verlassen hatten.
Es soll Schüler gegeben haben, die die geniale Idee hatten, auf dem Schulklo zu telefonieren. Arme unterbelichtete Wesen. Das hat bisher weder mit heimlichem Rauchen, noch mit Kiffen und Poppen(?) geklappt, wieso sollte es mit Simsen funktionieren?
Es hatte also, in Folge fehlender Kommunikationsmöglichkeiten, noch niemand mit Sven gesprochen. Dirk schaufelte sein Handy frei. Meine Pre-Paid-Karte war während Tims Abwesenheit so stark gebeutelt worden, dass sie bestenfalls für ein 3 Sekunden Gespräch gereicht hätte. Außerdem war noch viel zu viel Monat übrig am Ende des Taschengeldes. Wie immer!
Dirk wählte. Wir warteten.
»Nur der AB! Ich versuch es zu Hause.«
Dirk wählte erneut. Wir warteten erneut.
Ein Freizeichen. Noch ein Freizeichen. Jemand hob ab - Svens Mutter.
»Könnte ich bitte Sven sprechen?«
Eine unverständliche Antwort.
»Ach, noch in der Schule? Oh, dann hab' ich ihn wohl grade verpasst.«
Dirk legte auf und sah uns fragend an.
»Svens Mutter meinte, er sei noch in der Schule. Also ist er nicht krank, sondern schwänzt! Das ist nicht gut ... das ist gar nicht gut ... hat jemand eine Idee, was wir jetzt machen?«
»Ja, ich!«
Alle Blicke wendeten sich Timmy zu.
»Ich glaube, ich habe eine Idee, wo er sein könnte.«
»Gut gehen wir hin.«
»Nein! Ich werde gehen! Ich allein! Was denkt ihr, wie er reagiert, wenn wir alle gleichzeitig auftauchen?«
»Du hast Recht ...«, der Gedanke, dass Tim alleine los ging, gefiel mir trotzdem nicht.
»Ok, wir treffen uns bei dir!«
Tim ging los. Wir sahen ihm nachdenklich nach. Es war ein schöner Oktobertag. Die Sonne schien und es war fast warm. Doch wie ich Tim weggehen sah, befiel mich eine eisige Kälte. Ein ungutes Gefühl, nicht wirklich konkret greifbar, aber sehr unheimlich quälte mich.
»Ok, gehen wir?«
6.9. Justitias Blindheit
Portland
Das Gebäude des Portland Criminal Court war ein schmuckloser Betonbau. Ein typisches Werk der frühen 80iger Jahre. Zur Zeit seiner Eröffnung muss er als ein Meilenstein der Architektur gegolten haben. Inzwischen war der Beton brüchig und grau geworden. Moos hatte sich im Mauerwerk festgesetzt und beschleunigte den Verfall. Der Schuppen war einfach hässlich. Seit mehr als drei Jahren lag der Stadtverordnetenversammlung ein Antrag auf Sanierung vor, aber niemand war bereit, sich an dem Projekt die Finger zu verbrennen.
Thimo wusste davon nichts und hatte auch keine Gelegenheit gehabt, die Langweiligkeit des Gebäudes zu bewundern. Der Gefangenentransporter war verdunkelt und hielt direkt in der Tiefgarage des Gerichts. Dort wartete er in einer Zelle bis zur Vorverhandlung. Doch selbst wenn er das Gebäude gesehen hätte, ihn hätte es nicht interessiert. Er hätte es nicht einmal bemerkt.
Thimo hatte andere Sorgen. Man beschuldigte ihn des Mordes. Ihn, einen 16jährigen Schüler. Er soll einen Menschen umgebracht haben. Er, der Gewalt verabscheute. Thimo stand im sprichwörtlichen Sinne neben sich. Er sah, was mit ihm geschah, er registrierte, wie mit ihm verfahren wurde, aber er nahm nicht aktiv daran teil. Es war, als wenn es jemand anderem passieren würde.
Bei aller Unwirklichkeit manifestierte sich trotzdem eine bleibende Erfahrung.
Das Warten - ein alter Begriff füllte sich mit einer neuen Bedeutung. Seit seiner Verhaftung bestand Thimos Haupttätigkeit aus warten. Warten auf seinen Anwalt, warten auf das Essen, das Schlafen gehen, das Aufwachen, das Wachpersonal, warten auf ... einfach alles.
Thimo wusste nicht, ob es ein purer Zufall war, oder ob jemand von der Untersuchungshaftanstalt mitgedacht hatte. Man hatte ihm eine Einzelzelle zugewiesen. Jedenfalls war er darüber dankbar. Auf dem Weg zu seiner Zelle waren ihm eine Reihe sehr eindeutiger Angebote unterbreitet worden. Ob es hier wohl Kondome gibt?
Aber inzwischen war er nicht mehr sicher, ob er nicht doch lieber Gesellschaft gehabt hätte. Die Ödheit und Hoffnungslosigkeit einer Gefängniszelle war einfach nicht vorstellbar.
Thimos Verhaftung war am Sonntagmorgen gewesen. Inzwischen war es Montagmittag und die Vorverhandlung stand bevor. Kurz vor Beginn der Verhandlung instruierte Jimmy Reynolds Thimo nochmals über das, was gleich passieren sollte.
Thimo nahm es zur Kenntnis. Er hörte zu. Die Worte prasselten auf ihn ein, aber drangen nicht bis zu ihm durch. Jimmy Reynolds merkte, was passierte, schloss seine Augen und nickte. Jimmy legte seine Hand auf Thimos Schulter.
»Es ist gut. Wir stehen das durch. Gemeinsam!«
Wo hatte ich diese Worte schon mal gehört?
»Erheben Sie sich!«, der Gerichtsdiener kündigte das Erscheinen des Richters an, genaugenommen erschien eine Richterin. »Fall 1 - Der Staat Maine gegen Thimo Camron-Bach. Den Vorsitz führt die ehrenwerte Richterin Felicitas Cunningham«
»Guten Tag, meine Herren ...«, Felicitas Cunningham ließ sich in ihrer schwarzen Robe auf ihren bequemen Richterstuhl fallen. Sie schien eine sympathische Frau zu sein. Ungefähr Mitte 50, schwarz, mit einer gewagten Brille, hinter der freche und sehr wache Äuglein hervorlugten. Ihre Stimme war warm, aber auch bestimmt. Sie machte jedem sofort klar, wer der Boss im Gerichtssaal war. Sie!
»Ist die Anklagevertretung bereit?«, Richterin Cunningham stutzte, als sie den Ankläger sah und lugte über den Rand ihrer Brille. »Ich bin überrascht, Mr. Tanner? Welchem Umstand verdanken wir es, dass der Herr Oberstaatsanwalt persönlich die Anklage vertritt?«
»Euer Ehren, mein Erscheinen reflektiert nur die Schwere der Tat!«
Die Cunningham verdrehte ihre Augen: »Verfügt der Beklagte über einen Anwalt?«
Jimmy Reynolds erhob sich von seinem Platz: »James Reynolds für den Angeklagten.«
Diesmal hob Richterin Cunningham ihre Augenbrauen aus offener Überraschung an: »Mr. Reynolds, Sie auch vor meinem Tisch? Was wird das hier? Ist der Kleine O.J. Simpson, dass gleich die erste Garnitur der Anwaltschaft des Bundesstaates antanzt?«
»Dieser Fall berührt persönliches Interesse.«
»Ich verstehe. Gut, Herr Staatsanwalt, dann legen Sie mal los.«
»Wir beschuldigen den Angeklagten, Thimo Christian Torsten Camron-Bach, Scott Michael Richardson kaltblütig und vorsätzlich wegen niederer Beweggründe ermordet zu haben. Wir werden darlegen, dass der Angeklagte Motiv und Gelegenheit hatte, seine Tat auszuführen. Die Brutalität und Kaltblütigkeit der Tat verlangt weiterhin, dass in diesem Fall das Erwachsenenstrafrecht zur Geltung kommt. Die Gesellschaft fordert Gerechtigkeit.«
»Es reicht, es reicht ... sparen Sie Ihr Pulver für das Eröffnungsplädoyer. Ok, Sie wollen also mit dem ganz großen Hammer des Erwachsenenstrafrechts zulangen. Ich hoffe, Sie wissen was Sie tun ...«, die Cunningham schüttelte den Kopf und mehr zu sich selbst, aber immer noch laut genug, dass jeder es im Saal hören konnte: »Das kann ja noch lustig werden.«
Und wieder in normaler Lautstärke: »Wie bekennt sich der Angeklagte«
Das war Thimos Stichwort. Der Angstschweiß auf der Stirn, die Hände auf den Schreibtisch vor sich gestützt erhob er sich von seinem Stuhl und stammelte: »Nicht schuldig, Euer Ehren.«
Für einen kurzen Moment kreuzten sich die Blicke von Thimo und Richterin Cunnigham. Ihr Blick durchbohrte Thimo. Sie schien tief in seine Seele blicken zu können. Thimo fühlte sich nackt. Doch plötzlich änderte sich Cunninghams Blick. Er wurde weicher und ein flüchtiges Lächeln huschte über ihre Lippen.
»Der Angeklagte bekennt sich als nicht schuldig! Ins Protokoll aufgenommen. Herr Verteidiger, möchten Sie einen Antrag stellen?«
»Selbstverständlich Euer Ehren. Die Verteidigung stellt Antrag auf vorläufige Freilassung. Die Höhe der Kaution möge das Gericht festsetzen. Weiterhin beantragen wir die Verlegung des Gerichtsortes, da durch die Presseberichterstattung ein fairer Prozess nicht zu erwarten ist.«
»Jimmy, Sie alter Windhund. Wollen Sie mir wieder mal den schwarzen Peter zuschieben. Na gut. Was sagt die Anklage?«
»In Folge der Schwere und Verwerflichkeit der Tat beantragen wir die Verweigerung einer Freilassung auf Kaution. Auch sieht die Anklage keinen Grund für eine Verlegung des Gerichtsortes.«
»Der Angeklagte ist nicht vorbestraft, lebt in sozial gefestigten Verhältnissen und ist ein angesehenes Mitglied der Schülerschaft und insbesondere der Footballmannschaft der Liberty Highschool. Seine einzigen Angehörigen leben in Portland. Die Gefahr einer Flucht, zumal mein Angeklagter noch minderjährig ist, besteht nicht.«
»Ok, der Angeklagte wird auf Kaution entlassen. Die Höhe wird auf 100.000 US-Dollar festgesetzt. Der Antrag auf Verlegung des Gerichtsortes wird abgelehnt.«
»Einspruch!«
»Abgelehnt! Die Hauptverhandlung findet in einer Woche um 10:00 Uhr statt. Die Verhandlung ist geschlossen.«
Das war's? Thimo hatte von einer Vorverhandlung mehr erwartet. Das waren ja bestenfalls 5 Minuten.
Mit einem satten Knall fiel der Richterhammer auf den Tisch. Thimo stand immer noch. Vor Aufregung hatte er völlig vergessen, sich wieder zu setzen. Er sah sich um und fühlte sich, wie in einem falschen Film. 100.000 Dollar? Wie sollte er so viel Geld auftreiben?
»Und nun?«, er hatte seine Sprache wiedergefunden und wandte sich seinem Anwalt zu.
»Nun? Nun werden wir versuchen, das Geld aufzutreiben. Sobald es da ist, bist du erst einmal wieder frei. Dann sehen wir weiter.«
»Aber das ist so viel Geld!«
»Das findet sich schon alles. Keine Angst. Ich werde mich gleich darum kümmern.«
»Was sollte das eigentlich mit dem Gerichtsort?«
Jimmy lächelte: »Pure Taktik und ein altes Ritual. Die Richterin hat meinen Antrag abgelehnt, aber er steht im Protokoll. Sollte die Hauptverhandlung daneben gehen, haben wir einen möglichen Grund für eine Revision.«
»Oh!«, Thimo staunte. »Die Richterin scheint nett zu sein.«
»Ist sie auch. Wir sind schon ewig befreundet, aber täusch' dich nicht. Sie ist fair und absolut unparteiisch. Für Felicitas kommt erst das Recht, dann das Recht, wiederum das Recht und danach lange Zeit gar nichts.«
»Was ist mit dem Staatsanwalt?«
»Oberliga. Ich habe läuten gehört, dass er in die große Politik will. Weg aus der Regionalliga. Er will Senator werden und das geht immer noch am besten über eine schön hohe Verurteilungsquote mit hohen und höchsten Strafen. Dein Fall soll sein ultimatives Sprungbrett werden. Mit anderen Worten, er will auf Biegen und Brechen ein Exempel statuieren. Du bist in sehr stürmische See geraten. Aber lass den Kopf nicht hängen, so schlecht bin ich nun auch wieder nicht.«
Das schien immerhin zu stimmen. Thimo hatte bemerkt, dass Jimmy Reynolds im Gericht eine völlig andere Person war und auch so behandelt wurde. Man ging sehr respektvoll mit ihm um. Alle möglichen Leute waren peinlich darauf bedacht, ihn zu grüßen: Anwälte, Richter, Sicherheitsbeamte, einfach alle. Und alle schienen eine verdammt hohe Meinung von ihm zu haben. Selbst der Staatsanwalt musterte Jimmy sehr aufmerksam. Zu Hause, bei Marcel, war Jimmy eher der arme, schüchterne Ehemann, der unter dem Pantoffel seiner dominanten Ehefrau stand, aber hier im Gericht hatte er eine Aura, eine Ausstrahlung von Sicherheit, Selbstbewusstsein und Stärke, die Thimo beeindruckte. »Doch«, dachte Thimo, »bei ihm bin ich gut aufgehoben.«
Nach der Verhandlung hatte Thimo ungefähr eine halbe Stunde in der Wartezelle des Gerichts gehockt, als sich seine Zellentür wieder öffnete.
»Zurück in die U-Haft?«
»Nein, du wirst entlassen. Jemand hat deine Kaution bezahlt!«
»Oh! Wem bin ich denn 100.000 Dollar wert?«
»Keine Ahnung, mir jedenfalls nicht!«
Nun, für Freundlichkeit wurden die Wachleute des Gerichts sicherlich nicht bezahlt. Thimo wurde aus seiner Zelle durch diverse hell erleuchtete, kalte Flure geführt.
Hinter ein paar Türen warteten bereits Jimmy Reynolds, seine Mutter und, Thimo konnte es vor Freude kaum fassen, Marcel auf ihn. Noch ein paar Formulare und Thimo war frei - vorerst.
»Wie habt ihr das Geld zusammen bekommen?«
Vielsagende Blicke wurden zwischen den drei wartenden Figuren ausgetauscht.
»Sagen wir mal, ein Freund hat sich nicht lumpen lassen«, Ellen schielte verstohlen zu Jimmy herüber, doch der zuckte nur mit seinen Schultern.
