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Nachtschatten
Teil 8 - Abgrund
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Informationen
- Story: Nachtschatten
- Autor: Nero
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
Haustüren
Christiano
Fliegen ist einfach fantastisch. Nein, das ist falsch formuliert. Levitieren ist einfach fantastisch. Die Gravitation verliert ihre Macht, du erhebst dich in die Lüfte, schwebst, gleitest dahin. Die Luft streichelt deinen Körper, umspielt ihn. Die Welt ist eine andere, wenn du über ihr dahin ziehst. Sie zeigt ein anderes Gesicht, verändert die Perspektive, mit der man die Dinge um sich wahrnimmt. Leider kam ich in letzter Zeit, also etwa seit rund hundert Jahren, nur noch sehr selten dazu, der Lust des Fliegens nachzugehen, weswegen ich jede Sekunde auskostete, sobald sich die Gelegenheit bot, ein paar Runden zu drehen.
Wir, das heißt Simon und meine Wenigkeit, hatten Christianos Appartement direkt durch sein großes Panoramafenster verlassen. Wir sprangen hinaus, erhoben uns in die Luft, legten uns in die Kurve und zogen schweigend über die noch schlafende Stadt dahin. Weder Simon noch mir war nach reden zumute. Unsere Gedanken weilten derweil bei unseren Geliebten.
Allzu schnell lag die Stadt mit ihren Lichtern hinter uns. Eben noch umrundeten wir die zum Himmel aufschießenden Hochhäuser des wirtschaftlichen Herzens der Region, doch schnell änderte sich das Bild. Auf die Wolkenkratzer folgten einfach Bürohäuser, die nahtlos in eine nüchterne Neubausiedlung übergingen. Dann der Fluss - in der Dunkelheit der Nacht wirkte sein dunkles Band wie ein Riss, der die Stadt in zwei Hälften teilte. Wo auf der einen Seite die Betonkisten der Nachkriegszeit dominierten, präsentierte die andere das aufgelockerte und chaotische Viertel der Altstadt. Aber auch die war schnell überflogen. Unser Kurs führte uns in Richtung Westen. Wie bei den meisten Städten der Nordhalbkugel befanden sich auch in dieser die gehobenen Stadtteile im äußersten Westen. Die Bebauung lockerte noch weiter auf, großzügige Parkanlagen luden zum Verweilen ein, herrschaftliche Villen zeugten vom Wohlstand ihrer Bewohner. Aber auch diesen Stadtteil ließen wir schnell hinter uns und überquerten die Stadtgrenze. Auf Häuser folgten ausgedehnte Rapsfelder, die selbst in der Dunkelheit gelb schimmerten.
Ein kleines Flüsschen, dem das Schicksal erspart geblieben war, Opfer behördlicher Regulierungswut zu werden, schlängelte sich fröhlich durch die Landschaft. Wir folgten ihm ein paar Kilometer und erreichten einen kleinen See. Er sah hübsch aus. Nicht spektakulär, sondern einfach nur hübsch. Das kleine Gewässer lag in einer natürlichen Senke, die wohl während der letzten Eiszeit von einer Endmoräne zurückgelassen wurde. Der Mond lugte hinter ein paar Löchern in der Wolkendecke hervor und spiegelte sich auf der Wasseroberfläche.
»Er hat es gesagt!«, brach Simon das Schweigen und klang glücklich, »Nach all den Jahren hat dieser verrückte Portugiese endlich den Mumm gefunden, es auszusprechen.«
»Ich weiß, und ich freu mich für euch.«
»Und ich freu mich für dich. Außerdem muss ich Flo wohl danken. Ohne ihn hätte Christiano nie seinen Arsch hoch bekommen.«
Ich antwortete nicht. Ich brauchte es nicht, wir verstanden uns auch so. Unser Weiterflug wurde wieder von Schweigen begleitet, das aber einen anderen Charakter angenommen hatte. Es war nicht mehr von Frustration geprägt, sondern von Zufriedenheit. Wir hatten begriffen, dass wir privilegiert waren, denn wir hatten jemanden, der uns liebte.
Am Ende des Sees hatte jemand ein Wehr errichtet und das alte Flussbett vor Jahrzehnten trockengelegt. Hier bogen wir in Richtung Nordwesten ab und folgten den Hügeln der Moränenlandschaft. Diese Gegend galt als sehr dünn besiedelt. Ab und an querten wir kleine Dörfer, die meist nur aus einer Handvoll Häusern bestanden. Die alte Landstraße führte außen an dem Hügelzug vorbei. Die Böden dieser Region galten als schwer zu bewirtschaften, da sie oft morastig, sehr lehmhaltig und nährstoffarm waren, sodass sich nur wenige Menschen fanden, die hier siedelten, um das Land urbar zu machen.
