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Nachtschatten
Teil 5 - Urteile
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Informationen
- Story: Nachtschatten
- Autor: Nero
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
- Sein oder nicht sein
- Spindgespräche
- all in
- Grillfest
- Das Tribunal
- Das Urteil
- Von Freund und Feind
- Abendessen
- Sklaven
- Nuno
- Zwischen Leben und Tod
Sein oder nicht sein
Constantin
Vladimir Breskoff war alt geworden. Selbst für einen Vampir hatte er ein beeindruckend hohes Alter erreicht – bis er starb. Durch meine Hand – wortwörtlich. Hatte ich ihm doch sein noch pochendes Herz aus der Brust gerissen und anschließend im Sonnenlicht verbrannt. Wenn man alle Aspekte zusammen betrachtete, hatte ihn ein angemessener und eines Königs würdiger Tod ereilt. Fragte sich nur, ob die Mitglieder seines Hauses diese Meinung teilten.
Unsere Wagenkolonne hatte Vladimirs Anwesen erreicht. Im Gegensatz zum Gebäudekomplex der Varadin International Holding Group folgte die Breskoffsche Residenz wesentlich mehr dem konventionellen Bild der hochherrschaftlichen Residenz eines Vampirs. Abseits aller Autobahnen und Hauptstraßen führte eine wenig genutzte Landstraße an einem ausgedehnten und leicht hügeligen Waldgebiet entlang. Dörfer oder gar Städte fand man hier keine. Bis auf ein paar verstreute Bauernhöfe schien der Landstrich von den Menschen der Gegend gemieden zu werden. Was überraschte, da es sich um eine sehr schöne, fast schon romantische Gegend zu handeln schien, einem absolut ländlichen Idyll. Trotzdem kam sehr selten vor, dass sich Touristen in diese Gegend verirrten, fand sie sich überraschenderweise in keinem Reiseführer wieder. Dabei hätte es durchaus etwas interessantes zu entdecken gegeben. Zum Beispiel den kleinen, asphaltierten Weg, der von der Landstraße abzweigte und tief in den Wald führte. Vermutlich hätte ein einfacher Tourist schnell aufgegeben, dieser Straße zu folgen, da es die ersten fünf Kilometer außer Bäumen nichts weiter zu sehen gab. Ein abenteuerlustiges Wesen, das sich von dieser eintönigen Strecke nicht abschrecken ließ, wäre wiederum ebenfalls enttäuscht worden. Endete die Entdeckungstour nach eben jenen fünf Kilometern an einem großen, verwitterten, steinernen Torbogen mit einem massiven, schmiedeeisernen Gitter. Ein wie zufällig aus dem Wald kommender Wildhüter wäre an das Fahrzeug des enttäuschten Fremden herangetreten und hätte ihn sehr freundlich darauf hingewiesen, dass der Weg an diesem Tor leider enden täte und man wohl oder übel umkehren müsse. Sollte sich der enttäuschte Tourist mit dieser Antwort nicht zufriedengeben und fragen, wohin der Weg hinter dem Tor denn führte, hätte der Wildhüter ein gleichzeitig bedauerndes, aber auch ängstliches Gesicht aufgesetzt und eine wirre Geschichte erzählt, in der die Begriffe Staatsforst, Munitionsverseuchung, Blindgänger, C-Waffen und Zweiter Weltkrieg gefallen wären. So sei es eine Schande, dass man den Wald nicht betreten könne, aber leider wäre es immer noch, mehr als siebzig Jahre nach Ende des letzten Weltkriegs, lebensgefährlich, das Gebiet zu betreten. Er selbst habe von einem Freund die Geschichte eines anderen Freundes gehört, der die Warnungen außer Acht gelassen hätte, sich in das Gebiet begab und dort prompt auf eine alte Tellermine getreten wäre. Spätestens an dieser Stelle der Geschichte wendete jeder noch so neugierige Tourist seinen Wagen und suchte das Weite.
Hätte er auch nur ein klein wenig genauer hingesehen, wären ihm ein paar Ungereimtheiten sowohl am Tor als auch am Wildhüter aufgefallen. Welcher Wildhüter trug schon einen elektronischen Ohrknopf? Und wieso sprach er ins Revers seiner Jacke, kaum dass der Wagen des unerwünschten Besuchers außer Sichtweite war? Wieso verfügte das Tor, das angeblich nur vor einem Gelände mit gefährlichen Bildgängern schützen sollte, über einen elektrischen Antrieb? Und diese Metallplatte im Torbogen mit der darin eingelassenen Glasscheibe; erinnerte die nicht an eine Gegensprechanlage mit Kamera?
Natürlich gab es im Waldgebiet um das Anwesen derer von Breskoff keine Bildgänger. Das Tor und der Wildhüter waren nichts weiter als die offensichtlichen Teile der Perimeterschutzeinrichtung. Nach links und rechts vom Tor erstreckte sich ein mit Bewegungsmeldern und Kameras gespickter Zaun. Auch war der Wildhüter nicht der einzige, der sich im Wald aufhielt, und das Gebiet vor ungebetenen Gästen schützte.
Wir hingegen waren erwartete Gäste. Ob wir hingegen auch willkommen waren, sollte sich noch zeigen. Vor unserer Wagenkolonne öffnete sich das Tor und wir fuhren hindurch. Nach zwei Biegungen des Wegs, nach denen man das inzwischen wieder geschlossene Tor nicht mehr sehen konnte, veränderte sich der Weg. Zu beiden Seiten war er nun von gasbetriebenen Fackeln gesäumt, die die Gasse wie einen Flammentunnel erschienen ließen. Vom Licht geblendet, kam der Übergang immer wieder überraschend. Von einer Sekunde auf die andere ließ man den Wald hinter sich zurück und erblickte einen ebenfalls von Fackeln erleuchteten Park, dessen Ende von einem majestätischen Herrenhaus markiert wurde – dem Haus Breskoff, das sich genau in der Mitte des Waldes befand.
»Beeindruckend.«, konnte ich mich eines Kommentars nicht entziehen. Natürlich kannte ich den Park und das Herrenhaus. Hatte ich doch einen guten Teil meiner Kindheit hier im Hause Onkel Vladimirs verbracht. Trotzdem war diese Rückkehr eine andere, als sonst. Ich kam nicht als Gast, sondern erhob Anspruch auf das Haus und alles, wofür es stand.
Unsere Wagenkolonne rollte gemächlich über den Sand des Hauptwegs, um direkt vor dem Schlösschen zum Stehen zu kommen. Natürlich wurden wir bereits von einem Begrüßungskomitee erwartet, welches sich am Fuß der Marmortreppe eingefunden hatte, die zur Tür des Hauses führte. Erwartungsgemäß fehlten dieser Gruppe die Damen Timon, Cassandra und Lydia.
Kaum hatten unsere Wagen gehalten, sprangen Laurentius und drei seiner Wachvampire heraus, um zurückhaltend, aber trotzdem dominant das Gelände zu sichern. Die ganze Aktion wirkte daher auch mehr wie der Besuch bei einem verfeindeten Haus, als bei einem befreundeten. Und so wurde mir auch erst die Tür geöffnet, als Laurentius zufrieden mit dem Kopf nickte. Diese Geste war wiederum typisch für Onkel Vladimir. Bei aller Modernität und Aufgeschlossenheit gegenüber meinen Ideen und Ansichten kultivierte er die aristokratischen Hofprotokolle.
»Eure Durchlaucht!«, grüßte mich ein relativ junger männlicher Vampir, »Im Namen des Hauses Breskoff heiße ich Euch willkommen. Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Reise?«
Ich kannte den Vampir. Wenn ich mich korrekt erinnerte, war er ein Freund Christianos.
»Danke der Nachfrage. Die Reise war ruhig und angenehm. Ihr seid Michael, oder?«
»Ja, mein Fürst. Zu Euren Diensten.«
Mein Fürst! Formal mochte Michael mit dieser Begrüßung recht haben. Ich war von nun an sein Fürst, auch wenn ich mich kaum so fühlte und mir die Anrede im Pluralis Majestatis ausgesprochen fremd war. Ob man etwa auch erwartete, dass ich von mir in der dritten Person sprach? Immerhin musste man anerkennen, dass Michael die richtige Anrede verwendet hatte. Im Verlauf unserer doch recht langen Leben war es fast unvermeidlich, mit dem einen oder anderen Titel bedacht zu werden. Dabei kam es regelmäßig zu kuriosen Konstellationen. So war Vladimir ohne seine Königswürde nur ein einfacher Graf zu Breskopol. Während ich als Fürst von Varadin im Rang deutlich über ihm stand. Allerdings war Graf Breskoff auch noch Herzog von Bessarabien, wenngleich er diesen Titel nicht mehr führte. Wie ich aus der SD-Speicherkarte des Siegelrings Breskoffs erfuhr, floss wohl auch noch etwas Blut der russischen Zaren durch seine Adern. Allerdings hatte Vladimir zeit seines Lebens darauf verzichtet, diese Verbindung allgemein publik zu machen. Inzwischen verstand ich auch wieso, allerdings gebietet es die Pietät, über Details zu schweigen.
»Wenn ich Eure Durchlaucht mit dem Führungsstab des Hauses bekannt machen darf?«
Wer da Spalier stand, um mich zu empfangen, waren alles andere als die Entscheider des Hauses Breskoff, sondern nur die Leiter des physischen Hausbetriebs. Mit anderen Worten, man hatte mir die Gebäudemanager geschickt, während sich CEO, CFO und alle anderen C-irgendwas-Os demonstrativ nicht zeigten. Einzig Michael zählte zu Breskoffs ehemaliger Führungsriege. Was aber im Moment nicht viel bedeutete, da er soweit ich wusste eigentlich immer mit den mächtigen Damen des Hauses über Kreuz lag. Dass er meinen Empfang übernommen hatte, war ebenfalls als deutliches Zeichen seiner Position zur aktuellen Machtfrage im Hause Breskoff zu deuten.
»Es wäre mir ein großes Vergnügen, wenn Sie mich mit den Gentlemen bekannt machen würden.«, erwiderte ich laut, felsenfest davon überzeugt, dass jedes meiner Worte von aufmerksamen Ohren registriert wurde.
Michael ließ mich voranschreiten, wobei er peinlich darauf achtete, den mir standesmäßig zustehenden Abstand nicht zu unterschreiten. So erreichte ich den ersten Mann der Reihe, einen hochgewachsenen Vampir mit aristokratischen Zügen von schätzungsweise 700 Jahren.
»Freiherr Boris Iwankjewitsch, Haushofmeister des Hauses Breskoff.«, stellte mir Michael den Chef des Anwesens vor.
»Sehr erfreut, Boris Iwankjewitsch.«, grüßte ich den beeindruckend stilsicheren Mann und reichte ihm die Hand.
»Danke, Eure Durchlaucht.«, sein Griff war fest und kraftvoll, aber weder ablehnend oder gar feindlich.
»Mariette Breskoff-Romanoff, Facilitymanagement und Logistics.«, stellte mir Michael die einzige Frau der Reihe vor, die ich auf etwa 450 Jahre schätzte.
»Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Mariette.«, schaltete ich meinen Charme an, wohl wissend, dass jeder Vampir im Hause Breskoff von meiner sexuellen Orientierung wusste.
»Euer Durchlaucht!«, antwortete Mariette verlegen, griff aber trotzdem herzhaft zu.
»Paul Ledoux, Chef de Cuisine.«
Außer Frauen kultivierte Vladimir Breskoff noch ein zweites Laster, das der Feinschmeckerei, und unterhielt dafür eigens eine ganze Küchenbrigarde, die aber primär für die menschlichen Mitarbeiter des Hauses kochte. Ganz so snobistisch war der gute Onkel Vladimir dann doch nicht, als dass er nur für sich kochen ließ, der eigentlich keiner menschlichen Nahrung bedurfte. Ich gebe aber gerne zu, dass ich die Kochkünste Chef Ledoux sehr schätzte.
Mir wurden noch sechs weitere Mitarbeiter des Hauses, darunter auch der Leiter der Haussicherheit vorgestellt. Milos Mecir präsentierte sich als zurückhaltender Mann mit wachen Augen und offenen Ohren, was am Ohrknopf mit Spiralkabel deutlich erkennbar war. Milos nahm seine Aufgabe sehr ernst. Permanent stand er mit der Sicherheitszentrale in Kontakt. Niemand näherte sich dem Anwesen, ohne dass er davon erfuhr.
»Madame Breskoff-Romanoff, meine Herren«, wandte ich mich laut und deutlich an die anwesenden Mitglieder des ehemaligen Hauses Breskoff.
Mich mit der zweiten Garde des Hauses als Empfangskomitee abzuspeisen, war ein eiskalt kalkulierter Affront. Wenn es dabei nur um meine Person gegangen wäre, hätte mich die ganze Aktion kalt gelassen. Dass ich nicht mit einem herzlichen Empfang rechnen durfte, war mir durchaus klar. Was mich störte, war die Rücksichtslosigkeit, mit der man gute Leute wie Boris Iwankjewitsch, Mariette Breskoff-Romanoff oder Milos Mecir für persönliche Zwecke missbrauchte. Da standen sie vor mir, aufgereiht, mit glänzenden Augen, in denen sich das Licht der Fackeln spiegelte, und sahen ziemlich verlegen aus. Mir war die Situation mindestens so unangenehm wie ihnen, vielleicht noch etwas unangenehmer.
»Ich danke Ihnen allen für diesen wunderbaren Empfang, gerade wenn man an die ungewöhnlichen Umstände denkt, die uns zusammenführten. Ich habe die Archive der Nosferatu konsultiert. Während unserer gesamten, mehreren tausendjährigen Geschichte hat sich noch nie einen Fall wie dieser ereignet. Ich nenne es beim Namen und werde mich nicht hinter Ausflüchten verstecken. Ja, ich habe Vladimir Breskoff, den Mann, den ich über Jahrhunderte meinen Freund nannte, gerichtet, ihm mit meinen eigenen Händen das Herz aus der Brust gerissen. Ich stehe hier vor dem Haus meines Mentors in Demut, wenn ich seinen ausdrücklichen Wunsch erfülle und unser beider Häuser vereinen soll. Ich kann und will eure Treue nicht erzwingen. Ich erbitte sie. Wenn ihr an mir zweifelt und meine Motive hinterfragt, so sprecht offen und ich werde euch Rede und Antwort stehen. Sollte euch aber euer Gewissen verbieten, meinem Banner zu folgen, steht es euch frei, zu gehen. Ich danke euch.«
Hatte ich zu dick aufgetragen? Wer weiß. Auf jeden Fall meinte ich jedes Wort, wie ich es sagte. Ich konnte niemanden in meiner Familie gebrauchen, der mir nur aus Furcht oder Konventionen folgte. Ich wollte Persönlichkeiten, die davon überzeugt waren, dass mein Weg der richtige war. Die anderen Häuser mochten anders handeln – meines nicht. Auf die kleine Gruppe des Empfangskomitees schien die Ansprache immerhin etwas gewirkt zu haben. In ihren Augen funkelte leichter Respekt; möglich, dass sie mich noch nicht in ihr Herz geschlossen hatten, doch war zumindest keine Ablehnung oder gar Feindseligkeit zu erkennen. Mehr wollte ich auch gar nicht erreichen, außer dass sie mir gegenüber offen und aufgeschlossen waren.
Die eigentlichen Adressaten meiner kleinen Rede waren natürlich nicht anwesend, obwohl sie jedes Wort mitbekommen haben dürften. Das erklärte dann wohl auch Michaels breites Grinsen. Christiano hatte mehrfach erwähnt, was für ein ausgebuffter Typ er war, nur dass sein Potenzial die meiste Zeit brachlag. Das Damentriumvirat duldete keine Konkurrenz neben sich. Entsprechend kurz hielt man Michael an der Leine.
»Wenn ich Eure Durchlaucht dann ins Haus führen dürfte.«
»Bitte, Michael.«, wandte ich mich an Michael, »Lassen wir diesen aristokratischen Quatsch. Im Hause Varadin gibt es niemanden, von der Putzkraft bis zum Marschall, der mich mit Euer Durchlaucht anspricht. Ich bin Constantin.«
Michael zögerte. Er war merklich unsicher, wie er mit meiner Einlassung umgehen sollte. Also nickte ich ihm zu, um ihm deutlich zu machen, dass ich meinte, was ich sagte. Während wir die Stufen zum Haus erklommen, näherte ich mich Michael und raunte ihm etwas zu.
»Hat dir Christiano nie etwas von unserem Haus erzählt?«
Michael zuckte zusammen, blieb abrupt stehen und starrte mich verblüfft an: »Ich dachte, Ihr habt Christiano verbannt?«
»Ja, habe ich, aber das war nicht meine Frage.«
»Ja, er hat etwas über Ihren Führungsstil erzählt.«
»Es heißt >über deinen Führungsstil<. Was hat er denn erzählt?«, hakte ich nach.
Michael seufzte: »Dass Du der coolste Vampirfürst bist, den es gibt.«
Das saß. Oh, Christiano! Wie konnte ich nur zulassen, dass er sich auf diese dumme Idee mit der Verbannung einließ? Ich hätte ihm das niemals zumuten dürfen. Wenn ich nur daran dachte, wie man ihn behandelte, wie sie ihn aus dem Haus geworfen haben, nachdem ich seine Verbannung verkündet hatte, wurde mir schlecht.
»Wann hast du ihn das letzte mal gesehen?«, fragte ich leise.
»Vor zwei Tagen, Samstag. Ich war in der Gegend.«
»Wie geht es ihm?« Wagte ich mich mit dieser Frage zu weit aus dem Fenster? Ich wollte auf keinen Fall seine Tarnung gefährden und damit das Interesse auf ihn und dadurch indirekt Florian.
»Für einen verbannten? Erstaunlich gut. Sein neuer Freund, Florian, ist wirklich süß. Was für ein Glück, dass ich nicht schwul bin. Ich wäre ihm glatt verfallen. Andererseits hätte ich absolut keine Chancen. Ich habe noch nie erlebt, dass Christiano jemanden, zumal einen Menschen, so sehr beschützt hat, wie Florian. Ich glaube jeder, der auch nur mit der Idee spielt, seinem Schützling ein Haar zu krümmen, sollte besser sein Testament machen.«
Was? Für einen Moment setzte mein Herzschlag aus. Verwirrt und entsetzt blieb diesmal ich auf der Treppe stehen und glotzte Michael an. Ich studierte seinen Gesichtsausdruck und schaute ihm in die Augen. Er lächelte. Nur ganz fein, es war fast nur eine Andeutung eines Lächelns. In seinen Augen blitzte es. Ein Funkeln, das Bände sprach – er beschützt Florian.
Ich begriff, was mir Michael mitteilen wollte. Christiano, dieser ausgebuffte Kerl, hatte ihn eingeweiht. Er wusste, dass sich sein alter Freund als Geschöpf Breskoffs nicht um die Verbannung kümmern würde. Jedenfalls nicht sofort. Mit Michael hatte er einen diskreten Weg gefunden, mir Informationen zukommen zu lassen.
»Du hast dich also mit einem aus unserem Haus verbannten unterhalten?«, fragte ich in einem provokanten Tonfall, ließ aber mein Gesicht etwas völlig anderes sprechen. Ich habe dich verstanden, Michael. Gut gemacht.
»Wir befanden uns auf neutralem Boden. Ich habe den Kodex nicht verletzt.«, verteidigte sich Michael, »Christiano ist mein Freund. Ich halte mich an die Regeln. Er soll es nicht wagen, seinen Fuß über die Schwelle unseres Hauses zu setzen, doch was außerhalb geschieht, steht auf einem anderen Blatt.«
»Ich kritisiere weder deine Handlungen, noch zweifle ich an deiner Loyalität.«, versicherte ich Michael. Wohl wissend, dass man uns zuhörte, begann ich mit meinem Image als zu schwacher und nachsichtiger Fürst zu spielen: »Christiano hat mit seinem Verhalten dem Haus geschadet. Dafür muss er den Preis bezahlen. Das ändert aber nichts daran, dass er nach wie vor mein Geschöpf ist, das ich liebe.«
Perfekt – damit musste mich jeder für ein sentimentales Weichei halten. Und ich musste noch nicht einmal lügen. Zumindest nicht bei dem Teil, der die Liebe zu den von mir erweckten Geschöpfen betraf.
Wir hatten die oberste Stufe der zur Tür des Hauses führenden Marmortreppe erreicht. Die beiden Türflügel sprangen auf und gaben den Blick auf eine spektakuläre Empfangshalle frei. Ich betrat das Haus Breskoff – nicht als Gast, sondern als neuer Stammvater des Hauses.
Spindgespräche
Florian
Am nächsten Morgen an unsere Arbeitsplätze bei Niederreuter zurück zu kehren, hatte etwas surreales. Als wenn man aus einer Welt in eine völlig andere wechselte. Es begann bereits unmittelbar nach der morgendlichen Dusche. Statt uns gleich anzuziehen, cremten wir uns mit dem speziellen Sonnenschutz ein. Christianos Sonnenmilch war um Klassen stärker als das Zeug, das man mir im Krankenhaus gegen meine Lichtallergie gegeben hatte. Als richtiger Vampir war er um einiges empfindlicher, als ich, in dessen Blutbahn nur die Ahnung eines Vampirs zirkulierte. Gleiches galt für die Kontaktlinsen, die uns vor dem Sonnenlicht schützten. Christianos waren dicker und besaßen eine deutlich bläuliche Färbung.
»Was passiert eigentlich, wenn du dich ungeschützt der Sonne aussetzt?«, wollte ich wissen.
»Ich verbrenne zu Asche.« Christiano verzog sein Gesicht, als wenn er sich an eine unangenehme Sache erinnerte, »Verbrannt zu werden, ist verdammt schmerzhaft.«
»Zu Asche? Dann… dann ist man tot, oder?«, ich war entsetzt, »Riskierst du wirklich dein Leben, nur um mich zu beschützen?«
Mein Freund schüttelte amüsiert den Kopf: »Ganz so schlimm ist es nicht. Sterben können wir ja nicht mehr. Als Untoter ist das kaum möglich, oder? Einen zu Asche verbrannten Vampir kann man wiedererwecken, solange noch genug Material vorhanden ist. Allerdings will man das nicht.«
»Du… ?«, fragte ich, sprach aber nicht weiter, als ich Christianos schmerzverzerrtes Gesicht sah. »Oh, Christiano«, beeilte ich mich, mich zu entschuldigen, »Es tut mir Leid. Ich wollte nicht… «
Mein vampirischer Freund schüttelte nachsichtig den Kopf: »Flo, es ist ok. Es ist ok. Ja, ich wurde bereits einmal wiedererweckt. Einem Vampirjäger war es gelungen, mich zu fangen. Ich möchte dir die Details ersparen. Nur so viel. Ich wurde zu Asche verbrannt. Es ist grausam. Kein Vampir, auch nicht mein schlimmster Feind, sollte derartiges erleiden müssen. Wenn dich die Sonne trifft, ist es egal, dass du nicht sterben kannst und wiedererweckt wirst, denn den Schmerz vergisst du nie. Auch nicht nach Jahrhunderten. Bist du dir immer noch sicher, dass du ein Vampir werden willst?«
Ich nickte nur zustimmend, sagte aber nichts. Schweigend vervollständigten wir unseren Sonnenschutz. Mir wurde plötzlich klar, welches Risiko Christiano auf sich nahm, um mich zu beschützen. Tagtäglich musste er sich eincremen und die Kontaktlinsen einsetzen. Und das alles nur wegen mir?
»Du bist mein Freund.«, verkündete Christiano, der wohl meine Gedanken gelesen hatte, »Und Constantin ist es ebenfalls. Ich diene damit sowohl dem Haus, meinem Fürsten und zwei meiner besten Freunde. Was will man mehr? Außerdem bin ich weniger selbstlos, als es sich anhört. Mir macht die Aufgabe Spaß. Der Job bei Niederreuter ist lustig. Wann bietet sich schon mal die Gelegenheit, homophobe Kollegen zu ärgern?«
Ich grinste. Christiano grinste zurück und meinte: »Komm, lass uns frühstücken.«
Der Mann war der perfekte Gastgeber. Es gab ein weich gekochtes Frühstücksei, frisch aufgebackene Tiefkühlbrötchen, Marmelade, Käse und Schinken, ein Glas mit frisch gepresstem Orangensaft und, sehr überraschend, Tee. Wie aufmerksam Christiano doch war, dass er sich daran erinnerte, dass ich morgens Tee bevorzugte. Sich selbst gönnte sich mein Kollege nur eine Tasse Kaffee, O-Saft, sowie eine Scheibe Toast mit Blutwurst.
»Du frühstückst normalerweise nicht, oder?«
»Doch, ich frühstücke, wenn auch eher… ähm… Flüssignahrung.«
»Und warum tust du es nicht?«, hakte ich nach, obwohl ich die Antwort zu kennen glaubte. Christiano wollte mir vermutlich den Anblick eines Blut trinkenden Vampirs ersparen. Was er aber nicht sollte. »Hol dir dein Frühstück. Wenn ich einer von euch werden will, kann ich wohl kaum deine Ernährungsgewohnheiten ablehnen, oder?«
Christiano zuckte nur mit der Schulter, erhob sich vom Frühstückstisch und holte sich einen Beutel Spenderblut aus dem Kühlschrank. Den packte er in einen kleinen Kasten, der, wie ich später erfuhr, eine speziell modifizierte Mikrowelle enthielt, die das Blut auf Körpertemperatur brachte, ohne es zu kochen. Mit dem so aufgewärmten Beutel kehrte er dann ein paar Minuten später an den Frühstückstisch zurück.
»Guten Appetit.«, meinte ich freundlich und nickte Christiano zu.
»Du hast es nicht anders gewollt.«, erwiderte dieser, grinste und ließ seine Eckzähne wachsen. Ich gebe zu, es sah wirklich ein wenig unheimlich aus. Christianos Augen veränderten sich. Sie wurden gelb und verengten sich zu vertikalen Schlitzen. Dann packte er den Blutbeutel und rammte seine Zähne hinein.
»Krass!«, bemerkte ich und erntete von Christiano ein Stirnrunzeln. »Was?«, hakte ich nach und steckte mir ein Stück Frühstücksei in den Mund, »Hast du gedacht, mich würde das anekeln? Du hast recht, vermutlich hätte es das – bevor mich Constantin verändert hat. Jetzt… Ich finde es faszinierend.«
»Auch was?«, fragte Christiano mit einer kehligen, dunklen Stimme.