»Du weißt, ich bin Anwalt und darf zu anderen Klienten nichts sagen. Ich habe das Geld erhalten und deine Kaution bezahlt, Punkt. Hauptsache, du bist erstmal frei!«
»Pah, frei? Die halten mich für einen Mörder! Ein Mitschüler metzelndes Monster! Habt ihr den Staatsanwalt gehört? ,Wegen der Schwere und Verwerflichkeit der Tat ...` Der Mann macht mir Angst!«, Thimo sah seine Mum hilfesuchend an. »Bitte, Mami, ich will nach Hause!«
»Komm, wir gehen über die Tiefgarage raus, dort steht mein Wagen«, Jimmy Reynolds hatte bereits die Autoschlüssel in seiner Hand. Erneut wurde Thimo durch Gänge, Türen und Fahrstühle geführt. Er schlurfte mit, nahm aber alles nur wie in einem unwirklichen Traum wahr. Teilnahmslos saß er auf dem Rücksitz des Reynoldsschen Wagens und starrte aus dem Fenster. Besorgt betrachtete Marcel seinen Freund.
Der Wagen kurvte durch das unterirdische Parkhaus und erreichte die Rampe zur Straße. Kaum hatte sich die Schranke der Ausfahrt geöffnet, als ein ganzer Pulk Pressefotografen und Reportern auf das Fahrzeug zustürmte.
»Nein, mein Mandant hat zum jetzigen Zeitpunkt nichts zu sagen. Die Ausführungen des Staatsanwaltes sind haltlos und entbehren jeglicher Grundlage. Bitte lassen Sie uns jetzt fahren«, James Reynolds, ganz der Profi.
Im Schritttempo bahnte Jimmy sich seinen Weg durch die Masse. Verstört wie ein Kaninchen, das geblendet vom nächtlichen Scheinwerferlicht eines Autos auf der Straße sitzen bleibt, glotzte Thimo starr und apathisch aus dem hinteren Seitenfenster. Blitzlichter flammten auf.
Thimo kam es vor, als befinde er sich unter einem Vergrößerungsglas. Er fühlte sich auf eine merkwürdige Art nackt und schutzlos. Die Motorwinder der Profikameras schossen endlos ihre Bilder. Doch endlich hatte der Wagen die Menschentraube hinter sich gelassen und schoss mit hoher Geschwindigkeit davon. Thimo lehnte sich zurück und schloss seine Augen.
Thimo schloss die Tür seines Zimmers. Jimmy Reynolds hatte ihn und seine Mutter nach Hause gebracht. Marcel bestand darauf, bei Thimo zu bleiben. Jimmy nickte nur und ging noch ein paar Akten mit Thimos Mutter durch. Marcel und Thimo waren allein.
»Hast du gar keine Angst, mit einem Mörder allein zu sein?«, es sollte witzig klingen, versprühte aber nur die ätzende Schärfe des Zynismus, der sich in Thimo breit gemacht hatte.
»Du bist kein Mörder!«, Marcel sah Thimo ernst an.
»Bist du dir sicher? Alle Welt meint, ich wäre einer!«
»Ich nicht! Deine Mutter auch nicht! Und mein Vater weiß, dass du keiner bist. Er hat viele wirkliche Mörder verteidigt, die sind anders.«
»Marcel?«, der Zynismus war aus Thimos Stimme gewichen.
»Ich habe Angst!«, und machte einer anderen, sehr weichen Stimmung Platz.
Thimo zitterte am ganzen Körper. Marcel sah es und sprang Thimo sofort entgegen. Er nahm ihn in die Arme, hielt ihn und führte ihn zu seinem Bett, auf dem sich die beiden Jungs niederließen. Es war ein umgekehrter Energieaustausch. Endlich konnte Marcel Thimo das an Energie zurückgeben, was Thimo ihm so selbstlos bereit war zu vermachen, als er Marcel aufgefangen und von Scott befreit hatte.
Es ging nicht um Sex, möglicherweise um Intimität, aber vordringlich ging es darum, Thimo die emotionale Stärke zurückzugeben. Alles, was dafür nötig war, war, dass Marcel neben im lag und ihn hielt.
Leise flüsterte Marcel in Thimos Ohr: »Ich weiß, dass du es nicht warst. Du könntest es nicht. Niemals. Du, du Thimo hast mich dazu gebracht, dass ich Scott verzeihen wollte. Du hast mir beigebracht, dass es immer besser ist, seine Probleme zu lösen, anstatt sie zusammenzuschlagen. So jemand kann kein Mörder sein. Thimo, auch wenn ich es schon tausendmal gesagt habe, ich liebe dich und ich werde zu dir stehen, was immer auch passiert!«
»Danke, Marcel, ich ...«, Thimos Stimme versagte. Er wollte noch etwas sagen, aber seine Tränen waren schneller. Es war der emotionale Zusammenbruch, auf den Thimo schon seit seiner Verhaftung gewartet hatte. Jetzt, nachdem der erste Druck auf ihn weg war, schlug er zu.
»Sschhhhh ... es ist gut! Sprich nicht weiter! Aber eins muss ich dir noch sagen. Du fühlst dich jetzt schwach und hilflos. Du bist der Typ, der immer alles alleine durchstehen will. Sven hat von dir in einer Mail erzählt.«
»Sven?«
»Ja, er weiß Bescheid. Aber eins musst du einfach wissen. Du bist nicht allein. Du hast Freunde! Mehr Freunde, als du denkst! Auch hier und in der Schule. Und diese Freunde werden dich niemals im Stich lassen! Niemals!«
Und nach diesen Worten küsste Marcel Thimo die Tränen von seinen Augen.
6.10. Zurück auf Start
Berlin
Bis auf Timmy war die ganze Gang bei mir gelandet. Wir hatten noch einen Zwischenstopp beim Pizzaladen eingelegt und waren anschließend zu mir gefahren. Nachdem wir das absolut Unvermeidliche - die Hausaufgaben - hinter uns gebracht hatten, saßen wir im Haupthaus vor dem Kamin. Der anfangs noch recht warme Tag war ins Gegenteil umgeschlagen. Ein kalter Wind war aufgekommen. Nun ja, schließlich war es fast November. November - ich halte diesen Monat wegen seiner massiv depressiven Wirkung für verschreibungspflichtig, aber auf mich hört ja keiner. Obwohl es noch nicht Abend war, sondern erst später Nachmittag, war es schon recht dunkel. Der Wind wurde stärker. Tiefhängende Wolken ließen einen feinen Sprühregen auf die Erde herabregnen. Mit anderen Worten, es war sauungemütlich da draußen. Mich erschreckte der Gedanke, dass dies die letzte Woche des Jahres mit Sommerzeit war. Eine Woche später und es wäre schon zappenduster da draußen.
In diese ungemütliche Stimmung platzte Nico herein.
»Ist Tim nicht hier?«, Nico schien beunruhigt.
»Nein ...«, die Unruhe steckte mich an, zumal ich schon die ganze Zeit ein blödes Gefühl hatte, »... er meinte, er weiß, wo Sven stecken könnte.«
Dirk erzählte Nico die ganze Geschichte. Dass Sven in der Schule gefehlt hat, das Telefonat mit seiner Mutter und so weiter.
Mit jedem Wort von Dirk wurde Nico nervöser. Seine Augen zuckten wild hin und her. Schließlich sprang er vom Sofa auf und rannte auf und ab.
»Das ist nicht gut ... Maja hat Andeutungen gemacht, dass André etwas vorhat. Wir müssen da hin?«
»Nico, wo denn? Wir haben keine Ahnung, wo Tim hin wollte!«
»Schlachtensee! Die Sonnenwiese am Schlachtensee. Sven kann nur dort sein. Er geht immer dort hin, wenn er Probleme hat ...«
Natürlich! Der Ort, wo alles begann, wo mein Abenteuer Berlin seinen Anfang genommen hatte.
Von meinem Wohnort war es nicht sonderlich weit. Glücklicherweise war weder mein Fahrrad noch das von Dirk auf Rügen beschädigt worden. Mit ein paar weiteren alten Bikes machten sich Kuki, Nico, Dirk, Peter und ich auf den Weg.
Je näher wir unserem Ziel kamen, desto nervöser wurde ich. Das ungute Gefühl, das mich seit Schulende begleitet hatte, wurde stärker und wandelte sich zu Angst. Angst, dass etwas passiert sein könnte.
Nach rekordverdächtigen 13 Minuten erreichten wir den Schlachtensee. Eine dunkle, wogende Masse, aufgepeitscht durch den Wind, der sich inzwischen zu einem Sturm entwickelt hatte, markierte die Wasserfläche. Es war fast dunkel. Von der Rasenfläche, die die Liegewiese ausmachte, waren nur graue Umrisse zu erkennen.
Wir sahen uns um. Nichts. Von der Straße neigte sich die Wiese bis zum Wasser herab. Der See liegt sozusagen in einem Trog. An seinen Flanken standen Bäume, es gab nur eine Stelle ohne Bäume, die Liegewiese.
Wir gingen einen der Wege zum Wasser herab. Die Wege führen zwischen den Bäumen am Ufer entlang. Direkt am Wasser gibt es kleine Minilichtungen, an denen man im Sommer etwas vor der Sonne geschützt ist.
Wir begannen diese Lichtungen abzusuchen. Eine nach der anderen wurde von uns systematisch durchlaufen.
»Mein Gott ...«, die Stimme von Kuki war kurz vor einem hysterischen Überschlag, »Hier, schnell, kommt her!«
Eine eiskalte Hand griff nach meinem Herz. Ich rannte auf die Stimme zu. So schnell ich konnte, warf ich mich dem Ziel entgegen. Trotzdem kamen mir meine Beine wie mit Blei gefüllt vor.
Mit letzter Kraft brach ich durchs Gebüsch in die Lichtung, in deren Mitte Kuki starr und gelähmt vor einem reglosen Körper lag.
»Tim-my!«
Ich stürmte auf den Körper zu. Mit Tränen in den Augen ließ ich mich auf den Boden fallen. In der Lichtung war es dunkel, ich tastete mich vorsichtig vor. Das Gesicht war mit Schlamm und Modder verklebt, den ich erst mühsam abwischen musste...
Es war Sven!
Plötzlich kam Leben in seinen Körper. Ich hob seinen Kopf an. Er hustete. Eine dicke, dunkle Flüssigkeit kam aus seinem Mund. Der Geruch: Blut! Sven schlug die Augen auf. In dieser Finsternis waren sie wie zwei kleine Sonnen, hell und strahlend.
»Sven ...«, ich versuchte etwas zu sagen, aber ein Kloß in meinem Hals unterband weitere Artikulationsversuche.
»Hallo ...«, Sven sprach mich an. Ein weiterer Hustenanfall brachte noch mehr Blut heraus, »Sie haben uns aufgelauert. Tim wollte mit mir reden. Sich bei mir entschuldigen ...«
Ein Hustenanfall. Svens Gesicht war schmerzverzerrt.
»Bei mir! Dabei hab' ich euch doch verraten. Ich bin schuld. An allem ...«
»Nein, das bist du nicht. Wir sind genauso schuld. Wir alle! Sven, wir wollen dich zurückhaben, als Freund!«
»Ich fühle meine Beine nicht mehr.«
»Verdammt Sven, bitte gib nicht auf!«, Panik! Ich konnte nichts erkennen, aber Sven schien ernsthaft verletzt zu sein. Sein Gesicht fühlte sich eiskalt an. Wenn ich doch bloß etwas sehen könnte. Ich schrie: »Verdammt, ruft schnell jemand einen Krankenwagen und die Polizei. Sven ist verletzt. Er hustet Blut ...«
»Mir ist so kalt ...«
»Verdammt, Svenni halte durch ... bitte halte durch. Tu mir das nicht an!«
»Ich mag dich, Inselboy. Du bist für Timmy der absolut Richtige.«
»Timmy? Wo ist Timmy?«
»Da hinten. Sie wollten ihn nicht loslassen, da bin ich dazwischen gegangen.«
»Wer? Sven, wer war das?«
»Inselboy? Weißt du noch, als du mich geküsst hast?«
Scheiße! Meine Panik war kurz davor, in einem Nervenzusammenbruch zu kollabieren. Ich hielt Svens blutigen Kopf in meinem Armen und er erzählte von einem Kuss, den ich ihm vor Jahrhunderten gegeben hatte.
»Ja, ich erinnere mich.«
»Es war der schönste Kuss, den ich je erlebt habe. Svenni, ich ...«, ein unheimliches Zittern durchflutete seinen Körper, »ich wollte das nicht. Ich wollte nur, dass ihr mich respektiert. Mich achtet.«
»Ich weiß! Ich weiß, was du meinst und es tut uns leid. Uns allen. Sven, du bist unser Freund. Der Beste, den man haben kann. Daran wird sich nie etwas ändern.«
»Danke ...«, Sven schloss seine Augen. Er wirkte sehr müde und sehr erschöpft. Plötzlich öffneten sich die Augen wieder, »Inselboy, ich bin zwar nicht schwul, aber ... ich liebe dich!«
Die Lichter seiner Augen erloschen - für immer ...
»Junger Mann ...«, eine Hand berührte meine rechte Schulter. Die Stimme war leise, mehr oder minder einfühlsam und voller Mitgefühl, »Sie können nichts mehr für ihn tun. Bitte lassen Sie ihn los.«
Ich hielt immer noch den leblosen Körper Svens in meinen Händen. Sein Kopf lag auf meinem Schoß. Tränen, die aus meinen Augen gefallen waren, hatten den Schlamm fortgespült. Er sah aus, als wenn er schlafen würde. Ein friedlicher Gesichtsausdruck lag auf seinem Gesicht. Ob er gewusst hatte, dass er im Sterben lag? Wollte er vor seinem Tod noch Frieden mit uns schließen? Vergebung erbitten? Wie sinnlos! Waren wir nicht genauso schuldig gewesen?
Die Hand auf meiner Schulter zog mich von ihm weg, drehte mich um und legte mir eine Decke um die Schultern. Langsam kehrte meine Wahrnehmungsfähigkeit zurück. Eindeutig, ich stand unter Schock. Ich realisierte ganz klar, dass ich total neben mir stand. Mit ausdruckslosem Blick sah ich mich um. Die Szene wurde von Scheinwerfern und Blinklichtern von Polizei, Rettungswagen und Feuerwehr erhellt. Männer und zwei Frauen mit orangen Jacken mit hellen Reflexstreifen jagten hin und her. Neben einem Rettungswagen lag eine Trage. Ein Notarzt schien sich um die Person auf der Trage zu kümmern. Ein anderer Mann hielt eine Infusionsflasche, deren Schlauch zum Arm des Liegenden führte.
»Timmy«, meine Stimme kehrte zurück, lauter denn je.
Ich riss mich vom Rettungssanitäter, der mir gerade die Decke umgelegt hatte los und stürmte auf die Bahre zu. Es war Timmy. Blutverschmiert, aber offensichtlich lebendig, wenn auch schwer verletzt.