»Lust auf einen morgendlichen Snack?«, wollte Simon plötzlich wissen, »Auf zwei Uhr, am Ostufer des Baches, kann ich zwei Angler ausmachen.«
»Gute Idee. Ich habe Hunger. Wir sollten aber schnell machen. Ich habe keine Lust, Bekanntschaft mit der Sonne zu schließen.«
Die beiden Angler wussten nicht, wie ihnen geschah. Wie Raubvögel stürzten wir völlig lautlos auf die zwei Männer herab. Noch bevor die beiden Mittdreißiger Pieps sagen konnten, hatten wir unsere Zähne in ihre Hälse gerammt und mit saugen begonnen. Ich muss zugeben, dass es in mir kribbelte. Seit Ewigkeiten war ich nicht mehr auf die Jagd gegangen. Umso berauschender war das Gefühl, sich seiner Natur hinzugeben und dem Verlangen nach Blut seinen Lauf zu lassen.
Natürlich saugten wir die beiden Männer nicht leer. Unsere Intention bestand schließlich nicht darin, sie umbringen, sondern nur unseren Durst zu stillen. Einen viertel Liter später waren die Bissstellen verschweißt und die Erinnerung an den Vorfall aus den Gedächtnissen unserer Blutspender gelöscht. Alles, woran sie sich später erinnern würden, war, dass sie zwar keine Fische gefangen hatten, die Nacht aber trotzdem eigentümlich erregend und erfrischend war. Letzteres war natürlich der belebenden Wirkung unserer Bisssekrete geschuldet.
So gestärkt erreichten wir kurz vor Sonnenaufgang den Gebäudekomplex Varadin Internationals und landeten direkt auf dem Dach des Hauptgebäudes unseres Konzerns. Von dort führte ein verborgener Zugang über einen Lift direkt in die Untergeschosse meines eigentlichen Reichs. Während am östlichen Horizont bereits ein erstes Schimmern des nahenden Morgens zu erkennen war, hantierte Simon mit der Chipkarte, die uns Einlass gewähren sollte.
»Meeeeeehhhhhht!«, quietschte die Tür.
»Verdammt!«, fauchte Simon, nestelte am Kartenschlitz und erntete ein erneutes »Meeeehhhhht!«
»Was ist?«
»Ich will keine Panik verbreiten, aber meine Chipkarte wird nicht akzeptiert! Das Gebäude lässt mich nicht rein.«
Ein nervöser Blick zum Horizont ließ mich noch etwas nervöser werden; es dämmerte. Die Zeit wurde knapp.
»Lass mich mal versuchen.«
Man sollte sich nicht auf Technik verlassen. Neigt sie doch dazu, im entscheidenden Moment zu versagen und einen in den Hintern oder empfindlichere Körperteile zu treten. Simon trat zur Seite und gab den Platz vor der verstecken Tür frei. Für Uneingeweihte musste es so aussehen, als wenn wir vor irgendwelchen Blechkisten einer Klimaanlage standen. Nur wer genau hinsah, entdeckte mit etwas Glück einen schmalen Schlitz, in den ich meine Chipkarte schob.
»Meeeeeehhhhhht!«, quäkte die Tür.
»Ok, jetzt haben wir ein Problem.«, knurrte Simon scheinbar ärgerlich, hörte man genau hin, entdeckte man hingegen Angst.
»Ok, Plan B!«, jetzt galt es schnell zu handeln. Als gebürtiger Vampir konnte ich der Sonne durchaus eine Weile widerstehen, zumal ich gerade frisches Blut getrunken hatte. Simon hingegen würde unweigerlich zu Asche zerfallen. Hier, mitten auf dem Dach eines Hochhauses, auf dem thermikbedingt ständig ein wenigstens leichter Wind wehte, der seine Asche innerhalb kürzester Zeit in alle Richtungen zerstreuen würde, wäre es sein unweigerlicher Tod. Das konnte ich nicht zulassen. »Schau unter dem Lüftungskanal mit dem kleinen grünen Kreuz nach, da müsste ein kleiner Kasten kleben.«
»Das Notfall-Kit!«, rief Simon erleichtert, »Warum habe ich nicht daran gedacht.«
Weil dein Denken von Angst bestimmt wird. Simon angelte nach dem Päckchen, das etwa die Größe eines Verbandskastens besaß und mit kräftigen Magneten am Blech klebte. Im Gegensatz zum Verbandskasten enthielt dieser keine Mullbinden, keine Kompressen und Pflaster, sondern Sunblocker, ein Paar Kontaktlinsen, lichtdichte sechs Paar schwarze Latexhandschuhe und eine Sturmhaube mit Eulenaugen und eine Sonnenbrille, also alles, was ein Vampir in Not benötigte, um sich vor Sonnenlicht zu schützen. Zumindest vorübergehend. Eine Dauerlösung bot das Päckchen nicht. Wir brauchten Schatten und wir mussten ins Haus.