»Ähm, danke. Ich glaube, ich bleibe bei meinem Frühstücksei.«
Warte!«, kehllautete der portugiesische Vampir, griff nach meinem Eierbecher, tropfte etwas von dem Blut hinein und schob ihn mir wieder zurück, »Iss!«
Ich schluckte. Zögernd löffelte ich etwas Blut-Ei-Gemisch heraus und musterte es. Das Blut… Es duftete ganz anders, als ich den Geruch von Blut in Erinnerung hatte. Es roch verlockend, frei von der sonst üblichen metallischen Note. Ich vermutete, dass sich nicht das Blut verändert hatte, sondern meine Wahrnehmung. Es ekelte mich nicht an. Ganz im Gegenteil war ich begierig, es zu kosten, was ich dann auch tat. Es schmeckte köstlich. Aber das war nicht das eigentlich ungewöhnliche daran. Nachdem ich den Bissen gekaut und hinuntergeschluckt hatte, durchflutete mich plötzlich eine Art Energieimpuls. Mir wurde schwummerig, fast, als hätte ich Alkohol zu mir genommen. Der Effekt war dem Cocktail aus dem Club im Umspannwerk nicht unähnlich. Und auch der enthielt etwas Blut.
»Obwohl du noch nicht einmal zu einem Prozent, ach was, einem Promille, vampirisch bist, reagiert dein Körper bereits auf das Blut.«, meinte Christiano leicht lispelnd. Seine Eckzähne waren immer noch voll ausgefahren und hingen über die Lippen hinaus. Blut lief ihm aus den Mundwinkeln.
»Ähm, du hast da was am Kinn.«
»Oh, entschuldige.«, erwiderte Christiano, fuhr seine Zähne ein und tupfte sich den Mund mit einem Taschentuch ab.
Für die Fahrt zu Niederreuter nahmen wir die Harley. Christiano hatte mich mit passender Kleidung ausgestattet. Ich wollte nicht in meinen alten Klamotten zur Arbeit fahren, die ich bereits den ganzen Freitag getragen hatte. Um vor der Arbeit noch bei mir zu Hause vorbei zu fahren, waren wir ein klein wenig zu spät dran. Außerdem hätte ich es ekelig gefunden, erst bei Christiano zu duschen, dann die alten Klamotten anzuziehen, um diese später bei mir gegen frische zu tauschen. Ich hätte ein zweites Mal duschen müssen und das hätte endgültig zu viel Zeit gekostet. Stattdessen vertraute ich auf die Stilsicherheit meines Kollegen und ließ mich mit Stiefeln, Hose, Unterwäsche, T-Shirt und Jacke versorgen.
Ich war mit meinen Gedanken wohl noch wo anders und achtete nicht darauf, was mir dieser hinterhältige Vampir da verpasste. So konnte ich die verdatterten, schockierten und völlig verwirrten Blicke meiner Kollegen auch nicht zuordnen, mit denen sie mich bedachten.
»Weißt du, was mit denen ist?«, fragte ich Christiano. Der zuckte nur mit den Schultern und tat ahnungslos: »Nö.«
Der Arbeitsplan für unseren heutigen Tag sah genauso aus, wie die Arbeitspläne in den Wochen zuvor: die Sanierung der Decke des Herrenhauses von Herrn Bayer. Niederreuter hatte sechs Kollegen für diese Arbeit eingeplant, mich schon mitgerechnet. Innerhalb der letzten Woche waren wir zu einem ziemlich coolen Team zusammengewachsen. Sogar die zwei Typen aus Marios Truppe spielten mit und nicht gegen uns. Mario war immer noch krankgeschrieben, was aber nicht weiter störte. Nach seiner letzten Eskapade, mit der er sowohl sich als auch uns in Gefahr brachte, legte ich keinen großen Wert auf seine Anwesenheit. Ich hatte mir deswegen schon in der letzten Woche einen Ersatz gesucht. Hans, ein etwas dröger Altgeselle. Es gab auch wenig Auswahl. Außer ihm und zwei Azubis im ersten Lehrjahr waren alle anderen Kollegen unabkömmlich. Bayers Bankettsaal war beileibe nicht die einzige Baustelle Niederreuters.
Marco war eingetrudelt und hatte sich ebenfalls in die Umkleide begeben, wo er uns, Christiano und mich entdeckte, grüßte, und auf uns zusteuerte. Etwa einen Meter vor uns blieb er stehen, seine Augen weiteten sich, wanderten an mir auf und ab und starrten mich dann ungläubig an.
»Scheiße, Flo, wie siehst du denn aus?«
»Ähm?«, kam es von mir wenig inspiriert, »Was meinst du?«
»Typ, hast du mal in einen Spiegel geschaut? Was versuchst du hier? Ein wenig Öl ins Feuer zu schütten, oder was?«
»Ich weiß nicht, was du meinst. Ich… Scheiße, Christiano, was… Wow!«
Mein Blick war mit der Reflexion im großen Spiegel der Umkleide kollidiert. Ich sprang auf und starrte mich ungläubig an. Christiano hatte ganze Arbeit geleistet. Mir war zwar die schwarze Lederhose aufgefallen, die mir mein vampirischer Freund gegeben hatte, ich hatte mir aber nichts weiter dabei gedacht. Meine Gleichung lautete Motorrad gleich Schutzkleidung gleich Lederhose. Doch diese Hose erfüllte weit mehr, als bei Stürzen einem den Arsch zu retten. Diese Hose klebte so geil an meinem Körper, dass ich mich beherrschen musste, keine Erektion zu bekommen. Als mein Blick dann auch noch auf die passenden Stiefel fiel, musste ich schlucken. Dieser hinterhältige Vampir hatte ein Sexobjekt aus mir gemacht, bei dem selbst ich schwach geworden wäre. Wieso war mir nicht aufgefallen, dass das T-Shirt, das meinen Oberkörper bedeckte, aus einem leicht glänzenden Lycramaterial bestand? Die Leder-Textil-Mix-Jacke am Haken meines Spinds war auch nicht von schlechten Eltern.
»Ich dachte, du könntest einen kleinen Stilwechsel vertragen.«, kommentierte Christiano sein Werk beiläufig, »Gefällt es dir nicht?«
Was für eine Frage. Natürlich gefielen mir die Klamotten. Die Frage war eher, ob sie auch angemessen waren. Ja, absolut. Wenn ich meinen Blick schweifen ließ, was ich früher vermied, um nicht angemacht zu werden, fielen mir etliche ähnlich körperbetonte, provozierende oder einfach nur attraktive Outfits auf. Meine Lederhose war nicht an und für sich ungewöhnlich, viel mehr die Tatsache, dass ich sie trug. Verglichen mit meinen Kollegen war mein neuer Stil alles andere als außergewöhnlich. Die wussten auch, wie man sich aufbrezelt. Ich habe es selbst oft genug miterleben dürfen, wie die Gockel unter uns zum Feierabend endlos duschten, zwanzig Minuten ihre Haare stylten, um dann in schweineteure Markenklamotten zu schlüpften. Wenn es um Eitelkeit ging, brauchten sich meine Kollegen wirklich nicht zu verstecken. Wobei man einschränkend anmerken muss, dass Eitelkeit noch kein Garant für guten Geschmack war. Ich maßte mir sicherlich nicht an, die Stylepolice zu mimen, doch was mancher als »Top Outfit« betrachtete, löste bei mir eher Kopfschmerzen aus. Sorry, Jungs, Hip-Hop hin, Hip-Hop her, aber Grillz sind einfach Proll pur.
»Feuer ins Öl? Nö, eigentlich nicht. Ich habe einen neuen Stilberater.«, beantwortete ich Marcos Frage, möglichst cool und locker, »Zu offensiv?«
Der Angesprochene trat einen Schritt zurück, betrachtete mich, wechselte zweimal seine Blickposition und kam schließlich zu einem abschließenden Urteil, wobei ihn ein ganz leicht verträumter Blick umspielte: »Eigentlich nicht. Nur ungewohnt. Für dich, wenn du verstehst, was ich meine. Nee, eigentlich siehst du richtig cool aus. Jan, was meinst du?«
Jan, Marcos, im heterosexuellen Sinne, bessere Hälfte – wo der eine war, war der andere nicht weit – war inzwischen ebenfalls in der Umkleide aufgeschlagen und sofort zu uns geeilt. Die Betrachtungsorgie wiederholte sich.
»Shit, Flo, du siehst geil aus! Respekt, Alter!«, verkündete Jan, um sich ohne weiteres Aufheben an Marco zu wenden, »Hilfst du mir den Wagen zu beladen?«
Das war doch mal was. Noch nie hatte mich jemand für mein Outfit gelobt. Mir ging es runter wie Öl. Ich grinste meine beiden Heterokollegen breit an und bedachte Christiano mit einem dankbaren Kopfnicken. Der nickte zurück und schaute zufrieden drein, während Jan und Marco sich aus dem Staub machten, um unseren Wagen mit Material aus dem Lager zu befüllen.
Ich hätte wissen sollen. Glücksgefühle waren für mich in Niederreuters Firma nicht vorgesehen. Ich war gerade damit beschäftigt, mich aus meiner neuen Lederhose zu pulen, um in einen unserer Firmenblaumänner zu wechseln, als Rüdiger, ein Geselle, der mich schon früher immer wieder gerne auch körperlich gemobbt hatte, in die Umkleide kam und prompt vor mir stehen blieb.
»Was grinst du mich an?«, fauchte er aggressiv und voller Verachtung.
»Ich grins dich nicht an.«
»Ach, du machst dich also über mich lustig?«
Rüdiger war auf Streit aus. Egal, was ich sagte, er würde es verdrehen und gegen mich einsetzen. Nun, wenn er unbedingt wollte. Nur zu.
»Du glaubst, ich mach mich über dich lustig?«
Verwirrung – mit einer Frage hatte er nicht gerechnet. Aber so schnell gab Rüdiger nicht auf.
»Ach, versuchst du Schwanzlutscher mich etwa anzuschwulen? Soll ich's dir etwa mal richtig besorgen?«
Aber das hast du doch schon! Rüdiger war einer meiner Vergewaltiger. Allerdings wusste er nicht, dass ich dank Christiano meine Erinnerung wiedererlangt hatte. Allerdings beabsichtigte ich nicht, ihn mit meinem Wissen und seiner Tat zu konfrontieren. Jedenfalls jetzt noch nicht. Für alles gab es einen richtigen Zeitpunkt und der war noch nicht gekommen. Statt Eskalation ging es deswegen erst einmal darum, den Typen auszubremsen und ein wenig Kontra zu geben. Das dürfte ihm, so meine Überlegung, ein wenig Stoff zum Grübeln geben.
»Ach Rüdiger.«, winkte ich ab, »Hast du's so nötig? Aber danke nein, wenn du Druck ablassen musst, empfehle ich dir Handbetrieb.«
Meinem Gegenüber klappte der Unterkiefer herunter. Damit hatte er nicht gerechnet. Wenn er von meinem Verhalten auch etwas verwirrt war, hielt es leider nicht lange an. Innerhalb von fünf Sekunden hatte Rüdiger sich wieder unter Kontrolle. Seine Verblüffung verwandelte sich unmittelbar in Zorn. Plötzlich und nun wiederum für mich unerwartet, schnellte seine Hand vor und packte mich an der Kehle.
»Was fällt dir ekelhafter kleiner Wurm eigentlich ein?«, zischte mein Kollege, »Du…«
Weiter kam er nicht. Meine rechte Hand hatte sein Handgelenk ergriffen. Nun packte ich zu. Mein Griff war wie ein Schraubstock. Ich fühlte die vampirische Kraft in mir und das animalische Monster, das dahinter lauerte und von der Kette gelassen werden wollte. Ich ahnte, was Christiano, Laurentius oder Constantin in gleicher Situation durch den Kopf gegangen wäre. Ich konnte es fast bildlich sehen. Bevor Rüdiger auch nur blinzeln könnte, hätte er sich mit zwei Saugzähnen im Hals wiedergefunden. Ich spürte die neue Kraft. Selbst mit dem bisschen Vampir in mir besaß Rüdiger nichtmal den Ansatz einer Chance. Ich packte noch etwas fester zu. Rüdiger jaulte auf und der Griff um meinen Hals lockerte sich. Ohne mich groß anzustrengen, verdrehte ich meinem Kollegen so den Arm, dass er vor mir zu Boden ging und ich auf ihn hinabblicken konnte.
»Bitte, Rüdiger, wir wollen doch zivilisiert miteinander umgehen, oder? Ich mach dir einen Vorschlag. Wir schließen einen Waffenstillstand. Du lässt mich zufrieden und ich lasse dich zufrieden, ok?«
Mein unsympathischer Kollege hatte Tränen in den Augen. Mein Griff muss ziemlich schmerzhaft gewesen sein. Mit einer Mischung aus unterdrückter Wut und Angst in den Augen nickte er mir zu.
»Gut, dann lass ich dich jetzt los.«
Kaum aus seiner Zwangslage befreit, sprang Rüdiger auf und verkroch sich ängstlich in einer Ecke des Umkleideraums, die seinen Spind beherbergte. Während er sich umzog, lugte er mehrfach zu mir herüber. Seinem ebenso hasserfüllten wie ängstlichen Blick begegnete ich hingegen nur mit einem zufriedenen, aber nicht triumphierenden Lächeln.
»Der hat erstmal was zu verdauen.«, raunte ich Christiano zu. Wir hatten uns umgezogen und eilten zu unserem Werkstattwagen, wo Jan und Marco auf uns warteten.
all in
Constantin
»Constantin Varadin!«
Flüssiger Stickstoff hätte mehr Wärme verbreitet, als Timon Breskoffs Empfang. Man war so gnädig, mich im Kaminzimmer zu empfangen, in dessen Namensgeber tatsächlich ein munteres Feuerchen prasselte, welches allerdings hoffnungslos überfordert war, die atmosphärische Eiseskälte des Raums zu vertreiben. Neben Timon hatten sich, wenig überraschend, auch die Damen Lydia und Cassandra Breskoff eingefunden.
Ich mochte das Kaminzimmer in seinem konsequent spätbarocken Stil. Schwülstige Verzierungen, zum Teil vergoldet, Skulpturen, Spiegel, Möbel, alles hatte etwas museales, aber auch gleichzeitig gelebt lebendiges, ganz im Sinne Schlüters, des großen preußischen Bildhauers und Architekten. Im Gegensatz zu den großen, überbordenen Prunksälen des Anwesens, verströmte das Kaminzimmer immer eine sehr wohnliche, fast schon intime Atmosphäre, von der im Moment allerdings wenig zu spüren war, was man wiederum nicht dem Raum sondern den anwesenden Personen anlasten musste. Da man mir keinen Platz anbot, ließ ich mich kurzerhand auf einer freien Récamière nieder, einem prachtvollen und antiquarischen Teil von 1758 mit goldenem Rahmen und goldblauem Stoff. Persönlich wäre mir eine derartige Einrichtung viel zu schwer und viel zu schwül, nur hier, in diesem Herrenhaus, war sie absolut passend und konsequent. Mit meiner Platzwahl zufrieden, harrte ich nun den Worten der edlen Damen.
Auf dass man mich nicht missversteht. Die Formulierung »edle Damen« wählte ich mit bedacht und frei von Ironie. Breskoffs Frauen waren im besten Sinne von edlem und hochwohlgeborenem Gemüt und Blut. Timon und Lydia waren zu Lebzeiten Freifrauen, Cassandra sogar eine Gräfin. Wie erwähnt, kultivierte Vladimir einen gewissen Standesdünkel.
»Lady Timon, Lady Cassandra, Lady Lydia!« Die Frauen waren nicht die einzigen, die wussten, wie das Spiel »Wer zuerst ausrastet, hat verloren« funktionierte. Wenn es um den gegenseitigen Austausch exquisiter Provokationen ging, konnte ich locker mithalten.
»Nun, Fürst Varadin, wie fühlt man sich als Henker des eigenen väterlichen Freundes?«, wollte dann auch Lady Lydia von mir wissen. Komisch, bei ihrem Namen flammte immer das Bild einer peitschenknallenden Domina in meinem Kopf auf. Angeblich, obwohl es sich dabei auch nur um ein bösartiges Gerücht handeln konnte, frönte die Dame zuweilen den bizarren Sexspielchen. Zuzutrauen war es ihr auf jeden Fall.
»Unverstanden?«, schlug ich als Antwort vor.
»Constantin, wir haben ein Problem.«, mischte sich dann auch noch die letzte der drei Damen ein. Cassandra war schon immer, etwas unerwartet für eine Seherin, mit Abstand die sachlichste im Dreigestirn. Bei allen Spannungen, die zwischen uns bestanden, verkörperte sie immer so etwas, wie die Großmutterfigur in meinem Leben. Sie war es, an deren Schulter ich mich als kleiner Junge ausweinte, wenn die anderen Jungs gemein zu mir waren. Cassandra hatte ein großes Herz und einen noch größeren Busen, mit dem sie immer alles und jeden zu erdrücken schien. Ob ich deswegen schwul wurde?
»Da gebe ich dir absolut recht.«, seufzte ich, »Cassandra, was willst du von mir hören? Dass es mir leidtut, Vladimir getötet, ihm das Herz herausgerissen zu haben? Natürlich! Der Mann war wie ein Vater zu mir. Und genau so habe ich ihn geliebt, wie einen Vater!«
»Pah!«, schnaubte Timon, »Was für eine seltsame Art, seine Liebe zu zeigen. Selbst für deine Verhältnisse, Constantin.«
»Ich werde meine Handlungen vor euch nicht rechtfertigen.«, erklärte ich schlicht, »Es war Vladimirs ausdrücklicher Wille, dass ich nach seinem Tod Stammvater seines Hauses werde; einen Wunsch, dem ich mich nicht wiedersetzen werde und an den auch ihr gebunden seid.«
»Was noch abzuwarten wäre.«, entgegnete Lydia, »Ich glaube kaum, dass unser geliebter Gatte und Stammvater sein Haus an seinen Mörder vermachen wollte.«
»Mörder?«, lachte ich amüsiert auf, »So seht ihr mich also?«
Wäre dir Schlächter lieber?«, zischte Lydia. Ich glaube, ihr Speichel, hätte sie damit gespuckt, wäre in der Lage, Löcher in Granit zu ätzen.
»Nein, mein Lieber, du wirst bestimmt nicht Stammvater und Oberhaupt unseres Hauses.«
Die Damen pokerten ziemlich hoch, fragte sich, ob sie blufften, oder doch ein gutes Blatt auf der Hand hatten. Mit Vladimirs Siegelring und der darin enthaltenen
SD-Karte hatte ich mindestens ein Full House. Für das Tagesgeschäft waren Timon, Cassandra und Lydia von Vladimir mit entsprechenden Konto- und Verfügungsvollmachten ausgestattet. Auf das eigentliche Vermögen des Hauses Breskoff, die Aktien, Pfandbriefe, Schuldverschreibungen, Verträge, Firmenbeteiligungen, hatten sie keinen Zugriff. Deren Kontonummern und Zugangscodes besaß nur ich. Wenn ich wollte, landeten die drei schneller auf dem Trockenen, als sie Pieps sagen konnten. Fragte sich nur, ob die Damen das Geheimnis des Siegelrings kannten. Und wenn ja, ob sie ahnten, dass ich es entschlüsselt hatte. Mit anderen Worten hatte ich keine Ahnung, welche Karten sie auf der Hand hielten. Sie aber umgekehrt wohl aber auch nicht. Ich liebe Poker. Das Spiel konnte beginnen. Der Gewinn war nicht mehr und weniger, als die Führung des Hauses Breskoff. Lydia hatte ihren Einsatz gebracht, indem sie mir die Stammvaterschaft absprach. Ich hatte nun drei Möglichkeiten: Passen, dann wäre ich draußen, mitgehen, oder den Einsatz erhöhen.
»Und wie lösen wir das Problem?«, entschied ich mich zum Mitgehen, was meine Gegner in Zugzwang brachte. Sollten sie doch erst einmal ein paar Karten auf den Tisch legen, dann konnten wir immer noch weiter sehen.
»Du erhebst doch nicht ernsthaft Anspruch, oder?«, platzte es aus Timon heraus, »Constantin, du willst König werden. Glaubst du, dass ein Nachfolgestreit deine Chancen erhöht? Die Nosferatu könnten auf die Idee kommen, dass derartige Querelen eines Königs nicht würdig sind. Man könnte argumentieren, dass unser aller Souverän über profanen Streitigkeiten stehen sollte.«
Daher wehte also der Wind. Man muss wissen, dass die Häuser eh machten, was sie wollten. Die Königswürde war nicht mehr, als ein Grüßonkel zu sein, der hin und wieder Fehden zwischen den Häusern schlichtete und nebenbei versuchte, unseren Gesetzen halbwegs Geltung zu verschaffen. Da er dabei auf keine Streitkraft zurückgreifen konnte, blieb ihm nur die Autorität des Amtes und der Person. Autorität lässt sich aber eben nicht verordnen. Man muss sie sich erarbeiten, entweder, indem man Furcht verbreitet, oder durch Argumente überzeugt. Breskoff konnte beides, ganz im Stil von Zuckerbrot und Peitsche. Aus dieser Perspektive war Timons Ansatz stimmig. Wenn es ihr gelang, meinen Ruf zu diskreditieren, konnten die Nosferatu, die als Hüter und Interpretatoren des Gesetzes galten, dazu tendieren, mir die Königswürde abzusprechen.
»Ich wäre froh, wenn dieser Kelch an mir vorbei ginge.«, bemerkte ich eher beiläufig, als wenn mich die Krone überhaupt nicht interessierte. Das entsprach in gewisser Weise sogar der Wahrheit. König aller Vampire zu sein, bedeutete noch mehr Politik und noch mehr Verantwortung, davon hatte ich auch so schon genug. Was mich dazu wirklich veranlasste, den Job zu übernehmen, waren zwei Gründe. Zum einen stand ich bei Vladimir im Wort, zum anderen versuchte ich mir die Alternative vorzustellen. Konnte ich wirklich zulassen, dass ein Dracul unsere Geschichte bestimmte?
»Constantin, nicht flunkern.« Cassandra lächelte mich fröhlich und auch ein wenig spitzbübisch an. Unter den drei Damen war sie diejenige, bei der ich mir die größten Chancen ausrechnete, sie von meinen guten Absichten zu überzeugen. Als Seherin hatte sie über die Jahre eine gewisse Coolness, wie man es heutzutage nannte, erlangt. Cassandra dachte strategisch, das heißt langfristig, und nicht taktisch, also auf den kurzfristigen Vorteil bedacht. Daraus verschob sich der Blickwinkel, mit der sie die Welt betrachtete. Kleine Machtspielchen überließ sie den anderen, da sie die Strömungen der Zukunft kannte.
»Gut, Cassandra, die Wahrheit. Ich will die Krone. Ich empfinde sie zwar als Last, aber ich will sie. Weil Vladimir mich darum bat und weil ich nicht will, dass Typen wie van Sanden unsere Angelegenheiten regeln.«
Cassandra nickte zufrieden. Ich konnte sie nie anlügen. Als ich als kleiner Junge beim Spielen eine wirklich kostbare Vase zerdeppert hatte und versuchte, es dem Hausmädchen in die Schuhe zu schieben, war sie es, die mir die Leviten las und dazu brachte, die Wahrheit zu sagen und meine Tat einzugestehen. Danach habe ich mich nie wieder getraut, sie anzuflunkern.
»Das ändert noch gar nichts.«, schnaubte Timon wütend, »Meinetwegen kannst du mit der Krone sogar ins Bett gehen. Aber ich werde nicht zulassen, dass der Mann, der Vladimir ermordete, seinen Platz einnimmt. Ehrlich gesagt ist es eine Zumutung, sich mit dir überhaupt unterhalten zu müssen.«
»Wir haben uns darauf geeinigt, Constantin vorher anzuhören.«, entgegnete Cassandra sehr bestimmt.
»Vor was?«, mir war das unbestimmte vorher natürlich nicht entgangen. Die Mädels planten etwas. Hatten sie also doch ein besseres Blatt auf der Hand, als ich dachte.
»Vor der Einberufung eines Tribunals natürlich.«, ergriff Lady Lydia das Wort, wobei sie mich wie eine Katze betrachtete, der gerade eine Maus in die Falle gegangen war. »Timon, Cassandra und ich haben uns darauf geeinigt, ein Tribunal zu beantragen. Du hast den Herrscher eines Hauses ermordet. Wir, als dessen Geschöpfe, haben das Recht auf Vergeltung dieser Tat. Du kennst den Kodex.«
»Ihr wollt also meine endgültige Entkörperung verlangen?«, bei Menschen auch Todesstrafe genannt, was bei einem Untoten aber irgendwie unpassend klang. Dass die anderen Häuser nicht nach meinem Kopf verlangt hatten, war im Prinzip nachvollziehbar. Vladimir wurde zwar als König respektiert, dass ihn seine Untertanen geliebt hätten, ginge dann aber doch etwas zu weit. Man könnte auch sagen, den anderen Häusern ging die Sache mehr oder weniger am Arsch vorbei. Königsmord war zwar selten, kam aber vor und war nichts, weswegen man sich aufregen sollte. Man verbuchte es quasi als Berufsrisiko. Das Haus Breskoff sah die Angelegenheit naturgemäß etwas anders. Sie liebten ihren Stammvater. In solch einer Situation nach Vergeltung zu schreien, war mehr als verständlich.
Mir war klar, dass Vladimirs Mädels etwas planten. Allerdings hätte ich nie auf ein Tribunal gewettet. Für Timon und Lydias Verhältnisse viel zu unelegant und bürokratisch, hatte ich mit einem intelligenten Attentat, Gift, Sonnenlicht oder ähnlichem gerechnet, aber niemals mit einem Tribunal. Doch wenn ich genau darüber nachdachte, war es die perfekte Rache.
»Selbstverständlich!«, lachte Lydia offen triumphierend, »Und als Entschädigung lassen wir uns dein Haus zusprechen.«
Sehr schlau ausgedacht.
Rituale – wir waren Vampire mit sehr viel Zeit. Wir liebten Rituale. Womit sollte man sich sonst über all die Jahrhunderte beschäftigen? Die Basis aller Rituale bildete natürlich der Kodex, unser alterwürdiges Gesetzbuch. Und dann waren da noch der Kommentar, die Zusätze, die Rolle der Präzedenzfälle und das Buch des Bluts. Anders ausgedrückt gab es für jede Regel eine Gegenregel oder Schlupfloch, zu denen es ebenfalls wieder Ausnahmetatbestände und konkurrierende Präzedenzfälle gab. Um ein wenig Ordnung in das juristische Chaos zu bringen, hatte der Rat der großen Häuser entschieden, die Nosferatu als unabhängige Instanz mit der Interpretation des jus sanguae, dem Recht des Blutes, zu betrauen, was aber keinesfalls bedeutete, dass die Rechtsfindung sich damit wesentlich vereinfachte. Mitnichten!