»Mein Gott, Timmy! Tu mir das nicht an. Nicht du auch. Bitte, was ist mit ihm. Sagen Sie doch was!«
Der Notarzt wirbelt herum und fauchte mich an: »Verschwinde und lass mich meine Arbeit tun.«
»Verdammt, das ist Timmy, mein Freund!«
»Ja, doch. Und wenn du mich weiter nervst, war es mal dein Freund!«, das Einfühlungsvermögen eines Vorschlaghammers.
»Sie verstehen nicht, er ist mein Freund!«
Offensichtlich begriff der von mir Angesprochene, was ich meinte. Vielleicht lag es an der Art, wie ich es sagte, aber er drehte sich erneut zu mir um, musterte mich und wurde plötzlich freundlicher, sachlicher: »Wir kümmern uns um ihn. Wirklich! Vertrau mir! Ich will dir nichts vormachen, aber es steht nicht gut um ihn. Er scheint innere Blutungen zu haben. Aber, wir ... nein ich kümmere mich um ihn. Ich tue alles, was irgendwie möglich ist. Versprochen!«
Und dieses Versprechen setzte er sofort in die Tat um. Inzwischen hatte mich der Sani von vorhin eingeholt und mir wieder die Decke umgelegt.
»Komm mit, Kleiner!«
Sanft aber bestimmt, führte er mich zu einem Rettungswagen und half mir hinein. Hilfesuchend sah ich ihn an, ein netter, freundlicher Typ, schätzungsweise 25 Jahre alt und vor allem nicht so abgeklärt, wie die älteren Profis. Ihm fehlte noch diese geschäftige, manchmal arrogante Distanz, die sich die professionellen Lebensretter mit der Zeit als Schutzschild zulegten.
»Ist er dein Freund?«, er sah mir völlig offen und mitfühlend in die Augen.
»Nein, mein Freund!«, meine Antwort war sehr scharf, schärfer als ich es beabsichtigt hatte. Auf der anderen Seite, was soll„s? Meine Nerven hatten die Konsistenz von nassem Klopapier, da wird man doch wohl mal unfair sein dürfen?
»Das meinte ich«, er lächelte, wusste er, dass ich ... warum auch nicht?
»Ja, ist er. Scheiße, ihm darf nichts passieren! Verstehen Sie? Er muss durchkommen!«, ich leistete keinen Widerstand mehr. Dazu war ich viel zu müde. Nicht körperlich, aber seelisch. Das bekam ich sogar amtlich. Ein Arzt attestierte mir später einen satten seelischen Schockzustand, der mich für zwei Wochen von den Strapazen des Schulbesuchs befreite. Dass einem ein Freund unter den Händen wegstirbt, stand einfach nicht auf unserem Stundenplan. So ein Pech aber auch ...
»Er wird durchkommen! Der Rettungshubschrauber ist gleich da«, mein mitfühlender Sanitäter ließ keine Zweifel an seinen Worten aufkommen. Er meinte, was er sagte. »Außerdem ist er in guten Händen. In den besten Händen ...«
Sekunden später hörte ich das erste Brummen das nahenden Hubschraubers. Wenig später herrschte ein ohrenbetäubender Lärm, bis das Fluggerät aufsetzte und die Turbine schließlich verstummte. Mit einem Mal ging alles sehr schnell. Timmy wurde eingeladen, die Rotoren liefen wieder an und der Hubschrauber hob ab.
Ich fühlte mich beruhigt. Eigentlich war das eine völlig unsinnige Einschätzung, denn wenn jemand mit einem Rettungshubschrauber transportiert wird, ist die Lage meistens sehr ernst, aber ich fühlte mich trotzdem erleichtert.
Allerdings währte dieses Gefühl nicht lange. Mit aller Macht, so als wenn etwas nur auf diesen Moment gewartet hätte, brach plötzlich die Erkenntnis über das gesamte Ausmaß der Situation über mich herein. Und das war zu viel. Mein Hirn schaltete erst auf Durchzug und schließlich einfach ab.
6.11. Nullzeit
Nullzeit.
Zeit ist eine relative Distanz im Raum. Um von Punkt A nach Punkt B zu gelangen, benötigt man Zeit. Immer...
Ich bewegte mich nicht. Ich blieb einfach an Punkt A. Und somit blieb die Zeit stehen.
Nullzeit.
»Komm ..., es ist spät ...«
Ja, das war es wohl. Aber mir war es egal - scheißegal.
Sag mal weinst du oder ist es der Regen, der von deiner Oberlippe tropft?
Es waren Tränen. Tränen und ein passender Ort dafür.
»Einen Augenblick noch ...«, meine Stimme war kraftlos.
»Schon gut ...«
Ein Friedhof im November. Es war feucht und es war kalt; was auch sonst? Die Kälte kroch mir in die Knochen. Aber auch das war mir egal. Es war alles ziemlich sinnlos. Aber seit wann macht Dummheit Sinn?
Sinn?
Machte überhaupt noch etwas einen Sinn?
Sven war tot.
Bisher war ich in meinem Leben, das gerade mal etwas mehr als 16 Jahre alt war, nur zweimal mit dem Tod konfrontiert worden. Das erste Mal war mit knapp 11. Eine sehr entfernte Großtante war gestorben. Damals hatte ich noch sehr wenig davon mitbekommen, nur das, was mir meine Eltern erzählten. Sie hätte einen Schlaganfall gehabt und war an den Folgen entschlafen. Ich weiß noch, dass ich das Wort witzig fand: entschlafen. Damals war Maikes Kaninchen entlaufen. Das war ein anderes Wort für weglaufen. Ich hingegen hatte häufig verschlafen, meistens dann, wenn ich zur Schule musste. Aber was bedeutete entschlafen?
Wir waren auf der Trauerfeier. Eine merkwürdige Veranstaltung, zu der ich keinen Bezug finden konnte. Ich musste ständig kichern und erntete säuerliche Blicke. Ich hatte meine Tante bestenfalls zweimal in meinem Leben gesehen. Diese Trauerfeier war mehr als merkwürdig. Leute, angebliche Verwandte sprachen »von der guten Seele« und »dass es eine Erlösung für sie sei«. So spricht doch kein Mensch. Aber auf der Feier sprachen alle so. Immerhin gab es gut was zu essen. Seitdem stand für mich fest: Trauerfeier gleich merkwürdiges Gebrabbel, aber gutes Essen.
Das zweite Mal war schon deutlich anders. Es war der langsame, schrittweise Tod von Thimos Vater. Sein Tod war für mich gleichzeitig nah und fern. Ich mochte Thimos Vater. Er war mindestens so ein toller Paps wie meiner, aber das war auch der Punkt, er war eben nicht meiner. Es war das erste Mal, dass ich begriff, dass Tod auch gleich Schmerzen war. Aber es waren nicht meine Schmerzen, es waren Thimos Schmerzen. Und ich denke, ich konnte sie mit ihm nur deswegen teilen, weil ich zur Ursache von Thimos Schmerz letztlich eine gewisse Distanz hatte.
Diese Distanz war es, die mir jetzt fehlte.
Sven war tot - und das änderte in meinem Leben einfach alles.
Sven war in meinen Armen gestorben - und dieses Erlebnis stellte einen Bruch dar, der mich alles durch andere Augen sehen ließ.
Seit seinem Tod hatte ich Albträume. Immer und immer wieder sah ich Svens Gesicht. Ich sah seine Augen, als das Leben aus ihnen wich. Erloschen, wie bei einem Teelicht, das von einem Windstoß ausgeblasen wurde.
Die Blumen auf dem Sarg schienen der Kälte des Wetters und der Kälte des Momentes trotzen zu wollen. Obwohl die Dämmerung bereits eingesetzt hatte, ging von ihnen ein Leuchten aus, ein Reflex von Schönheit und Liebe. Als wenn die sterblichen Überreste, die dort in dieser Kiste verwahrt wurden, die Endgültigkeit des Todes Lügen strafen wollten. Seht her. Hier bin ich. Mir kann Nichts etwas anhaben - jetzt nicht mehr!.
Stiefel und Fäuste hatten es schon gekonnt. Mit genug Hass und Gewalt lässt sich das Leben aus seiner zerbrechlichen Hülle heraustreiben.
Diese Stiefel hatten ganze Arbeit geleistet. Der Befund des Gerichtsmediziners schilderte in sachlich trockenen Worten, wie man das Leben aus einem Menschen entfernen konnte.
Svens Kiefer war gebrochen, offenbar als Folge eines Tritts direkt ins Gesicht. Weiterhin waren mehrere Rippen zertrümmert. Doch die wirklich tödlichen Verletzungen lagen in seinem Inneren. Ein Milz- und ein Leberriss hatten dafür gesorgt, dass Sven innerlich verblutet war, hinzu kam eine zerquetschte Niere und ein Schädel-Hirn-Trauma, ein Trümmerbruch der linken Hand, mehrfache Wirbelkantenabbrüche der unteren Brustwirbelsäule.
Jemand, der so etwas einem Menschen antut, kann kein Mensch sein. Ein Monster, aber kein Mensch.
Was hatte Sven getan, dass man ihm sein Leben derart entreißen musste?
Warum?
Meine Tränen wetteiferten mit dem Nieselregen. Wenn es einen Gott gibt, dann war er wohl im Moment zu ziemlich zynischen Witzen aufgelegt: Die Sonne war zwischenzeitlich soweit gesunken, dass sie am Horizont unter der Wolkendecke hindurchstrahlte. Ein paar rot-goldene Strahlen fielen direkt auf den Sarg und ließen ihn im herbstlichen Dunst überirdisch schön aufglühen - wie kitschig! Bäh!
Erleuchtung? Ich bin weiß Gott kein religiöser Mensch, aber im Anblick dieses Lichtes kippte meine Stimmung. Die Trauer war wie weggeblasen. Ob ich es wollte oder nicht, ich weiß es nicht mehr, aber irgendwie schlich sich ein diabolisches Grinsen auf meine Lippen. Eine Idee machte sich in meinem Kopf breit. Eine sehr, sehr böse Idee.
Tim?
Seit dem Vorfall, ein passender Name war mir noch nicht eingefallen, lag Tim im Koma. Jede Minute, die ich entbehren konnte, verbrachte ich an seinem Bett. Es waren zwei Wochen vergangen, aber an seinem Zustand war keine Veränderung eingetreten. Man hatte ihn von der Intensivstation in die neurologische Abteilung verlegt. Hier lagen viele Komapatienten, aber keiner, der so jung wie Tim war. Seine Prognosen galten als gut, wenn auch niemand sagen konnte, wie lange sein Zustand andauern würde. Immerhin war sein Körper in der Lage, autonom zu arbeiten. Sein Hirn zeigte durchaus Aktivität, manchmal sogar sehr starke Aktivität. Träumte Tim vielleicht? Tim war nicht hirntot, er schien sogar alles andere als hirntot zu sein.
Tim hätte fast Svens Schicksal geteilt. Auch ihm hatte man den Kiefer gebrochen, ein paar Rippen waren ebenfalls Schrott. Aber seine inneren Verletzungen, insbesondere die Blutungen waren nicht so schwer gewesen, als dass er verbluten konnte. Dafür war sein Schädel umso heftiger verletzt worden. Massives Schädel-Hirn-Trauma und Schädelbasisbruch war die Diagnose.
Während seine anderen Wunden und Verletzungen heilten, dämmerte sein Hirn in diesem Zustand zwischen tot und lebendig. Ich nannte es die Nullzeit. Denn so wie Tim im Koma lag, lag auch mein Leben im Koma. Ich führte ein streng strukturiertes Leben: Aufwachen - Frühstücken - Schule - Hausaufgaben - Krankenhaus - Schlafen. Ja, ich ging sogar wieder zur Schule.
Nach sieben Tagen zu Hause mit Attest vom Seelenklempner hielt ich es nicht mehr aus. Die Schule lenkte mich ab. Ich arbeitete sogar am Unterricht mit. Vom Leben um mich herum blieb ich unberührt. Es fand nicht statt - Nullzeit eben.
Warum?
Diese Frage beschäftigt mich Tag und Nacht. Über das Wer machte ich mir keine Gedanken. Ich war mir sicher, die Namen zu kennen. Die Kripo hingegen ermittelte nichts. Keine Zeugen, ein Opfer tot, das andere im Koma, wen soll man da verhaften? Ok, es gab Verdächtige, aber sie behaupteten, es nicht gewesen zu sein und das Gegenteil konnte man ihnen nicht nachweisen.
Dann kam Svens Beerdigung. Nach mehr als drei Wochen war seine Leiche endlich freigegeben worden. Fast die gesamte Schule nahm daran Teil. Die Predigt? Der Pastor verstand einfach rein gar nichts. »Diese feige und schändliche Tat ...«, »Dieses sinnlose Opfer ...«. Nichts als Worthülsen. Dieser fromme Mensch von Pastor hatte ja nicht die geringste Ahnung!
Svens Eltern waren gebrochene Menschen. Eltern sollten nie den Tod ihrer Kinder erleben. Während sein Paps es noch irgendwie schaffte, seine Fassung zu bewahren, brach seine Mum einfach zusammen. Ich konnte sie verstehen, ich hätte nichts lieber getan, als meine Murmeln zu verlieren, aber es gab eine Aufgabe für mich, die mich davon abhielt, durchzudrehen: Tim!
Später auf dem Friedhof, die restlichen Trauergäste waren längst gegangen, stand ich an Svens Grab und sprach mit ihm. Ich bat ihn, mir zu verzeihen. Oder besser, uns zu verzeihen. Denn das war einer der größten Schmerzen, die wir in uns trugen: Schuld. Wir, das waren Dirk, Sabine, Peter, Kuki und ich, fühlten uns schuldig. Und ich weiß, Tim tat es auch, das wusste ich genau.
Kuki harrte mit mir aus. Aber er hatte Recht, es war wirklich schon sehr spät. Ich wollte mich endlich losreißen, als plötzlich dieser Lichtstrahl durch die Wolken brach und wieder alles änderte.
Es war spät - aber es war nicht zu spät, etwas zu tun. Ganz im Gegenteil. Es war Zeit, ein Zeichen zu setzen! Auf meine Art!
6.12. Frühstück mit Ahornsirup
Portland
»Wie fühlst du dich?«, Marcel schmiegte sich sanft an Thimo. Es war ein schöner Morgen, die Sonne schimmerte durch die Fensterläden. Marcel hatte ganz gegen den Willen seiner Mutter die Nacht mit Thimo verbracht. Zum Glück musste seine Mutter davon nichts erfahren. Rein praktisch gesehen war es ihr sogar egal, was ihr Sohn tat, solange er nicht unangenehm auffiel, oder Sorgen bereitete. Was immer das auch für Sorgen sein mögen.
Wenn er tagelang nicht nach Hause kam, was früher häufiger passierte, wenn Marcel auf dem Baumhaus übernachtete, war ihr das egal. Hauptsache, er schwänzte die Schule nicht. Marcels Mum hatte mit ihrem eigenen Ego genug Arbeit, als dass sie sich auch noch um andere Menschen kümmern konnte.