So schnell es ging kleisterten wir unsere exponierten Körperstellen ein. Dabei überließ ich Simon den Großteil der Creme. Größter Nachteil der Boxen war, dass sie eigentlich nur für eine Person ausreichend Material enthielten und für uns beide nicht genug Schutzmittel enthielt. Ich gab Simon die Sturmhaube. Er benötigte sie dringender als ich. Ich begnügte mich damit, meinen natürlichen Grundschutz mit Sunblocker zu verstärken. Allerdings war er nicht mit Christianos Spezialmischung vergleichbar, sondern ein reiner Notbehelf, mit dem sich die Zeit bis zum Erreichen einer sicheren Unterkunft überbrücken lassen sollte. Nur die weigerte sich, uns hineinzulassen.
Die Sonne ging auf. Erste Strahlen tasteten nach der im Dämmerlicht ruhenden Landschaft und trafen als erstes die höher gelegenen Landmarken - wie unser Hochhaus. Kurz bevor das Sonnenlicht uns auf dem Dach traf, hatten wir uns auf dessen Westseite verkrochen, die Dachaufbauten, vorwiegend Technik, wie Fahrstuhlantriebshäuschen und Klimaanlagenaggregate als Schattenspender nutzend.
»Okay, sind alle Körperteile bedeckt?«, fragte ich Simon, der nickte und meinte »Ja, ich glaube schon.«
Soweit ich sehen konnte, war mein junger Wachvampir gut geschützt. Seinen Kopf zierten die Eulenmaskensturmhaube und eine Sonnenbrille. An seinen Händen trug er Handschuhe von denen ich mir ebenfalls ein Paar übergezogen hatte. Der Rest seines Körpers war hoffentlich ausreichend mit seiner Kleidung bedeckt. Ich wiederum musste mich mit den UV-Schutzkontaktlinsen und dem Sunblocker begnügen. Zum Glück trug ich eine Kapuzenjacke, die sich weit über den Kopf ziehen ließ.
»Und jetzt?«, nuschelte Simon durch seine Maske, »Wir können hier nicht ewig bleiben. Schau dir den Himmel an. Keine Wolke weit und breit. Ich glaube nicht, dass die Sachen ausreichend schützen.«
»Wir sollten es erst gar nicht ausprobieren. Verdammt...«, mein Blick war auf den Tubenfalz des Sunblockers gefallen, »Das Zeug ist abgelaufen! Welche Schlampe kümmert sich eigentlich um diese Notfallpacks?«
Wir mussten von dem Dach runter und uns einen Unterschlupf suchen. Genaugenommen, mussten wir ins Haus, womit ich nicht Varadin International, sondern das Haus Varadin meinte. Dass der Dachzugang nicht funktionierte, konnte Zufall sein, ein dummer technischer Defekt, es konnte aber auch Absicht dahinter stecken, was ein paar unangenehme Fragen aufwarf. So war es zum Beispiel kein Geheimnis, dass ich das Haus mit Simon verlassen hatte. Was, wenn jemand verhindern wollte, dass wir zurückkehrten? War es wirklich paranoid anzunehmen, einen Vorsatz zu vermuten? Die Idee war gut. Eine zufällige Störung der Zugangstüren, ein Problem mit dem Steuerprogramm, die zum tragischen Sonnentod des Fürsten des Hauses führte. War der Gedanke wirklich so abwegig, oder litt ich unter Verfolgungswahn?
Wenn nicht, musste ich es herausbekommen, und das ging nur, wenn wir den hypothetischen Saboteur nicht warnten. Außerdem, wo eine Tür gestört war, konnten auch andere gestört sein und wir hatten nicht die Zeit, alle Zugänge auszuprobieren. Bis dahin hätte uns die Sonne mit Sicherheit erwischt. Es musste eine andere Lösung geben. Nur welche?
»Kannst du noch fliegen?«
Mit dem Sonnenlicht kam auch die Schwäche. Sie machte uns müde, schwerfällig und träge. Selbst wenn sie uns nicht verbrannte, raubte uns ihre schiere Präsenz einen Teil unserer Fähigkeiten und Kräfte.
Simon nickte, sagte aber nichts. Es war auch nicht nötig. Ich wusste, wie er sich fühlte und wie die zunehmende Helligkeit ihm zusetzte. Mir ging es wenig anders.
»Folg mir!«, befahl ich und sprang vom Dach. Simon folgte, doch er flog nicht, er stürzte und wäre auf dem Boden aufgeschlagen, hätten sich seine Kräfte nicht im Schatten des Hochhauses teilweise regeneriert. Knapp über dem Boden fing er sich ab, zu knapp, als dass es eine sanfte Landung werden konnte. Ich hörte mindestens einen Knochen knacken.
»Ouch!«, stöhnte Simon auf.