Die Forderung nach einem Tribunal entsprach in etwa der Anrufung eines Gerichts, wenn auch mit delikaten Unterschieden. Das Urteil eines Tribunals war endgültig. Die Strafe eines Schuldspruchs wurde unmittelbar vollstreckt, wobei nur eine einzige Strafe vorgesehen war – endgültige Entkörperung. Alle Besitztümer des Verurteilten fielen dem Kläger zu, der aber nachweisen musste, dass ihm der Beklagte schweres Unrecht zugefügt hatte.
In dieser Beziehung waren Lydias Motive glasklar. Wenn sie tatsächlich überzeugt war, dass ich Vladimir ermordet hatte und das Tribunal davon überzeugen konnte, hätten sie auf ganzer Linie gewonnen. Ich wäre aus dem Weg, der Tod Breskoffs gerächt und mein Haus fiele ihnen wie ein reifer Apfel in den Schoß. Ja, die Damen hielten wirklich ein vortreffliches Blatt, was mich zwang, all in zu gehen, um im Pokerslang zu bleiben.
Einen Schönheitsfehler besaß Lydias genialer Plan dann nämlich doch. Man konnte eine Klage vor einem Tribunal auch verlieren. Das Urteil eines Tribunals mochte zwar endgültig sein, vorentschieden war es nicht. Mehr noch, da der Schuldfall nur eine mögliche Strafe vorsah, musste der Kläger sich seiner Sache absolut sicher sein. Scheiterte seine Klage, erfolgte zwar keine Entkörperung, die restlichen Konsequenzen fanden allerdings ebenfalls Anwendung. Mit anderen Worten, der Kläger verlor alle Besitztümer, ebenso sein Haus und war von da an auf die Gnade des Freigesprochenen angewiesen. Man sollte also sehr genau nachdenken, was man tat, wenn man das Tribunal anrief.
Nun, meine drei Freundinnen schienen ihrer Sache sicher zu sein, was mich dazu veranlasste, ganz tief in die Trickkiste zu greifen und ihre Selbstsicherheit ein klein wenig zu erschüttern.
»Ich halte ein Tribunal für eine glänzende Idee.«, strahlte ich insbesondere Timon und Lydia an. Ich musste es ihnen lassen, sie zuckten kein Stück zusammen. »Sollen wir die Nosferatu gleich informieren?«
»Du bluffst!«
»Meinst du?«
Grillfest
Florian
Erstaunlich, wie sehr der Arbeitsalltag einen verdrängen lässt. Während unser Trupp unter Atemschutz und in Papiervliesanzügen echten Hausschwamm aus der Zwischendecke des Bayerschen Herrenhauses pulte, schienen Michael, Tommy und die Vampire weit, weit weg zu sein. Stattdessen gab es ehrliche Arbeit, die uns sieben zu einem schlagfertigen Team zusammenschweißte. Niemand, selbst Hans, der dröge und ziemlich wortkarge Geselle, stellte meine Autorität in Frage. Sie alle akzeptierten mich tatsächlich als ihren Chef. Es gab keinen Widerspruch, auch keine Alleingänge, wie bei Mario. Ganz im Gegenteil schien man eher darauf erpicht zu sein, mir meine Wünsche von den Lippen abzulesen. Die Jungs kannten offensichtlich kein Mittelmaß und fielen von einem Extrem in das andere. Wurde ich früher gemobbt, wurde ich jetzt fast schon als Messias der Schwammsanierung angebetet. Was für eine verrückte Welt.
Nach zwei weiteren Tagen wurde es mir zu bunt. Ich musste ein paar Punkte mit meinen Leuten klären. Wie gerufen, zwangen uns Arbeiten eines anderen Gewerks eine mehrstündige Arbeitspause auf, die ich prompt für ein wenig Teambildung nutzte. Endlich konnte ich Dinge klären, die mir seit einer Weile unter den Nägeln brannten. Christiano meinte dazu, dass es nichts besseres gäbe, als ein kleines, zünftiges Grillfest, welches wir dann etwas abseits und mit Einverständnis der Bauleitung auch veranstalteten. Die Genehmigung war überhaupt kein Problem. Der GU fraß mir inzwischen ebenfalls aus der Hand und beteiligte sich sogar an dem Fest. Je mehr wir von der Decke freilegten, desto dramatischer wurde das Schadensbild und desto beruhigter war der Investor, dass wir das Problem umso professioneller angingen. Selbst die Vertreterin des Denkmalschutzamts war überaus zufrieden. Deswegen war man auch der Meinung, das kleine Grillfest auszudehnen und die anderen Arbeiter ebenfalls daran teilnehmen zu lassen. Allerdings blieben die Leute der einzelnen Gewerke für sich.
»Wie kommen wir denn zu der Ehre?«, fragte Ulrich, kurz Ulli, einer von Marios Leuten aus meiner Truppe, als er den Grill mit Würstchen, Koteletts, Steaks und sogar Lammfilets sah.
Ich war Ulrich dankbar, dass er von sich aus auf das Thema kam, das ich ansprechen wollte. »Niederreuter und Bayer meinten, wir hätten es uns verdient. Wir liegen gut drei Tage vor dem Plan. Als mir heute Morgen die Bauleitung mitteilte, dass wir heute ein paar Stunden Däumchen drehen müssten, hab ich gefragt, ob wir irgendwo am Rande der Baustelle grillen dürfen. Die sagten nicht nur ja, sondern hielten das sogar für eine super Idee. Bayer persönlich meinte, dass er selten eine so gute Arbeit wie die unsere gesehen hätte. Die Lammfilets gehen auf sein Konto. Ich glaube, wir haben ganz gute Arbeit geleistet.«
»Quatsch!«, schnaubte Jochen, der andere Kollege aus Marios Team, »Wenn wir die Lammfilets jemandem verdanken, dann dir. Du ziehst die Sache wirklich gut durch. Ich weiß gar nicht, warum Mario immer gegen dich stänkert.«
»Weil er ein Arschloch ist!«, meinte Ulli.
»Wer? Flo?«, fragte Jochen verdattert.
»Nein, du Idiot! Mario ist ein Arsch.«, meinte Ulli kopfschüttelnd, »Mario hat 'ne große Klappe. Mehr aber auch nicht. Selbst bekommt der doch gar nichts auf die Reihe.«
»Stimmt.«, bemerkte Hans knapp.
»Aber du«, Ulli zeigte auf mich, »bist ein Guter. Wie du die Baustelle organisiert und die Aufgaben verteilt hast, war cool. Wir schuften uns nicht zu Tode und sind trotzdem vor dem Plan. Du kannst echt stolz auf dich sein.«
»Quatsch!«, musste ich dieser unerträglichen Lobhudelei Einhalt gebieten, »Wenn jemand stolz sein sollte, dann wir alle zusammen.«
»Das stimmt nicht.«, fiel mir jetzt auch noch Jan in den Rücken, »Glaub mir, die Jungs haben recht. Mann, wir haben alle schon unter Marios, Andreas' oder Momsens Leitung gearbeitet. Danke, nein, muss nicht sein. Die Typen sind stur, jähzornig und inkompetent. Du weißt, was du willst und vor allem, du kannst es einem erklären. Du brüllst nicht rum und du wirfst auch nicht mit Werkzeugen nach einem. Nee, Flo, nimm ruhig mal etwas Lob an. Es ist ehrlich gemeint.«
»Ähm, ok!«
Der Plan, meine Kollegen dazu zu bringen, unseren Erfolg als Ergebnis einer gemeinsamen Leistung anzusehen, war komplett gescheitert. Frustriert knabberte ich an meiner Grillwurst, mampfte Kartoffelsalat und grummelte vor mich hin.
Warum ärgerst du dich über das Lob?
Es dauerte ein paar Sekunden, in denen ich wohl ein verdammt blödes Gesicht gemacht haben muss, bis ich begriff, dass Christiano in meinem Schädel tönte. Ich wusste, dass Vampire Gedanken lesen konnten, und auch, dass sie in der Lage waren, den Geist eines Menschen zu beeinflussen. Christiano hatte mir vom Vampirruf erzählt und ihn mir sogar vorgeführt. Dass sie aber sogar Gedanken direkt übermitteln konnten, war mir neu.
Es ist mir einfach unangenehm! Versuchte ich zu Christiano zurückzudenken.
Hey, nicht so laut. Ich versteh dich auch, ohne dass du gleich brüllst.
Meinte er das ernst? Ich schickte meinem vampirischen Kollegen einen verstohlenen Blick zu und erntete ein breites Grinsen. Wie dreist! Der Typ verarschte mich!
Sicher. Christiano schmunzelte. Sei locker und genieß deinen Erfolg. Verstehst du eigentlich, was hier passiert? Du gewinnst Menschen für dich. Sie mögen dich und folgen dir. Sie tun das nicht, weil sie dich fürchten, wie Momsen und die anderen, oder weil du sie dazu zwingst.
Und plötzlich dämmerte es mir. Es war eine Lehrstunde in Menschenführung. Christianos Vorschlag, ein kleines Grillfest zu veranstalten, war alles andere als zufällig. Er bereitete mich auf meine Aufgaben im Hause Varadin vor.
Und du machst das sehr gut. Christiano bestätigte meine Vermutung. Du bist Constantins Gefährte. Ich will dir keine Angst machen, aber als Prinzgemahl, wenn du mir den Ausdruck verzeihst, erwartet man von dir gewisse charakterliche Qualitäten, wie Persönlichkeit, Führungsstärke, Überzeugungskraft und Charisma.
Hast nicht noch etwas vergessen? Was ist mit Härte?
Statt zu antworten, weder verbal noch telepathisch, schaute mich Christiano nachdenklich an und zuckte mit den Schultern.
»Hey, ihr zwei?«, rief plötzlich Jan, »Was geht da zwischen euch ab? Tuschelt ihr über uns?«
Ich schüttelte den Kopf: »Nein, ich war… Ich habe nur vor mich hingeträumt. Entschuldigt bitte.«
»Hab' ich das eben eigentlich richtig verstanden?«, wechselte Christiano plötzlich das Thema, »Momsen wirft nach seinen Leuten mit Werkzeug?«
Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Wieso griff mein vampirischer Freund ausgerechnet dieses Thema auf? Momsen war ein Tyrann, ein Arschloch, einer der Typen, denen ich mein Martyrium in dieser Firma zu verdanken hatte. Ständig stachelte er Kollegen gegen mich auf. Wenn es darum ging, mich vor versammelter Mannschaft zu demütigen, war er ganz vorne mit dabei. Das einzige, was man ihm nicht vorwerfen konnte, war, mich vergewaltigt zu haben.
»Hast du 'ne Ahnung!«, stöhnte Jan, »Du kannst echt froh sein, mit ihm noch nicht auf Tour gewesen zu sein. Momsen ist eine richtig linke Bazille. Solltest du doch mal das Missvergnügen haben, mit ihm zu arbeiten, darfst du dich nicht wundern, wenn er gute Arbeit als seinen Verdienst, bei Fehlern aber dir die Schuld gibt. Als Schwuler dürfte er dich eh gefressen haben. Nichts für ungut.«
»Ach homophob ist er auch noch?«, hakte Christiano nach und manövrierte uns direkt zum Thema, das ich unter allen Umständen vermeiden wollte.
»Homophob? Junge, kannst du dich nicht wie ein normaler Mensch ausdrücken?«, klinkte sich jetzt auch noch Ulrich ein, »Der Mann ist der totale Schwulenhasser. Der kennt gar kein anderes Thema, als über diese >Arschficker<, wie er sie nennt, herzuziehen. Der kann sich stundenlang an dem Thema hochziehen. Hey, Flo, du hast doch vor ein paar Wochen bei diesem reichen Typen gearbeitet? Vara… Varadin, Constantin Varadin. Du hättest Momsen danach mal erleben sollen. Dieser Varadin wäre hundertpro 'ne Schwester. Man müsse sich nur mal seine Klamotten ansehen. Alles Maßanzüge, da weiß man dann schon. Außerdem hätte er ihm, Momsen, ständig auf den Arsch geschaut.«
Bei dieser Bemerkung brach allgemeines Gelächter aus. Die Vorstellung, dass jemand unseren Momsen attraktiv fand, war mehr als abwegig. Der Mann litt eindeutig unter schwersten Wahrnehmungsstörungen.
»Leute, den ganzen Tag musste ich mir Momsens Gesülze anhören. Wie zwei Männer überhaupt zusammen Sex haben könnten? Bei der Vorstellung, dass ihn ein anderer Kerl da unten anfassen würde, müsste er kotzen. Da würde sich bei ihm nicht das geringste regen. Ich hätte am liebsten "Halts Maul" geschrien, allerdings… Solange er über Schwule herzog, machte er mich nicht an.«
»Momsen ist ein Schwein.«, gab nun Jochen seinen Senf dazu, »Der lässt immer andere seine Arbeit machen. Hinterhältig ist er. Weißt du noch, wie er Mario und Andreas angestachelt hat, Flo zu… äh…«
Plötzlich saßen mir vier kreideweiße Typen gegenüber. Jochen hatte, mitgerissen von der entspannten Stimmung am Grill, frei drauflos geplappert und war prompt zu jenem denkwürdigen Ereignis vorgestoßen, das mich in den Selbstmord trieb. Den bleichen Gesichtern zu folgern, schien jeder an das gleiche zu denken, ausgenommen Christiano.
Sorry, Flo, aber da musst du jetzt durch. Warnte mich der Mann und wandte sich dann, den total Ahnungslosen spielend, an meine Kollegen, »Was war mit Florian?«
Ulrich schluckte, Jan fand den Boden vor seinen Füßen plötzlich ausgesprochen interessant, Marco starrte mich starr und fast panisch an und Jochen begann zu stammeln: »Ähm, er hat sie dazu gebracht, Flo ein wenig aufzumischen. Menno, ich war nicht dabei. Ich weiß nur, was man mir erzählt hat. Aber die haben unserem Flo wohl ziemlich zugesetzt.«
»Wenn du dabei gewesen wärst, hättest du etwas dagegen unternommen?«, bohrte Christiano erbarmungslos nach.
Jochen schaute ebenfalls zu Boden. Bei dem, was er sagen wollte, konnte er mir unmöglich in die Augen schauen: »Nein, wahrscheinlich nicht. Andreas und Mario sind echt gefährlich. Die haben…«
»Mensch, halts Maul!«, fuhr plötzlich Ulrich Jochen an, »Willst du, dass die Typen sich mit uns beschäftigen?«
»Raus mit der Sprache!«, Christianos Stimme bekam etwas zwingendes, wenn auch nicht für mich. Ganz im Gegenteil konnte ich deutlich ihre telepathische Komponente ausmachen und vom Rest trennen. Meine Kollegen wiederum dürften kaum in der Lage sein, sich seines mentalen Befehls zu entziehen.
»Es geht das Gerücht um, dass Andreas, Mario und noch ein paar andere in ihrer Freizeit Schwule klatschen gehen. Ich habe mal zufällig mit angehört, wie Andreas etwas von Volksschädlingen faselte, die man alle kaltmachen sollte. Ich habe mich dann schleunigst aus dem Staub gemacht, um von den Spinnern nicht entdeckt zu werden.«
»Nazis?«
»Ich weiß nicht. Eigentlich nicht. Die haben einfach nur verquaste Vorstellungen. Obwohl, bei Andreas bin ich mir nicht sicher, der redet nie viel. Ich würde aber an deiner Stelle immer dafür sorgen, dass ich den Rücken frei hätte. Über dich wurde nämlich auch schon gesprochen. Du hättest einen schlechten Einfluss auf Florian und würdest ihm Flausen in den Kopf setzen.«
Eine interessante Vorstellung. Christiano allein mit meinen Vergewaltigern. Man musste kein Hellseher sein, um den Ausgang eines solchen Zusammentreffens vorherzusehen. Ich habe Constantins rein vampirisches Wesen gesehen; das Monster in ihm. Ein Teil seiner Kraft zirkulierte durch meinen Körper. Wenn ich meine neuen Fähigkeiten hochrechnete, würde man die fünf wahrscheinlich nur noch mit einer Spachtel vom Boden kratzen können. Nein, um Christiano machte ich mir wirklich keine Sorgen. Ich sorgte mich ja nicht mal mehr um mich selbst.
»Mario hat 'ne Knarre! Der Typ ist ein völlig durchgeknallter Waffennarr. Der sammelt so'n Zeug. Pistolen, Messer, Wurfsterne, Samuraischwerter. Der Kerl ist total schräg drauf. Faselte mal vom Bösen, das uns unterwandert und aussaugen will.«, Hans, dieses stille Wesen. Er sagte selten etwas, aber wenn er etwas sagte, dann war es wichtig.
»Echt?«, fragte Jochen, erntete aber nur ein bekräftigendes Kopfnicken, was ihn wiederum zu einem »Shit!« veranlasste.
»Ey, Flo, es tut uns echt leid, wie wir dich in der Vergangenheit behandelt haben.«, platzte es plötzlich aus Ulrich heraus, »Eigentlich bist du ein richtig cooler Typ!«
Das erforderte eine Antwort, die, wenn auch ernst gemeint, nicht ganz der Wahrheit entsprach: »Leute, ich danke euch. Was auch immer vor ein paar Wochen geschehen sein mag, ich kann mich nicht mehr daran erinnern, und dabei sollten wir es auch belassen. Das Vergangene ist vergangen. Schwamm drüber. Ihr seid allesamt super Kollegen, mit denen ich gerne zusammenarbeite. Also, was immer ihr getan oder nicht getan haben mögt, lasst euch deswegen keine grauen Haare wachsen. Ok?«
Natürlich konnte ich mich an alles erinnern, was damals vorgefallen war. Wie die Typen über mich hergefallen waren und mich vergewaltigten. Alle fünf. Andreas, Mario und auch mein reumütiger Kollege Marco. Während alle anderen bei meinen Worten dankbar aufatmeten, fixierte er nach wie vor den Boden. Seine Augen, soweit man sie sehen konnte, schimmerten glasig. Der Junge kämpfte mit den Tränen.
War Marco einer deiner Vergewaltiger?, wollte Christiano wissen, der die ungewöhnliche Augenfeuchtigkeit unseres Kollegen ebenfalls bemerkt hatte und eins und eins zusammenzählte.
Ja, ist er, wenn auch aus anderen Motiven, als die anderen vier.
Er ist schwul, oder?
Ich bin mir dessen ziemlich sicher. Als er in mich eindrang, war das zwar ungelenk und linkisch, aber nicht brutal. Ganz im Gegenteil versuchte er zärtlich zu sein und mich zu fühlen. Ja, Marco ist schwul, weiß aber nicht, wie er damit umgehen soll. Ich mache mir große Sorgen um ihn.
Himmel, Flo, wie weit hat dich Constantin bereits in einen Vampir verwandelt?, Christiano klang ernsthaft beunruhigt.
Sag du es mir. Du warst dabei. Ich glaube, es ist nur ein Hauch eurer Kraft, die mich durchflutet, wieso?
Nichts. Es ist nur… Nein, bitte vergiss es. Wir dürfen deiner Entwicklung nicht vorgreifen. Bitte vertrau mir und frag nicht nach. Alles wird so kommen, wie es soll.
Das Tribunal
Constantin
Poker ist wirklich ein interessantes Spiel, bei dem nicht die Karten, sondern der Gegner gespielt wird. Timon und Lydia hatten hoch gepokert. Sie waren sich absolut sicher, das beste Blatt in den Händen zu halten. Davon überzeugt, dass ich ihren geliebten Ehemann und Stammvater kaltblütig ermordet hatte, verschwendeten sie keine Sekunde darauf, andere Möglichkeiten auch nur in Erwägung zu ziehen. Dass ich wirklich eine reine Weste besaß, mehr noch, nur die Rolle eines Werkzeugs bei Vladimirs Selbstentkörperung spielte, auf diese Idee waren sie nicht einmal ansatzweise gekommen.
Je mehr ich darüber nachdachte, desto besser gefiel mir die Vorstellung, mich vor einem Tribunal zu verantworten, löste es doch ein moralisches Problem, welches mich seit einiger Zeit quälte. Vladimir Breskoff hatte den endgültigen Tod gewählt, weil er am Vladsyndrom erkrankt war und in einen gefährlichen und zerstörerischen Wahnsinn abzudriften drohte. Es stand mir sicherlich nicht zu, seine Entscheidung in Frage zu stellen, hätte mir aber gewünscht, vorher in seine Pläne eingeweiht zu werden. So wie die Sache ablief, musste der eine oder andere zwangsläufig glauben, ich hätten den Alten tatsächlich kaltgemacht. Wer außer mir kannte schon die Wahrheit? Bestenfalls sein Leibarzt, der aber an ein Schweigegelübde gebunden war. Auf keinen Fall waren seine drei Frauen eingeweiht. Den Makel, Opfer dieser unaussprechlichen Krankheit zu sein, hatte er hunterprozentig für sich behalten. Wenn es nach mir ging, dann sollte es auch so bleiben. Die Welt sollte Vladimir Breskoff, den König der Vampire, so in Erinnerung behalten, wie sie ihn kannte. Es sollte weder sein Andenken noch sein Haus nachträglich mit dieser vermeintlichen Schande befleckt werden, die nur seine Gegner hätte triumphieren lassen.
Und so weit sollte es nicht kommen. Mit dem Tribunal ergab sich unerwartet eine Alternative, durch die sich die Enthüllung der Hintergründe meiner Tat umgehen ließ. Allerdings hieß dies auch, mich auf ein lebensgefährliches Spiel einzulassen. Wie ich schon erwähnte, bestand unser Rechtssystem aus so vielen Regeln, Gegenregeln, Schlupflöchern, Haken, Ösen und Umgehungsmöglichkeiten, dass niemand sie alle kennen konnte. Auf eine dieser Ösen, eine wenig bekannte und noch seltener genutzte, setzte ich nun meine ganze Hoffnung und die meiner beiden Häuser. Scheiterte ich, würde ich das Tribunal nicht lebend verlassen.
»Du willst das also durchziehen?«
Auch wenn es so klang, stellte Laurentius meine Entscheidung nicht in Frage. Es war seine Art, eine Standortbestimmung zu formulieren. Realistisch betrachtet blieb mir gar keine Alternative, als mich dem Tribunal zu stellen. Meine verehrten Gastgeberinnen hatten die Klage offiziell bei der Synode der Nosferatu eingereicht. Sie wurde sofort angenommen und ich als Beklagter öffentlich benannt. Von da an gab es kein zurück. Das Tribunalverfahren, das nun in Gang gesetzt wurde, folgte einem sehr starren Ritual. So hätte der Versuch, sich der Verhandlung zu entziehen, einen sofortigen Schuldspruch nach sich gezogen. Allerdings beabsichtigte ich gar nicht, zu fliehen. Ganz im Gegenteil genoss ich die etwas unterkühlte Gastfreundschaft des Hauses Breskoff. Timon, Lydia und Cassandra mochten mich verachten, vielleicht sogar hassen, doch respektlos waren sie nicht. Während der Wartezeit bis zum Eintreffen des Triumvirats, das Tribunal bestand aus drei Richtern, behandelte man mich sehr zuvorkommen, fast ehrfürchtig. Oder gönnten sie mir meine Henkersmahlzeit?
»Ja, ich werde die Sache durchziehen. Machst du dir Sorgen, einem neuen Fürsten dienen zu müssen?«
»Ach nein. Sollte man dich entkörpern, müsste ich mein eigenes Haus aufmachen. Weißt du, wie viel Arbeit das ist?«
Laurentius Miene verfinsterte sich.
»Mir gefällt die Idee mit dem Tribunal nicht. Dein Plan klingt gut. Trotzdem… Es ist ein gefährliches Spiel, das du da spielst. Sollte das Tribunal dich für schuldig befinden und dein kleiner Trick nicht klappen, werde ich dich nicht retten können.«
Ich wusste, was er meinte. Mein Plan mochte noch so ausgebufft und raffiniert sein, es blieb ein Restrisiko – das tat es immer.
»Laurentius, ich vertraue voll und ganz auf deine Fähigkeit, den Fall für mich zu verlieren!«
»Pah!«, lachte mein Marschall und bedachte mich mit einem halb gequälten, halb resignierten Blick und schüttelte müde seinen Kopf. Offensichtlich hielt er mich für total wahnsinnig.
Statt zu antworten, nickte ich ihm nur zu und gönnte mir einen erstklassigen armenischen Cognac. Die Franzosen mochten ihren Stoff für das Maß aller Dinge halten, doch die Wahrheit lag im Osten. Das wusste sogar Winston Churchill, der das armenische dem französichen eindeutig bevorzugte. Armenischer Weinbrand wird ausschließlich aus armenischen Trauben gebrannt, die vom warmen und trockenen Klima des Ararattals profitieren. Wenn man dann auch noch reines Gebirgsquellwasser verwendet, erhält man ein ganz eigenes, samtiges Aroma. Was gab es besseres, als seine vielleicht letzten Stunden auf Erden mit einer solchen Köstlichkeit zu versüßen.
Während ich das goldbraune Getränk noch meine Kehle hinabgleiten ließ, klopfte es an der Tür. Nach einem frustrierten >Herein< meinerseits, lugte Michaels Kopf zwischen den Türflügeln hindurch.
»Das Triumvirat ist angekommen. Ihr möchtet Euch bitte bereithalten. Die Verhandlung wird innerhalb der nächsten Stunde beginnen.«, verkündete er sichtlich mitgenommen.
»Michael?«, rief ich dem sympathischen Vampir nach, als dieser sich bereits wieder entfernen wollte.
»Ja, Euer Durchlaucht?«
»Ich glaube, wir waren schon beim Du, oder?«
Michael nickte, trat ins Zimmer und zog die Tür hinter sich zu: »Ja, Constantin, wir waren beim Du.«
»Würdest du mir die Ehre erweisen, mir zu sekundieren.«
Der Angesprochene schluckte, sah mich sowohl stolz als auch ängstlich an, nickte und meinte dann: »Es wäre mir eine Ehre.«
»Mach dir nicht zu viele Sorgen.«, lachte ich leise, »Am Ende wird alles gut gehen. Du wirst schon sehen.«
Machte ich mir selbst etwas vor? Als ich den Saal betrat, den man als Ort der Verhandlung gewählt hatte, musste ich schlucken. Ich kannte das Prozedere nur aus den Texten des Kodex und seiner Kommentare. Deren reale Umsetzung war, vorsichtig ausgedrückt, beklemmend. Dabei war mir mein Plan so einfach, fast genial erschienen. Doch jetzt, im Anblick des Tribunals, kam mir meine Idee alles andere als schlau, sondern absolut selbstmörderisch vor. Worauf hatte ich mich nur eingelassen?