»Gut ...«, Thimo räkelte sich, streichelte über Marcels Körper und freute sich, bei ihm zu sein. Für ein paar flüchtige Momente war der Prozess vergessen. Thimo kostete es aus.
Beide Jungs tauschten Zärtlichkeiten aus. Das Gefühl, eng umschlungen mit seinem Freund morgens aufzuwachen, war für beide immer wieder unbeschreiblich. Selbst wenn einem dabei der Arm einschlafen sollte.
»Du scheinst dich wirklich besser zu fühlen ...«, Marcel grinste, während er seine Hand zwischen Thimos Schenkeln liegen hatte. »Kann es sein, dass du ein klein wenig erregt bist?«
»Ach, naja, du weißt ja. Ich musste im Knast ja meine Unschuld verteidigen ...«
»Du und unschuldig! Pah!«
»Komm, das ist nicht fair. Du bist nach Sven mein wirklich erster Freund. Und ich war dir immer treu. Sam gilt ja nicht. Er hatte Sex mit mir, ich nicht mit ihm.«
»Ja Herr Clinton ... I did not have Sex with this boy!«, mit der anderen freien Hand fuhr Marcel Thimo durch seine Haare. »Ich liebe dich!«
Drei Worte, die alles sagten. Thimo und Marcel begannen mit dem Austausch von Körperflüssigkeiten und verschoben ihr Frühstück um eine gute Stunde.
»Na ihr zwei ... gut geschlafen?«, Ellen war gerade dabei, den Orangensaft für das Frühstück einzuschenken. »Schatz, ich bin froh, dass du nicht mehr in diesem Gefängnis bist.«
»Das hast du gestern auch schon gesagt. Gut, es war nicht das Grand Hotel. Aber es war nur eine Nacht und nicht soooo schlimm. Ich habe schon schlimmer gepennt. Du weißt noch, zelten mit Sven?«
Marcels Mutter lachte: »Natürlich. Trotzdem, ich bin halt glücklich, dass du wieder da bist.«
»Ich auch ...«, dass er sich darum sorgte, wie sein Prozess ausgehen könnte, sagte Thimo nicht.
Man frühstückte. Thimo, Marcel und Ellen langten ordentlich zu. Für einen weiteren kurzen Moment war die Realität vergessen. Sie brachte sich erst wieder mit dem Klingeln der Haustür in Erinnerung. Ellen ging zu Tür und kehrte wenig später mit einem normalen Briefumschlag und einem dreifach gefalteten Dokument in den Händen sowie mit einem irritierten Gesichtsausdruck zurück.
»Was ist es?«, fragte Thimo.
»Eine einstweilige Verfügung«, Thimos Mum setzte ihre Lesebrille auf und studierte das Dokument und den begleitenden Brief.
»Deine Schule hat eine einstweilige Verfügung gegen dich erwirkt, wonach du dich bis auf weiteres dem Schulgelände nicht weiter als 100 Meter nähern darfst. Mit anderen Worten, man hat dir Hausverbot erteilt. Ich lese mal das Begleitschreiben deines Schulleiters vor:«
Sehr geehrte Frau Camron-Bach,
wir alle haben mit Bestürzung den Tod von Scott Richardsen aufgenommen. Leider mussten wir auch erfahren, dass Ihr Sohn Thimo nach Ansicht von Polizei und Staatsanwaltschaft in diesen schrecklichen Fall verwickelt sein könnte. Wir sehen es daher als unsere bedauerliche Pflicht an, unsere Schule, aber auch Ihren Sohn zu schützen und entbinden ihn daher ab sofort von jeglicher Unterrichtsteilnahme.
Hochachtungsvoll
Franklin (Prinzipal)
»So ein Arsch!«
»Mama!«
»Ist doch wahr. Das ist eine Vorverurteilung. Der Typ ist einfach widerlich, schleimig und feist. Mir war der schon bei deiner Anmeldung unsympathisch. Wie ein Gebrauchtwagenhändler ...«
»Jetzt beleidigst du aber die Gebrauchtwagenhändler!«
Marcel sah der kleinen Unterhaltung schmunzelnd zu, hatte aber einen nachdenklichen Blick in seinen Augen: »Ich glaube, meine Mutter ist an deiner Suspendierung nicht ganz unschuldig ...«
Natürlich, wie konnte ich das vergessen? Thimo fiel wieder ein, warum Marcels Eltern ihren Urlaub vorzeitig abgebrochen hatten und nach Portland zurückgekommen waren. Franklin hatte eine Sondersitzung des Schulvorstands angesetzt. Auf der Tagesordnung stand nur ein Thema: Thimo Camron-Bach und wie man diesen Querulanten wieder los wird.
Thimo zuckte mit seinen Schultern, im Moment war ihm seine Schule recht gleichgültig. Er hatte zurzeit ganz andere Sorgen, essentiellere Sorgen. Schließlich ging es um sein zukünftiges Leben.
Thimo beschlich ein unangenehmer Gedanke: Welche Strafe stand eigentlich auf Mord ersten Grades im Bundesstaat Maine? Niemand hatte mit ihm bisher darüber gesprochen. Wenn er es sich genau überlegte, schienen sogar alle diesem Thema penetrant auszuweichen.
»Wie viel Liter Ahornsirup willst du dir eigentlich noch über deine Pfannkuchen gießen?«
»Oh!«, Thimos Teller war bis zum Rand mit Sirup aufgefüllt. Völlig in seine dunklen Gedanken versunken, hatte er den Sirup über seine Pfannkuchen gegossen und gegossen und gegossen. »Oh, ähm, OOPS ...«, vor Schreck ließ er die Flasche fallen. Sie platschte in den Ahornsirupsee. Der zähe, klebrige Saft flog umher und verteilte sich auf allem und jedem in näherer Umgebung.
»Bäh!«, Marcel sprang auf und rannte zur Spüle, um sich das Zeug von den Fingern zu spülen.
Thimo war immer noch in seinen finsteren Gedanken verfangen. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder in die Realität einklinken konnte und überhaupt erst begann, seine Umwelt und die Sirupdetonation wahrzunehmen.
»Thimo, Schatz? Was ist mit dir?«, Thimos Mutter hatte den nach innen gekehrten Blick ihres Sohnes bemerkt und war besorgt. Zwar hatte sie die Sirupflasche und noch ein paar andere klebrige Geschirrteile vom Tisch aufgehoben und war bereits aufgestanden, um ebenfalls zur Spüle zu eilen, doch Thimos Blick hielt sie fest. Ellen stoppte in ihrer Bewegung.
»Welche Strafe steht eigentlich auf Mord?«, Thimo fixierte seine Mutter.
Ellen erbleichte. Hatte sie doch innerlich gehofft, diese Frage nie beantworten zu müssen. Sie bekam weiche Knie und musste sich wieder setzen. Ellen war nicht in der Lage, ihrem Sohn in die Augen zu sehen, geschweige denn, ihm eine direkte und ehrliche Antwort zu geben.
»Wir sind in den U.S.A. und hier ...«, obwohl sie saß, musste sie sich am Tisch festhalten, »... naja, es gibt solche und solche Bundesstaaten. Zivilisierte und ... Maine ist ein ...«
Ellen konnte ihre Emotionen nicht beherrschen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Du brauchst nicht weitersprechen. Ich habe verstanden«, Thimo nahm sein Besteck und begann, seine Pfannkuchen zu essen. Er hatte seine Antwort: Die Strafe für Mord ersten Grades im Bundesstaat Maine war der Tod.
6.13. Der Prozess
»Alles ok?«, Jimmy Reynolds und Thimo hatten hinter dem Tisch für die beklagte Partei Platz genommen.
»Warum haben Sie mir nie das mögliche Strafmaß gesagt?«
Jimmy zog seine Lippen schief: »Ok, ich hätte es dir sagen sollen. Es tut ... ach, was ... scheiße ... ich hab' mich nicht getraut. Ich hab' mich selbst damit beruhigt, dass es jeder eigentlich weiß, der hier lebt. Ich ... kommst du damit klar?«
»Ich weiß es nicht. Todesstrafe, das klingt so weit weg. Irreal ... würden die mich wirklich umbringen? Ich bin gerade mal 16, na gut, fast 17.«
»Ja, würden sie, egal ob du 16 oder 61 bist.«, wenn Jimmy Reynolds vorher noch Skrupel hatte, Thimo reinen Wein einzuschenken, jetzt hatte er sie nicht mehr: »Aber ich verspreche dir, dass es nicht dazu kommen wird! Ok?«
»Ok!«
Wenige Minuten später begann die Verhandlung. Wie schon in der Vorverhandlung führte Richterin Felicitas Cunningham den Vorsitz. Es war zwar die gleiche Richterin, aber sie wirkte anders: ernster, erhabener, möglicherweise einfach richterlicher. Der ganze Gerichtssaal wirkte so. Thimo sah sich um, alles wirkte ernster und schließlich waren da noch die Geschworenen, ernst dreinblickende Männer und Frauen, die über sein Leben entscheiden würden.
Die Geschworenen sahen aus wie ganz normale Leute. Und wie normale Leute so sind, waren sie auch so unterschiedlich. Schwarze, Weiße, Latinos, schüchterne, offensive, einfach alles. Zwei musterten Thimo mit unverhohlener Neugier. Drei andere schienen einen direkten Blickkontakt vermeiden zu wollen und wandten sich immer dann ab, wenn Thimo zu ihnen hinüber blickte.
Der erste Zeuge war der Polizeidetektiv der Thimo verhaftet hatte. Der größte Teil seiner Aussage bestand aus der Schilderung, wie das Opfer aufgefunden wurde und was zu seinem Tod geführt hatte. Scott wurde am gleichen See aufgefunden, an dem schon Thimo niedergestochen wurde. Die Anklagevertretung sparte sich jegliche Polemik. Überhaupt machte der Staatsanwalt einen wesentlich moderateren Eindruck, als noch bei der Vorverhandlung. Nach der Vernehmung des Polizisten sprach Thimo Jimmy darauf an.
»Täusch dich nicht, er testet nur die Geschworenen.«
Schließlich begann Jimmy Reynolds mit seinem Kreuzverhör.
»Detective, eine Sache ist mir noch nicht klar. Sie haben doch am Tatort die Tatwaffe gefunden.«
»Ja.«
Jimmy Reynolds ging zum Tisch mit den sichergestellten Beweismitteln und nahm das dort liegende Bowiemesser in seine Hand.
»Ist dies die Tatwaffe?«, Mr. Reynolds hielt die Waffe dem Detective hin.
»Ja, sie trägt mein Kennzeichen.«
»Wurde die Waffe auf Fingerabdrücke untersucht?«
»Selbstverständlich!«
»Und?«
»Es gab keine.«
Jimmy war verblüfft: »Wie, es gab keine Fingerabdrücke?«, oder besser, er spielte den Verblüfften: »Wenn es gar keine Abdrücke gab, wie sind Sie denn auf meinen Mandanten als Täter gekommen?«
»Wir erhielten einen anonymen Anruf.«
»Einen anonymen Anruf? Wie haben wir das zu verstehen?«
»Um 3:37 Uhr erhielten wir einen Anruf. Der Anrufer meldete einen Mord. Er benannte den Ort und sagte weiterhin, dass wir uns näher mit Thimo Camron-Bach, dem Angeklagten beschäftigen sollten. Er hätte ein gutes Motiv: Rache. Daraufhin sind wir unsere Akten durchgegangen. Der Angeklagte ist vor ein paar Monaten ebenfalls niedergestochen worden, bei unseren damaligen Ermittlungen war der Ermordete einer unserer Hauptverdächtigen gewesen. Leider hatten wir zu dem Zeitpunkt keine Beweise. Wie auch immer, auf der Basis des Rachemotives erhielten wir sofort einen Haftbefehl. Die Sache war absolut klar.«
»Nun, da habe ich so meine Zweifel. Wurden die Verletzungen des Opfers mit den damaligen Verletzungen meines Mandanten verglichen?«
»Nein, wozu?«
»Dazu komme ich gleich ...«, Jimmy Reynolds eilte zu seinem Tisch und holte eine Akte. »Ich habe hier das Gutachten von Professor Doktor Anton Seybold, Inhaber des Lehrstuhls für forensische Medizin an der John Hopkins Universität und vereidigter Sachverständiger. Nach diesem Gutachten stammen die Stichverletzungen des Opfers und die, die mein Mandant vor ein paar Monaten erlitten hatte, von derselben Waffe. Detective, erscheint Ihnen das als Profi nicht merkwürdig? Wie soll mein Mandant in Besitz dieser Waffe gekommen sein? Ein Waffe, die unmöglich seine sein konnte.«
»Vielleicht in einem Kampf?«
»Einem Kampf? Hm, damit wäre wohl der Vorwurf des vorsätzlichen Mordes hinfällig. Dann wäre es Notwehr gewesen!«
»Einspruch! Der Herr Verteidiger verlangt ein Urteil vom Zeugen.«
»Stattgegeben!«
»Ich habe keine weiteren Fragen.«
»Der Zeuge ist entlassen.«
Was war das hier? Thimo kam sich vor, wie in einer Perry Mason Folge. Diese altertümliche TV-Serie, die seine Oma immer so gern sah. Immerhin meinte er, etwas begriffen zu haben. Natürlich musste die Richterin dem Einspruch stattgeben, aber sein Verteidiger hatte einen Punkt angebracht, den die Geschworenen nicht vergessen würden.
Die Vernehmungen zogen sich hin. Da es sich bei allen Zeugen um Personen handelte, die von der Anklage benannt worden waren, kam Thimo meistens nicht gut dabei weg. Die Anklage punktete.
»Mr. Franklin, Sie sind der Prinzipal der Liberty High?«
»Das ist richtig.«
»Können Sie uns etwas über den Angeklagten erzählen. Schließlich ist er ein Schüler ihrer Anstalt.«
»Ja, das ist er.«
»Die Liberty High ist eine private Highschool, und soweit ich informiert bin, auch recht teuer. Zahlen eigentlich alle Eltern die gleichen Gebühren?«
»Das kommt darauf an. Wenn ein Schüler vielversprechende Leistungen zeigt, kann die Gebühr durch unser Förderprogramm für begabte Schüler gesenkt werden.«
»Wie steht es mit dem Angeklagten. Fiel er unter das Förderprogramm?«
»Nicht direkt. Er zeigte zwar vielversprechende Ansätze im Football, aber für eine Förderung reichte dies nicht. Wir haben Thimo aus einem anderen Grund gefördert. Er hat vor kurzer Zeit seinen Vater verloren und wir sehen es als unsere gesellschaftliche Pflicht an, hier ebenfalls stützend einzugreifen.«
Franklin war Thimo schon immer unsympathisch gewesen, von dieser Aussage an verabscheute er ihn. Leise flüsterte er seinem Anwalt zu: »Der Typ lügt. Er hat Mum einen Brief geschrieben. Förderung wegen Football. Genau das stand da drin!«
»Ich weiß. Ich hab' den Brief gelesen. Bringt uns aber nicht weiter, er würde nur sagen, dass er das aus Rücksicht auf Ellen so geschrieben hat.«
Staatsanwalt Tanner war schon ein paar Punkte weiter.