»Alles in Ordnung?«
Simon nickte erneut. Und wieder sprach seine schmerzverzerrte Miene eine andere Sprache. Er war verletzt, doch daran konnte ich jetzt nichts ändern. Hauptsache uns kam niemand in die Quere. Im Prinzip war es mir egal, ob uns jemand bei unserem verunglückten Flugmanöver beobachtet hatte. Etwa ein Mitarbeiter unserer Firma, der in aller Herrgottsfrühe meinte, an seinen Arbeitsplatz zu eilen. Es ging darum, uns den Arsch zu retten. In solchen Fällen auf Feinheiten zu achten hieße, seine Prioritäten falsch zu setzen. Hauptsache niemand versuchte, uns aufzuhalten.
Mein Ziel lag einige hundert Meter vom Haus entfernt in einer Parkanlage, die die Varadin International Holding der Gemeinde vor Jahren gestiftet hatte. Unser Konzern übernahm sogar die Kosten für Unterhaltung und Pflege, da wie die meisten Kommunen das Bezirksamt nicht über genug Mittel verfügte, um eine Anlage dieser Größe zu unterhalten. Ein Park, das bedeutete Bäume, Büsche, Sträucher und Hecken, oder einfach gesagt, Schatten. Sobald wir ihn erreicht hatten, wären wir in Sicherheit, doch so weit war es noch nicht, noch trennten uns gut zweihundert Meter unbebautes, schattenfreies, rasenbewachsenes und sonnenbeschienenes Gelände. Überfliegen konnten wir es nicht, dafür schien die Sonne zu kräftig. Uns blieb nichts anderes übrig, als von der Westseite des Hochhauses, auf der wir gelandet waren bis zur Grenze des Firmengeländes vorsichtig, jede Deckung ausnutzend, die sich uns bot, vorzutasten. Zum Glück legte ich bei der Gestaltung des Konzerngrundstücks sehr viel Wert auf Grünzeug, soll heißen, die Gebäude unseres Stammsitzes waren mit Schatten spendenden Bäumen, Hecken, Sträuchern, sowie Wasserläufen und Brunnen umgeben.
»Hier lang. Bis zur Straße sollten wir genügend Deckung haben.«, spornte ich Simon an, der versuchte, seine Verletzung zu verbergen. Verbissen humpelte er mir hinterher. Viele Mitbrüder unseres Hauses unterschätzten ihn, doch Simon war, wenn es darauf ankam, zäh, ein richtiger Kämpfer, so wie jetzt.
Wir arbeiteten so schnell wir konnten und erreichten tatsächlich nach fünfzehn Minuten die Straße, die auch die Grenze des Firmengeländes markierte. Von hier aus waren es noch gut zweihundert Meter bis zu den schützenden Bäumen des Parks - zweihundert Meter in voller Sonne.
»Gehen wir?«, fragte ich, packte Simon an der Schulter und sah ihm direkt in die Augen.
»Gehen wir!«, erwiderte Simon und griff nach meiner Schulter.
Simon und ich rannten - nein - humpelten los. Kaum hatten wir den schützenden Schatten der Büsche verlassen, brannte die Morgensonne mit voller Kraft auf uns nieder. Simon stöhnte auf und drohte wegzusacken. Sofort griff ich zu, packte ihn und riss ihn wieder hoch.
»Verdammt, mein Bein, ich glaube, es ist gebrochen.«, stöhnte der Mann in meinem Arm.
»Ich verstehe, aber das ändert nichts, wir müssen weiter!«
Gebrochene Knochen stellten an sich kein Problem dar, jedenfalls keines, das sich nicht mit einem Beutel frischen Bluts erledigen ließ. Nur hatten wir statt frischem Blut eitel Sonnenschein, was die Sache ins Gegenteil verkehrte. Simon musste durch die Sonne unter Höllenqualen leiden und ich musste ihm noch mehr Qualen zufügen, indem ich ihn mit mir mitschleifte. Humpelnd und torkelnd robbten wir voran.
»Constantin, du rauchst!«, schrie Simon plötzlich.
»Ich weiß, weiter!«
Die Sonne begann sich in meine Haut zu fressen. Die Sonnenschutzcreme mit abgelaufenem MHD war ungefähr so wirksam, wie eine Flasche Mineralwasser gegen einen Großbrand. Egal, sollte sie brennen. So leicht bekam man einen Varadin nicht klein. Ein bisschen angekokelte Haut war lächerlich. Noch fünfzig Meter und wir waren im Schatten. Nur noch fünfzig Meter...
»Aaargghh!«, es gab einen Ruck, Simon brüllte und entglitt meinem Griff. Warum hatte ich Idiot nicht auf den Kantstein geachtet? Der junge Vampir an meiner Seite war am Bordstein hängen geblieben, gestolpert und hingefallen. Als wenn dies noch nicht reichte, hatte sich ein Hosenbein hochgeschoben und sein Bein entblößt, natürlich das gesunde, welches sofort zu brennen begann. Verdammt, wer hasste uns so sehr, dass man uns nicht mal eine kleine Chance gönnte?