Wie die Nosferatu es schafften, innerhalb weniger Stunden einen sonst für Feste und Bankette genutzten Raum in einen Gerichtssaal zu verwandeln, wird wahrscheinlich für immer ihr Geheimnis bleiben. Wuchtige, massive Holztische und Bänke, halt eine vollständige Gerichtssaalausstattung wurden auf unbekannten Wegen herbeigeschafft und in Windeseile aufgebaut. Das Tribunalverfahren sah eine quadratische Anordnung der einzelnen beteiligten Parteien vor. Am Ende des Raums, entlang der ersten Seite des Quadrats, befand sich die Bank der Richter, bestehend aus drei Nosferatu, deren Gesichter die ganze Zeit unter schwarzen Kapuzen verborgen blieben. Sie saßen erhöht, um ihre Autorität und Entscheidungsgewalt auch optisch zu unterstreichen. Rechts davon standen nebeneinander die Bank des Anklägers und die des Verteidigers, ihnen gegenüber, also links von der Richterbank, war der Zeugenstand. Die Raumaufteilung unterschied sich somit ein wenig von den Gerichtssälen der Menschen, war aber durchaus als solcher noch erkennbar. Der entscheidende Unterschied, der dem ganzen eine beklemmende Note verlieh, war der Richtstuhl. Er befand sich in der Mitte der vierten Seite des gedachten Quadrats und blickte zu den Richtern.
Der Richtstuhl… Wenn der Kodex davon sprach, dass im Falle eines Schuldspruchs das Urteil sofort vollstreckt wurde, dann war dies absolut wörtlich zu nehmen. Die Entkörperung erfolgte durch vollständiges Ausbluten des Delinquenten. Vor einigen Jahrhunderten hatte ein heute unbekannter Handwerksmeister dafür den sedile morti, den Stuhl des Todes, geschaffen, ein Werk von morbider Schönheit. Blattvergoldete Schnitzereien von Teufelsfratzen, Totenköpfen und Gebeinen umspielten das wuchtige und gut hundertachtzig Kilogramm schwere Gestell. Die wichtigsten Teile, wie Arm- und Rückenlehne, sowie die Sitzfläche waren mit dunkelrotem Leder gepolstert, schließlich ereilte nur Stammväter und Fürsten der Vampire die zweifelhafte Ehre, in diesem potenziell letalen Sitzmöbel Platz nehmen zu dürfen, so wie ich in wenigen Minuten auch.
Als wir, Laurentius zu meiner Linken, Michael zu meiner Rechten, den Gerichtssaal betraten, waren das Gericht und die Kläger bereits anwesend. So verlangte es der Kodex. Die drei verhüllten Nosferatu des Triumvirats saßen erhöht und überthronten damit das ganze Geschehen. Sie sprachen nie, sie stellten keine Fragen und gaben keine Antworten. All dies übernahm der os iudicii, der Mund des Gerichts, ein Nosferatu in roter Robe.
»Fürst Constantin Varadin«, wurde ich vom Mund empfangen, »Gegen Dich wurde Klage erhoben. Ihr sollt Graf Breskoff, König der Vampire, heimtückisch und aus niederer Gesinnung auf grausame Weise entkörpert haben. Das Tribunal der Wächter des Kodex hat die Klage angenommen und wird den Fall verhandeln. Unterwirfst Du dich ihrem Spruch?«
Das mochte wie eine Frage klingen, war in Wirklichkeit aber eine Floskel. Das Verfahren war eröffnet. Sich nicht zu unterwerfen hieß laut Kodex, seine Schuld einzugestehen und so antwortete ich pflichtgemäß mit »Ich unterwerfe mich der Weisheit des Tribunals.«
»So wurde es vernommen.«, verkündete der Mund, »Nenne uns nun deinen Sekundanten und Causidicus.«
»Michael, Mitglied des Hauses Breskoff, wird mir sekundieren. Laurentius Varadin vertritt meinen Fall.«
»So wurde es vernommen.«, ertönte erneut der Mund, »Die Regeln des Tribunals sind erfüllt. Die manus iudicii möge nun den Beschuldigten binden.«
Die manus iudicii oder Hand des Gerichts war niemand anderes als der Scharfrichter, ein etwas schlaksiger, aber für einen Nosferatu erstaunlich fröhlich wirkenden Vampir. Wenn man einmal davon absah, dass dieser Mann mich vielleicht tötete, machte er eigentlich einen ganz sympathischen Eindruck. Das konnte daran liegen, dass er sich noch nicht so recht in seine Rolle als Henker eingefunden hatte.
»Ähm«, ließ er sich dann auch etwas verlegen verlauten, »Es tut mir wirklich aufrichtig leid, aber Ihr müsst mir jetzt folgen.«
Wie niedlich – Ein Scharfrichter, dem seine Tätigkeit unangenehm war. Zu seiner Entschuldigung konnte man anderseits anführen, dass wir in den vergangenen zweihundertsiebzig Jahren keinen Scharfrichter benötigten. Der arme Mann hatte wohl einfach das falsche Los gezogen und war als Henker abkommandiert worden.
»Es muss Euch nicht leidtun.«, munterte ich die Hand des Gerichts auf, »Wir spielen alle nur die uns zugedachte Rolle.«
Mein Scharfrichter verzog linkisch seine Lippen zum Ansatz eines Lächelns, sagte aber nichts. Stattdessen geleitete er mich zum Richtstuhl, auf dem ich mich, mit einem ausgesprochen flauen Gefühl in der Magengegend, niederließ.
»Wie heißt Ihr?«, versuchte ich das Eis zu brechen.
»Ich bin Tamir, Akolyt 3. Stufe des westlichen Ordens der Nosferatu.«, dankbar, dass ich ihm seinen Job offensichtlich nicht übel nahm.
»Ich muss Euch jetzt fesseln.«
»Nur zu, Tamir. Ich bin übrigens Constantin. Ich glaube, dass wir in unserer Situation auf das formale Sie verzichten können.«
»Danke, Constantin.«, meinte Tamir, überlegte eine Sekunde und fügte dann zögernd hinzu, wobei er mich mit unheimlich weisen, fast uralt schimmernden Augen anschaute: »Mir ist das alles sehr unangenehm, trotzdem, sollte man dich schuldig sprechen, werde ich es tun, denn es bedeutet, dass du Schuld auf dich geladen hast. Das ist nicht persönlich gemeint.«
Es, das waren die rasiermesserscharfen Klingen, die in den Armlehnen verborgen lagen und sich durch Betätigen eines Hebels durch den Scharfrichter in die Handgelenke des Angeklagten schnitten, sollte dieser für schuldig befunden werden. Der Stuhl tat also nichts anderes, als einem die Pulsadern aufzuschneiden. Unterhalb der Klingen befanden sich dann auch silberne Rinnen, die das Blut auffingen und in eine ebenfalls aus Silber gefertigte Schale unter dem Stuhl leiteten, um es später im Sonnenlicht zu verbrennen.
»Selbstverständlich wirst du das.«, meinte ich zu Tamir, wobei ich mich kaum von seinen hypnotischen Augen lösen konnte, bei denen ich den Eindruck hatte, sie könnten mir direkt in die Seele blicken, »Und keine Angst, ich nehme es dir auch nicht persönlich.«
Darauf begann Tamir, mich mit sehr breiten, festen, roten Ledergurten an den Richtstuhl zu fesseln. Derartige Lederfesseln waren ein Witz, zumindest für einen Vampir. Jeder Jungblutsauger hätte sie mit einem Wimpernschlag gesprengt. Deswegen dienten sie auch nur der Unterfütterung der nun folgenden, extra gehärteten Stahlketten. Die sprengte man nicht so leicht. Als mir Tamir sanft, aber nachdrücklich die Handgelenke auf die Armlehne drückte, in denen die tödlichen Klingen lauerten, musste ich schlucken. Mit einem Mal kam mir die ganze Idee alles andere als schlau, sondern verdammt dumm vor.
Mein Scharfrichter hatte meine Nervosität natürlich bemerkt, interpretierte sie aber falsch: »Constantin, du bist nicht der erste ehrenwerte Mann, der auf dem sedile morti Platz nehmen musste. Es ist kein Makel, keine Schande, hier zu sitzen.«
»Mag sein. Ich frag mich allerdings, wie viele ehrenwerte Männer den Stuhl auch lebend wieder verlassen haben.«
»Ähm, nicht sehr viele.«
»Angeklagter, von nun an wirst du schweigen und stattdessen dein Sekundant für dich sprechen.«, ergriff der Mund des Gerichts erneut das Wort. Dies war noch so eine Besonderheit des Tribunals. Der Beklagte hatte kein eigenes Rederecht, dieses wurde vom Sekundanten wahrgenommen, der im Namen des Beklagten sprach. Wo diese Tradition herrührte, konnte mir niemand beantworten.
»Vernehme nun die Anklage. Kläger, Ihr habt das Wort.«
Von der Bank der klagenden Partei erhob sich eine schwarz verhüllte Gestalt. Die Verhüllung war bei dieser Prozessart obligatorisch. Kläger und Verteidiger blieben solange verhüllt, bis man ihnen das Wort erteilte. Laurentius, der auf der Bank des Verteidigers Platz genommen hatte, war ebenso mit einer Kapuze verhüllt, wie der Kläger, die diese aber nun ablegte. Ich war überrascht. Weder Timon, noch Cassandra oder Lydia kamen zum Vorschein, sondern niemand anderes als Baron van Sanden. Lydia war wirklich clever. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass van Sanden als Ankläger zu verpflichten, auf ihren Mist gewachsen war. Den Stammvater eines anderen Hauses mit der Klage zu betrauen, war schlau. Selbst nicht involviert, konnte er wesentlich sachlicher und damit glaubwürdiger argumentieren.
»Ehrwürdiges Tribunal!«, erhob van Sanden seine Stimme, »Vor euch seht Ihr den Stammvater eines der ältesten und nobelsten unserer großen Häuser.«
Wenn auch nicht ganz der Situation angemessen, musste ich grinsen. Mein Haus nobel zu nennen, muss den Baron einiges an Überwindung gekostet haben.
»Und ein Monster!«, fügte van Sanden nach einer rhetorischen Kunstpause hinzu, »Constantin Varadin ist ein verachtenswertes Individuum. Im Verlauf dieses Prozesses werden wir nachweisen, dass er Graf Breskoff, unseren geliebten und verehrten König, kaltblütig, grausam und aus purer Machtgier ermordete. Ehrwürdiges Tribunal. Nach Abschluss der Beweisaufnahme wird kein Zweifel daran bestehen, dass Fürst Varadin schwerste Schuld auf sich geladen hat. Ich klage daher Fürst Constantin Varadin des Mordes ersten Grades an. Ich danke Ihnen.«
Damit zog sich van Sanden wieder die Kapuze über den Kopf und setzte sich.
»Fürst Constantin Varadin. Ihr habt die Klage vernommen. Wie bekennt Ihr Euch?«
Mit dieser Frage kam erstmals mein Sekundant ins Spiel, der sich während des ganzen Prozesses neben mir hielt. Michael beugte sich zu mir vor, damit ich ihm meine Antwort ins Ohr flüstern konnte. Nachdem ich alles gesagt hatte, nickte Michael und richtete sich wieder auf.
»Der Angeklagte, Fürst Constantin Varadin, erklärt sich für nicht schuldig.«
»Kläger, benennt Euren Zeugen.«
Dies war noch so eine Besonderheit des Tribunals. Kläger und Verteidiger standen jeweils nur ein Zeuge zu Verfügung. Sie mussten sich also auf jemanden beschränken, der möglichst überzeugend war.
»Ich rufe den Präsens der Synode der Nosferatu, seine Heiligkeit Vater Norfun.«
Van Sanden war als Ankläger nicht zu unterschätzen. Als Nosferatu genoss Vater Norfun besondere Glaubwürdigkeit. Nosferatu logen nie. Es lag nicht in ihrer Natur. Als Präsenz der Synode und Verwalter des Krönungsritus besaß sein Wort ein Gewicht, dem kaum etwas zu entgegensetzen war. Norfun war ein idealer Zeuge, da er, genau wie van Sanden, direkt am Ort des Geschehens war und die Ereignisse, ganz seiner Natur entsprechend, wahrheitsgetreu und frei von persönlichen Einflüssen schildern würde. Der Trick des Anklägers bestand dann darin, die Worte des Zeugens so zu interpretieren, dass sich aus ihnen unmittelbar die Schuld des Angeklagten ergab.
»Eure Heiligkeit, schwört Ihr bei eurem Blute, das Tribunal mit der Wahrheit zu ehren?«, der Eid war ein wenig ungewöhnlich, wir Vampire aber auch ein ungewöhnliches Völkchen.
»Ich schwöre!«, schwor Norfun.
Damit war der Startschuss gefallen. Van Sanden begann mit seinen Fragen, die Norfun erwartungsgemäß absolut schnörkellos und knapp beantwortete. Im Prinzip schilderte er die Vorfälle von Laurentius Bestrafung. Mit prägnanten aber nichts entstellenden Worten beschrieb er den Empfang und erwähnte dabei auch den kleinen Disput zwischen van Sanden und Breskoff. Van Sanden hielt Laurentius Sonnenverbrennung für eine Farce, dem Breskoff vehement widersprach. Natürlich kam auch Breskoffs Mahnung, keinen Krieg zwischen den Häusern zu beginnen, zur Sprache.
»Eure Heiligkeit, wenn ich mich erinnere, wurde nach den mahnenden Worten unseres ehrwürdigen Königs die Vollstreckung durch ein Mitglied des Hauses Varadin gestört?«
»Das ist korrekt.«, bestätigte Norfun, »Zwischen Christiano, einem Mitglied des Hauses Varadin, das für sein hitziges Temperament bekannt war, und dem Beklagten, kam es zu einem Disput über die Angemessenheit von Laurentius Bestrafung, während dem unangemessene und verletzende Worte gewechselt wurden. Fürst Varadin blieb nichts anderes übrig, als Christiano aus dem Saal entfernen zu lassen.«
»Wie würden Sie Fürst Varadins Stimmung beurteilen?«
»Er wirkte auf mich sehr angespannt. Der Wortwechsel mit Christiano schien ihn sehr getroffen zu haben.«
»Was geschah dann?«
»Laurentius Bestrafung wurde fortgesetzt. Fürst Varadin übernahm es selbst, Laurentius in die Kammer zu führen. Entschuldigen Sie, ich bin kein Techniker, deswegen bin ich mir bei den nachfolgenden Ereignissen nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden habe. Jedenfalls sprang plötzlich Graf Breskoff an die Kontrollen der Kammer und stieß dabei den Wächter, der sie bisher bediente, unsanft beiseite. Die Tür fiel zu, die Jalousien öffneten sich und ließen das Sonnenlicht hinein.«
»Können Sie sagen, ob Graf Breskoff die Tür geschlossen und Jalousien geöffnet hat?«
Das war wohl der springende Punkt, der über Selbstverteidigung oder Mord entschied.
»Wie gesagt, ich bin kein Techniker. Ich kann das nicht sagen. Breskoff stieß den jungen Vampir, der vorher an den Kontrollen stand, ziemlich rüde beiseite. Ob er dies tat, um Fürst Varadin zu verbrennen oder um ihn vor einer Fehlfunktion der Kammer zu retten, kann ich nicht sagen.«
»Nun, dann kann ich dem Tribunal vielleicht weiterhelfen.«, tönte van Sanden und präsentierte einen Plastiksack mit einem Haufen Elektronik, einen mit Glasscherben, sowie eine kleine Aktenmappe »Dies ist der Kontrollcomputer der Verbrennungskammer. Er wurde uns vor ein paar Stunden zugespielt. Weiterhin lege ich ein eidesstattliches Gutachten vor, aus dem eindeutig hervorgeht, dass das System manipuliert war. Es verfügte über eine Fernbedienung. Nicht Graf Breskoff, unser geliebter König, hat Fürst Varadin in eine Falle gelockt, wie dieser uns glauben machen will. Ganz im Gegenteil hat er versucht, ihn zu retten. Und wie dankte es Fürst Varadin, er ermordet denjenigen, der ihn retten wollte. Ich behaupte, dass Constantin Varadin selbst die Tür geschlossen und anschließend die Jalousien geöffnet hat. Als natürlicher Vampir verfügt er über genügend Widerstandskraft, um dem Sonnenlicht eine Weile zu widerstehen, außerdem war er durch seine Kleidung geschützt. Constantin Varadin war zu keiner Sekunde in Gefahr, ernsthaft verbrannt zu werden. Das Glas der Sichtscheiben, welches ich hier dem Tribunal präsentiere, war bewusst dünn gewählt, sodass es selbst ein Kind hätte einschlagen können. Sie fragen sich, weswegen er dies tat? Weil die ganze Bestrafungsaktion Marschall Laurentius' eine Inszenierung, eine Posse war, die einzig dem Zweck diente, Graf Breskoff heimtückisch und hinterhältig in eine Falle zu locken. Perfide und schamlos sollte die Ermordung unseres Königs vor den Augen der Abgesandten aller großen Häuser erfolgen. Ja, der Plan schloss uns alle mit ein. Wir, die wir der Vollstreckung der vermeintlichen Bestrafung Laurentius beiwohnten, sollten sehen, wie sich Fürst Varadin aus lebensgefährlicher Lage befreite und sofort den Schuldigen für seinen angeblichen Verrat rächt.«
Während er dozierte, war van Sanden zum Richtstuhl gewandert, um sich nun vor mir mit fast überzeugender Entrüstung aufzubauen. Er war wirklich ein brillanter Redner.
»Fürst Varadin, mein lieber Constantin«, begann er akzentuiert, »Euer Plan ist gescheitert. Man hat die Fernbedienung gefunden.«
Ich schwieg, denn antworten durfte ich nicht. Stattdessen bedachte ich van Sanden mit einem feinen, fragenden Lächeln, das sagen wollte. So, hat man?
Van Sanden grinste mich an. Er war sich so sicher, mich besiegt zu haben. Natürlich waren die Beweise gefälscht. Die Steuerung der Kammer war garantiert nicht manipuliert. Dass sie es jetzt war, bedeutete nur, dass der Verräter in unseren Reihen, derjenige, der auch Bastian und Phillip vergiftete, erneut zugeschlagen hatte.
»Wisst Ihr, wo man die Fernbedienung gefunden hat?«, fragte der Ankläger rhetorisch, »Constantin, nach Eurem Sonnenbad hättet Ihr mehr auf eure Kleidung achtgeben sollen. Ihr habt die Tür geschlossen und die Jalousien geöffnet. Man fand die Fernbedienung in der Tasche Eurer Hose, die Ihr damals getragen habt.«
Und plötzlich war mir klar, wer der Verräter in unseren Reihen war.
Das Urteil
Mit der Fernbedienung, genaugenommen mit ihrem Fundort, hatte sich unser Verräter verraten. Zufrieden nickte ich mit meinem Kopf, was van Sanden allerdings falsch interpretierte.
»Ich sehe, Ihr stimmt meinen Ausführungen zu. Bitte Constantin, geben Sie sich einen Ruck und zeigen einen Rest Anstand. Legen Sie ein Geständnis ab. Der Entkörperung werden Sie so oder so nicht entgehen. Nutzen Sie die Chance für einen Abgang, der Ihrem Stande würdig ist.«
Mit einem Zeichen meiner linken Hand signalisierte ich Michael, der sich sofort vorbeugte, um meine Antwort zu hören und diese dem Tribunal zu verkünden.
»Fürst Varadin hält an seiner Unschuldsbeteuerung fest. Er bezweifelt nicht, dass die vorgelegten Beweismittel die vom Ankläger angeführten Manipulationen enthalten. Er widerspricht aber ausdrücklich der Behauptung, diese seien durch ihn direkt oder indirekt vorgenommen worden. Stattdessen äußert er die Vermutung, dass diese nachträglich mit dem Vorsatz angebracht wurden, den Verdacht auf ihn zu lenken.«
»Natürlich!«, höhnte van Sanden und schüttelte mit gespielter Frustration den Kopf, »Jetzt ist es eine Verschwörung gegen den gütigen Fürst Varadin. Aber Ihr vergesst, dass wir Euer wahres Gesicht gesehen haben. Wir haben gesehen, wie Ihr Graf Breskoff kaltblütig das Herz aus der Brust gerissen habt. Ihr seid durch und durch ein natürlicher Vampir, ein Jäger.«
»Hat die Anklage noch Fragen an ihren Zeugen?«, unterbrach der os iudicii.
»Nein, die Anklage ist fertig.«
»Dann hat nun die Verteidigung das Wort.«
Laurentius erhob sich, zog die Kapuze vom Kopf und wandte sich an den Präsens.
»Eure Heiligkeit, als Mann der Spiritualität verfügt Ihr über empathische Fähigkeiten. Sagt mir, hattet Ihr das Gefühl, Constantin Varadin wollte Vladimir Breskoff ermorden? Welche Gefühle habt Ihr vom Angeklagten empfangen?«
»Das ist nicht einfach zu beantworten.«, schob Norfun voraus, »Constantin Varadin war sehr aufgewühlt, als er direkter Sonnenstrahlung ausgesetzt aus der Bestrahlungskammer floh. Er hatte sich in seine Jagdform verwandelt, bei der Emotionen immer sehr verzerrt erscheinen. Wollte er Breskoff töten? Ja, auf jeden Fall. Wollte er ihn ermorden? Ich bin mir nicht sicher, glaube es aber eher nicht. Seine prädominanten Gefühle waren Wut und Enttäuschung, was zu einem Mord nicht passt.«
»Ich danke Ihnen, Eure Heiligkeit.«, Laurentius wandte sich an das Tribunal, »Constantin Varadin hat aus einem einzigen Grund Vladimir Breskoff getötet, um den Verrat, den der Graf beging, zu rächen. Es war ein legitimer Akt der direkten und unmittelbaren Vergeltung, so wie es im Kodex geschrieben steht.«
»Ist die Verteidigung bereit, ihren Zeugen zu rufen.«
»Ja, das sind wir und rufen nun Constantin Varadin in den Zeugenstand. Er soll uns schildern, was wirklich geschah. Nur Fürst Varadin kennt die Wahrheit und wird sie uns nun kundtun.«
»Als Zeuge möge der Angeklagte mit eigener Stimme sprechen.«
Das vereinfachte meine Aussage ungemein. Andererseits, so fragte ich mich, war es überhaupt notwendig, in natürlicher Sprache zu antworten? Natürlich gäbe es die Möglichkeit, auch telepathisch mit dem Richtertriumvirat zu kommunizieren. Andererseits hatte jede Form der Kommunikation ihre Vor- und Nachteile. Telepathie war direkt und sehr effizient, ließ aber wenig Gestaltungsmöglichkeiten. Man konnte eben nicht formulieren, seine Worte abwägen, durch Betonung dem Gesagten eine Gewichtung geben. Allerdings ging ich nicht davon aus, den Prozess zu gewinnen. Die Tribunale erkannten selten die Unschuld des Beklagten, was aber in der Natur der verhandelten Fälle lag. Meine Hoffnung, die Geschichte zu überleben, beruhte auf etwas anderem.
»Constantin, haben Sie Graf Breskoff getötet?«, begann Laurentius meine Befragung.
Wir hatten uns vor der Verhandlung auf eine Strategie verständigt. Wir wollten dem Tribunal mit größter Offenheit begegnen. Das hieß insbesondere, Tatsachen nicht zu leugnen, wie man es sonst oft bei Angeklagten erlebte. Wir wollten dem Anklagevertreter dadurch den Wind aus den Segeln nehmen, indem wir möglichen unangenehmen Fragen zuvor kamen und sie von uns aus beantworteten.
»Ja, das habe ich.«, bestätigte ich knapp.
»Haben Sie ihn ermordet?«
»Nein, ich habe ihn nicht ermordet, sondern von meinem Recht Gebrauch gemacht, einen Angriff auf mich zu rächen.«
»Graf Breskoff hat Sie angegriffen?«
»Ja, er hat versucht, mich zu töten, indem er mich zusammen mit Ihnen, Herr Verteidiger, in die Bestrafungskammer sperrte und das Sonnenlicht aktivierte. Als Vampirgeborener ist mir eine Wiedererweckung nicht möglich. Dies wusste Graf Breskoff. Er handelte vorsätzlich. Ich hingegen handelte instinktiv. Wie Seine Heiligkeit, Präsens Norfun, bereits ausführte, hatte ich mich zur Flucht vor dem tödlichen Sonnenlicht, in die Form des Jägers verwandelt.«
»Etwas anderes.«, Laurentius wechselte das Thema. »Kurz vor meiner Bestrafung kam es zu einer Auseinandersetzung mit Christiano. Könnte der Ärger darüber Ihr Urteilsvermögen getrübt haben, dass Sie den Zorn auf Christiano auf Vladimir Breskoff projizierten?«
»Nein.«, ich schüttelte nachdrücklich den Kopf, »Christianos Verhalten war ungebührlich, wofür er seine Strafe erhielt. Wenn ihr mich allerdings fragt, ob es mein Urteilsvermögen oder meine Handlungen veränderte, so muss ich dies verneinen.«
»Hassen Sie Vladimir Breskoff?«, diese Frage kam überraschend, aber nicht unwillkommen.
»Nein. Ich verehre ihn wie einen Vater. Welche Differenzen auch zwischen uns gestanden haben mögen, sie sind Geschichte. Ich habe Vladimir verziehen und er mir.«
»Könnten Sie dies etwas näher erläutern?«
»Nein, denn ich bin dem Wort, das ich Vladimir gegeben habe, verpflichtet. Ich bedaure den Vorfall, der zu seinem Tod führte, doch ich bereue ihn nicht.«
»Selbst wenn das Tribunal Sie infolge ihres Schweigens für schuldig befinden muss?«
»Selbst dann!«
Wenn das keine Steilvorlage für die Anklage war. Van Sanden musste glauben, ich sei wahnsinnig. Vielleicht hatte er sogar recht damit und ich war wahnsinnig, mich auf das Tribunal eingelassen zu haben. Doch jetzt gab es kein zurück mehr. Ich musste mich einfach darauf verlassen, dass mein Plan funktionierte. Ansonsten hätte ich tatkräftig an meiner eigenen Hinrichtung mitgewirkt. Immerhin saß ich sogar schon auf dem Richtstuhl. Tamir musste nur einen Hebel betätigen, und die Klingen in den Armlehnen öffneten die Pulsadern meiner Handgelenke.