»Sie waren eben etwas zurückhaltend, als es um das soziale Verhalten des Beklagten ging ...«
»Einspruch! Ich wüsste nicht, was das Verhalten in der Schule mit einem Mord zu tun haben sollte.«
»Ich will es anders formulieren. Gab es Fälle von Gewalt, die mit dem Beklagten verknüpft waren?«
»Ja leider, Thimo, der Angeklagte, war in unserer Kantine maßgeblich in einen Streit verwickelt, der in einer Massenschlägerei unter den Schülern endete. Ich mache mir schwere Vorwürfe deswegen. Hätten wir damals schon disziplinarisch eingegriffen, hätte man diese schreckliche Tragödie vielleicht verhindern können.«
»Einspruch! Der Zeuge soll die Fragen beantworten und nicht seine Meinung über Möglichkeiten abgeben.«
»Das sehe' ich allerdings auch so ...«, Richterin Cunningham kam in Wallung. »Herr Staatsanwalt, würden Sie bitte Ihren Zeugen dahin belehren, dass er bei der Beantwortung Ihrer Fragen bleiben soll!«
»Selbstverständlich, Euer Ehren!«
Thimo flüsterte wieder: »Heuchler!«
»Wer?«
»Beide! Zeuge und Staatsanwalt!«
Jimmy Reynolds lächelte Thimo verkrampft zu: »Du hast leider Recht. Aber die bekommen wir auch noch klein. Vertraust du mir?«
»Ja, wieso?«
»Kann ich dich outen?«
Thimo zuckte zurück und wurde etwas bleich: »Warum?«
»Der Staatsanwalt wird es früher oder später sowieso tun. Wenn es von uns kommt, demonstrieren wir, dass wir nichts zu verbergen haben.«
Thimo zögerte, nickte dann aber zustimmend: »Ok!«
Der Staatsanwalt setzte seine Befragung fort: »War das der einzige Fall von Gewalt?«
»Nein, gleich zu Beginn des Schuljahres gab es eine Schlägerei zwischen Thimo und Scott.«
»Sie haben damals aber keinen Grund zum Handeln gesehen?«
»Leider nein, ich konnte ja nicht wissen ...«, Prinzipal Franklin ließ den Satz auf dramatische Weise unvollendet im Raum stehen.
»Ich danke Ihnen.«
Franklin war schon dabei, sich aus seinem Zeugenstuhl zu wuchten, ein Unterfangen, das ihm bei seiner Leibesfülle den Schweiß auf die Stirn trieb, als ihn Jimmy Reynolds ansprach:
»Nicht so schnell, Mr. Franklin. Erlauben Sie mir, ihnen auch ein paar Fragen zu stellen?«
Der fette Franklin betrachtete den eher hageren Jimmy Reynolds wie eine lästige Mücke, ließ sich aber dann wieder auf den Zeugenstuhl plumpsen. Der Stuhl ächzte vor Schmerz.
»Etwas ist mir bei der Geschichte in der Kantine noch unklar. Sie sagten, der Angeklagte sei in einen Streit maßgeblich verwickelt gewesen?«
Franklin nickte selbstgefällig.
»Aber ausgelöst hat er ihn nicht?«
»Er hat ihn provoziert!«
»Wie? Einfach so? Nur zum Spaß? Oder gab es einen Grund?«
Franklins Schweißproduktion nahm sichtlich zu.
»Naja, soweit ich weiß, hat man ihn provoziert ...«, Franklin wusste ganz genau, dass es massenweise Zeugen, sogar objektive Zeugen gab, die den Vorfall exakt schildern konnten.
»Ach, er wurde provoziert? Das klingt aber ganz anders. Was war denn der genaue Anlass?«
War der Zeugenstuhl mit heißen Herdplatten ausgestattet? Man konnte diese Idee bekommen. Franklin ruckelte unruhig hin und her.
»Also, ähm ... naja ... das ist etwas delikat ...«
Hektisch feudelte der Befragte mit einem Taschentuch die Sturzbäche aus Schweißtropfen von Stirn, Wangen und Kinn. Franklin schnaufte. Seine Gesichtshaut bekam hektische, rote Flecken.
»Ist Ihnen das Thema unangenehm? Nun, vielleicht kann ich Ihnen auch weiterhelfen. War es nicht so, dass eine Gruppe von Schülern einen makaberen, diskriminierenden und sogar verletzenden Scherz auf Kosten des Angeklagten gemacht hat?«
Franklin nickte: »Ja!«
»Wie stehen Sie zur Homosexualität?«
»Einspruch! Was hat das mit dem Thema zu tun? Die Verteidigung schweift ab!«
Felicitas Cunningham lugte über ihre Brille: »Das möchte ich auch gerne wissen. Was hat das mit dem Thema zu tun?«
»Die Anklagevertretung hat es selbst aufgebracht, indem es das soziale Verhalten des Angeklagten zur Sprache brachte. Möglicherweise ist der angebliche Täter eher ein Opfer.«
»Hm, ich werde Ihnen noch etwas Luft lassen. Aber kommen Sie zum Punkt. Einspruch abgelehnt! - vorerst ...«
»Also, wie stehen Sie zur Homosexualität?«
»Wie soll ich dazu stehen? Was ist das für eine Frage?«
»Lassen Sie es mich anders formulieren. Ist es an Ihrer Schule üblich, dass homosexuelle Schüler schutzlos den Attacken anderer Schüler - intoleranter, homophober Schüler - ausgesetzt sind?«
»Das ist eine infame Unterstellung!«, die roten Flecken in Franklins Gesicht vereinigten sich zu einer geschlossenen Fläche.
»So? Ist es das? Um es deutlich zu sagen. Eine Gruppe von Mitschülern hat dem Angeklagten ein mit Sperma gefülltes Kondom in seine Suppe geschoben. Ist das richtig?«
»Ja, verdammt ...«
»Der Angeklagte hat den Streit also nicht begonnen? Er hat auch nicht mit der Schlägerei angefangen?«
»Nein, hat er nicht.«
»Und trotzdem haben Sie die verantwortlichen Schüler nicht belangt? Sie haben vielmehr versucht, den Angeklagten von der Schule zu entfernen. Mir liegt ein entsprechendes Schreiben an den Vorstand vor. Ist das Ihre Methode, wie Sie, Mr. Franklin, mit schwulenfeindlichen, intoleranten und homophoben Übergriffen umgehen?«
»Einspruch!«
»Schon gut ... ich ziehe das zurück!«
Jimmy Reynolds ging zu seinem Tisch zurück und zwinkerte Thimo zu. Punktsieg.
»Ist die Verteidigung fertig?«
»Eine Frage hätte ich noch. War Scott, das Opfer, an der Schlägerei oder dem Scherz beteiligt?«
»Nein, soweit ich weiß, war er das nicht.«
»Ich danke dem Zeugen!«
Geschlagen wie ein Hund schlich sich Prinzipal Franklin von der Zeugenbank.
Nach Prinzipal Franklin unterbrach die Richterin die Sitzung für den Tag. Es war schon recht spät geworden und so sah Felicitas Cunningham keinen Sinn darin, mit der Verhandlung fortzufahren. Die Geschworenen waren am ermüden, der eine oder andere gähnte sogar bereits.
Thimo und Jimmy Reynolds saßen zusammen und besprachen den ersten Prozesstag.
»Lief es gut oder schlecht?«, Thimo sah seinen Anwalt fragend an.
»Wir haben ein paar Punktsiege erlangt. Dein Schulleiter ist ziemlich ins Schwitzen gekommen. Außerdem haben wir ihn charakterlich demontiert.«
»Dass ich schwul bin, kam aber sehr versteckt rüber. Eigentlich nur indirekt, ohne mich zu erwähnen.«
»Und trotzdem waren wir ganz offen. Aber täusch dich nicht, das war bisher nur laues Vorgeplänkel. Ich vermute, dass der Staatsanwalt noch einen Trumpf im Ärmel hat, von dem wir bisher nichts wissen.«
Am nächsten Tag stand als Erstes Thimos Footballcoach Skinner auf der Zeugenbank. Für die Anklage war Skinner überraschenderweise ein schwieriger Zeuge. Seine Antworten passten nicht so ganz zur Linie des Staatsanwalts. Dabei war Skinner keineswegs parteiisch. Er war im besten Sinne objektiv. Aber das war offensichtlich eine Qualität, die in einem Gerichtssaal nur ungern gesehen wurde.
»Wie haben Sie auf die Schlägerei Anfang des Schuljahres zwischen Scott und dem Angeklagten reagiert?«
»Ich habe die beiden um den Sportplatz laufen lassen, bis sie ihre überschüssige Energie aufgebraucht hatten.«
»Das war alles? Finden Sie so ein Verhalten normal?«
»Ja, natürlich. Football ist ein Kontaktsport. Was denken denn Sie? Thimo ist ein verdammt guter Spieler und Scott hat das sofort bemerkt. Revierkämpfe wie bei Löwen oder Pavianen. Nichts Spektakuläres.«
Skinner wirkte genervt, für ihn war das das normalste Verhalten der Welt. Er schien sogar fest mit einem Kampf gerechnet zu haben.
»Vielleicht hätten sie diese - wie nannten Sie das noch gleich? - Revierkämpfe ernster nehmen sollen. Vielleicht säßen wir dann nicht da?«
»Einspruch!«
»Angenommen!«
»Moment Euer Ehren, darf ich antworten? Vielleicht erklärt das etwas?«
Felicitas sah zu Jimmy Reynolds. Der überlegte kurz und nickte.
»Gut, der Zeuge möge aussagen.«
»Ich weiß eigentlich nicht, was Sie wollen? Nachdem die beiden die Hackordnung geklärt hatten, waren sie das beste Quarterback/Wide Receiver Duo, das ich je gesehen habe. Montana/Rice mal ausgenommen. Ich hatte sogar den Eindruck, die beiden haben sich mit der Zeit immer besser verstanden. Dass Thimo Scott umgebracht haben soll, ist ausgemachter Unsinn!«
Frustriert schmiss der Staatsanwalt seinen ultrateuren Mont Blanc Kugelschreiber auf die Schreibtischplatte vor sich.
»Keine weiteren Fragen!«
»Das ging wohl nach hinten los!«, Jimmy flüsterte leise, sodass nur Thimo ihn verstehen konnte, verkniff sich aber jedes schadenfrohe Grinsen. Das befand sich dafür auf manchen Gesichtern der Geschworenen.
»Mr. Skinner - Coach - gab es wirklich keinen Streit zwischen Thimo und Scott?«
»Nein, nicht dass ich wüsste! Eigentlich hätte ich eher von Scott noch etwas erwartet ...«
»Wie dürfen wir das verstehen?«
»Einspruch! Wo soll das nun wieder hinführen?«
»Zum Motiv, oder besser, zum Fehlen eines Motivs«
»Abgelehnt! Fahren Sie fort!«
»Nun ja, ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber von einem Tag auf den anderen schien Scott aus seiner Gruppe von Jungs, mit denen er bisher rumhing, ausgeschlossen worden zu sein. Man schnitt ihn sogar. Scott ließ sich daraufhin eine Weile hängen, fing sich aber wieder. Und vollbrachte zusammen mit Thimo für unsere Mannschaft grandioses. Wir wurden Meister! Thimo hatte kein Motiv. Keines, das ich kenne oder sehe. Ich würde eher in Scotts altem Umfeld suchen.«
»Einspruch!«
»Stattgegeben! Der Zeuge wird ermahnt, beim Thema zu bleiben. Herr Verteidiger?«
»Danke, Euer Ehren. Das war sowieso meine letzte Frage!«
»Gut, dann machen wir jetzt Mittagspause. Das Gericht vertagt sich bis 13:00 Uhr! Die Verhandlung ist geschlossen!«
Man ging zu Mittagspause.
»Es sieht ziemlich gut aus?«, Thimo sah seinen Anwalt an, der gerade einen Hamburger verdrückte.
»Ja, zu gut! Ich kenne den Staatsanwalt. Der hat uns eine Falle gestellt und es ärgert mich, dass ich nicht weiß, was für eine Falle es ist. Nun, es kann sich nur noch um seinen letzten Zeugen handeln. Er hat ihn heute Morgen ohne Namen nachgereicht. Naja, wir werden sehen.«
Mit gemischten Gefühlen beendeten Anwalt und Klient ihr Mittagessen und begaben sich zurück in den Gerichtssaal. Die Anklage würde in wenigen Minuten ihren letzten Zeugen befragen.
6.14. Die Rache ist mein ... oder auch nicht!
Berlin
Ich saß mit Kuki bei Tim im Krankenhaus. Die neurologische Abteilung war nicht so kalt und steril wie die Intensivstation des Notfallzentrums. Aber es war ein Krankenhaus und Tim lag nach wie vor im Koma.
»Wie oft willst du noch herkommen?«
So wie Kuki diese Frage stellte, musste er all seinen Mut zusammengenommen haben. Er wusste, dass er einen wunden Punkt bei mir traf. Genau so wie er wusste ich natürlich auch, dass es für Tims Zustand völlig egal war, ob ich mein momentanes Leben zur Hälfte an seinem Bett verbrachte. Morgens Schule, danach Tim. Meine Hausaufgaben erledigte ich neben seinem Bett. Ich hasste Hausaufgaben, aber so ganz ohne Ablenkung wie in Tims Zimmer entstanden die besten und vollständigsten Lösungen, die ich je fertiggebracht habe. Soweit ich meine Hausaufgaben überhaupt je gemacht hatte.
»Solange es nötig ist!«
Kuki hatte meine Antwort erwartet und nickte.
»Gibt es irgendeine Veränderung? Immerhin, er sieht nicht mehr so zugerichtet aus.«
Das stimmte. Seine äußeren Wunden heilten. Sie heilten sogar sehr schnell und gut ab. Die meisten Hämatome waren verschwunden oder kaum noch zu sehen. Hier und da noch etwas grün oder violett. Das war's. Natürlich brauchten die Brüche, insbesondere der der Schädelbasis, ihre Zeit. Aber selbst diese heilten erstaunlich gut.