Nach diesem letzten Rückschlag war mir alles egal. Das Risiko ignorierend, entdeckt zu werden, verwandelte ich mich in meine vampirische Urform, in das Monster, das Raubtier, den erbarmungslosen Jäger, der in mir verborgen lag. Mein Körper veränderte sich, wuchs, wurde breiter und zerriss meine Kleidung, die eigentlich Christianos und nun reif für die Mülltonne war. Mein Körper wurde dadurch zwar vollständig dem Sonnenlicht ausgesetzt, doch gleichzeitig versetzte mir die Verwandlung einen gigantischen Kraftschub. Ich packte mir Simon und lief mit ihm los.
Wie eine rauchende, flammende Fackel sprang ich übers Pflaster, den inzwischen besinnungslosen Simon in meinen Klauen. Die Sonne biss zu, fraß an mir, riss mir die Kraft aus dem Leib und verlor! Ich hatte den Park erreicht und war in den schützenden Schatten einer Hecke abgetaucht.
»So weit, so gut!«, murmelte ich mangels anderer Zuhörer zu mir selbst.
Partygänger
Was trieb Andreas in einer Lederkneipe? Da stand er am Tresen. Tat gelangweilt, cool und herablassend. Betrachtete die anderen Kerle mit Verachtung, einer Verachtung, die leicht als Aufreißmasche missverstanden werden konnte. Ich könnte nicht sagen, dass Andreas sich mit seinem Outfit sonderlich Mühe gegeben hätte. Eine Schnürlederhose von der Stange, wie man sie in Zubehör- und Bekleidungsläden für Motorradfahrer dutzendweise für kleines Geld bekam, dazu hatte er sich schlichte Motorradstiefel und ein schwarzes Muskel-T-Shirt übergezogen. Er hatte etwas prollig dominantes an sich, das auf manchen Gast anziehend und erregend zu wirken schien.
»Mit dem würde ich mich nicht einlassen.«
Markus war mit drei großen Gläsern Bier zurückgekehrt und hatte dabei meinen forschenden Blick in Richtung Andreas bemerkt.
»Kennst du ihn?«, wollte Christiano stellvertretend für uns beide wissen.
»Nicht wirklich.«, Markus Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass er weder den Typen noch das Thema sonderlich schätzte. Umständlich setzte er sich auf seinen Stuhl, zuckte mit den Schultern, als wenn er sagen wollte, ach, was soll's, und begann zu erklären.
»Der Typ hängt hier seit ein paar Monaten gelegentlich rum. Steht da und schaut arrogant aus der Wäsche. Ich mag ihn nicht. Der Typ bereitet mir eine Gänsehaut.«
»Wieso das?«, wollte ich wissen.
»Also... Ich...«, Markus verzog unwillig seine Miene; er schätzte diese Art der Unterhaltung gar nicht, da er sie mit seiner ersten Bemerkung aber mehr oder weniger begonnen hatte, gab er sich einen Ruck und packte aus.
Der Typ, den wir als Andreas kannten, war vor ein paar Monaten das erste Mal im X aufgekreuzt. Andreas fiel auf, weil die Lederszene im Einzugsgebiet des Ladens ziemlich überschaubar war und ein neues Gesicht daher nicht unbemerkt blieb. Ähnlich wie Hunde beschnupperte man sich sofort gegenseitig. Es könnte ja sein, dass es sich um jemand interessanten handelte. Auf Andreas traf dies größtenteils nicht zu. Der Typ umgab sich mit einer Aura aus Herablassung und Arroganz, die ihn ziemlich unnahbar machte. Männer, die ihn ansprachen, ignorierte er. Wenn jemand aktiv wurde, dann er. Die meiste Zeit stand mein Kollege allerdings nur an der Bar, trank ein oder zwei Bier und verschwand wieder. Ab und zu besuchte er allerdings den Darkroom.