»Ich habe keine weiteren Fragen.«, verkündete Laurentius und überließ van Sanden das Feld.
Der Ankläger erhob sich von seiner Bank, legte seine Kapuze ab und trat zu mir an den Richtstuhl heran. Seinem Gesichtsausdruck nach war er verwirrt. Verständlich, denn van Sanden war nicht dumm. Er witterte, dass etwas im Busch war, wusste aber nicht, was. Immerhin dämmerte ihm, dass ich offensichtlich noch ein Ass im Ärmel hätte. Ich hoffte inständig, dass dem auch wirklich der Fall war. Langsam auszubluten ist für einen Vampir kein angenehmer Tod.
»Moment, verstehe ich Sie richtig? Wollt Ihr etwa behaupten, dass Vladimir damit einverstanden war, von Euch getötet zu werden? Entschuldigung, aber das ist die lächerlichste Ausrede, dich ich je gehört habe. Ich weiß, was ich gesehen habe.«
»Es tut mir leid, Baron, aber ich kann Ihre Frage nicht beantworten.«
»Können oder wollen Sie nicht?«, fauchte mich van Sanden an.
»Suchen Sie es sich aus.«, konterte ich vorsichtig, »Ich kann Ihnen keine Antwort geben. Ich habe meinen Frieden mit Vladimir Breskoff geschlossen und er mit mir.«
Van Sanden wurde wütend: »Constantin Varadin, wenn Sie glauben, das Tribunal wird Ihren billigen Andeutungen auf den Leim gehen, dann haben Sie sich getäuscht. Sie können behaupten, andeuten und sagen, was Sie wollen. Die Beweise, der Steuercomputer, die Fernbedienung und das Glas haben Sie überführt. Ich sage Ihnen, wie es wirklich war. Ihr Plan war, Graf Breskoff zu ermorden. Sie nutzen die öffentliche Bestrafung Ihres Marschalls, um ihn in Ihr Haus zu locken und gleichzeitig die Abgesandten der hohen Häuser dazu zu missbrauchen, bei Ihrer kleinen Posse die unfreiwilligen Zeugen zu mimen. Alles war perfekt geplant. Es wurde extra ein junger Wächter ausgewählt, um Laurentius in die Verbrennungskammer zu führen. Das bot Ihnen die Gelegenheit, sich als treu sorgender Stammvater zu präsentieren, der dem unerfahrenen Wächter die Bürde abnahm, den Delinquenten seiner Bestrafung zuzuführen. Doch dieser selbstlose Akt war nur gespielt. Sie wollten mit Laurentius in die Kammer. Wir sollten glauben, Sie wären in eine Falle getappt. Wie haben Sie es noch gleich formuliert? Sie verehrten Graf Breskoff wie einen Vater? Richtig und Breskoff liebte Sie wie seinen Sohn, was Sie heimtückisch ausnutzten. Sie rechneten fest damit, dass der alte Mann Sie retten würde, was dieser natürlich auch versuchte, indem er zu den Kammerkontrollen eilte. Dass diese in Wirklichkeit von Ihnen fernbedient wurden, konnte er nicht ahnen. Stattdessen musste es so aussehen, als ob Vladimir Breskoff versuchte, Sie zu ermorden, was Ihnen das Recht gab, sich an ihm zu rächen. Ihr Plan war perfekt. Einzig Ihre Schlampigkeit hat Sie verraten. Da sind die Manipulation des Computers, die Fernbedienung und das viel zu schwache Sicherheitsglas. Aber selbst ohne diese handfesten Beweise wäre ihre Schuld erwiesen. Breskoff hatte kein Motiv, Ihnen zu schaden. Doch Sie, Fürst Varadin, hatten ein Motiv. Der immer so bescheidene, friedliche Constantin Varadin hat sein wahres Gesicht gezeigt, das eines Raubtiers, das für die Macht über Leichen geht und selbst vor Freunden nicht zurückschreckt.«
Stille senkte sich über den Gerichtssaal. Van Sandens rhetorische Fähigkeiten waren beeindruckend. Fast hätte er mich selbst überzeugt, Onkel Vladimir ermordet zu haben. Spaß beiseite. Sein Resümee, so falsch und verlogen es war, war verdammt gut. Brillant vorgetragen, musste es einfach das Tribunal überzeugen.
»Die Anklage ruht.«, verkündete van Sanden nach ein paar Momenten der Stille.
»Ist die Verteidigung bereit?«, erteilte der Mund des Gerichts Laurentius das Wort.
»Wir sind bereit.«, Laurentius erhob sich erneut, schaute sich schweigend um, blickte zu mir, blickte zu van Sanden.
»Ich bin Ihnen gegenüber, sehr geehrter Vertreter der Anklage, im Nachteil. Im Gegensatz zu Ihnen bin ich kein Zeuge der Geschehnisse. Ich kann nicht sagen, was außerhalb der Kammer geschah. Aber ich habe gesehen, was in ihr geschah. Die Behauptung, Constantin Varadin hätte meine Verbrennung nur inszeniert, ist absurd. Ich weiß nicht, wo oder wie Sie den Steuercomputer aufgetrieben haben. Ich hege so meine Zweifel, was diese angeblichen Beweise betrifft. In einem Punkt stimme ich mit Ihnen, Baron van Sanden, allerdings überein. Die angeblichen Beweise spielen keine Rolle. Das Motiv ist entscheidend. Und hier widerspreche ich Ihnen in aller Deutlichkeit. Constantin Varadin hatte keinerlei Motive für einen Mord. Ihm Machthunger zu unterstellen, ist an Absurdität nicht zu überbieten. Ihn ein Raubtier zu nennen, unverschämt und beleidigend. Für meinen Fürsten ist Macht eine Last und Bürde, kein Selbstzweck. Constantin Varadin ist nicht Täter, sondern Opfer. Opfer einer Verschwörung, die auf die Zerstörung seines Hauses zielt. Doch die Wahrheit wird sich hier vor dem Tribunal offenbaren, nämlich die, dass Fürst Varadin Graf Vladimir Breskoff nicht ermordet hat, nicht ermorden konnte. Dies gebietet die Logik und die Vernunft. Ich danke Ihnen.«
»Der Angeklagte hat das letzte Wort.«, richtete der os iudicii sein Wort an mich.
»Was kann ich sagen, um Sie, ehrenwertes Triumvirat des Tribunals, von meiner Unschuld zu überzeugen? Sie haben Zeugenaussagen gehört und Ihnen wurden Beweise vorgelegt. Geben Sie die Wahrheit wieder? Vielleicht, nur gibt es mehr als eine Wahrheit. Ich kann Ihnen nicht mehr bieten, als mein Wort, Vladimir Breskoff nicht ermordet zu haben. Ich hege keinen Groll gegen meinen väterlichen Freund. Bereue ich, ihn getötet zu haben? Nein, denn er war unvermeidlich. Bedaure ich seinen Tod? Ja, selbstverständlich. Vladimir Breskoff wird immer das bleiben, was er zeit seines Lebens war, mein väterlicher Freund.«
»Die Beweisaufnahme ist geschlossen.«, verkündete der os iudicii.
Unser Tribunal ist einzigartig. Jedes Mitglied des Triumvirats fällt sein eigenes Urteil. So auch in meinem Prozess. Wir schwiegen. Der os stand mit verschränkten Armen vor der Richterbank, während sich in den Köpfen der drei Richter ein Urteil bildete. Ich durfte gar nicht daran denken, dass möglicherweise mein letztes Stündchen geschlagen hatte. Stündchen? Minuten hätten es eher getroffen, denn das Urteil wurde an Ort und Stelle vollstreckt. Tamir hatte sich bereits neben mir in Position gebracht. Auf ein Zeichen des os würde er sofort den Mechanismus in Gang setzen, der meiner Existenz ein Ende bereiten würde.
»Das Gericht hat sein Urteil gefällt! Es wurde für Recht befunden.«, ergriff der Mund des Gerichts erneut das Wort und trat beiseite, »Vernehmt nun den Richtspruch.«
Vor jedem Richter lagen eine schwarze und eine weiße Karte. Wobei schwarz erwartungsgemäß schuldig und weiß entsprechend unschuldig symbolisierte. Der erste Richter erhob seine Karte – Schwarz! Ich hielt den Atem an. Der zweite Richter griff nach seinen Karten. Sie war weiß. Unschuldig! Alles hing nun vom letzten Richter ab. Ein Herzschlag, eine Sekunde, dann griff auch er zu seinen Karten – Schuldig!
Ich zitterte. Ich hatte mit keinem anderen Urteil gerechnet, war sogar überrascht, eine weiße Karte zu sehen, trotzdem traf mich der Schuldspruch wie ein Hammerschlag. Endgültige Entkörperung.
»Constantin Varadin, das Richtertriumvirat hat dich mit zwei zu einer Stimme für schuldig befunden, Vladimir Breskoff ermordet zu haben. Das Urteil lautet auf endgültige Entkörperung. Die Strafe wird sofort vollstreckt. Wie lauten deine letzten Worte?«
Von Freund und Feind
Florian
Die Arbeiten, die uns das zwar unplanmäßige aber durchaus willkommene Grillfest einbrachten, zogen sich deutlich länger hin, als geplant. Die Kollegen des betroffenen Gewerks schufteten wie die Idioten und kamen trotzdem nicht von der Stelle. Wir hatten bestimmt das eine oder andere Würstchen, Lammfilet oder Steak zu viel verdrückt, aber die Jungs waren immer noch nicht fertig. Langsam begann ich mir ernsthaft Sorgen zu machen. Ein halber Tag Ausfall war kein Problem, doch wenn die Komplikationen anhielten und nicht gelöst wurden, brachten sie auch unseren Zeitplan durcheinander.
»Kommt, lasst uns doch mal nachsehen, was die Typen so lange treiben.«
Mich hatte die Neugier gepackt und mit mir auch die meiner Kollegen. Gut gelaunt schlenderten wir zurück zur Baustelle und versuchten herauszubekommen, wo es klemmte. Es tat genau das – klemmen. Es klemmte auch nicht irgendetwas, sondern ein ausgewachsener Tresor, der eigentlich ins zukünftige Arbeitszimmer des Schlossherren befördert werden sollte. Wir erfuhren auch den Grund für die Sperrung. Der Stahlbetonschrank war dermaßen schwer, dass der Boden über die geschätzte Traglast hinaus belastet wurde. Am Zielort hatte man den Boden verstärkt, den Weg dorthin, der hinauf in den ersten Stock führte, hingegen nicht. Um das Gewicht etwas zu verteilen, hatte man deswegen große Stahlplatten ausgelegt, die mit Gleitöl bestrichen als Gleitbahn dienen sollten. An sich war der Weg relativ unproblematisch. Er führte vom Eingang ins Treppenhaus, die Marmortreppe hinauf und dann durch ein paar Flure zum Arbeitszimmer. Den Tresor die Treppe hinauf zu wuchten, brauchte zwar seine Zeit ging dann aber doch noch relativ gut, wenn man davon absah, dass die Firma mit 25 Männern angetreten war, von denen keiner unter 1,80m maß und 100kg wog. Es sah aus als hätten alle Bodybuildingstudios der Umgebung einen Ausflug auf unsere Baustelle gemacht.
Doch nun hatten die Jungs ein Problem. Geballte Muskelkraft konnte das überdimensionierte Schmuckkästchen zwar die Treppe hinauf befördern, in einem engen, kleinen Flur, in dem der Weg nicht nur die Richtung wechselte, sondern auch einem Versatz folgen musste, hatten sie sich aber festgekeilt. Die Männer hatten einfach nicht genug Platz, um das Teil zu bewegen. Ständig versuchte einer, sich zwischen Wand und Tresor zu zwängen, um ihn von dort in seine neue Richtung vorwärts zu pressen. Die Idee war gut, die Jungs aber einfach zu massig. Mit ihrem Körperbau würde das nie etwas werden, zumal nach Stunden des Würgens auch der kräftigste Muskelmann schlapp macht.
Ich sah mir die Sache eine Weile an, überlegte und fragte dann vorsichtig, warum sie nicht versucht haben, den Tresor mit Gurten zu ziehen.
»Haben wir schon versucht. Wir kommen nicht dran.«, meinte einer der Jungs und zeigte leicht säuerlich auf einen seiner Kollegen, »Das haben wir alles diesen Spezialisten hier zu verdanken. Wie kann man nicht merken, dass Wasser statt Gleitöl in der Sprühflasche ist?«
»Lasst mich mal versuchen, hinter den Tresor zu klettern.«, hörte ich plötzlich Christiano neben mir sagen.
»Du?«, lachten die Tresorpacker, »Nichts für ungut, aber… «
»Was?«, unterbrach mein Kollege, »Bin ich zu dünn? Praktisch oder? So pass ich wenigstens dahinter und kann die Gurte drumbinden. Flo, du hilfst mir. Hier kommt es nämlich nicht auf Muskelkraft an, sondern auf Technik.«
Die Brechertruppe maulte zwar rum, hatte aber ansonsten auch keine bessere Idee. Schnell wurden die Gurte bereitgelegt, währenddessen Christiano und ich unsere Jacken ablegten und uns zwischen Wand und Tresor zwängten. Der Platz dazwischen war wirklich minimal. Selbst für uns zwei schlanke Exemplare der Gattung Mann war es arg eng.
»Seid ihr bereit?«, fragte Christiano, angelte nach den Gurten und brachte sie in Position.
»Jo!«, grölte es als Antwort.
»Dann zieht!«
Die Kerle zogen.
»So, und jetzt zeig ich dir, wozu ein Vampir fähig ist.«, flüsterte Christiano mir zu.
Statt wie ein Wahnsinniger einfach drauflos zu pressen, betrachtete er den Panzerschrank, ließ seine Hände über das Metall gleiten, fand offenbar zwei Punkte, die er suchte, legte seine Handflächen darauf und drückte.
»Voilà!«
Ein fieses Quietschen zeriss den Raum, als sich der Tresor ruckartig in Bewegung setzte.
»Na also, geht doch.«, lachte Christiano zufrieden.
»Das war keine Technik, oder?«, fragte ich ganz leise.
»Jein.«, flüsterte mir mein Freund zu, »Technik, Vampirmagie und Kraft. Aber das müssen die Jungs ja nicht unbedingt wissen.«
Der Panzerknackertruppe konnte man die Erleichterung darüber ansehen, mit ihrem Job endlich weiter voranzukommen. Kaum war der Tresor wieder auf mit Gleitöl benetzten Platten, rutschte er fast wie von selbst in die richtige Richtung.
»Danke Jungs!«, tönte ein Typ von gut 1,90 Meter und ließ eine seiner Pranken anerkennend auf meine Schulter knallen, was wohl einer Art Ritterschlag entsprach. »Wenn ihr auch mal Hilfe benötigt, sagt Bescheid.«
»Wenn ihr noch was vom Grill wollt, haltet euch ran.«, erwiderte ich grinsend.
»Echt?«
Wir nickten, grinsten und gingen. Wie es aussah, konnten wir den Rest des Tages abhaken. Die Tresorjungs mochten ihren Klotz zwar wieder auf die Bahn gebracht haben, fertig waren sie deswegen noch lange nicht. Da es mir wenig sinnvoll erschien, weiter Däumchen zu drehen und die Zeit mit Nichtstun totzuschlagen, ließ ich die Jungs einpacken und in die Firma fahren.
»Florian, mein Junge, ist irgendwas bei Bayer passiert?«, empfing uns Niederreuter, den unsere frühe Rückkehr überraschte. Fünf Minuten später war unser Chef komplett ins Bild gesetzt und zufrieden.
»Wir konnten heute nichts machen, deswegen dachte ich, ein wenig Teambildung zu betreiben.«, begann ich meine Erklärung. Obwohl eher ein Handwerker alten Schlages, verstand er meine Absichten und hieß sie sogar gut. Wer gute Arbeit leistete, sollte dafür auch belohnt werden. Ein kleines Grillfest war dafür eine gute und im Endeffekt preisgünstige Möglichkeit.
»Ach ja.«, so kannte ich Niederreuter gar nicht, er druckste rum, »Es gibt da noch was. Morgen ist Mario wieder da. Ich könnte verstehen, wenn du ihn nicht…«
»Nein, nein, Chef, das ist ok.«, ich war alles andere als glücklich, Mario wieder an Bord zu haben. Aber hatte ich eine Wahl? Natürlich nicht. Als Chef des Teams verlöre ich jegliche Glaubwürdigkeit, wenn ich Mario abschob, nur weil ich ein Problem mit ihm hatte. Nein, ich musste den Typen einbinden, auch, wenn Konflikte damit vorprogrammiert waren.
Grübelnd und gedankenverloren schlenderte ich in die Umkleide, die, anders als erwartet, nicht leer war. Mein ganzes Team, von Jan über Hans bis Christiano, war in eine angeregte Diskussion vertieft. Es ging, wenig überraschend, um Mario.
»Flo«, wandte sich sofort Jan an mich, »Wir haben gehört, dass Mario nicht mehr krankgeschrieben ist.«
»Ja, das stimmt. Ich komme gerade von Niederreuter. Ab morgen soll er unser Team verstärken. Hans, du warst zwar nur als sein Ersatz bei uns, ich könnte dich aber weiterhin gut gebrauchen.«
»Kein Problem.«, kam es gewohnt knapp von unserem Kollegen.
»Du willst doch wohl nicht ernsthaft Mario bei uns mitarbeiten lassen? Hast du völlig vergessen, was der Typ für eine Show abgezogen hat? Wir können alle froh sein, dass nichts schlimmes passiert ist.«
Jan geriet regelrecht in Rage. Ich konnte ihn verstehen. Schließlich durfte er zusammen mit mir Marios Schwachsinnsaktion ausbaden. Doch das war nicht der eigentliche Grund für seine Wut. Ob Constantins Vampircocktail in meinem Blut meine Menschenkenntnis verbessert hatte?
»Das ist doch nicht der Grund, oder?« Ein Hoch auf mein neues Selbstbewusstsein. Solche Fragen hätte ich mich früher nie getraut. »Jungs, raus mit der Sprache.«
»Er passt nicht ins Team.«, erklärte Ulli sachlich, »Ich habe die letzten zwei Jahre mit Mario zusammengearbeitet. Fachlich ist er wirklich gut, keine Frage, aber als Kollege ist er… schwer zu ertragen. Rücksichtlos, aggressiv, cholerisch. Er…«
»Wir wollen ihn nicht im Team haben!«, fiel Jan Ulli ungeduldig ins Wort, »Wir haben abgestimmt und sind mehrheitlich der Meinung, dass ihn Niederreuter woanders einsetzen soll. Mensch Flo, bei allem, was er dir anget… wie er dich behandelt hat, muss dir doch ebenfalls zum Kotzen sein?«
Ein kleiner Versprecher? Woher wusste Jan von der Vergewaltigung? Oder interpretierte ich zu viel in seine Worte hinein? Er war damals nicht dabei. Das heißt, jemand musste sich ihm anvertraut haben. Jemand? Ich ahnte, wer. Es war der Gleiche, der sich in der Diskussion auffallend zurückhielt. Früher oder später musste ich mit Marco sprechen und klar Tisch zwischen uns schaffen. Immerhin bestätigte mir sein Verhalten, dass er anders war, als meine anderen Peiniger. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Er wusste, was er angerichtet, was er getan hatte.
»Leute«, begann ich vorsichtig, »Ich kann euch verstehen. Ich bin auch nicht begeistert, Mario wieder an Bord zu haben. Ich will aber auch nicht, dass er glaubt, ich hätte Angst vor ihm. Niederreuter hat mich zum Teamleiter gemacht und mir überlassen, wen ich dabei haben will. Mario mag als Mensch ein Arsch sein, als Handwerker ist er gut. Ich meine…», ich setzte mein unschuldigstes Gesicht auf, das mir zur Verfügung stand, »Ihr seid nicht auf den Mund gefallen. Wenn es was gibt, das euch an einem Teammitglied stört, dann raus damit.«
Hatte ich zu hoch gepokert? Die Situation war schon ein wenig pervers. Vor noch nicht einmal vier Wochen war ich der Paria des Teams und man hätte alles versucht, mich nicht dabei zu haben. Heute war es genau umgekehrt. Ich war zum respektierten Leiter des Teams mutiert, während Typen wie Mario außen vor standen – verkehrte Welt.
»Na gut.«, maulte Jan, »Soll er mitarbeiten. Aber wenn er wieder eine seiner Extratouren dreht, werden wir ihn stoppen. Ich will nicht noch einmal meinen Kopf für seine Schwachsinnsaktionen hinhalten.«
Damit war das Thema durch. Es gab zwar noch ein wenig Gegrummel, dies löste sich aber sofort auf, als ich die Kollegen in den vorzeitigen Feierabend entließ. Freizeit hatte eben seinen eigenen Reiz. Eine Viertelstunde später hatte sich mein Team in alle Winde zerstreut, nur Christiano war geblieben.
»Und, was hast du heute vor?«, fragte mich der vampirische Tischlerazubi.
»Nichts.«, gestand ich, »Paps wird heute spät nach Hause kommen. Man mag es kaum glauben, aber er hat jemanden kennengelernt. Es ist sogar eine Frau, die statt aufblasbar real und sogar richtig nett ist. Man könnte fast auf die Idee kommen, in Paps versteckt sich tatsächlich ein ansatzweise zivilisierter Mensch.«
Das mit der Zivilisiertheit hatte mein Erzeuger, wie ich ihn lange Zeit nur genannt hatte, ebenso lange erfolgreich versteckt, wie er mich regelmäßig verprügelte. Dieser Mann hatte nicht gelebt, er hatte gehaust. Seine Erscheinung war lange Zeit dermaßen bieder, dass selbst ein Beamter des verschlafenen Katasteramts unserer Gemeinde sich seiner Ärmelschoner geschämt hätte. Umso erstaunter war ich, ihn vor einer Woche, kurz nachdem wir die Fronten zwischen uns geklärt hatten, in einem sportiven, frischen Outfit wieder fand. Doch das war nur der Anfang. Während ich das bewusste Wochenende mit Christiano und Tommi verbrachte, war man Vater in verschiedenen Möbelhäusern eingefallen und hatte kurzerhand die gut fünfzehn Jahre alten Möbel unserer Wohnung gegen neue ersetzt. Der Mann bewies sogar Geschmack. Vielleicht hatten auch Aliens sein Gehirn okkupiert. Was auch immer es war, das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Man muss es sich einmal vorstellen – mein Vater verdingte sich sogar als Maler, riss die alten, vergilbten Tapeten von den Wänden, um sie stattdessen in Wischtechnik mit warmen, mediterranen Farben zu streichen. Die eigentliche Sensation hatte er sich allerdings bis zum vergangenen Wochenende aufgehoben. Am Frühstückstisch wurde mir mitgeteilt, dass wir zum Abend in ein gutes Restaurant ausgehen würden, wobei es sich nicht um den Gasthof zur goldenen Möwe handelte.
Stand mir etwa so ein krudes Vater-Sohn-Ding bevor? Nichts dergleichen. Das Ding war eine Frau und hörte auf den Namen Christine. Sie schien nett und meinen Vater zu mögen. Der hatte sich richtig in Schale geworfen, neues Aftershave und ein Besuch beim Coiffeur inklusive. Da saßen wir beim Nobelitaliener, verzehrten piemontesischen Kaninchenbraten und tranken Barolo, wobei sich der Alte als charmantes Wesen präsentierte. Ich wollte schon an meiner Hörfähigkeit zweifeln. Aber das Essen diente tatsächlich dem Zweck, mich mit Christine bekannt zu machen, da sie wahrscheinlich einen zunehmend wichtigeren Platz im Leben meines Vaters einnehmen würde. Junge, Paps war verliebt! Was für ein Wandel. Vor kaum vier Wochen hatte er mich noch regelmäßig verprügelt, regelmäßige Körperhygiene für nebensächlich empfunden, gesoffen und permanent mit Gott und der Welt gehadert. Und jetzt saß er da, strahlend wie ein Diamant, flirtete mit einer attraktiven Frau und erzählte – mir fielen vor Unglaube fast die Ohren ab – wie stolz er auf mich sei und dass es ihm sehr leidtat, mir dies nie richtig gezeigt zu haben.
Mein Paps hatte eine ähnlich radikale Veränderung erfahren, wie meine Kollegen. Lag es an mir? An meinem neuen Wesen, das ich von Tag zu Tag mehr in mir spürte.
»Und du?«, fragte ich Christiano, »Was hast du vor?«
»Ehrliche Antwort?«, fragte dieser zurück, sah mich nicken und meinte, »Schlafen. Ich werde nach Hause fahren, ins Bett fallen und ein paar Stunden in schummriger Düsternis verbringen. Der Sunblocker ist gut, trotzdem ist es anstrengend, während des Tages aktiv zu sein. Ich kann diese verdammte, heiße und doch so wunderschöne Sonne fühlen. Sie brennt. Ja, etwas Schlaf wird mir gut tun. Wenn es dich nicht stört, dass ich etwas pennen muss, kannst du gerne mitkommen. Ich koch dir auch gerne etwas. Wir könnten quatschen, wenn du willst, auch etwas kuscheln.«
»Ich falle dir auch nicht zur Last?«
»Flo, bitte! Du bist mein Freund!«
Abendessen
Ich nahm Christianos Angebot an. Die Gelegenheit, mit diesem durch und durch attraktiven Vampir zu kuscheln, war verlockend, aber nicht ausschlaggebend. Es gab da ein paar Fragen, die mir unter den Nägeln brannten, für die aber der Rahmen stimmen musste. Was mir durch den Kopf ging, war meine nähere Zukunft. Ich veränderte mich und damit veränderte sich auch die Art, wie die Umwelt auf mich reagierte. Dass ich den Nimbus des Parias verloren hatte, war selbst dem ignorantesten Kollegen aufgefallen. Aber was bedeutete das? Welche Konsequenzen drohten? Ich wurde nicht mehr gemobbt, das war gut. Andererseits meinte ich bei einer speziellen Gruppe meiner Kollegen, denjenigen, denen ich die besonders brutalen Behandlungen zu verdanken hatte, eine zunehmende Nervosität mir gegenüber zu spüren. Und Hass, der zwar massiv unterdrückt war, aber mir dafür umso kälter entgegen schlug.