»Du sagst es. Er heilt. Die Brüche wachsen zusammen. In ein paar Monaten wird man nichts mehr sehen können. Doch ...«
»Er wacht nicht auf.«
»Ja, verdammt! Inzwischen sagen mir die Ärzte sogar, was sie wissen. Ich gehöre ja schließlich nicht zur Familie. Aber seine Mum hat mit ihnen gesprochen. Es ist merkwürdig, aber Tims Hirn scheint zu arbeiten. Nach seinem letzten EEG scheint er zu träumen ...«
»Zu träumen?«
»Ja. Von langen Alphawellen, wie in Tiefschlafphasen bis hin zu den schnellen Wellen der REM- oder Traumphase ist alles vorhanden. Er wacht nur nicht auf ...«
Und das machte mich fertig. Es gab keinen Grund dafür, nicht aufzuwachen. Tims Schädeltrauma war massiv, aber nicht so schwerwiegend gewesen, dass man mit bleibenden Schäden rechnen musste. Es schien fast so, als wenn Tim es vorzog, einfach nicht mehr aufzuwachen. Die Ärzte formulierten es in ihrer eigenen Sprache: Tim litt unter keinem neurologisch-physischen sondern unter einem psychischen Trauma. Dabei ließen die Ärzte außer Acht, dass ich mindestens genauso litt. Wie gerne hätte ich es vorgezogen, mein Hirn einfach ebenfalls auf Durchzug zu schalten, oder in einen nicht enden wollenden Traum zu entschwinden. Einen Traum, in dem ich mit Tim zusammen sein konnte, ohne Angst und ohne Furcht und in dem Sven noch lebte.
»Willst du drüber sprechen?«, Kuki sah mich sorgenvoll an.
»Ich wüsste nicht über was ...«
»Huhu, Svenni, du sprichst mit mir, Kuki, und nicht mit einem der Weißkittel! Also, wem willst du etwas vormachen?« Ein müdes Lächeln entwich meinen Lippen. »Dir wohl niemals. Was willst du wissen?«
»Was hast du vor?«
»Wie meinst du das?«
»Das weißt du ganz genau!«, Kuki spielte mit seinem Nasenring. Inzwischen hatte ich mitbekommen, dass er das immer tat, wenn er über etwas intensiv nachdachte. »Also... ich vermute mal so ins Blaue, dass wir beide ungefähr die gleichen Leute für all das hier verantwortlich machen, oder?«
Ich sah Kuki schräg an, wiegte meinen Kopf hin und her und ließ einen verächtlichen Grunzlaut meinen Lippen entweichen.
»Du willst dich doch bestimmt an ihnen rächen, oder?«, Kukis Lächeln war das ernsteste Lächeln, das ich je bei einem Menschen gesehen habe. Sein Blick perforierte mich. Er schien meine Gedanken lesen zu können.
»Möglicherweise ...«, ich versuchte mehr oder weniger vage zu bleiben.
»Ich bin dabei!«, umso entschlossener war Kuki. »Aber ...«
»Was aber?«
»Keine Gewalt!«, Kuki sah noch ernster aus. Wenn das überhaupt noch möglich war. Sein immer leicht amüsiert wirkendes Grinsen war völlig verschwunden. Kein Lächeln, nicht mal ein leises Zucken der Mundwinkel. Ich hatte Kuki vorher nur einmal so ernst gesehen. Es war der Moment gewesen, an dem er mir gestand, in mich verliebt zu sein ...
»Du denkst, ich will diese Arschlöcher kranken- oder leichenschauhausreif prügeln?«
»Der Gedanke war mir gekommen ...«, sein Schmunzeln kehrte zurück.
»So 'ne geile, coole Rachenummer mit Baseballschlägern? Oder besser: Wir besorgen uns 'n paar Knarren. Die schieben wir ihnen in die Fresse. Das muss doch absolut verschärft sein zu sehen, wie die sich vor Panik in die Hose pissen. Und wenn der erste der Schweine sein Hirn erst in der Landschaft verteilt hat, wird sich der Rest auch noch in die Hose scheißen!«
»Sven ...?«, Kuki war kreidebleich geworden. Genauso schnell, wie sein Lächeln wiedergekehrt war, war es wieder verschwunden.
»Nicht? Keine gute Idee? Hm, ich hab' wohl zu viele schlechte Computerspiele gespielt ...«, ich verzog meine Lippen zu einem resignierten, müden Lächeln. »Du hast ja Recht. So 'ne Nummer ist uncool. Außerdem wären wir dann nicht besser wie die. Aber ...«, meine Augen verengten sich zu Schlitzen, »... dass diese Monster ein klein wenig von den Schmerzen erleben sollten, die Sven und Tim erlitten haben, wäre doch nur gerecht, oder? Ich will die im Knast sehen! Ich will, dass die Kerle begreifen, was sie getan haben! Die scheiß Typen haben Sven umgebracht! Verdammt Kuki! Sie haben ihn einfach totgeprügelt! Und Tim ... mein Gott, Tim ...«
Mein Blick ging zu Tims Bett und blieb bei seinem Gesicht hängen. Tim schien einfach nur zu schlafen. Sein Gesicht sah so unendlich friedlich aus, fast glücklich. Plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals. Mehr und mehr zog er sich zu. Ich bemerkte, dass ich beim Schlucken Probleme bekam. Als ich weitersprach, klang meine Stimme belegt, leise und gequält.
»Sieh ihn dir an, Kuki, sieh ihn dir an!«, der Anblick tat weh. Oder nein, er schmerzte, es schmerzte körperlich. Der Kloß im Hals hatte sich so weit vergrößert, dass er wie ein Zementklotz auf meiner Brust lag. Das Atmen begann mir schwer zu fallen.
»Timmy ...«
Und dann passierte es. Es passierte das, was ich seit zwei Wochen erwartet hatte. Da ich aber im Moment nicht damit rechnete, überkam es mich völlig unerwartet. Es, das war der seelische Zusammenbruch. Es war der Bruch meiner emotionalen Schutzmauer, die bisher verhindert hatte, dass ich wirklich über alles nachdenken und trauern konnte. Aber in diesem Moment begriff ich wirklich, was wirklich geschehen war. Meine Augen öffnete ihre Schleusen und ich weinte und ich trauerte.
Die Traurigkeit, der Schmerz, die Beklemmung. Auf dem Friedhof war sie nicht wirklich gewesen. Oder, doch, es war Trauer gewesen, aber von einer anderen Art. Nicht real. Aber jetzt, das war real.
Ich strauchelte. Meine Beine gaben nach und ich drohte hinzufallen. Doch Kuki fing mich auf.
»Sven ...«, Kukis Stimme drang leise zu mir durch. Für einen Moment musste ich wohl doch abgeschaltet haben, denn ich fand mich in seinen Armen wieder. Er hatte meinen Kopf vorsichtig auf seine Brust gelegt und sah mir von oben ins Gesicht. Auch seine Augen wirkten etwas verquollen.
»Kannst du endlich loslassen?«, Kuki flüsterte. Seine Stimme hatte eine nie für möglich gehaltene Zärtlichkeit. Kuki streichelte mir tröstend durch meine kurzen Haare, über meine Wangen, er wischte meine Tränen fort und, obwohl Tim keine drei Meter von uns im Koma lag, ließ ich es geschehen.
»Ja ...«, verheult, aber erleichtert lächelte ich Kuki an. Er war ein echter Freund, jemand, der im richtigen Moment für einen war, »... Kuki? Was grinst du so hintersinnig?«
Kuki grinste wie ein Honigkuchenpferd.
»Wie sehr hab' davon geträumt, dich mal so in meinen Armen zu halten ...«, der Kleine strahlte mich gleichzeitig glücklich und traurig an, »aber ... du gehörst zu Tim. Mehr denn je ... wenn er wieder aufwacht, dann lass ihn niemals wieder los. Hast du mich gehört? Niemals!«
»Ja ... wenn er aufwacht ...«
Kuki schreckte auf: »Sag' sowas nicht! Tim wird aufwachen! Er muss! Denk' niemals etwas anderes! Hast du gehört? Niemals!«
Ich nickte und schwieg. Für einen Moment schloss ich meine Augen und genoss es, an Kuki gelehnt von ihm gestreichelt zu werden.
»Kuki?«
»Ja?«
»Bitte küss mich!«
Und so küsste mich Kuki. Und ich küsste ihn. Es war ... hm, ... geil! Kuki und Tim - zwei Variationen eines Themas. Tim war die bodenständige, die realitätsbezogene Version: grundehrlich, kraftvoll, körperhaft. Bei Tim spürte man deutlich seine Maskulinität, eine fast schon erdrückende Männlichkeit, körperlich, aber auch geistig.
Kuki hingegen war scheinbar immer losgelöst und etwas realitätsfern. Kuki war durchaus maskulin. Mit seinen ganzen Piercings versuchte er richtig kerlig zu wirken. Es blieb beim Versuch, denn er blieb einfach ein schnuckeliges Kerlchen. Wenn Kuki einen berührte, dann war das anders - bewusster. Je sanfter und zärtlicher er einen berührte, desto intensiver war die Erfahrung. Kuki war das totale Gegenteil von Tim, quasi seine Komplementärfarbe.
Es mag vermessen klingen, aber ich wünschte, ich hätte beide haben können.
»Es ist schwer von dir loszukommen«, Kuki seufzte, »Kaum hab' ich mich widerwillig mit dem Gedanken abgefunden, dass du und Timmy ... und dann sowas ...«
Kuki schüttelte seinen Kopf, sein Metall klimperte wie ein Glockenspiel.
»Nein!«, Kuki versteifte sich und rückte von mir ab, »Ich will die Situation nicht ausnutzen ... ich werd' nicht als Seelentröster Timmys Platz bei dir erschleichen!«
»Das tust du auch nicht, ich weiß, dass du das nie tun würdest.«
»Bist du dir da so sicher?«
»Ja! Ich glaube, ich kenn' dich da besser als du dich selbst. Das würde gegen alles stehen, was du als Freundschaft definierst. Was ist eigentlich mit Holger?«
Kukis Gesichtszüge erschlafften vor Ernüchterung: »Frag nicht ... es, es sollte wohl nicht sein ...«
»Oh ... da bin ich wohl in ein Fettnäpfchen ...«, und zwar im Schlusssprung.
»Vergiss es. Die Sache ist schon mehr als eine Woche her. Naja, du hast dich ja quasi aus dem Tagesgeschehen ausgeklinkt.«
Ich suchte einen anderen Gedanken und fand einen; einen, bei dem ich schmunzeln musste.
»Was?«
»Ich musste gerade an etwas denken, was Tim gesagt hatte... über dich!«
»Über mich? Was denn?«, Kuki machte große Augen.
»Weißt du, was er meinte, als er sagte: ,Dass mein Bett breit genug ist!`?«
In Kuki Augen leuchteten Fragezeichen auf: »Was?«
»Du erinnerst dich an Tims und meine kleine Auseinandersetzung? Als du bei uns morgens reingeplatzt bist?«
»Ja ...«, ein fragender Blick.
»Wir haben darüber diskutiert, was passieren würde, wenn einer von uns Lust auf jemand anderen verspürt. Sowas passiert ...«
»Oh ja ... und?«
»Dann passiert es eben. Hauptsache wir, also Timmy und ich, sind immer ehrlich zueinander. Wenn einer damit nicht klarkommt, dann muss er es sagen.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«, in Kukis Augen leuchteten immer noch die Fragezeichen.
»Du warst der Anlass für die Diskussion ...«
Eigentlich hatte das Metallkerlchen sonst nicht so eine lange Leitung. Allerdings vermutete ich, dass die momentane Naivität eher ein Schutzreflex war. Kuki wollte nicht wirklich wissen, worauf das Ganze hinauslief.
Ich grinste: »... und außerdem kamen wir noch zu dem Schluss, dass in meinem Bett durchaus noch Platz für eine dritte Person sei.«
»Oh!«, etwas seltenes geschah: Kuki lief knallrot an.
6.15. Code "Blau"
Kuki hatte mir gut getan. Und das in mehrfacher Hinsicht. Zum einen war es gut, dass er genau in dem Moment bei mir war, als mein Nervenkostüm schwächelte. Zum anderen ... nun, er bestätigte meinen Verdacht. Ich mochte den kleinen Kerl. Ich mochte ihn mehr, als für einen normalen Freund üblich. Wenn Tim nicht wäre ...
Aber das war kein Thema. Ich hatte Tim. Und daran durfte sich auch nichts ändern.
Verdammt! Timmy, komm endlich wieder zu dir! Du verdammtes Arschloch kannst mich nicht so sitzen lassen! Was soll ich denn ohne dich machen?
Aber er wachte nicht auf. Ich saß neben seinem Bett. Das Zimmer war dunkel. Die Dämmerung setzte sehr früh ein, schließlich war es Mitte Herbst und die Uhren waren bereits auf Winterzeit umgestellt worden.
Es war dunkel, aber ich gewöhnte mich an diese Dunkelheit. Ich saß auf meinem Stuhl und betrachtete Tim. Das langsame und gleichmäßige Heben und Senken seiner Brust. Das Geräusch der Luft, wenn er sie einsog und wieder ausatmete. All dies hatte ich schon hunderttausendmal gesehen, gehört und bewundert. Allerdings waren es bessere Zeiten gewesen. Zeiten, in denen ich bei Tim lag und er wirklich nur schlief.
Schlafen ...
Man hätte meinen können, dass Tim wirklich nur schlief. Das Einzige, was diesen Eindruck zerstörte waren die medizinischen Monitore, die still in der Dunkelheit des Zimmers vor sich hin glimmten und zackige Kurven auf ihre Bildschirme zeichneten. Die Signaltöne hatte man abgeschaltet und so blieb nur ein kaum wahrnehmbares Surren der Monitore: EKG - kräftig und regelmäßig, Puls normal, Sauerstoffsättigung des Blutes normal, Atmung normal.
Obwohl die Monitore farbige Kurven zeichneten, hatte das von ihnen ausgesandte Licht einen bläulich, fahlen Schimmer, der allem, auf das es fiel, eine fast schon gespenstische Aura verlieh.
Tim mutierte zu einer Marmorfigur. Der Schattenschlag der Dämmerbeleuchtung ließ seine Konturen kontrastreich hervortreten. Tim sah wirklich aus, wie eine Skulptur von Michelangelo: unheimlich vital und körperhaft, aber gleichzeitig auch kalt und unwirklich.
Ich konnte meinen Blick nicht abwenden und versank vollends in diesem Anblick. Es war, als wenn ich Tim so das erste Mal sehen würde, dabei hatte ich die letzten Abende, eigentlich fast alle Abende, neben ihm verbracht. Doch diesmal war es anders. Mein Blick wurde festgehalten, ich wurde geradezu hypnotisiert.
Kein Wunder also, dass ich die Stimme nicht gleich hörte, die mich aus dem Dunkel einer Zimmerecke ansprach.
»Das ist Tim?«
Ich schreckte auf, oder besser, ich zuckte zusammen. Völlig in meinen Gedanken versunken jagte mir diese unerwartet plötzlich auftauchende Stimme einen verdammten Schrecken ein. Mein Kopf fuhr in Richtung der Stimme herum. Ich sah nichts.
»Hallo?«, nicht laut, mehr ein ängstliches Flüstern.
»Entschuldige ... du musst Sven sein, stimmt's?«
Erst jetzt bemerkte ich, dass es eine weibliche Stimme war, die da sprach. Aus der dunklen Ecke des Zimmers schälte sich ein Schatten heraus, der näher kam. Als er den spärlich ausgeleuchteten Bereich des Raumes erreicht hatte, erkannte ich die Konturen einer jungen Frau, fast noch ein Mädchen.