»Der Typ ist ein Top, allerdings nicht von der sympathischen Sorte.«, erklärte Markus, »Ich kann das beurteilen, denn ich bin selbst einer. Christiano weiß, wovon ich rede. Die meisten Leute außerhalb der SM-Szene wissen nicht, wie viel Kontrolle der Bottom eigentlich hat. Es ist schließlich auch seine Szene, die man umsetzt. Bei diesem Typen da drüben ist das anders. Ich habe gesehen, was er macht, wenn er in den Darkroom geht und einen Bottom bearbeitet. Es geht ihm nicht um gegenseitigen Austausch. Der Typ reagiert sich einfach nur brutal an seinem Partner ab. Ich verstehe einfach nicht, wieso er immer noch Typen findet, die sich auf ihn einlassen. Das ist aber nicht der Grund, warum mir der Mann eine Gänsehaut einjagt.«
»Und der wäre?«
»Haltet mich nicht für verrückt, aber ich glaube, dass der Kerl einen Schaden hat. Wenn er sich einen Typen vornimmt, scheint es mir, als müsse er sich extrem zusammenreißen, nicht die Kontrolle zu verlieren. Nun ja... Bisher ist nichts passiert und meine Meinung eben nur meine Meinung, auf die Piet, der Wirt, nicht einfach ein Lokalverbot aussprechen kann. Immerhin haben wir uns darauf geeinigt, ein wachsames Auge auf den Typen zu werfen, wenn er wieder mal in den Spielbereich geht.«
Erst sah ich Mario sich ritzen, jetzt erfuhr ich, dass Andreas ein SM-Top kurz vor dem Überschnappen war. In was für einem Laden arbeitete ich eigentlich? Was hatte das alles mit meiner Vergewaltigung zu tun? Was verband Mario mit Andreas? Was es auch immer bedeuteten mochte, ich würde es herausbekommen, denn das war es, was ich noch zu tun hatte, bevor ich mich von Niederreuter und der Arbeit als Tischler verabschiedete.
Während ich so vor mich hingrübelte, war mein Blick auf Andreas eingerastet, was von ihm nach ein paar Momenten dann auch bemerkt wurde. Er stutzte, runzelte die Stirn, schaute noch einmal und wirkte dann verwirrt. Erst da fiel mir auf, dass ich ihn immer noch anstarrte. Ich blickte nicht weg. Ganz im Gegenteil hielt ich ihn weiter mit meinem Blick fixiert. Die Verwirrung in Andreas Augen wuchs. Erkannte er mich etwa doch? Christiano meinte zwar, dass dies nicht möglich sei, solange ich mich nicht erkennen lassen wollte, aber wer weiß? Gib zu, ich komm dir irgendwie bekannt vor? Die Stirn runzelte sich erneut. Ja, woher kennst du mich? Andreas zappeln zu sehen, bereitete mir einen unerwarteten, diabolischen Spaß, der erst endete, als sich eine vierte Person zu unserem Tisch gesellte.
»Steffen, mein Kleiner!«, freute sich Markus über unseren Neuankömmling. Der war ein knackiger Kerl, und alles andere als klein. Das »Kleiner« schien sich auch eher auf das Rollenverhalten zwischen den beiden Männern zu beziehen. So dominant Markus war, so passiv wirkte Steffen. Es war absolut klar, wer bei den beiden austeilte und wer einsteckte. Das galt sogar dann, wenn Steffen nicht ein eher bottommäßiges Outfit mit Lederhalsband und Handgelenkfesseln getragen hätte. Zwischen den beiden bestand eine Verbindung, die auf sehr viel Vertrauen und Einfühlungsvermögen zu basieren schien.
Zeigten sich hier meine geschärften Vampirsinne? Bisher war Menschenkenntnis nie wirklich eine meiner Stärken gewesen. Inzwischen konnte ich in Menschen lesen, wie in einem offenen Buch. Was es auch immer war, die beiden Männer entschuldigten sich und zogen sich für andere Aktivitäten in die Gefilde des Darkrooms zurück.
»Was meinst du,« begann Christiano, nachdem er sein Bier ausgetrunken hatte, »Sollen wir uns etwas anderes zu trinken besorgen?«
Gab es das? Ich bekam eine Erektion! Der Gedanke, in den Darkroom zu gehen, mir einen Kerl zu packen, meine Zähne in seinen Hals zu rammen und genüsslich an ihm zu saugen, machte mich hart.
»Solltest du auf die Idee kommen, einen Gummikerl zu beißen, beiß ihn an unbedeckten Stellen.«
»Warum das?«
»Theoretische Antwort: Weil du sonst verdächtige Bissspuren im Gummi hinterlässt. Wirkliche Antwort: Weil die Latexklamotten gerne mal reißen und es verdammt ungeil ist, wenn das Gummi gegen die Zähne zeckt. Außerdem willst du nicht, dass so ein Gummikerl ausrastet, weil du ihm seine Klamotten ruiniert hast. Die reagieren da ziemlich unentspannt.«
»Okay...«, war das jetzt ernst gemeint, oder verarschte Christiano mich?
Ich trank mein Bier aus und stellte dabei zufrieden fest, dass ich völlig nüchtern blieb. Gut gelaunt und entspannt erhoben wir uns und begaben uns in den hinteren Teil der Bar. Dort führte eine Treppe in den Keller, wo sich eindeutig der Playroom befinden musste, wenn ich die zu uns vordringenden Geräusche richtig interpretierte. Wir kletterten die Treppe hinab und standen wenig später mitten in der Spielwiese diverser erwachsener Männer.