»Du bist so schweigsam.«
Christiano fuhr wieder den schwarzen Sportwagen mit den dunkel getönten Scheiben. Es war sehr angenehm, mal nicht der direkten Sonnenstrahlung ausgesetzt zu sein. Während wir über die Autobahn in Richtung Stadt eilten, glitt die Landschaft an uns vorbei. Versonnen schaute ich den Fahrbahnmarkierungen nach.
»Ich fühle mich unsicher. Meine bisher so überschaubare Welt hat sich rasend schnell verändert und es sieht nicht so aus, als wenn die Zukunft ruhiger verlaufen würde. Ich erlebe Dinge, die noch vor wenigen Wochen jenseits meiner Vorstellungskraft lagen. Ach, was sag ich – meine Vorstellungskraft? Ich sitze neben einem Vampir im Auto, wo doch jeder weiß, dass es keine Vampire gibt. Und habe ich deswegen Angst? Nein. Ganz im Gegenteil, denn ich betrachte diesen Vampir als meinen besten Freund. Und wo wir gerade bei Freunden sind. Florian, Looser vom Dienst, Prügelknabe seines Vaters und Kollegen, findet die Liebe bei einem Mann, der nicht nur Stammvater eines Vampirclans ist, sondern auch noch König aller Blutsauger werden soll. Und was passiert? Plötzlich fühle ich mich glücklich, wie ich mich noch nie gefühlt habe. Ich habe von euch, bei dir, bei Constantin, sogar bei Laurentius eine Zuneigung und Akzeptanz erlebt, wie ich sie bei keinem Menschen je erlebt habe.«
»Aber?«, fasste Christiano meine Einleitung auf den Punkt zusammen.
»Aber…«, seufzte ich und holte Luft, »Was wird aus mir werden, wenn ich erst einer von euch werde? Ich werde dabei sterben, oder?«
»Auf eine gewisse Weise…«, nun war es an Christiano, zu seufzen, »Wir sind Untote. Manche bezeichnen uns auch als Wiedergänger. Bin ich tot? Nein. Bin ich lebendig? Auch nicht. Jedenfalls nicht nach den Maßstäben der Wissenschaft. Was sichert unsere Existenz? Ein noch unverstandener biochemischer Prozess? Der Teufel? Das Böse? Irgendeine Art Magie? Wahrscheinlich Letzteres, denn wir verfügen über Kräfte, die den Rahmen aller biologischen Systeme sprengen, benötigen als Nahrung aber trotzdem nur ein wenig Blut. Sind wir vielleicht doch Geschöpfe des Bösen, des Teufels? Ich kann es mir nicht vorstellen. Flo, hältst du mich für ein böses Wesen?«
»Nein, auf keinen Fall.«
»Ich auch nicht.«, Christiano seufzte erneut, »Seit Jahrhunderten versuchen Vampire wie Menschen, unser Wesen zu verstehen. Gelingen wollte es ihnen nie. Warum zerstört uns Sonnenlicht? Warum altern wir nicht? Wieso verwandeln wir die Gravitation in einen Witz, indem wir uns in die Lüfte erheben und fliegen? Was ist mit der Telepathie? Dem Vampirruf? Fragen über Fragen, aber keine Antworten. Nur, sind die Fragen wichtig? Für mich nicht. Ich bin glücklich damit, wer und was ich bin. Ja, ich bin ein Vampir. Aber weißt du was? Zum Vampir zu werden, war für mich kein Fluch, sondern Geschenk und Segen zugleich. Ich muss allerdings hinzufügen, dass die Umstände meiner Verwandlung ganz andere als die deinen waren. Mir blieb nur die Wahl zwischen tot und untot. Du hingegen kannst dich frei entscheiden. Du kannst abwägen, was für dich wichtig ist und was du wirklich willst. Und egal, wie du dich am Ende entscheidest, ob du ein Vampir wirst oder ein Mensch bleibst, du wirst immer mein Freund bleiben.«
»Danke, Chrissi!«, mir wurde heiß. So viel Zuneigung war ich immer noch nicht gewohnt.
»Chrissi?«, kreischte Christiano hysterisch, »Wenn du mich noch einmal Chrissi nennst, lutsch ich dich bis auf den letzten Tropfen aus!«
»Oops, haben wir da einen wunden Punkt erwischt?«, fragte ich keck.
Statt direkt zu antworten, bedachte mich mein Freund mit einem ausgesprochen vampirischen Grinsen, das heißt mit voll ausgefahrenen Zähnen. Ich konnte nicht anders, ich musste lachen, was sich auf den Blutsauger neben mir, trotz anfangs erheblicher Gegenwehr, übertrug.
»Bitte Flo, ich flehe dich an!«, jammerte Christiano mitleiderregend, »Tu mir das nicht an. Nicht Chrissi. Oder willst du, dass ich zum Gespött der Häuser werde? >Schaut, da kommt Chrissi Varadin, der schwule Vampir!< Bitte nicht! Du machst mich zur Lachnummer.«
»Ha! Dein Schicksal liegt also in meinen Händen? Gut zu wissen.«
Diesesmal grinste ich, wenn auch nicht vampirisch. Christiano schüttelte resigniert, aber eigentlich gut gelaunt den Kopf. Ein paar Minuten schwiegen wir. Es war eine warme, freundschaftliche Stille, die im Wagen herrschte, die aber auch meine Melancholie zurückkehren ließ.
»Ich weiß nicht, was es ist. Ich war noch nie so glücklich, wie im Moment. Du wirst es kaum glauben. Aber ich habe meine Arbeit, dem Mobbing zum Trotz, immer geliebt. Wenn ich ein Werkstück bearbeitete, einen Schrank anpasste, eine Täfelung reparierte, konnte ich die meist grausame Welt um mich vergessen. Und plötzlich ist diese Welt nicht mehr grausam. Was vorhin in der Umkleide passierte, dass die Jungs Mario und nicht mich ausschließen wollten, hat mir erst die Augen geöffnet, wie radikal sich meine kleine Welt verändert hat. Unten ist plötzlich oben, schwarz ist weiß, gut ist böse und böse ist gut. Ich habe dir von meinem Vater und seiner Freundin erzählt. Was ich dir aber noch nicht erzählt habe, ist, wie ich ihn vor zwei Tagen zuhause vorfand. Er heulte. Er hatte keinen Tropfen getrunken. Er hockte zusammengekauert in seinem neuen Sessel und weinte. Als er mich sah, fing er erst zu schluchzen an, dann brach es aus ihm heraus. Weißt du was? Er heulte vor Scham vor dem, was er mir all die Jahre angetan hat. Es war gleichzeitig unheimlich und rührend, diesen Mann weinen zu sehen. Mein Vater entschuldigte sich bei mir, erwartete aber keine Absolution. Er meinte, dass er verstehen könne, wenn ich ihm nicht verzeihen würde, er könnte es nicht, hätte sein Vater ihm das angetan, was er mir angetan hatte. Ich verzieh ihm trotzdem. Komischerweise tat ich es nicht, weil ich ihm glaubte, dass er es aufrichtig meinte, sondern weil die Zeit meiner Pein irgendwie… Ich weiß nicht, wie ich es besser anders ausdrücken soll.«, ich holte Luft, setzte neu an, brach ab und versuchte es erneut, »Es ist… wie ein Bruch. Eine Zäsur, die mich und mein Leben veränderte. Ich habe lange darüber nachgedacht, was es war, was mich veränderte und bin fast sicher, dass es nicht mein Selbstmordversuch war, sondern Constantins Biss. Ich war an der Grenze zwischen Leben und Tod, hatte sie wahrscheinlich schon überschritten. Constantin holte mich zurück. Allerdings…«
»Was?«, fragte Christiano verräterisch scharf. Irgendetwas beunruhigte ihn.
»Ich vermute, dass niemand eine derartige Grenze überschreitet und zurückkehrt, ohne dadurch verändert zu werden.«
»Du hast recht, wenn auch nicht ganz.«, gestand mein vampirischer Freund, »Du hast die Grenze nicht überschritten, warst ab sehr, sehr nah dran. Du weißt, dass Constantin dir einen Teil seinen Wesens spenden musste, um dich zurückzuholen. Wie es scheint, hat es dich weitaus stärker verändert, als wir erwartet haben. Die Art und Weise, wie du mit deinen Kollegen umgehst, wie du die Bauleitung um den Finger wickelst, ließ mich aufhorchen. Du entwickelst vampirische Fähigkeiten und setzt sie instinktiv ein. Völlig unbewusst veränderst du die Art, wie dich deine Umwelt wahrnimmt. Glaubst du, dass dich dein Vater liebt?«
»Ja, ich bin mir sicher, dass er das tut. Tief in seinem Inneren tat er es sogar, als er mich noch schlug. Worauf willst du hinaus? Glaubst du, ich habe Paps telepathisch in den emotionalen Absturz getrieben?«
»Nein, nein, nein. Ganz im Gegenteil. Deine Wirkung ist eher die eines Spiegels. Meinst du, dass sich dein Charakter verändert hat?«
»Jein. Ich bin selbstbewusster und stärker. Ich lasse mich nicht mehr unterbuttern, mobben oder sogar körperlich angreifen. Aber ich glaube nicht, dass sich mein Charakter verändert hat. Ich bin der gleiche Florian, der ich auch früher war. Meine Ansichten sind unverändert. Ich weiß, was ich mag, was ich nicht mag, was richtig, was falsch, was gut und was böse ist. Fragst du mich nach Ethik? Nach meiner Moral?«
»Oh, soweit wollte ich gar nicht gehen. Aber du hast recht. Wir bleiben, wer wir sind. Vielleicht verstärkt sich ein wenig der Kontrast unserer Wesenszüge. Wir Vampire sind Extremisten. Gut wird besser, böse wird böser. Aber es ändert nicht das, was uns als Persönlichkeit bestimmt, was uns ausmacht. Wenn das deine Angst sein sollte, kann ich dich beruhigen. Du wirst Florian bleiben, der Mann, den wir als Freund lieben gelernt haben.«
»Aber wieso die Veränderungen bei meinen Kollegen und bei meinem Vater?«
»Es sind zwei Dinge, die dafür verantwortlich sind. Zum einen deine neue psychische Stärke und zum anderen der Hauch einer vampirischen Aura. Beides bringt sie dazu, sich und ihr Handeln zu erkennen. Dein Vater brach zusammen, weil er sich selbst in dir erkannte. Das ist es, was ich mit einem Spiegel meinte.«
»Wie wird es weitergehen?« War es das, was mich beunruhigte? Nicht zu wissen, was die Zukunft brachte. Aber wer konnte das? Nein, es war etwas anderes.
»Ich habe das Gefühl, dass mir die Zeit durch die Finger rinnt. Chrissi, ich war noch nie so glücklich wie jetzt. Umso mehr ängstigt mich der Gedanke, diesen Moment nicht festhalten zu können. Das erste Mal in meinem Leben werde ich von meiner Umwelt nicht als Fußmatte betrachtet. Ich glaube sogar, dass sich zu Jan und den anderen Kollegen soetwas wie eine Freundschaft entwickeln könnte. Zwischen mir und meinem Vater beginnt sich tatsächlich eine Vater-Sohn-Beziehung zu etablieren. Doch was passiert, wenn ich den entscheidenden Schritt wage, und dein Bruder werde? Werde ich dann all das wieder verlieren?«
Christiano schwieg. Ich konnte sehen, wie er nachdachte, fühlen, wie ihn meine Sorgen bewegten. Und plötzlich begriff ich das Wesen der Freundschaft. Es ging nicht um Party machen, rumalbern und über Gott und die Welt quatschen. Sicher, das alles gehörte dazu. Freund sein, hieß aber auch, sich die Probleme und Sorgen des anderen anzunehmen. Manchmal hieß es sogar, einzugestehen, keine Antwort zu haben.
»Ich weiß es nicht.« Christiano sprach leise, zaghaft und fast ängstlich. »Es tut mir Leid, Flo, ich kann dir wirklich keine Antwort geben.«
Den Rest der Fahrt verbrachten wir schweigend, ausgefüllt von einer seltsam melancholischen Stimmung, die sogar Auswirkungen auf Christianos Fahrstil zeigte. Mein Freund steuerte seinen Wagen sehr sanft und geschmeidig durch den zum Nachmittag feierabendbedingt sehr dichten Verkehr. Trotzdem kamen wir zügig voran und erreichten unwesentlich später das Bürohochhaus, wie beim ersten Mal. Im Gegensatz dazu waren die Etagen der Tiefgarage voll belegt, was uns natürlich nicht störte, da Christiano über einen eigenen, abgetrennten Bereich verfügte. Ein Mann von etwa dreißig, ein gut aussehender Anzugträger und offensichtlich Mitarbeiter einer der Firmen im Haus, der gerade auf dem Weg zu seinem Auto war, staunte nicht schlecht, als sich das Rolltor der Privatgarage öffnete. Neugierig spähte er hinein.
»Wow! Netter Fahrzeugpark!«, entfuhr es ihm, kaum, dass wir den Sportwagen verlassen hatten, »Sind das alles Ihre?«
Noch während er fragte, hatte er die Richtung gewechselt. Statt sein Auto steuerte er nun uns an. Er sah für sein Alter, ich war immerhin rund zehn Jahre jünger, ziemlich gut aus. Seinen Kopf zierten kurze, professionell strubbelig geschnittene, schmutzig dunkelblonde Haare. Wache, braune Augen funkelten uns an. Die schwungvollen Lippen präsentierten ein provokant freches Lächeln, was zusammen mit den ganz leicht abstehenden Ohren und leichten Resten von Babyspeck dem Typen etwas attraktiv bubihaftes verlieh, was dieser auch ganz genau wusste. So wie er uns anschaute, war glasklar, dass der Mann schwul war.
»Alles meins, möchten Sie mal einen Blick drauf werfen?«, fragte Christiano und schaltete seinen Charmeflammenwerfer auf hundert Prozent Leistung. Unser Anzug tragender Büroarbeiter glühte vor Freude auf und beschleunigte seinen Schritt. Dass sich hinter ihm das Rolltor der Privatgarage schloss, schien ihn nicht weiter zu beunruhigen. Er hatte nur Augen für Christiano, mich und die Fahrzeuge. Besonders angetan hatte es ihm die Harley, auf die er direkt zusteuerte.
»Eine Night Rod Special!«, jubelte er, »Wow, so eine geile Customausstattung habe ich ja noch nie gesehen. Oh, Entschuldigung. Wie unhöflich von mir. Ich bin Martin, Martin Binder, Senior Sales Manager, bei Farinvest.«
»Guten Tag, Martin.«, feuerte Christiano seine nächste Charmesalve ab, »Ich bin Christiano und das ist Florian. Fährst du auch etwa auch 'ne Harley?«
Martin verzog sein Mündchen, als hätte er auf eine Zitrone gebissen: »Nee, leider nicht. Bei den Preisen wird so was immer ein Traum bleiben, ich muss ja auch noch das Auto unterhalten. Immerhin konnte ich mich zu Hause durchsetzen und mir 'ne Fireblade zulegen.«
»Geil!«, jubelte Christiano und bedachte unseren Garagengast mit langen, seduktiven Blicken, »Supersportler sind cool. Ich bin kein V-Twin Dogmatiker. Spaß macht, was gefällt. Wenn du Lust hast, könnten wir mal eine gemeinsame Ausfahrt planen. Die Karren tauschen. Was meinst du?«
Der Lockruf meines lieben Vampirs war inzwischen dermaßen intensiv, dass Martin jede natürliche Vorsicht, die man Fremden gegenüber normalerweise entgegenbrachte, vergaß. Dass ein ihm wildfremder Mann anbot, einen gemeinsamen Ausflug zu unternehmen und dabei sogar einen Fahrzeugtausch in Aussicht stellte, schien ihm in keiner Weise verdächtig zu sein. Ganz im Gegenteil geriet er vor Freude fast komplett aus dem Häuschen.
»Ich kenne da eine wirklich nette Tour. Absolut geile Kurven, kaum Verkehr, erstklassiger Asphalt und eine Straßenführung, die sich wunderschön in die leicht hügelige Landschaft schmiegt. Ey, das wird bestimmt richtig geil. Wenn wir die Sache bald angehen, ist es noch nicht so warm wie später im Jahr. Oh, endlich mal wieder die Lederjacke und -hose rausholen, die schwarzen Stiefel überziehen.«
Martin begann zu sabbern, bei den Worten Lederjacke, Hose und Stiefel wäre ihm fast einer abgegangen. Woher wusste Christiano, auf welche Knöpfe er drücken musste? Martins Gesicht war leicht gerötet. Ihm schien warm zu sein, denn er lockerte seine Krawatte und öffnete den obersten Hemdknopf.
»Ich fahre immer in einer einteiligen Rennkombi.«, stammelte er und leckte sich über die Lippen, »Auf dem Motorrad gibt es nichts besseres als Leder.«
»Natürlich nicht.«, pflichtete Christiano bei und ging auf Martin zu, »Männer sollten nichts anderes tragen. Es schmeichelt ihrem Körper, viel mehr, als dieser uniforme, schnöde Stoff.«
Die Rolle des unbeteiligten Beobachters spielen zu dürfen, war einfach toll. Obwohl ich wenige Schritte neben Martin stand, hatte der meine Anwesenheit völlig verdrängt. Stattdessen hatte er nur noch Augen für Christiano, der, ich wollte es kaum glauben, Martins Kinn mit seiner Hand packte und mit dem Daumen über die Wange strich. Wie dreist konnte man als Vampir eigentlich noch sein? Statt sich zu wehren, stöhnte Martin lüstern auf. Langsam zeichnete sich auch eine deutliche Beule in seiner Anzughose ab.
»Natürlich müsste man auch mal Pause machen.«, säuselte Christiano betörend, »Sich entspannen, die Natur genießen, die Kombi öffnen, um etwas Luft an sich zu lassen.«
Martin flammte rot auf. Konnte das sein? Hatte Christiano ihn zielsicher bei einem heimlichen Fetisch erwischt? Der Mann holte seufzend Luft, kam seinem neuen Motorradkumpel immer näher, bis sich ihre Körper berührten.
»Ich trage unter meiner Kombi nichts drunter.«, flüsterte er Christiano ins Ohr.
»Ich unter meiner Lederhose auch nicht. Es wäre eine Sünde.«, erwiderte Christiano, angelte nach Martin und zog ihn eng an sich heran. Der gab nach und ergab sich. Inzwischen war er dermaßen geil, dass er sich ohne Widerstand führen ließ. Mein Vampir verlor keine Zeit und drückte Martin gegen eine nahegelegene Wand, knöpfte ihm sein Hemd auf, schob ihm das Jackett von den Schultern und begann ihn intensiv zu küssen. Seine Hände gingen auf Wanderschaft. Eine fand ihren Weg in Martins Hemd und massierte und streichelte dessen Brust, während die andere sich am Hosenreißverschluss zu schaffen machte, um schließlich in dieser Öffnung zu verschwinden.
»Oh!«, wimmerte Martin voller Verzückung, »Oh, Christiano!«
Der begann damit, Martins Hals zu küssen und abzulecken. Plötzlich wandte er seinen Kopf kurz ab, um mir zuzublinzeln und zu zeigen, wie er seine Zähne ausfuhr. Fünf Sekunden später steckten die rasiermesserscharfen Beißerchen in Martins arteria carotis, seiner Halsschlagader. Christiano trank sich satt, wobei er gleichzeitig sein Opfer mit der Hand befriedigte. Im gleichen Moment, als mein Freund mit seiner Nahrungsaufnahme fertig war, ejakulierte der Blutspender und sackte erschöpft in sich zusammen.
»Keine Angst, der kommt gleich wieder zu sich.«, meinte Christiano vergnügt, während er Martin stütze und über die Bisswunde leckte, die daraufhin verschwand. Der Angebissene kam tatsächlich wenig später wieder zur Besinnung, strahlte befriedigt und grinste Christiano verschwörerisch an, »Wow! Du gehst aber zur Sache. Junge, war das geil.«
»Bei so attraktiven Typen, wie du einer bist, kann ich mich einfach nicht zurückhalten.« , erwiderte Christiano und streichelte zärtlich seinem Abendbrot übers Gesicht, »Ist es also abgemacht? Wir werden die Wochen mal eine Tour unternehmen?«
»Worauf du einen lassen kannst. Solch eine Gelegenheit werde ich mir nicht entgehen lassen.«, plötzlich schlich sich ein verlegener Ausdruck in Martins Gesicht, »Ähm, ich hoffe, das wirkt jetzt nicht unhöflich, aber ich muss los. Meine Frau wartet zu Hause… Sie weiß nicht, dass ich…«
»Hey…«, Christiano streichelte Martin tröstend über die Wange, »Du musst dich nicht entschuldigen. Und ich werde auch nicht über dich urteilen, ja? Dein Geheimnis ist bei mir sicher aufgehoben.«
Zwei Minuten später hörten wir Martins Wagen die Tiefgarage verlassen. Christiano grinste breit.
»Lecker!«
»Der Typ?«
»Sein Blut!«
Sklaven
»Und, hältst du mich jetzt für böse? Für ein Monster?«
Christiano war damit beschäftigt, mir ein leichtes chinesisches Chop Suey zu brutzeln. Wo hatte der Mann nur so gut kochen gelernt? Wie er dieses von kalifornischen Chinesen erfundene Gericht zubereitete, zeugte von echtem Können. Allein mit welcher Leichtigkeit er das Filet in Streifen schnitt, ließ mich eher an einen Chef de Cuisine als einen Hobbykoch denken.
Nahrungsaufnahme – unterschiedlicher konnte man den Begriff kaum interpretieren. Hier saß ich, einen schneeweißen, tiefen Porzellanteller mit schnörkellosem Design vor mir. Daneben lagen ein paar hölzerne Essstäbchen auf einer ebenfalls schneeweißen, fein damastizierten Stoffserviette. Im Teller fand sich eine Portion duftender Basmati Reis, überzogen mit dem eben gerade fertig gegarten Chop Suey, bestehend aus Mungobohnenkeimlingen, Rinderfiletstreifen, Bambussprossen, fein geschnittenen Möhren und einer Vielzahl aromatischer Kräuter. Es roch einfach köstlich. Und dann das – der gleiche Mann, der mir diese Speise zubereitete, hatte wenige Minuten zuvor einen ihm wildfremden Mann gebissen und von ihm getrunken, sich von ihm ernährt.
War Christiano ein Monster? War ich ein Monster? Die Wahrheit war, dass jemand für mich die Drecksarbeit erledigt hatte. In irgendeinem Schlachthof hatte ein Schlachter ein ahnungsloses Rind erst mit einem Bolzenschussgerät betäubt, um es dann durch Blutentzug zu töten. Und das alles nur, damit ich mein Chop Suey genießen konnte, mich aber nicht mit der Rinderexekution belasten musste. Ich hätte natürlich Vegetarier werden können, nur schmeckten mir dafür die Rinderfiletstreifen viel zu gut. Konnte ich Christiano seine Ernährungsgewohnheiten vorwerfen? Klar, wenn ich ein Heuchler sein wollte, der verschiedene Maßstäbe anlegte, konnte ich das tun. Christiano brauchte frisches Blut, um zu überleben. Er hatte gar keine andere Wahl als gelegentlich seine Hauer in eine Schlagader zu bohren. Ich konnte hingegen ohne Fleisch gut leben und leistete mir den Luxus, den Prozess der Schlachtung zu verdrängen.
»Nein.«, erwiderte ich und schaufelte mir etwas Chop Suey in den Mund, »Du bist kein Monster. Du bist ein Vampir. Ich hätte da aber eine Frage.«
»Schieß los!«
»Wird sich Martin an irgendetwas erinnern?«
»Nicht daran, von einem Vampir gebissen worden zu sein.«, Christiano zeigte ein hinterhältiges Lächeln, »Er wird sich noch nichtmal, an mich und dich erinnern. Das tut er nie. Er wird nach Hause fahren. Auf dem Weg wird seine Erinnerung an das Ereignis verblassen. Zurück bleibt nur ein gutes Gefühl. Er wird heute Nacht einfach nur fantastisch gut schlafen und morgen voller Energie aufwachen. Er wird sich fühlen, als wenn er Bäume ausreißen könnte.«
»Wie bitte, du beißt ihn regelmäßig?«, vor Schreck fielen mir die Stäbchen aus der Hand, »Puh! Ich glaube, ich möchte nicht seinen Gesichtsausdruck sehen, wenn er erfährt, dass er Teil des Diätplans eines Vampirs ist.«
»Was meinst du, wie er guckt, sollte er erfahren, dass er sogar für einen arbeitet. Was glaubst du, wem Farinvest gehört?«
»Nein!« Und ich hatte gerade meine Stäbchen wieder eingefangen.
»Oh doch!«, Christiano lachte, »Varadin Investment ist eine hundertprozentige Tochter der Faromar Industrial Holding Group. Das Gebäude, in dem wir uns gerade befinden, gehört der Faromar Real Estate in Faro, Portugal, die zufälligerweise ebenfalls eine Tochter der Faromar Industrial ist. Da ich Constantins Geschöpf und damit sein Eigentum bin, gehört die Faromar Real Estate indirekt Constantin. Wenn man es ganz genau nimmt, gehört alles dem Hause Varadin, dessen Hüter und Bewahrer Constantin ist.«
Ich war geschockt und ließ – zum dritten Mal – meine Stäbchen fallen, worauf mir Christiano eine Gabel in die Hand drückte. Dass Constantin nicht ganz arm war und auch die Angehörigen seines Hauses nicht am Hungertuch nagten, hatte ich schon mitbekommen. Ich konnte mich inzwischen ganz gut an meinen ersten und einzigen Tag im Hause Varadin erinnern.
»Du bist Constantins Eigentum?«, die Worte wollten mir nur sehr widerwillig über die Lippen kommen.
Mein Freund verzog ein wenig den Mund, zuckte mit den Schultern und ließ sich mir gegenüber am Tisch nieder.
»Ja, sicher.«, kam es knapp.