»Ich bin Miri.«
Das sollte wohl alles erklären. Nach ein paar Sekunden Nachdenken tat es das auch: Miri Endersen, die Frau oder das Mädchen, mit der Tims Vater ein Verhältnis hatte und ... richtig, die Mutter von Tims zweijähriger Halbschwester.
»Er sieht so friedlich aus. Als wenn er schlafen würde.«
Das war also nicht nur mein Eindruck gewesen. Immer noch etwas verwirrt von Miris plötzlichem Erscheinen war meine Sprache nur bruchstückweise vorhanden: »Ja.«
»Hat sich sein Vater mal sehen lassen?«, Miri drehte sich mir zu. Sie war wirklich fast noch ein Mädchen oder sie sah noch so aus. Wie alt war sie? Paps meinte, dass Mannteufel schon mit ihr zusammen gewesen war, als sie noch keine 16 Jahre alt war. Ihre Tochter, Tims Halbschwester, soll jetzt gerade mal 2 sein. Ich schätzte, dass Miri so irgendwo zwischen 18 und 20 Jahren alt war. Damit war sie kaum älter als Tim oder ich. Aber selbst so, in diesem diffusen Zwielicht der Monitore, wirkte sie deutlich reifer, erwachsener.
»Nein, sein Vater war nicht hier.«
Miri verzog ihre Lippen: »Typisch, wenn er Verantwortung übernehmen soll, kneift das Schwein!«
Sie näherte sich Tim und streichelte ihn sanft, dabei begann sie leise zu sprechen, ohne ihren Blick und ihre Aufmerksamkeit von Tim abzuwenden.
»Es ist merkwürdig. Ich sehe Tim heute das erste Mal. Ich kannte ihn natürlich von Bildern. Tim und Nico. Sein Paps war so stolz auf seine beiden Jungs, das heißt früher, als er noch nicht dieses ...«, sie zögerte und schien sich überwinden zu müssen, weiterzusprechen, »… widerliche Arschloch war.«
Miri seufzte kurz und fuhr dann fort.
»Ein seltsames Gefühl. Tim ist der Halbbruder meiner Tochter, dabei könnte er mein kleiner Bruder sein. Oder ein Freund ...«
Ihre Stimme stockte. Mir war, als wenn ich ein Zittern durch ihren Körper hindurchlaufen sehen konnte.
»Ist alles in Ordnung?«
»Nein, ist es ist ...«, Miri drehte sich zu mir um, »Tim ist nicht ganz unschuldig an meiner Situation.«
»Hey, Moment mal, ihr kennt euch doch gar nicht!«, da kam diese Frau einfach in sein Krankenzimmer geschlichen, spukte eine Weile umher und machte Tim plötzlich für ihre Lebensumstände verantwortlich.
»Reg' dich ab! Reg' dich ab«, Miri drehte sich um und signalisierte mir mit einer Bewegung ihrer Handflächen, dass ihr Spruch nicht wörtlich zu nehmen sei »Ich mein das nicht so. Nur ... naja, ich hatte mich in Timmy verliebt. Von Fotos, von dem, was sein Vater von ihm erzählte und vorschwärmte. Ich habe als Schülerin in seinem Büro gejobbt. Und bin zufällig über ein Bild von Tim gestolpert. In Badehose mit Siegerpokal. Der Junge ist ein Traum!«
»Ich weiß!«, insbesondere auch mit ohne Badehose.
»Sein Paps hatte eine enorme Ähnlichkeit mit ihm, ist dir das schon aufgefallen?«
Ja, war es. Auf Bildern. Ich hatte sogar auf einem Bild Tim mit seinem Vater verwechselt. Allerdings waren die Bilder alle deutlich älter. Heute war Tims Paps nicht nur ein Arschloch, sondern auch nur noch ein Schatten seiner selbst. Er hatte sich verändert und zwar innerlich und äußerlich.
»Naja, Tims Paps war charmant, sah verdammt gut aus und wusste einen zu verwöhnen. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es mir nicht gefallen hat. Es war wie ein Spiel. Tims Paps ist sehr erfahren, wenn du verstehst, was ich meine. Aber irgendwo suchte ich immer nur den Sohn und der Vater war nur Ersatz. Als Tims Paps das bemerkte, wurde er unerträglich. Als dann noch Laura, meine Tochter sich androhte, ließ er mich sitzen. Das war's ...«
Sie richtete sich auf.
»Nein, ich mache Tim keine Vorwürfe dafür, dass ich mich in ihn verliebt hatte ...«
Sie lächelte und sie lächelte richtig süß.
Kopfgeister - wir jagen Dingen nach, die es nicht gibt oder die wir nie erreichen können. Geistern unserer Wünsche und Begierden - Kopfgeistern.
Miri jagte der Idee eines Freundes nach, der nichts davon wusste. Tims Vater jagte dem Wunsch, durch Sex mit Miri etwas von seiner Jugend zurückzuerhalten nach. Tim jagte seinem Bewusstsein hinterher. Sven jagte einer verloren geglaubten Freundschaft hinterher und zahlte dafür mit seinem Leben. Die Schläger, die ihn auf dem Gewissen hatten und Tim ins Koma gebracht haben jagten ihrem eigenen Selbsthass hinterher.
Und was jagte ich?
Miri setzte sich neben mich. Zum ersten Mal konnte ich etwas von ihrem Gesicht sehen. Soweit das Schummerlicht es zuließ, konnte ich freundliche, offene und sehr weibliche Gesichtszüge entdecken. Ich mochte sie auf Anhieb. Miri war eindeutig eine fröhliche Person, die wohl auch gerne lachte. Ein echtes Energiebündel. Die Luft um sie schien vor elektrostatischer Energie zu knistern. Die Frau war purer Sex oder noch schlimmer, sie war Sexkonzentrat. Und sie spielte damit. Was für ein Glück, dass ich dagegen immun war. Ich ahnte, in welche Falle Tims Vater geraten war, oder war es umgekehrt gewesen? Hatte Miri erst durch ihn gelernt, ihre Weiblichkeit als Waffe einzusetzen?
»Warum bist du hergekommen?«
Ich fand die Frage berechtigt, schließlich kannte Miri Tim doch überhaupt nicht bzw. sie kannte ihn nicht wirklich. Sie kannte nur den Tim aus ihren Vorstellungen.
»Ich denke, dass uns etwas verbindet ...«, Miri wartete auf eine Antwort, aber ich ging nicht darauf ein. Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als weiterzureden: »Meine Tochter hat zwei Halbbrüder, Tim und Nico. Ich finde, ich sollte wissen, was das für Typen sind. Schließlich bin ich die Mutter.«
Plötzlich sah mir Miri direkt in die Augen: »Und du bist der Grund, warum ihn sein Vater verstoßen hat?«
Überrumpelt und ohne Deckung japste ich nach Luft und versuchte meine Entgegnung zu organisieren: »Ja ... nein ... Moment mal, das ...«
Meine Entgegnung ging in die Hose. Ich schluckte und versuchte es erneut.
»Dass Tim schwul ist, ist sicherlich nicht meine Schuld!«
Miri schmunzelte: »Ok, ich bin nur ein wenig eifersüchtig auf dich.«
Ein Knuff in meine Seite (schmerzhaft): »Du scheinst ganz ok zu sein. Ihr zwei scheint zusammen zu passen. Ich ... was zum Teufel ...«
Miri sprang auf und hechtete zu Tim. Genaugenommen hechtete sie an ihm vorbei zu einem der Monitore. Die eben noch gleichmäßige Kurve zeigte plötzlich ein wirres und chaotisches Liniengeflecht.
»Kammerflimmern! Scheiße! Er kollabiert! Schnell, hol einen Arzt!«
Über Tims Bett flammte die Beleuchtung auf. Miri riss Tim seine Bettdecke vom Körper und begann, sich an seiner Brust zu schaffen zu machen. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Aus Tims Nase lief Blut.
»Weißt du, was du da machst?«
»Ja, ich studiere Medizin und habe vorher Krankenschwester gelernt. Jetzt renn, oder du wirst Tim erst im Himmel wieder sehen.«
Ich rannte los. Beim Verlassen des Zimmers hörte ich noch, wie der Alarm des EKG-Monitors losging. Ich stürmte zum Schwesternzimmer. Die Schwestern saßen gelangweilt am Tisch, unterhielten sich oder machten Verwaltungssachen. Als ich angeprescht kam, verzog eine, ich nannte sie »Der General«, bereits ihr breites Gesicht und wollte mir sicherlich eine Standpauke halten, dass es sich hier um ein Krankenhaus und nicht um einen Spielplatz handelte, und dass ich auch nur geduldet werde und und und.
»Tim hat Kammerflimmern!«
Die Schwesternschaft stutzte. Ich wurde ungläubig angegafft.
»Es ist jemand da, der Ahnung hat. Wirklich! Das EKG-Dingens pfeift auch schon.«
Inzwischen hatte man den Alarm am Meldetableau im Schwesternzimmer auch entdeckt, sodass sich die Skepsis in ernste Professionalität wandelte. Eine der Schwestern griff sofort zu einem Telefon: »Wir haben einen Code Blau. Der Komapatient sieben-drei hat Kammerflimmern.»
Zwei andere Schwestern waren bereits aufgesprungen und rannten mit einem Notfallkoffer in Richtung Zimmer. Ich wollte hinterher, doch wurde ich kraftvoll vom General daran gehindert: »Du bleibst hier!«
Die Härte war aus ihrer Köpersprache einem Ausdruck von Hilflosigkeit und Mitleid gewichen. Diese Veränderung wirkte bedrohlicher, als ihre übliche schroffe Art. Sie zeigte mir, wie ernst es offensichtlich um Tim stand. Panisch sah ich mich um. Frau Dr. Hanna Schönwälder, Tims Ärztin, stürmte den Gang entlang und verschwand in Tims Zimmer.
Eine Hand voll Minuten dehnten sich mal wieder gefühlsmäßig auf etliche Stunden aus. Mir blieb genügend Zeit, die spartanisch-sachliche Einrichtung des schon etwas schäbigen Schwesternzimmers zu bewundern. Ü-Ei-Figuren auf dem PC-Bildschirm, Fotos an einer Pinnwand, ein paar Kakteen auf einer Mikrofensterbank. Doch schlussendlich kam eine Schwester aus Tims Zimmer. Endlich? Ihr Gesichtsausdruck war todernst als sie ins Schwesternzimmer kam und zum Telefonhörer griff: »Machen sie sofort OP2 für eine Not-OP bereit. Wir brauchen einen Neurochirurgen. Es ist extrem dringend. Der Patient ist zurzeit stabil, aber wir wissen nicht wie lange.«
Mein Denkapparat beschäftigte sich kurzfristig mit der absurden Seite des Gesprächs. Wieso sagt sie, OP2 sofort bereit machen? Sind Not-OPs nicht immer sofort? Der kleine Trick meines Unterbewusstseins, mich vom Ernst der Lage abzulenken, hielt nur für ein paar Sekunden an.
»Wie geht es Tim?«
Die Krankenschwester ließ ihre Schultern hängen und sah mich traurig an: »Er kann von Glück sprechen, dass ein Profi anwesend war«, damit musste Miri gemeint sein. »Aber jetzt kann ihm nur noch ein Wunder helfen!«
Scheiße!
6.16. Zeuge der Anklage
Portland
»Als unseren letzten Zeugen rufen wir Marcel James Reynolds in den Zeugenstand.«
Mit diesem Satz platzte die Bombe. Die ganzen bisherigen Zeugen waren mit den leichten Figuren eines Schachspiels zu vergleichen, mit Marcel holte der Oberstaatsanwalt die schwere Artillerie hervor.
Für einen Moment setzte Thimos Herzschlag aus, um anschließend mit doppelter Frequenz weiter zu schlagen. Was wollte die Staatsanwaltschaft von Marcel? Würden Sie ihm wehtun? Würden Sie ...? Thimo wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken.
»Einspruch! Der Zeuge steht nicht auf der Liste.«
»Der Umstand, dass der Zeuge der Sohn des wehrten Verteidigers ist und damit eine, wenn auch sicherlich unbeabsichtigte Beeinflussung denkbar wäre, ließ uns diesen Schritt als notwendig erscheinen.«
Richterin Cunningham rückte ihren Richterstuhl gerade, in dem sie es sich im bisherigen Verlauf der Verhandlung gemütlich gemacht hatte. Forschend sah sie über den Rand ihrer Brille.
»Ist das wahr? Ist der Zeuge ihr Sohn?«
»Ja, Euer Ehren!«
»Ok. Ich will beide Parteien sofort in meinem Zimmer sehen. Die Handlung ist unterbrochen. Führen Sie die Geschworenen hinaus.«
»Also ...«, die Cunningham thronte hinter ihrem Schreibtisch, »wer von ihnen beiden klärt mich über diese Aktion auf?«
»Euer Ehren ...«, der Anklagevertreter wartete gar nicht erst, ob Jimmy Reynolds auch etwas zu sagen hatte, sondern platzte sofort los. »Der Zeuge ist für uns eine Schlüsselfigur. Mit seiner Aussage wird das Motiv für die Tat überdeutlich werden und sich sämtliche Zweifel an der Schuld des Angeklagten im Nichts auflösen.«
»Sie zwingen meinen Sohn dazu, gegen seinen Freund auszusagen! Und sie wissen ganz genau, wie ich das meine.«
Auch der Richterin war das süffisante Grinsen des Klägers nicht verborgen geblieben.
»Was soll das jetzt wieder bedeuten?«
»Mein Sohn ist nicht nur ein Freund, er ist sein Freund. Sie sind zusammen. Ein Liebespaar, wenn man so will. Mit anderen Worten, mein Sohn ist auch schwul. Der Anklagevertreter weiß ganz genau, dass er bei einem heterosexuellen Paar den Zeugen nicht befragen könnte.«
»Das Zeugnisverweigerungsrecht findet hier keine Anwendung.«
»Nein, leider, und das nutzen Sie schamlos aus. Wo ist der Unterschied zwischen einem Jungen und einem Mädchen oder zwei Jungen?«
»Sie wollen doch nicht allen Ernstes zwei schwule Minderjährige mit einem normalen, anständigen Liebespaar gleichsetzen?«
»Die Minderjährigkeit hat bei Ihrer Klageerhebung doch auch keine Rolle gespielt. Oder haben Sie nicht auf Erwachsenenstrafrecht plädiert? Außerdem, ja, ich will das gleichsetzen! Was Sie verlangen, ist amoralisch!«
»Nur weil Ihr Sohn auch so eine Schwuchtel ist.«
»Es reicht!«, Cunningham fauchte den Oberstaatsanwalt an. »Sie vergessen sich!«
»Entschuldigung, Euer Ehren!«
»Entschuldigen Sie sich nicht bei mir, sondern bei Mr. Reynolds.«
Die Richterin nickte: »Der Punkt mit der Minderjährigkeit geht an Sie, Jimmy! Außerdem missfällt mir Ihr homophober Unterton, Herr Staatsanwalt. Hm, schöne Scheiße. Warum bekomm' ich immer solche Fälle. Nun gut ... gegen meine innerste Überzeugung bleibt mir nichts anderes übrig, als den Zeugen zuzulassen. Ich sehe leider nach den Gesetzen des Bundesstaates Maine keinen Grund, der einen Rückgriff auf das Zeugnisverweigerungsrecht erlauben würde. Jimmy, es tut mir leid. Auch für ihren Sohn! Immerhin, Ihr Einspruch geht ins Protokoll. Und noch was. Die Verteidigung erhält einen Rettungsanker, sollte der Fall wegen dieser Geschichte gegen den Angeklagten ausgehen. Ich werde mich zwar nicht gegen die Entscheidung der Geschworenen stellen, aber einer Revision keinen Widerstand entgegensetzen.«
»...«, der Staatsanwalt wollte gerade wieder ansetzen.