Ich weiß nicht, was ich eigentlich erwartet hatte. Wahrscheinlich nichts. Rein theoretisch wusste ich natürlich, was ein Darkroom war. Praktisch hatte ich keinerlei Ahnung. Zwar gab es auch im Umspannwerk eine ähnliche Einrichtung, die ich bei meinen beiden Besuchen aber nicht erkundet hatte. Was hier unten getrieben wurde, war, um es neutral zu formulieren, eigen und ich alles andere als sicher, ob es mein Ding war. Was nicht heißen soll, dass ich verurteilte, was hier getrieben wurde. Obwohl es hier unten im Keller ziemlich heftig und für manchen Teilnehmer wohl auch lustvoll-schmerzhaft zur Sache ging, konnte ich erstaunlich viel Zuneigung zwischen den Akteuren wahrnehmen.
Und Begierde - plötzlich war ich von zwei Männern umringt, die mich sehr sinnlich und völlig im Widerspruch zu ihrer martialischen Aufmachung zaghaft berührten und fast liebkosten. Sie tasteten mich vorsichtig ab und verhielten sich abwartend, ob ich ihre Zuwendung akzeptierte. Unsicher, wie ich reagieren sollte, schaute ich zu Christiano. Der grinste hinterhältig und nickte mir aufmunternd zu.
Sex mit wildfremden Menschen? Wo war ich hineingeraten? Oder sollte ich es aus einer anderen Perspektive betrachten? Nicht als Sex, sondern als Nahrungsquellen? Als Mensch musste ich die Kuh, deren Steak ich aß, auch nicht kennen. Nein, ich mochte jetzt zwar ein Raubtier sein, aber kein kaltblütiger Killer, der die Jungs, die sich an mir zu schaffen machten als anonyme Snacks betrachtete.
Wenn dieser verdammte Hunger nicht wäre. Als wir das X betraten, zweifelte ich ernsthaft daran, dass ich überhaupt jemanden beißen wollte. Inzwischen stand dies außer Frage. Bevor ich diesen Laden wieder verließ, würde ich die zwei zu Ader lassen. Erstaunlich, wie schnell sich Überzeugungen ändern konnten, wenn man begriff, dass man, ob man es nun wollte oder nicht, die dominante Lebensform im Raum war. Die Jungs, alle, nicht nur meine zwei, waren Schafe, Christiano und ich die Wölfe.
Aus den Augenwinkeln erhaschte ich einen Blick auf meinen Freund. Christiano hielt einen Lederkerl, komplett mit Chaps, Stiefeln, Harness und fetten Armbändern im Arm, hatte seine Zähne ausgefahren und war dabei, den harten und ansonsten dominanten Kerl zu beißen.
Ich überließ Christiano seinem Abendbrot und wandte mich meinen zwei Jungs zu. Zusammen zogen wir vom Eingang des Playrooms ab und suchten uns einen etwas ruhigeren Ort, den wir in Form eines spärlich beleuchteten Raums mit zwei mit Gummilaken bespannten Feldbetten fanden. Kaum dass wir uns auf einem der Betten niedergelassen hatten, wurden meine beiden Männer aktiv. Der eine, ein muskulöser Typ mit nacktem Oberkörper und gepiercten Brustwarzen machte sich an meiner Hose zu schaffen und knöpfte den Codpiece ab. Sofort sprang mein Schwanz heraus und stand steil und hart empor, worauf sich sofort der Mund des Typen darauf senkte. Oh, Wahnsinn, konnte das Kerlchen traumhaft gut blasen! Schade, dass ich so nicht an seine Halsschlagader kam.
Ebenso spontan, wie der Kerl zu blasen begann, hörte er auch wieder damit auf. Stattdessen wurde mir ein Kondom über den Schwanz gerollt und ich mit sanftem Druck so auf dem Feldbett positioniert, dass ich mit dem Rücken darauf lag. Jetzt übernahm der zweite Kerl die Initiative. Gespannt sah ich zu, wie er den Zipper seiner Lederhose herunter zog, statt aber an der Schwanzwurzel zu enden, reichte dieser Reißverschluss einmal um die Hose herum, das heißt, öffnete auch den Zugang zu seinem Hintern. Ohne weiteres Federlesen stieg der Kerl auf das Bett, setzte sich auf meinen Schwanz und begann sich selbst zu reiten. Verdammt, so kam ich immer noch an keine Schlagader, andererseits war es megageil, vielleicht sollte ich einfach ein wenig abwarten und schauen, wie sich die Szene weiter entwickelte. Beißen konnte ich die zwei später immer noch.
Wir hatten Spaß und ich war um eine Erfahrung reicher. Sex und Liebe ließen sich hervorragend voneinander trennen. Das hieß nicht, dass ich die beiden Kerle nicht mochte, ganz im Gegenteil war unser Treiben von intensiver Zuneigung bestimmt. Aber das war es dann auch. Keinerlei Verpflichtung, nur guter alter geiler Sex. Der erreichte mittlerweile seinen Höhepunkt. Ich hockte im Bett und hatte meine Arme um den Typ geschlungen, der auf meinem Schoß saß. Mein Schwanz war tief in ihn eingedrungen und stimulierte seine Prostata. Wir schmusten, was mit einschloss, dass ich endlich an seinen Hals kam, den ich unter anderem mit Küssen bedeckte, die nebenbei eine desinfizierende und oberflächenanästhesierende Wirkung besaßen.