»Aber… aber… dann bist du sein Sklave! Das ist unmenschlich, inhuman, grauenvoll, verachtenswert.«
»Inhuman und unmenschlich sind dasselbe und – nein – es ist weder unmenschlich, noch grauenvoll oder verachtenswert. Flo, ich bin kein Mensch. Ich bin ein Vampir. Constantin ist mein Meister. Ich verdanke ihm meine Existenz. Er hat mich verwandelt. Ja, natürlich, wenn du menschliche Maßstäbe anlegst, könntest du mich als einen Sklaven bezeichnen. Ich gebe sogar zu, dass einige Herrscher der anderen Häuser ihre Schöpfungen wie Sklaven behandeln. Aber Constantin ist anders. Ich bin zwar sein Eigentum und ihm verpflichtet, er mir aber auch. Mit der Entscheidung mich zu verwandeln, hat er Verantwortung für mich übernommen. Wusstest du, dass ich auch jemanden in einen Vampir verwandelt habe?«
»Nein, das wusste ich nicht.«
»Er heißt Simon. Ein wirklich süßer Kerl. Ziemlich pfiffig, lieb, intelligent, aufrichtig, offenherzig und richtig knuffig. Du wirst ihn mögen. Simon ist mein Geschöpf, deswegen bin ich sein Meister und er mein Eigentum. Habe ich ihn dazu gezwungen? Nein, denn soetwas würde ich nie tun und Constantin niemals zulassen. Simon hat die Entscheidung, ein Vampir und Mitglied des Hauses Varadin zu werden, frei, ohne Druck und im Bewusstsein der vollen Bedeutung getroffen.«
»Hm…«, murmelte ich nachdenklich, »Aber was ist mit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit?«
»Gleichheit ist eine Illusion.«, Christiano schnaubte verächtlich, »Gleichheit – wer ist schon gleich? Ist der Bauer in Kolumbien, den die internationalen Nahrungsmittelkonzerne mit ihren Dumpingpreisen zwingen, statt Kaffee Coca anzubauen, damit er überleben kann und der mit Subventionen gestopfte EU-Schweinemastbetrieb, der mit seiner Gülle die Umwelt vergiftet, etwa gleich? Sind die Chancen der Kinder einer Mittelstandsfamilie und die einer von Sozialhilfe lebenden, alleinerziehenden Mutter gleich? Chancengleichheit – oh, die macht sich schön in Sonntagsreden, genauso wie Freiheit und Solidarität. Klar, wir alle sind frei, frei zu krepieren. Handelt die thailändische Familie frei, die ihre minderjährige Tochter nach Bangkok ins Bordell verkauft? Oder der südamerikanische Goldschürfer, der tagein tagaus in engen Schächten sein Leben für die Hoffnung riskiert, irgendwann einmal den Nugget zu finden, der ihn aus seinem Elend befreit, während er sich mit Quecksilberdämpfen vergiftet, mit dem er den kärglichen Goldstaub bindet?«
Ich hatte Christiano noch nie so verbittert erlebt. Er redete sich regelrecht in Rage. Monologisierte vor sich hin. Spie jede Ungerechtigkeit der Welt vor mir aus. Hilf- und ratlos schrumpfte ich im Esszimmerstuhl zusammen. Was wollte mir mein Freund eigentlich erklären?
»Christiano, bitte…« Klang ich flehend genug? Offensichtlich. Christiano stoppte seine Predigt, schaute mich entsetzt an, stutze und sank plötzlich in sich zusammen.
»Oh, Flo, es tut mir leid. Ich wollte nicht…«, mein Einwurf riss meinen Freund aus seiner mentalen Einbahnstraße. Er blinzelte, als er meinen verstörten Gesichtsausdruck bemerkte, und zuckte verlegen. Seine Züge wurden weicher und entspannter.
»Keine Angst, Flo. Ich bin kein Revolutionär. Genauso wenig sehne ich mich nach einer Diktatur. Du wirst es mir kaum glauben, aber ich halte tatsächlich immer noch die Demokratie für die beste Regierungsform, die wir zurzeit haben. Aber sie ist nicht perfekt. Auch sie besitzt ihre Schwächen, Grenzen und Unzulänglichkeiten. Demokratie ist eine gute Sache – für euch Menschen. Doch wir sind Vampire. Unsere Existenz ist… kompliziert. Sie zu sichern ist noch um einiges komplizierter. Du hältst es für verachtenswert, dass ich Constantins Eigentum bin? Ich nicht. Ich kann mir kein besseres Leben vorstellen als jenes, das ich führe. Du wirst es kaum glauben, aber ich bin tausend- und abertausend mal freier, als die meisten Menschen. Nimm Martin, unsere heimliche Schwuchtel aus dem Parkhaus. Martin ist ein lieber Kerl. Er hat eine attraktive Frau, Nadine, zwei bildhübsche Töchter, Melanie und Vanessa und einen Hund namens Heino. Zusammen leben sie in einer Doppelhaushälfte, die Nadine und Martin, wenn alles gut geht, in 27 Jahren abbezahlt haben. Dafür müssen beide arbeiten. Und genau damit fangen die Ängste und die Unfreiheit an. Was, wenn einer der beiden seinen Arbeitsplatz verliert? Was, wenn einer ernsthaft krank wird? Oder schlimmer, wenn Martin morgen in einen tödlichen Unfall mit seiner Fireblade gerät? Die beiden sind gezwungen, Tag um Tag, Woche für Woche, Monat um Monat, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wie Millionen anderer Menschen auch. Du wirst sagen, dass das völlig normal sei. Und das ist es auch. Aber sind sie frei? Oder sind sie vielleicht Sklaven ihrer eigenen Wünsche und Bedürfnisse?«
»Sie mussten kein Haus bauen, oder?«, gab ich zu bedenken und nahm kommentarlos hin, dass Christiano offensichtlich alles über Martin wusste. Von Privatsphäre hielt er wohl nicht sehr viel.
»Stimmt! Ich wusste doch, dass du ein schlauer Junge bist. Man könnte also sagen, dass Martin und seine Frau ihre Form der Unfreiheit selbst gewählt haben, so wie ich die meinige gewählt habe. Ich hatte die Wahl. Ich konnte Constantins Banner folgen und sein Eigentum werden, oder sterben. Ich glaube, meine Wahl war nicht wirklich schlecht, oder?«
»Du bist völlig durchgeknallt, weißt du das?«, ich kratzte mich am Kopf, »Willst du mir etwa sagen, dass es gar nicht so schlimm ist, Constantins Eigentum zu sein?«
»Es ist nicht nur nicht schlimm, es hat auch keine Bedeutung. Es ist nur ein untaugliches Etikett, das du mir aufklebst, aber nichts mit meinem tatsächlichen Leben zu tun hat. Natürlich habe ich meine Verpflichtungen gegenüber dem Haus. Aber nenne mir einen Menschen oder meinetwegen auch nur einen Vampir, Constantin eingeschlossen, der keine Verpflichtungen hat. Mit dem was ich tue sorge ich dafür, dass es dem Haus, allen seinen Mitgliedern und letztendlich mir selbst gut geht. Indirekt sorge ich sogar dafür, dass es Martin gut geht, indem ich ihm einen Arbeitsplatz gebe.«
Für diesen Kalauer hätte ich Christiano in den Hintern treten können, stattdessen musste ich albern loslachen. Weltverbesserer, Philosoph, Quatschkopf – was steckte noch alles in diesem Vampir? Ich mochte Christiano. Wie konnte ich ihn nicht mögen?
»Ach, das hätte ich fast vergessen…«, setzte mein Freund erneut zu sprechen an, kaum, dass ich mich wieder eingefangen hatte und zum x-ten mal versuchte, das leckere Chop Suey zu verzehren. »Du hast es wohl vergessen, aber du bist ebenfalls Constantins Eigentum, oder, wie du es so dramatisch formulierst, sein Sklave.«
»Irgendwie gewinne ich langsam den Eindruck, dass du mir mein Essen nicht gönnst, oder?«
Der Mann hatte recht, und das sogar doppelt. Ich hatte es vergessen. Genaugenommen hatte ich es verdrängt. Aber es stimmte. Ich war Constantin Varadin verpflichtet. Wie konnte ich das vergessen? Natürlich gehörte Constantin mein Leben. Ich selbst hatte es schließlich für nutzlos empfunden und weggeworfen, indem ich mich von der Talbrücke in der Nähe meines Wohnorts gestürzt hatte. Constantin fing mich mitten in meinem Todessturz auf und stellte mich vor die Wahl – Leben oder Tod. Ich wählte das Leben.
Allerdings hatte diese Wahl, wie jede andere Wahl auch, ihren Preis. Constantin hatte es klar und deutlich formuliert, was es bedeutete, ihm zu folgen.
»Dir ist klar, dass dein Leben von nun an mir allein gehört? Du bist an mich gebunden und mir zu Treue verpflichtet.«
Seine Worte schallten mir jetzt noch durch den Kopf, genau wie meine Antwort: »Ja, dies ist mein Wille!«
Christiano betrachtete mich mit einem spitzbübischen Ausdruck: »Verblüffend, wie man so ein kleines Detail vergessen kann. Nicht wahr? Und, wie fühlt man sich als Sklave?«
»Ich…«, wusste es nicht. Ich sagte erst einmal nichts und verzehrte lieber mein Chop Suey. Christiano saß mir gegenüber und grinste mich frech an, sagte aber ebenfalls nichts. Der ganze Tag war irgendwie völlig schräg. Sein Spektrum reichte von einem unplanmäßigen Grillfest, dem Versuch einer Revolution gegen Mario, einer von Sentimentalität geprägten Autofahrt bis hin zu einem aufwühlenden Abendessen. Zwischendrin, quasi als Sahnehäubchen, wurde auch noch in einem Parkhaus ein Investmentbanker vernascht. Und um der Sahne auch noch ein Kakao-Topping zu verpassen, wurde ich nebenbei daran erinnert, dass ich Eigentum eines Vampirs war. Toll!
Nahm man all diese netten Dinge zusammen, gab es eigentlich keinen Grund, nicht auszurasten und wahnsinnig zu werden. Ich lauschte also in mich hinein. Komisch. Ich verspürte weder Panik, noch Entsetzen. Ganz im Gegenteil bemerkte ich, wie sich eine angenehme Coolness in mir verbreitete. Dann war ich eben Constantins Eigentum, meinetwegen auch Sklave. Ja und? Änderte das etwas daran, was ich für ihn empfand? Nein, natürlich nicht
Oder vielleicht doch? Es verstärkte sogar mein Gefühl der Verbundenheit mit diesem Mann. Wahrscheinlich ließen sich Vampire und Menschen eben doch nicht so einfach miteinander vergleichen. Ihre Welt war geprägt von überlebenswichtiger Heimlichkeit. Sich in Häusern zu organisieren und feudalistische Herrschaftsstrukturen zu etablieren, diente einzig dem Zweck, das Überleben zu sichern. Was blieb einer Gesellschaft übrig, die wusste, dass man sie verfolgen und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auslöschen würde, sollte die Menschheit von ihrer Existenz erfahren. Vampire waren, das begriff ich, während ich mein Chop Suey verzehrte, die totalen Überlebenskünstler. Über Jahrtausende unentdeckt zu bleiben, erforderte sicherlich ein gehöriges Maß an Selbstbeherrschung und Teamplay. Es musste nur einer quer schießen und die Kacke wäre am dampfen, was sie auch regelmäßig tat. Es gab Vampirjäger, es gab Romane, die die Blutsauger als Thema hatten, es gab sogar Fernsehserien und Kinofilme, wobei der Vampir selten gut wegkam und meistens als blutrünstiges Monster charakterisiert wurde.
Vielleicht musste ich wirklich andere Maßstäbe anlegen, wenn ich Constantin und seinen Clan beurteilen wollte. Nach menschlichen Grundsätzen hatte sich Christiano gegenüber Martin einer Körperverletzung schuldig gemacht. Er hatte ihn nicht nur gebissen, sondern ihn auch einer ordentlichen Portion Bluts beraubt. Aus Christianos Blickwinkel ergab sich ein ganz anderes Bild. Für ihn war es nicht nur ein ganz normaler Akt der Nahrungsaufnahme, sondern auch lebenswichtig, frisches Blut zu trinken. Verurteilte ich ihn dafür? Wenn ja, sollte ich mir das mit der Vampirsache nochmal überlegen. Die Frage war sogar ganz einfach. Könnte ich einen Menschen beißen?
Wie auch immer die Antwort lauten mochte, an diesem Abend sollte sie nicht beantwortet werden. Christiano gähnte und steckte mich damit an. Ich war müde. Der Tag, die Fragen, die Diskussionen hatten mich ermüdet.
»Ab ins Bett, Sklave!«
Der Humor meines Gastgebers hatte seine gewöhnungsbedürftigen Momente.
»Das gefällt dir jetzt, was?«
»Du hast keine Ahnung…«
Christiano grinste breit, erhob sich vom Esstisch und räumte noch schnell das Geschirr weg. Der Mann hatte einen Sinn für Ordnung und Sauberkeit. Wenn es etwas gab, was ich verabscheute, dann Schlampigkeit. Dafür hatte mein Vater gesorgt, dessen Dreck ich permanent wegwischen konnte, wenn ich keine Prügel ernten wollte. Der Mann hatte die letzten Jahre ein wirklich grenzwertiges Sauberkeits- und Ordnungsverhalten an den Tag gelegt. Hätte ich nicht seine Wäsche gewaschen, die Wohnung geputzt, das Geschirr gespült und den Müll raus gebracht, wir wären in Dreck und Unrat erstickt. Zum Glück hat sich dies radikal geändert. Erwischte ich Paps nicht nur dabei, wie er mit dem Staubsauger durch die Wohnung wetzte, er ließ sich von mir sogar in die Geheimkünste der Bedienung einer Waschmaschine einweihen. Den Hammer schoss er allerdings während seiner Möbelkauftour ab, als er einen Geschirrspüler kaufte.
»Du musst nicht schlafen, wenn du nicht willst.« Dieser portugiesische Teufel war einfach unheimlich. Wie schaffte er nur immer wieder diese 180 Grad Wendungen? Eben noch von ihm verarscht, zeigte er nun eine ganz sanfte, zärtliche Seite.
»Ich will nicht mit dir Sex haben, wenn es das ist, was du befürchtet. Es ist einfach nur… Niemand sollte allein in seinem Bett liegen müssen…«
Was hatte ich Christiano nur zugemutet. Die Sehnsucht in seiner Stimme war fast mit den Händen greifbar. Ihm fehlte etwas und ich ahnte, was es war. Die Verbannung aus dem Hause Varadin, obwohl nur gespielt, nagte an ihm, denn ihre Konsequenzen waren echt. Christiano war einsam, abgeschnitten von der Wärme und Geborgenheit seiner Familie. Obwohl ich nur einen Tag im Hause Varadin zubrachte, hatte ich sie ebenfalls verspürt. Ich kannte aber auch etwas anderes, nämlich die Einsamkeit von allen verlassen einsam in einem kalten Bett schlafen zu müssen.
»Du hast recht.«, erwiderte ich und ergriff Christianos Hand, die uns zu seinem Bett führte, »Niemand sollte allein in seinem Bett liegen müssen.«
Nuno
Ich erwachte im Schimmer der Lichter der Stadt. Ein Blick an die Decke zeigte 21:27 Uhr. Auf dem Nachttisch stand eine dieser Projektoruhren, die die aktuelle Uhrzeit an die Zimmerdecke zauberte. Halb zehn, dann hatte ich gute fünf Stunden geschlafen. Die Schutzwand vor den Panoramafenstern war eingefahren. Ich richtete mich auf. Die Fenster waren geöffnet. Ein leichter Wind wehte von draußen herein. Die Luft roch feucht, frisch und belebend. Ich reckte mich und wollte gerade nach Christiano rufen, als ich ihn direkt am Fensterrand stehen sah. Er war nackt. Das Mondlicht schimmerte leicht auf seiner Haut. Seine Haare wogten im Wind. Obwohl man nicht wirklich etwas sah, wirkten sein Anblick, die Pose und die Art, wie er sich rekelte, unendlich erotisch.
Trotzdem war mir mulmig. Ich kann von mir sagen, dass ich schwindelfrei war. Als Handwerker, der oft auf Baustellen zu tun hatte, war Höhenangst ein echtes Handicap. Christiano aber direkt am Fassadenrand stehen zu sehen, ließ mich dann doch schlucken. Natürlich wusste ich, dass er fliegen konnte und keine wirkliche Gefahr bestand. Trotzdem...
Wie aufs Stichwort drehte sich Christiano um, ging zur Küchenzeile und kramte in einer Schublade, bis er fand, was er suchte. Es war eine einzelne, lange Kerze, die er in einen schlichten Halter steckte, entzündete und einen Schirm aus farbigem Glas darüber stülpte. Feine, bunte Lichtflecken erfüllten den Raum, ohne die eigentliche Dunkelheit zu vertreiben.
»Ich liebe die Nacht, die sanfte Melancholie der Dunkelheit.«, erklärte Christiano und kehrte zum Bett zurück.
Ich verstand ihn. Auch mich begann die Dunkelheit in ihren Bann zu schlagen. Noch mehr als die Nacht vermochte es aber dieser attraktive, nackte Vampir vor meiner Nase. Ich streckte meine Hände aus, ergriff Christianos Hände und zog ihn zu mir zurück ins Bett. Geschmeidig schlüpfte er zu mir unter die Decke, schlang seine Arme um mich und schmiegte sich an meinen Körper.
»Ich möchte dir etwas erzählen, das ich bisher nur sehr wenigen Personen erzählt habe. Außer dir kennen die Geschichte nur Constantin, Laurentius und Simon. Es ist die Geschichte, die in meiner Verwandlung zum Vampir endete. Es ist keine nette Geschichte, auch nichts für zartbesaitete Seelen, obwohl sie am Ende gut ausgeht.«
Dies war einer jener Momente, zu denen man schweigen sollte. Mein Freund, mein bester Freund, war dabei, mir die Geschichte seines Lebens zu enthüllen, die, dem Klang seiner Stimme nach, der Art, wie sehr er meine körperliche Nähe suchte und sein Körper vor Emotionen bebte, tiefe Wunden in ihm hinterlassen hatte, die selbst die Jahrhunderte seiner Existenz als Vampir nicht heilen konnten.
Leise, fast flüsternd, begann Christiano zu erzählen. Er wurde als zweiter Sohn von Teresa Isolde und Hugo Sidonio Cortes geboren und am 17. März im Jahre des Herrn 1721 auf den Namen Christiano Ximeno getauft. Seine Eltern waren weder arm noch reich. Sein Vater hatte an der Universität in Coimbra Pharmazie studiert und hatte sich 1708 als Apotheker in Faro an der Algarve niedergelassen. Schnell gründete er eine Familie, die nach einem Sohn und zwei Töchtern vor ihm, nach dreizehn Jahren zu Christianos Geburt führte. Ein Jahr später, 1722, verwüstete ein schweres Erdbeben Faro. Es kam zu viele Toten, darunter auch Orbita, die älteste Tochter Cortes. Ein oft weitaus schlimmeres Schicksal als den Tod traf aber die unzähligen Schwerverletzten des Erdbebens. Die Ärzte der Stadt hatten alle Hände voll zu tun. Wenngleich die medizinischen Kenntnisse Anfang des 18. Jahrhunderts auch nicht mit den heutigen zu vergleichen waren, schlug man sich wacker und konnte das eine oder andere Leid lindern, zuweilen sogar heilen. Vielen aber konnte man nicht helfen. Zu viele Seelen gingen verloren, nur weil nicht genug Ärzte, vor allem aber nicht genug Wissen um die Behandlung schwerer Infektionen vorhanden war.
Christianos Vater war ein Besessener seines Berufes. Er verabscheute Leid und Gebrechen und versuchte alles, um sie zu bekämpfen. Seine Hilflosigkeit im Angesicht des Schreckens der Folgen des Erdbebens stachelte ihn nur noch mehr an, besser zu sein und vielleicht Mittel gegen Fiber, Wundbrand und Blutvergiftung zu finden. Dabei scheute er auch nicht davor zurück, alte und verbotene Quellen, wie Schriften arabischer Gelehrter, zu konsultieren. So war schon im antiken Griechenland bekannt, dass der Saft der Weidenrinde fieber- und schmerzstillende Wirkung besitzt. Hugo Cortes gelang es, die Wirkung durch Konzentration zu verstärken. Dass es sich dabei um den Vorläufer der Acetylsalicylsäure handelte, wusste er allerdings nicht. Mit der Zeit trug sein Einsatz Früchte. Die Leute kamen von weit her, um bei ihm Medizin zu kaufen. Christianos Eltern gelangten so zu einem moderaten Wohlstand, was ihm und seinem Bruder ermöglichte, die besten Lehrer und Schulen besuchen zu können, um in die Fußstapfen seines Vaters treten zu können.
Insbesondere Christiano schien die Besessenheit seines Vaters geerbt zu haben. 1739 schrieb er sich ebenfalls an der Universität in Coimbra ein. Dank des guten Vorwissens aus dem elterlichen Haus – ihm wurde bereits als Jugendlicher alles beigebracht, was es über die Pharmazie zu wissen gab – verlief sein Studium sehr gut. Schnell erwarb er sich bei seinen Dozenten den Ruf eines vorbildlichen Schülers, war geachtet und respektiert. Alles war perfekt, hätte es da nicht diesen kleinen, dunklen Fleck auf seinem ansonsten so sauberen Charakter gegeben.
Christiano fühlte sich zu Männern hingezogen, ganz besonders zu einem – Nuno da Costa, einem Studenten der Medizin. Nuno war ein lieber Kerl. Im Gegensatz zu Christianos oft impulsivem Temperament war er sehr sanftmütig und verträumt. Er war eher ein Mann der leisen Töne. Auch körperlich unterschied er sich teilweise auffällig von Christiano. Während ihn kräftige, kleinlockige Haare zierten, waren Nunos Haare lang und fielen in langen, glatten Strähnen die Seiten seines Kopfes herab. Nuno war groß, mit 1,83 Metern überragte er die Mehrheit seiner Kommilitonen, während Christiano mit seiner durchschnittlichen Größe in der Masse verschwand. Es gab nur einen anderen Studenten, der ähnlich groß wie Nuno war, einen geheimnisvollen, ausländischen Studenten, der auf den Namen Constantin hörte, den Christiano aber noch nie gesehen hatte. Welchen Studien dieser Fremde nachging, war ebenso unbekannt, wie seine Herkunft. Überhaupt wusste man wenig konkretes vom Studenten Constantin, dafür schossen die Gerüchte umso wilder ins Feld. Die einen behaupteten, er sei der Neffe eines deutschen Fürsten und mit einer diplomatischen Angelegenheit betraut, die gewisse Forschungen in den Archiven der Universität erforderlich machten. Andere meinten gehört zu haben, er sei ein illegitimer Sohn des Bischofs von Florenz und wäre, um einen Skandal zu vermeiden, nach Portugal gekommen. Von einer Seite wurde gemunkelt, dass er sich der Rechtswissenschaften verschrieben hätte. Andere wiederum behaupteten, ihn in den Vorlesungen der medizinischen Fakultät beobachtet zu haben. Was alle vereinte, war eine gewisse Faszination, der jeder erlag, dem Constantin physisch begegnet war, wenn auch keine gute. So neugierig man war, so zurückhaltend und latent feindselig war man diesem Constantin gegenüber eingestellt.
Christiano focht der Rummel um diesen ausländischen Studenten nicht an, er hatte nur Augen für Nuno. Nun muss man allerdings bedenken, dass zu jener Zeit Sodomie, worunter alle sogenannten widernatürlichen Handlungen, also auch beischlafähnliche Handlungen unter Männern zählten, mit dem Tode bestraft wurde – zumindest theoretisch. Rein praktisch gab es mehr als eine Studentenverbindung, die der Liebe von Mann zu Mann einen ganz anderen Stellenwert einräumte und statt von Widernatürlichkeit von Natürlichkeit sprach, wobei die griechische Antike als verkitschtes Vorbild herhalten musste. Auch außerhalb der Universität gab es schwules Leben, mal mehr, mal weniger versteckt, die je nach politischer Opportunität verfolgt oder ignoriert wurde. Das änderte aber nichts daran, dass es ausgesprochen kniffelig und alles andere als ungefährlich war, sich einem anderen Mann, auch wenn dieser ein Kommilitone war, mit amourösen Absichten zu nähern. Das Objekt der Begierde musste daher ganz genau auf potenzielle Verfügbarkeit abgeprüft werden.
Christianos erste Forschungsarbeit bestand deswegen auch daraus, in Erfahrung zu bringen, ob und wenn ja, welcher Verbindung sich Nuno angeschlossen hatte. Zu seiner größten Enttäuschung hatte dieser sich keinem Bund angeschlossen, was die Befürchtung nahe legte, dass er nicht am eigenen Geschlecht interessiert war. Christiano war verwirrt. Bei allen öffentlichen Kontakten mit Nuno, wie in den Vorlesungen, die die angehenden Pharmakologen gemeinsam mit den Medizinern besuchten, hatte Christiano das Gefühl, eindeutige Signale von seinem Kommilitonen zu empfangen. So wählte Nuno immer eine Bank direkt neben ihm. Christiano verfluchte sich. Von Tinkturen, Salben und Pillen wusste er alles, nur wie man einen Mann für sich gewann, davon hatte er nicht die geringste Ahnung.
In den nachfolgenden Wochen versank er mehr und mehr in Liebeskummer. Nuno brauchte nur kurz im Randbereich seines Blickfelds aufzutauchen, schon erfasste eine Hitzewelle seinen Körper, brachte seine Wangen zum Glühen und seine Lippen zum Beben. Die gemeinsamen Vorlesungen wurden zur Tortur. Wie soll man sich auf trockenen Vorlesungsstoff konzentrieren, wenn neben einem der Mann der Träume sitzt? Jeder, der schon einmal unerwidert verliebt war, wird die Seelenqualen nachvollziehen können, die Christiano durchlebte. Der Schmerz wurde mit der Zeit so groß, dass er ernsthaft in Erwägung zog, sein Studium abzubrechen, nur um der Verlockung namens Nuno zu entfliehen.
»Entschuldigt, aber ist hier noch Platz?«
Sein Portugiesisch war fast akzentfrei. Direkt zwischen Nuno und Christiano hatte sich ein ihnen unbekannter Student niedergelassen, den sie aber unzweifelhaft als jenen geheimnisvollen Constantin identifizierten, von dem die halbe Universität permanent tuschelte; wobei Gerüchte und Realität nicht wirklich aufeinandertrafen. Von Constantins fast schon magischem Wesen war nichts zu bemerken. Auf Nuno und Christiano wirkte er wie ein normaler Student und verhielt sich auch so. Er schrieb aufmerksam mit, gab sich alle Mühe, die komplizierten anatomischen Skizzen, die der Professor präsentierte, zu kopieren und zeigte auch sonst kein ungewöhnliches Verhalten. Die einzige Seltsamkeit schien seine Furcht vor Sonnenlicht zu sein. So trug Constantin stets eine dunkle Kapuze und Lederhandschuhe, sollte ihn sein Weg außerhalb der Universitätsmauern führen. Dieses ungewöhnliche Verhalten lieferte auch gleich die Erklärung für den Grund seines Studiums. Seine gesamte Familie würde an einer Lichtunverträglichkeit leiden und er sei auf der Suche nach einer Medizin, die dieses Leiden lindern, wenn nicht sogar kurieren könnte. Leider hätte sein Leiden auch für gewisse Missverständnisse zwischen ihm und seinen Kommilitonen gesorgt. Seine Vermummung wäre für ihn lebensnotwendig, schrecke aber viele Menschen ab und ließ viel Raum für die wildesten Spekulationen.