»Ich will von Ihnen nichts hören. Meine Entscheidung ist endgültig!«
»Ich beantrage den Ausschluss der Öffentlichkeit«, Jimmy Reynolds fand die Gelegenheit günstig.
»Warum?«, doch so leicht war die Cunningham nicht auszutricksen. Jimmy Reynolds räusperte sich und warf einen Blick in Richtung Anklagevertretung.
»Hm, Herr Staatsanwalt, würden Sie uns für einen Moment alleine lassen?«
»Ich denke, ich sollte dabei sein!«
»Ich denke das nicht. Oder denken Sie ernsthaft, ich würde mit der Verteidigung paktieren?«
»Natürlich nicht, Euer Ehren!«, widerwillig verließ der Oberstaatsanwalt das Richterzimmer.
»Also, wo liegt das Problem?«, Felicitas machte es sich hinter ihrem Schreibtisch bequem. Sie rollte ihren Stuhl zurück, ließ die Rückenlehne nach hinten klappen und legte ihre Beine hoch. Jimmy Reynolds sah sie verlegen und unsicher an.
»Er hat meinen Sohn vergewaltigt!«
Es gab einen »Klack« und die Rückenlehne des Richterstuhls stand wieder gerade. Vor Schwung und Schreck wäre Felicitas Cunningham fast die Brille von der Nase geflogen. Mit einer eleganten Handbewegung schob sie ihr Nasenfahrrad wieder an die richtige Stelle zurück.
»Wer?«
»Scott, das Opfer!«
»Nochmal!«
»Scott hat Marcel vergewaltigt. Über Jahre! Ich habe es nicht gewusst ... nicht bemerkt. Marcel hat es vor mir verheimlicht ... er ... ach, ich weiß auch nicht ...«, Jimmy schüttelte resigniert seinen Kopf, fand aber zu seiner Stärke zurück, »Ich weiß nur, dass ich ihn Tanner nicht zum Fraß vorwerfen will. Denn Tanner will ihn sezieren!«
»Ha, unser Oberstaatsanwalt ist eine echte Kellerassel. Tanner will Thimos Kopf, dass er aber so weit gehen würde ...«
»Er will mehr! Er will auch meinen Kopf! Erinnern Sie sich: der Staat Maine gegen Sutherland ...«
»Jimmy, Sie meinen, da spielt eine offene Rechnung zwischen Ihnen und Tanner eine Rolle?«
»Er hatte damals schon den Job als Oberstaatsanwalt so gut wie sicher gehabt. Bis ich ihm schlampige Ermittlungsarbeit nachgewiesen habe. Fehler in der Zeugenbefragung, zerstörte entlastende Beweismittel ... es gab sogar den Verdacht, er hätte Beweismittel manipuliert, weil er wusste, dass Sutherland unschuldig war. Er brauchte aber eine Verurteilung. Er verlor den Prozess! Mit Pauken und Trompeten! Es hat ihn in seiner Karriere um ein paar Jahre zurückgeworfen und das nimmt er mir immer noch persönlich übel. Mann stelle sich diese Schlagzeile vor: Schwuler jugendlicher Mörder zum Tode verurteilt! Sohn des Verteidigers war der Liebhaber des Mörders: ,Er tat es nur aus Liebe zu mir!` Tanner will Thimo, er will Marcel und er will mich - er will uns alle vernichten!«
»Ich muss mich korrigieren: Tanner ist keine Kellerassel, er ist eine Kakerlake. Ok, Jimmy, was soll ich tun?«
»Ich kenne auch das Recht ... und ich kann nichts Unmögliches von Ihnen verlangen ...«
»Und genau deswegen, weil Sie kein Winkeladvokat sind und das Recht kennen, führen wir überhaupt dieses Gespräch. Gut, ich werde ihrem Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit stattgeben. Mehr aber auch nicht! Mehr geht nicht ...«, Felicitas seufzte, »Es sieht nicht gut aus für Ihren Mandanten.«
»Ich weiß!«, sollte jemand Jimmy Reynolds in diesem Moment betrachtet haben, er hätte einen sehr alten und müden Mann gesehen.
Der Ankläger wurde wieder hereingebeten. Richterin Cunningham verkündete ihre Entscheidung.
»Ich gebe dem Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit statt! Und noch etwas. Ich werde den Geschworenen nur meine Entscheidung mitteilen, nicht aber die Gründe dafür. Sollten einer von Ihnen beiden mit dem Zeugen irgendwelche miesen Tricks versuchen, werde ich das sofort unterbinden. Hab' ich mich klar ausgedrückt?«
Beide Parteien nickten. Die Verhandlung wurde fortgesetzt.
»Wie ist dein Name?«
Oberstaatsanwalt Tanner begann seine Befragung freundlich, sogar außergewöhnlich freundlich. Er hatte ein verbindliches Lächeln auf den Lippen. Sein Tonfall war fast kumpelhaft. Man musste ihn einfach gern haben, ungefähr so gern, wie schwarze Witwen, Skorpione, oder Klapperschlangen.
»Marcel James Reynolds«, Marcel versucht sich zu entspannen und locker zu bleiben.
Es blieb bei dem Versuch.
Marcel wirkte fahrig und nervös. Thimo musste seinen Freund einfach anstarren. Sein Puls raste und hämmerte in seinen Schläfen. Marcel hilflos dem Ankläger ausgesetzt zu sehen, grenzte schon an Folter.
»Marcel ... ich darf dich doch Marcel nennen? Kennst du den Angeklagten?«
Jimmy Reynolds räusperte sich. Er räusperte sich sehr deutlich und sehr laut. Eine Warnung an Tanner: »Du nimmst dir da gerade meinen Sohn zur Brust! Vorsicht!«
»Ja, wir gehen zusammen in die Liberty High, außerdem sind wir befreundet«, Marcel warf Thimo einen schüchternen Blick zu. Warum glänzten seine Augen so? Eine eiskalte Hand griff nach Thimos Herz.
»Kanntest du das Opfer?« Tanner, immer noch die Freundlichkeit in Person.
»Scott, ja? Natürlich... «, Marcel fixierte wieder den Staatsanwalt.
»War Scott dein Freund?«
»Nein!«, ein lautes, hartes und entschlossenes Nein hallte durch den Gerichtssaal und weckte die Geschworenen. Marcel war selbst von seinem Ausbruch überrascht und zuckte unwillkürlich zusammen. Wieder unter Kontrolle fügte er leise hinzu: »Wir waren nicht befreundet.«
»Aber das war einmal anders, oder?«, Tanner versuchte sich in der gleichen falschen jovialen Art, wie Prinzipal Franklin.
»Ja, aber das ist schon ewig her ...«
»Gut, kommen wir erst einmal zu etwas anderem«, Tanner ließ das Thema fallen. Jimmy Reynolds und Thimo starrten gebannt zu Marcel, der aber weiterhin mit seinen Augen Oberstaatsanwalt Tanner fixiert hielt, während dieser seine nächste Frage formulierte: »Du warst beim Endspiel dabei?«
»Ja und Nein.«
»Wie muss ich das verstehen.«
»Nein, nicht als Spieler. Ja, ich war Zuschauer.«
»Um dem Angeklagten beim Spiel zuzusehen?«
»Auch ... die Mannschaft war noch nie in die Play Offs, geschweige denn ins Endspiel gekommen. Ich glaube die gesamte Schule inklusive Anhang war da. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Sie auch da waren. Ihr Sohn soll in der Gegenmannschaft spielen.«
»Ähm, ja ...«
Thimo entspannte sich ein klein wenig. Tanner schien im Nebel herumzustochern und Marcel hielt sich wacker.
»Das ist wahr. Ich selbst war anwesend. Ein wirklich beeindruckendes Spiel ...«
»Einspruch! Führt das noch zu etwas Konkretem oder möchte uns der ehrenwerte Staatsanwalt nur an seiner Freude über ein gutes Footballspiel teilhaben lassen?«
»Das fragte ich mich auch gerade ...«, Richterin Cunningham lugte über ihren Brillenrand.
»Natürlich ...«, Tanner nickte, hielt kurz inne und setzt wieder an: »Es mag ja sein, dass halb Portland bei diesem Spiel anwesend war, aber ...«, dramaturgische Pause, »nicht halb Portland, sondern nur du, Marcel, der Angeklagte und das Opfer hatten nach dem Spiel eine Auseinandersetzung.«
Die Freundlichkeit war futsch. Tanner zischte wie eine Schlange. Eine Cobra, die zum Sprung auf ihr Opfer ansetzte: »Es war doch eine Auseinandersetzung, oder?«
Marcel wurde bleich, fast grünlich: »Nein!«
»Was nein? Ihr ward doch zu dritt zusammen, oder? Es gibt Zeugen, die euch gesehen haben. Es gibt sogar Fotos!«
»Nein, wir hatten keine Auseinandersetzung«, Marcel wurde immer leiser. Dieses Thema, Scott, es ließ ihn nicht los. Immer und immer blubberte die Vergangenheit an die Oberfläche.
»Nein? War es nicht?«, Tanner wurde laut. Sein Ton war scharf und schrill. Mit schnellen Schritten rannte er zu seinem Schreibtisch, öffnete seinen Aktenkoffer und holte einen Stapel Fotos heraus. Eines dieser Fotos knallte er Thimo auf dem Tisch, eins Marcel, der Richterin und den Geschworenen. Das Foto musste mit einem Teleobjektiv gemacht worden sein. Es war ein typisches Sportfoto, so wie sie von den Sportreportern der Lokalzeitung geschossen werden. Es zeigte Thimo, Marcel und Scott, wie sie heftig miteinander diskutierten. Wer nicht selbst dabei war, musste es zwangsläufig für einen Streit halten.
»Sieht das nicht aus wie eine heftige Auseinandersetzung? Ein Streit?«
»Es war kein Streit ...«, Marcels Stimme wurde dünn. Mit Entsetzen sah Thimo, wie sich Marcels Augen mit Wasser füllten. Verdammt, er ist noch nicht so weit! Lasst ihn in Ruhe!
»Nein? Kein Streit? Was war es denn, dass ihr so ernst miteinander diskutiert habt?«
»Eine Entschuldigung ...«, Marcel zitterte am ganzen Körper. Seine Stimme hatte sich auf ein Flüstern reduziert. Im gleichen Maß, wie Marcels Stimmkraft schwand, schnürte sich Thimos Brust zu. Er spürte, wie sein Freund litt. Ein Gefühl von Ohnmacht überwältigte ihn. Tatenlos zusehen zu müssen, wie sein Freund, sein Engel, sein ein und alles von diesem skrupellosen Staatsanwalt gegen ihn benutzt wurde, war das Unerträglichste, was Thimo seit langer Zeit ertragen musste. Hör auf!
»Eine Entschuldigung? Wer hat sich entschuldigt? Und warum?«
»Scott! Scott hat sich bei mir entschuldigt ... er hat um Verzeihung gebeten ... ich ...«, Marcel konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten.
»Einspruch! Der Staatsanwalt quält den Zeugen!«
»Wir kommen zum Motiv!«
»Dann beeilen Sie sich damit und behandeln Ihren Zeugen bitte angemessen!«, Richterin Felicitas Cunningham war nicht amüsiert. Sie verabscheute Schlammschlachten, insbesondere ihn Ihrem Gerichtssaal.
»Wofür hat sich Scott entschuldigt?«, Tanner sprang auf Marcel zu wie ein Jagdhund, der Witterung aufgenommen hatte. Cunninghams Ermahnung wurde zur Kenntnis genommen und ignoriert. Das Ziel war so nah, fast greifbar: »Was hat er getan, dass er dafür um Verzeihung bitten musste?«
»Einspruch!«
Dieses war einer der wenigen Momente, in denen Felicitas Cunningham ihren Job hasste. So sehr sie auch mit Marcel und Thimo Mitleid hatte, sie stand nicht über dem Gesetz, sie war das Gesetz und das Gesetz ist neutral: »Abgelehnt, der Zeuge möge antworten!«
»Er hat mich verge...«, Marcel war vor Tränen kaum zu verstehen.
Der Moment war schon dramatisch genug, Tanner holte zu seinem finalen Vernichtungsschlag aus: »Ist es nicht so, dass Scott etwas sehr Schreckliches getan hat? Etwas, das auch der Grund dafür ist, dass ihr keine Freunde mehr seid?«
Die Bombe war kurz davor, zu platzen. Im Gerichtssaal wurde es totenstill. Alles hielt den Atem an, nur Marcel hörte man leise schniefen. Thimo krallte sich an seinem Tisch fest, biss sich auf seine Lippen und spürte, wie er jeglichen Halt verlor. Auch seine Augen füllten sich mit Tränen. Verdammt, der Staatsanwalt sollte aufhören, Marcel zu quälen. Das hatte Scott schon genug getan. Er sollte dies nicht noch einmal durchleben müssen. Auf keinen Fall!
»Aufhören! Lasst ihn zufrieden. Ich war es! Ich habe Scott umgebracht!«
Alle Blicke richteten sich auf Thimo: Marcel entsetzt, Jimmy Reynolds bestürzt, Tanner triumphierend, Cunningham verblüfft und die Geschworenen irritiert.
»Ich war's! Ich hab's getan! Das ist es doch, was Ihr alle hören wollt, oder? Nun gut, dann war ich es eben! Nur lasst Marcel zufrieden!«
Nachwort
Tja, ich kann. Und ich hab es soeben getan. Band 6 ist zu Ende. Aus, Schluss und vorbei. Tim im OP, Sven I tot, Sven II am Rande des Nervenzusammenbruchs, Thimo im Knast, Marcel in einer emotionalen Hölle, möglicherweise frei rumlaufende Mörder ... Band 7 wird - so sieht es momentan aus - der Schlusspunkt von Kopfgeister werden, denn die Handlung hat sich zur überkritischen Masse verdichtet. Es muss zu einer Entladung kommen, und bei der kann kein Stein auf dem anderen bleiben.
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.