So begegnete Christiano erstmals Constantin, Fürst Varadin. Dass es sich bei seinem Kommilitonen um einen Vampir handeln könnte, wie manche feindlich gesonnene Mitstudenten hinter vorgehaltener Hand behaupteten, glaubte er natürlich nicht. Vampire waren Schauerfiguren, mit denen eifrige Priester den Gläubigen Demut und Gottesehrfurcht eintrichtern wollten. Sie seien die Schoßhunde des Teufels, dazu verdammt, bis zum Tag des Jüngsten Gerichts als Untote auf Erden zu wandeln und sich vom Blut armer Sünder zu ernähren. Christiano schenkte dem wenig Glauben und hätte nie daran gedacht, dass es wirklich Vampire gab. Nicht, dass er kein gläubiger Katholik wäre. Er besuchte regelmäßig die Messe, beichtete, was er für beichtenswert und sündig hielt, zweifelte aber als Mann der Wissenschaft und erfasst vom Geist der Aufklärung, viele Dogmen seiner Kirche an. Christianos Helden waren Rene Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz. Insbesondere Descartes Satz »cogito ergo sum – Ich denke, also bin ich.« hatte sein Weltbild geprägt. Christiano, mit der Leidenschaft der Jugend gesegnet, hatte sich voll und ganz dem kritisch konstruktiven Rationalismus verschrieben. Warum sollte er einen Gedanken, eine Idee glauben, wenn man sie doch einfach nachprüfen konnte? So ging ihm auch die abergläubische Furcht seiner Kommilitonen vor Constantin völlig ab. Wenn dieser unter einer Unverträglichkeit gegen Sonnenlicht litt, dann war dies eben eine Krankheit, die man erst verstehen musste und dann, daran bestand für Christiano nicht der geringste Zweifel, mit der richtigen Medizin behandeln könnte.
Es war genau diese Fragestellung, die ihn mit Nuno, dem angehenden Mediziner, ins Gespräch brachte. Ein Fall wie Constantins wäre eine ideale Gelegenheit, an der sich Rationalismus gegenüber der alten Mythengläubigkeit beweisen könne. Was als wissenschaftlicher Gedankenaustausch begann, verwandelte sich alsbald in eine ungezwungene, private Unterhaltung. Dank Constantin, dem lichtscheuen Studenten, brach das Eis zwischen Nuno und Christiano und blieb es auch, als Constantin alsbald die Universität mit unbekanntem Ziel verließ. Doch dies spielte für die beiden Männer keine Rolle mehr, die recht bald entdeckten, dass sie nicht nur wissenschaftlich gleiche Ansichten vertraten, sondern auch im privaten sehr ähnlich dachten. Warum, so schlug Nuno konsequenterweise vor, sollte man, wenn man sich schon so gut ergänzen täte, das Studium nicht mit vereinten Kräften stemmen. Christiano stimmte zu und meinte sogar, dass er Nunos Vorschlag aus Gründen der Vernunft annehmen müsse. Die beiden wurden Studienkollegen und Übungspartner, woraus sich aber schnell eine enge Freundschaft entwickelte.
War Christiano glücklich? Nein, denn diese Freundschaft war Hölle und Himmel zugleich. So konnte er Nuno zwar nahe sein, doch eben nicht nahe genug. Die Sommer in Coimbra konnten sehr heiß werden, weswegen jeder versuchte, sich so vieler Kleidungsstücke zu entledigen, als dass dies die Grenzen der Schicklichkeit zuließen. Für Christiano war es eine Qual, Nuno nur von einem leichten Leinenhemd über seinem Oberkörper bedeckt am Tisch seiner Klause sitzen zu sehen. Zeichnete sich doch ein Körper unter dem Stoff ab, der gerade danach schrie, berührt und liebkost zu werden. Eines Abends, die Semesterprüfungen standen unmittelbar bevor, Nuno und Christiano hatten zusammen sehr lange über den Büchern gebrütet, geschah es. Nuno kämpfte mit einer ihn besonders fordernden altgriechischen Textstelle. Mit der Sprache der Antike stand er ein wenig auf Kriegsfuß.
»Christiano, bitte hilf mir mit diesem verdammten Kauderwelsch!«, knurrte der sonst so sanfte Mann, wandte sich um und warf Christiano einen flehenden Blick zu. Der Angesprochene erhob sich von seinem Platz, ging zu Nuno und stellte sich hinter dessen Stuhl.
»Wo kann ich dir helfen?«, fragte Christiano, wobei er, von seinen eigenen Studien ermüdet, gedankenverloren eine Hand auf Nunos Schulter legte und sich zu ihm hinab beugte.
»Kannst du mir den Teil übersetzen?«
Christiano begann zu lesen, ohne dabei seine Hand von Nunos Schulter zu nehmen. Völlig in den Text versunken, bemerkte er auch nicht, wie seine Hand begann, Nunos Schulter sinnlich zu massieren. Erst als er mit seiner Übersetzung fertig war, bemerkte er, was seine Hand verräterisches trieb und zog sie blitzartig zurück.
»Nein, tu das nicht!«, flüsterte Nuno und wandte sich Christiano zu, »Berühr mich! Ich weiß, dass du es willst! Du weißt, dass du es willst.«
Noch bevor Christiano antworten konnte, erhob sich Nuno von seinem Stuhl und entledigte sich seines Leinenhemdes.
»Berühr mich, Christiano! Berühr mich!«
Christiano berührte ihn, und er beschränkte sich nicht nur auf Nunos Schulter. An jenem Abend wurden keine Texte mehr übersetzt, sondern die Anatomie des Menschen sehr konkret erforscht.
Christianos Zeit mit Nuno verlief für beide wie ein Traum. Der Mann konnte zärtlich sein, dann wieder derb und fordernd. Von da an verbrachten die beiden Männer kaum einen Tag miteinander, an dem sie es nicht in irgendeiner Weise miteinander trieben. Allerdings sollte man nicht dem Eindruck erliegen, sie hätten es nur auf Sex abgesehen. Ganz im Gegenteil. Nuno studierte Medizin und wollte Arzt werden, während Christiano dem Vorbild seines Vaters folgen und eine eigene Apotheke eröffnen wollte. Wie konnte man sich besser ergänzen?
In ihrem jugendlichen Übermut schmiedeten sie den Plan, sich gemeinsam in einer Stadt niederzulassen, in der Nuno seine Praxis und Christiano eine Apotheke eröffnen sollte. Das dafür notwendige Geld stellte kein Problem dar. Sowohl Nunos als auch Christianos Eltern waren bereit, den beiden das jeweils nötige Startkapital zu leihen. Die jungen Männer waren wirklich so naiv zu glauben, dass niemand bemerkte, dass die zwei jungen Studiosi mehr waren, als Studienfreunde.
Womit sie nämlich nicht gerechnet hatten, waren der Neid und die Missgunst der anderen, insbesondere der niedergelassenen Ärzte und Apotheker der Stadt, die sich ihre Patienten nicht nur schön untereinander aufgeteilt hatten, sondern diese gegen jede ärztliche Ethik, um ihr sauer Verdientes brachten. Der ansäßige Arzt, Fra Silo, ein Geistlicher, war ein sehr geschäftstüchtiger Mann. Statt die Leute gesund zu machen, kultivierte er ihre Leiden und verschrieb allerlei teure aber nutzlose Tinkturen, die ein befreundeter Apotheker für entsprechende Bezahlung zubereitete. Den Gewinn dieses amoralischen Handels teilten sich die beiden und wurden zu sehr wohlhabenden Männern.
Genau in dieses schöne Geschäft platzten die frischgebackenen Jungakademiker hinein. Als neuer Arzt im Ort konnte und wollte Nuno nicht die gleichen Honorare aufrufen, wie Fra Silo, weswegen die Leute ziemlich bald auch ihn konsultierten. Im Gegensatz zum alten Arzt gesundeten die Menschen, was sich sehr schnell in der Stadt herumsprach. Während Nunos Praxis sich mehr und mehr füllte, blieb die Fra Silos leer, und damit auch sein Geldbeutel. Es war kein halbes Jahr vergangen, da tauchte eines Abends der alte Arzt bei Nuno auf und versuchte ihn in verklausulierten und wolkigen Worten davon zu überzeugen, dass es doch besser sei, nicht ganz so effektiv bei der Behandlung der Kranken vorzugehen. Als Mann der Wissenschaft wisse er natürlich, zu welchen Wundern die moderne Medizin fähig sei, doch könne der einfache Bürger leicht auf den irrigen Gedanken kommen, bei den schnellen Heilerfolgen sei, Gott bewahre, dunkle Magie im Spiel. Das Volk sei halt ungebildet und leicht zu irritieren. Genau so, wie Medizin bitter schmecken müsse, dürfe eine Heilung nur langsam erfolgen, um nachhaltig und vor allem glaubwürdig zu sein.
Als Nuno später Christiano vom Besuch Fra Silos erzählte, begriff keiner der beiden, dass der Mann eine Warnung ausgesprochen hatte. Die Erwähnung Schwarzer Magie war eine Drohung, die die beiden, idealistisch und naiv wie sie waren, völlig ignorierten, ja nicht einmal bemerkten. Sie waren sogar so dämlich, Fra Silo zusammen eines Abends in seiner Praxis zur Rede zu stellen und ihm vorzuwerfen, aus reiner Profitgier nicht an einer Heilung seiner Patienten interessiert zu sein.
Ohne es zu ahnen, unterschrieben sie damit ihr Todesurteil. Es dauerte keine vier Wochen, da wurden sie verhaftet. Die Anklage lautete auf das Praktizieren Schwarzer Magie, Ketzerei und Sodomie. Mit den ersten beiden Anklagepunkten war auch gleich die Inquisition mit im Spiel. Man warf ihnen tatsächlich vor, Teufelsbündler zu sein. Nuno sei der Haupttäter, er hätte seine Seele an den Teufel verkauft. Nur so sei es ihm möglich, seine Patienten in unnatürlich kurzer Zeit zu heilen. Christiano sei mithin weniger schuldig. Er wäre nicht nur Nunos Buhle, sondern braue für ihn auch die schwarzmagischen Gifte, mit denen die widernatürlichen Scheinheilungen bewerkstelligt wurden.
»Florian, kannst du dir das vorstellen? Wir begriffen gar nicht, dass es um unseren Kopf ging.«, flüsterte Christiano mir leise zu. Die Dunkelheit in seinem Penthouse ließ mich die Tränen in seinen Augen nicht sehen, aber das brauchte ich auch nicht. Ich spürte sie auch so.
Noch bevor sie realisierten, in welche Lage sie geraten waren, hatte man bereits Anklage erhoben. Bereits drei Tage nach der Verhaftung erfolgte das erste Verhör, die sogenannte gütliche Befragung. Dabei wurde den beiden Männern unmissverständlich klar gemacht, dass es für ihre Schuld unumstößliche Beweise gäbe. Ein frühes Geständnis wäre sinnvoll und würde ihnen sehr viel Leid ersparen. So würde man ihnen die Gnade eines schnellen und schmerzfreien Todes gewähren.
»Flo, die meinten das ernst.«, flüsterte Christiano mit stockender Stimme, »Wir verstanden es nicht. Was hatten wir denn Böses getan, außer uns zu lieben und Kranke zu heilen?«
Als Beweise wurden unter anderem Christianos Sachbücher, insbesondere ein arabischer Text, den ihm sein Vater geschenkt hatte, aufgeführt. Es lägen aber auch Augenzeugen vor, die die widernatürlichen Handlungen beeiden könnten. Fra Silo war absolut skrupellos und hatte nicht einmal vor Zeugenbestechung zurückgeschreckt. Der angebliche Zeuge schilderte der Inquisition, wie Nuno an ihm teuflische Rituale vollzogen hatte, wobei er ihn auch gezwungen habe, seine Manneskraft in den Mund zu nehmen. Christiano hätte ihm wiederum seine Medizin auf widernatürliche und teuflische Art appliziert.
»Natürlich leugneten wir die Anklage. Worauf man uns die Folter androhte. Man sperrte uns zusammen in eine Zelle. Wir ahnten, dass die Sache kein gutes Ende nehmen würde. Waren wir verbittert? Nein. Wir hatten Angst und fürchteten, was kommen würde, aber verbittert waren wir nicht. Für uns gab es nichts zu bereuen. Wir wussten, dass wir uns nicht schuldig gemacht hatten. Ich nahm Nuno in meinen Arm, drückte ihn an mich. Er weinte. Ich weinte. Wie konnte es nur so weit kommen? Was hatten wir falsch gemacht? Warum zählte die Wahrheit nicht?«
Am nächsten Tag wurden Christiano und Nuno ganz nach den Regeln eines Hexenprozesses die Folterwerkzeuge gezeigt und ihnen die genaue Anwendung beschrieben. Diese als Territion bezeichnete Prozedur sollte Angst einflößen, auf dass sie gestanden. Nur hatten sie nichts zu gestehen. Man gab ihnen eine weitere Nacht, um ihre sture und uneinsichtige Haltung zu überdenken.
»Es war das letzte Mal, dass ich Nuno in meinen Armen hielt.«, Christiano weinte, während mir ein riesiger Kloß im Hals steckte. Was mein Freund mir erzählte, sprengte meine Vorstellungskräfte. Ich wusste nicht, was und ob ich etwas antworten sollte. Stattdessen nahm ich Christiano in den Arm, so wie er wohl Nuno in den Arm genommen hatte. Sein Körper bebte, doch meine Berührungen schienen ihn zu beruhigen. »Nuno, mein liebster Nuno. Was habe ich dir angetan?«
Am Morgen des nächsten Tages begann die Folter. Als erstes wählten sie Nuno. Sie legten ihm Daumenschrauben an. Während Christiano ankettet zusehen musste, zerquetschten sie Nunos so schöne, feingliedrige Finger. Dabei ließen sie sich viel, sehr viel Zeit, um die Schmerzen möglichst intensiv zu gestalten. Schrie Nuno? Christiano wollte es nicht glauben, aber sein Freund, die Liebe seines Lebens, schrie nicht, sondern ertrug die Qual mit stoischer Gleichgültigkeit. Nach einer Stunde, während der Nuno nicht gestand, wurde seine Folter unterbrochen und stattdessen mit Christiano fortgefahren.
»Ich schrie! Ich gebe es zu, ich brüllte wie am Spieß. Die Schmerzen waren unerträglich. Trotzdem gestand nicht nichts. Es gab nichts zu gestehen. Außerdem gab mir Nuno die Kraft, dem Schmerz zu widerstehen.«
Ich griff nach Christianos Finger, führte sie an meinen Mund und küsste sie. Mein Freund verstand die Geste und seufzte.
»Nach den Daumenschrauben kam die Streckbank.«, fuhr Christiano fort, »Diesmal wurden wir gleichzeitig bearbeitet. Diese Folterknechte waren Schweine. Sie liebten ihren Job. Sie genossen es, Menschen zu foltern, ihnen unerträgliche Qualen zu bereiten. Während sie mir die Gelenke auskugelten und ich mir die Seele aus dem Leib schrie, grinsten sie mich hämisch an und wichsten auf mich ab. Und dann passierte es.«
Christiano verstummte, dafür begann sein Körper wieder zu beben. Er schluchzte und rang mit seinen Gefühlen.
»Nuno... starb.«, stammelte Christiano, »Ich weiß nicht, was genau passierte. Nuno schrie kurz auf, röchelte ... röchelte... und war tot. Einfach so. Die Folterknechte rannten kopflos umher. Soetwas sollte nicht passieren. Die Folter durfte zerquetschen, zermalmen, verstümmeln, aber nicht töten. Ein Toter konnte kein Geständnis ablegen.«
Der Richter war außer sich, denn Nuno hatte eben noch nicht gestanden. Ein Schuldspruch ohne Geständnis konnte Zweifel an der Gültigkeit der Beweise aufkommen lassen. Wie konnte nur so eine Schlampigkeit passieren? Die Angeklagten sollten leiden, aber nicht sterben. Christiano zitterte als erlebte er erneut die Qualen seiner Folter.
»Sie haben Nuno umgebracht!«, schrie Christiano, »Sie haben uns gefoltert, weil ein korruptes Schwein von einem Pfaffen seine Gründe in Gefahr sah. Wenn jemand mit dem Teufel im Bunde stand, dann er und nicht wir! Nuno hat niemandem etwas getan! Er hat die Menschen geliebt, ihre Krankheiten geheilt. Nuno war ein Idealist, ein Träumer, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte.«
Christiano schluchzte vor sich hin. In meiner Hilflosigkeit fiel mir nichts besseres ein, als ihn fest in meine Arme zu nehmen und zu halten. Mein Freund beruhigte sich, nahm die Nähe meines Körpers an und fing sich wieder soweit, dass er weiterreden konnte.
»Sie brachen meine Folter ab. Der Richter entschied, den Prozess zu beenden und mich am nächsten Morgen durch das Schwert hinrichten zu lassen. Mir war es recht. Nuno war tot. Wozu sollte ich noch leben? Außerdem, wie könnte ich noch weiterleben? Die Folter hatte einen Krüppel aus mir gemacht. Meine Finger waren zerquetscht und wären innerhalb weniger Tage abgefault. Das Richtschwert war ein Akt der Gnade. Ein schneller, glatter Schnitt war allemal besser, als langsam an Wundbrand und anderen Infektionen zu krepieren. Es waren ja nicht nur meine Hände zu Mus zerquetscht. Die Streckbank hatte etliche Gelenke aus ihren Verankerungen gerissen. Für die damalige Zeit hatten sie mir irreparable Schäden zugefügt. Wozu noch leben?«
Zwischen Leben und Tod
Wozu noch leben? Christianos Frage ging mir durch Kopf. Was dieser Mann erlebt hatte, ertragen musste, lag weit außerhalb meiner Vorstellungskraft. Wie sehr Christiano diese Erlebnisse prägten, konnte man daran erkennen, dass sie noch mehr als 250 Jahre später die Kraft besaßen, meinen vampirischen Freund in ein schluchzendes Nervenbündel zu verwandeln.
»Sie warfen mich in ein dunkles Kerkerloch.«, Christiano hatte sich halbwegs wieder gefangen und fuhr mit seiner Schilderung fort, »Da lag ich. Halb am Leben und den Tod durch das Schwert erwartend... nein... ersehnend. Aber es sollte anders kommen.«
Die Stimme meines Freundes nahm an Kraft und Stärke zu. Ich hatte fast das Gefühl, als wenn Christiano diese Kraft aus den Jahrhunderte zurückliegenden Ereignissen bezog. Konnte soetwas möglich sein?
Christiano wusste nicht, wie lange er in seinem Kerkerloch lag. Minuten? Stunden? Eher Stunden – es war Nacht, außer dem Schein der Fackeln im Gang vor seiner Zelle und dem blassen Mondlicht, welches durch einen Lichtschacht fiel, war es stockdunkel. Man hatte ihn auf einer Strohmatte deponiert, wovon er aber nichts mitbekommen hatte. Die Qualen der Folter hatten ihm eine Weile die Besinnung genommen, wofür Christiano dankbar war. Umso überraschter war er, zu erwachen und die Schmerzen kaum noch zu spüren. Sie waren nicht verschwunden. Sie waren da, aber auf eigentümliche Weise unterdrückt. Stattdessen verspürte er eine Präsenz, die ihm, wenn nicht vertraut, doch entfernt bekannt vorkam. Er war in seiner Zelle nicht allein. Hatte er Angst? Nein, wovor auch?
»Wer ist da?«, röchelte Christiano erschöpft.
Statt sofort eine Antwort zu erhalten, löste sich ein dunkler Umriss aus dem dunklen Schatten seiner Zelle. Ein Mann ging auf ihn zu, kniete sich vor ihm hin und begann leise zu sprechen.
»Ich bin es, Constantin.«
»Constantin? Was machst du hier?«, nuschelte Christiano unsinnigerweise.
»Ich... ich bin gekommen, um euch zu retten. Dich und Nuno. Doch ich kam zu spät. Ich weiß, was mit deinem Geliebten passiert ist. Christiano, bitte verzeih mir.«
Christiano verstand nicht. Er sollte Christiano verzeihen? Wofür? Er hatte nichts getan.
»Du wolltest uns retten? Nun ja, die gute Absicht zählt. Ich danke dir, aber Nuno ist tot und ich werde ihm sehr bald folgen. Entweder durch das Schwert oder... sieh dir meinen Körper an. Sie haben mich gefoltert. Das Schwert ist eine Gnade. Ich will nicht an Wundfäule krepieren und zusehen, wie Maden meinen Körper zu fressen beginnen. Du kannst mein Leben nicht retten. Ich sterbe entweder auf die eine oder die andere Art.«
»Du hast recht, dein Leben kann ich nicht retten, aber vor dem Tod bewahren, das kann ich vollbringen.«
»Was bist du? Ein Hexenmeister? Soll ich wirklich einen Bund mit dem Teufel oder einem seiner Diener eingehen?«, knurrte Christiano, dem die Ironie bitter aufstieß, dass man ihm am Ende seines sehr kurzen Lebens auch noch den Glauben an den von ihm gelebten Rationalismus rauben wollte.
»Christiano, bitte, gerade von dir hätte ich mehr Vernunft erwartet. Nur weil man etwas nicht versteht, muss noch lange nicht der Teufel seine Finger im Spiel haben.«, korrigierte Constantin, »Ich biete dir eine Alternative zu Tod, Leid und Schmerz. Es muss noch nicht enden. Nicht so. Du hast mehr verdient, als auf dem Richtblock zu enden.«
»Wozu? Nuno ist tot!«, japste Christiano unter Tränen.
»Verdammt, ihr Frischverliebten seid doch alle gleich.«, knurrte nur wieder Constantin, »Also gut, versuchen wir es andersrum. Du willst also sterben?«
Von Christiano kam, abgesehen von einem nichtssagenden Grunzen, keine Antwort.
»Dich stört es also nicht, Fra Silo gewinnen zu lassen? Ich habe die Anklage gelesen und weiß, was man euch vorwirft. Ich habe mir auch diesen fetten Pfaffen angesehen, der behauptet, ein Arzt zu sein. Ich weiß, was dieser Unmensch treibt und warum er euch, Nuno und dich, in diese fatale Lage gebracht hat.«
»Und?«, fragte Christiano matt, der viel zu erschöpft war, um sich darüber zu wundern, woher sein seltsamer Besucher sein umfangreiches Wissen bezog. Ihm war nicht einmal die Frage in den Sinn gekommen, wie es Constantin fertiggebracht hatte, unbemerkt in seine Zelle zu gelangen.
»Willst du, dass dieses Schwein am Ende recht behält? Woran wird man sich erinnern? An Nuno da Costa und Christiano Cortes, zwei aufrechte Kämpfer wider der Habsucht und der Gier oder an Nuno da Costa und Christiano Cortes, die Diener des Teufels? Du sagst, du liebst Nuno? Dann steh dazu. Ehre sein Andenken und kämpfe. Lass die anderen nicht bestimmen, wer ihr seid.«
»Aber er fehlt mir. Verstehst du nicht? Nuno, ich habe ihn geliebt, wirklich geliebt.«
»Eben!«, entgegnete Constantin knapp, fügte dann aber nach einer Pause noch hinzu, »Und diese Liebe soll auf dem Richtblock sterben? Nuno ist tot, aber wer außer dir könnte sein Andenken bewahren und ehren? Du trägst ihn in dir. Die Momente eurer Zweisamkeit werden dich niemals verlassen. Bitte, wirf nicht alles weg.«
»Ich...«
Christiano begann zu schluchzen. Constantin hatte recht. Welchen Sinn machte sein Tod? Keinen – er diente keinem Zweck, zumindest keinem guten. Er schützte das Unrecht Fra Silos und brachte Nuno nicht wieder zurück. Ja, Constantin hatte recht. Christiano sah ein, dass sein Tod sinnlos war.
»Christiano Ximeno Cortes, bist du bereit, mir aus freiem Willen und frei von Zwängen zu folgen? Willst du ohne Furcht und Angst in meinen Dienst treten? Bist du bereit einer der meinigen zu werden?«
»Wer bist du?«, hauchte Christiano, dem langsam die Kräfte schwanden.
»Ich bin Constantin, Fürst Varadin, und ich biete dir einen Bund an. Ich schenke dir eine Existenz jenseits von Leben und Tod, frei von Schmerz und Qual.«
»Willst du meine Seele?«
»Nein!«, erwiderte Constantin scharf, »Deine Seele gehört dir. Ich fordere nicht mehr und nicht weniger, als deine Gefolgschaft.«
Was hatte er zu verlieren? Schlimmer als der Tod konnte Constantins Angebot auch nicht sein.
»Ja, Constantin, ich will dir folgen.«
»Dann ist es beschlossen.«, verkündete Constantin, beugte sich zu Christiano vor und flüsterte ihm ins Ohr, »Dann lass uns das Bündnis besiegeln.«
Christiano stöhnte auf. Für einen kurzen Moment erfüllte ein stechender Schmerz seinen Hals, der aber von einer Welle heißer, seinen Körper durchflutender Glut abgelöst wurde. Es brannte wie Feuer, verbreitete aber keinen Schmerz. Christianos schloss seine Augen. Er fühlte etwas, eine Kraft, einerseits vorsichtig, gar zärtlich, aber auch gewaltig und von kaum beschreibbarer Stärke. Sie hob ihn empor, schlang sich um ihn, nahm seinen gebrochenen, geschundenen Körper und trug ihn davon.
Du musst loslassen! Hörte er eine Stimme in sich rufen, die wie Constantin klang. Hab keine Angst. Ich halte dich, denn du bist mein Geschöpf, mein Kind. Christiano, ergib dich der Ewigkeit.
Es war ein Schritt hinaus aus dem Leben, aber nicht in den Tod. Christiano ließ los und betrat eine neue Welt.
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