Verdammt, war das geil! Den Kerl zu ficken, ihn gleichzeitig in den Armen zu halten und dann, als er eh schon im siebten Himmel weilte, auch noch meine Zähne in den Hals zu rammen, war absolut überirdisch. Ich nahm einen kräftigen Zug, stieß gleichzeitig mit meinem Schwanz kräftig zu und brachte uns beide über die Klippe. Ich kam und mein Abendbrot ebenfalls. Instinktiv und ohne darüber nachzudenken, versiegelte ich die Bissstelle. Kein Mensch würde je vermuten, dass der Mann in meinen Armen soeben das Opfer eines Vampirs war, ganz im Gegenteil hätte man ihn um den offensichtlich megageilen Fick beneidet, der ihm einen seligen, verzückten Ausdruck aufs Gesicht gezaubert hatte.
Während mein erstes Opfer sich ausruhte, tauchte mein zweites auf und forderte seinen Teil meiner Zuwendung ein. Nichts lag mit ferner, als ich zu enttäuschen. Ich gab ihm, was er ersehnte, und das war ganz im Gegensatz zu seinem lederkerligen Auftreten körperliche Nähe. Der harte Typ wollte einfach nur fest in den Arm genommen und gewichst werden.
»Fester!«, raunte er mir ins Ohr und meinte sowohl meine Hand an seinem Schwanz, als auch meine Umarmung. Kein Problem, wenn ich wollte, hätte ich ihn zerdrücken können, so packte ich einfach nur fester zu, was sofort zu einem wohligen Zittern bei meinem Partner führte. Wir lagen nicht mehr im Feldbett, sondern standen an einer Wand des Raumes, die mit Leder gepolstert war und gegen die ich den Kerl in meinen Armen drückte. Der genoss meine dominante und erregend brutale Art und zeigte auch keine Gegenwehr, als ich ihn ziemlich unvermittelt und wenig zimperlich biss. Er kam, genau wie ich, was mich in meinem Fall etwas überraschte. Innerhalb weniger Minuten zwei Mal hintereinander zu kommen, war ungewöhnlich. Offenbar zeichnete sich ein vampirischer Körper durch eine stärkere Libido aus. Gut zu wissen.
»Wer bist du?«
Ich hatte gerade meinen zweiten Blutspender zum ersten gebettet, auf dass sich die beiden von ihrem Aderlass erholten, als mich ein Typ von hinten packte, mir sein Knie in den Rücken rammte und mich gegen die ledergepolsterte Wand drückte. Es war natürlich Andreas, wie ich sofort an seiner Stimme erkannte, der mich mit seinem Körper gegen die Wand presste. In ersten Moment war ich völlig perplex und wie gelähmt, um in geeigneter Weise zu reagieren. Dies bot Andreas die Gelegenheit, den Druck seines Körpers gegen den meinen zu verstärken. Mit aller Gewalt stemmte er sich gegen mich, während er seinen Kopf neben den meinigen positionierte. Sein Mund befand sich auf Ohrhöhe. Seine Worte benötigten wenig Lautstärke, damit ich sie verstand.
»Ich kenne dich. Ich weiß zwar nicht vorher. Aber ich bin mir sicher, dich schon einmal gesehen zu haben. Leugne es nicht. Du hättest mich nie so direkt angegafft, wenn du mich nicht kennst. Also, wer bist du und was willst du von mir?«
»Ich weiß nicht, was du für ein Problem hast.«, zischte ich zurück, »Aber als geile Anmache geht das hier nicht durch. Vielleicht solltest du noch ein wenig üben.«
Das war wohl die falsche Antwort. Andreas rastete aus und semmelte mir eine. Seine zur Faust geballte rechte Hand landete einen schwungvollen Treffer gegen die linke Seite meines Kinns, mein Kopf wirbelte nach rechts und die Faust polierte mir elegant die Fresse. Als Mensch hätte ich Sternchen gesehen, als Vampir nicht wirklich. Stattdessen schnellten reflexartig meine oberen Zaugzähne vor und rissen Andreas den Handrücken auf. Der brüllte vor Schmerz auf, holte aus und wollte erneut zuschlagen. In seinen Augen funkelte unbändiger, wahnsinniger Hass. Die Faust schnellte vor, traf aber nicht ins Ziel. Sie verfehlte es nicht, sie erreichte es erst gar nicht. Wie aus dem nichts waren Markus, Steffen und Christiano neben uns aufgetaucht und intervenierten. Markus hatte Andreas am Arm gepackt und herumgerissen. Steffen klammerte sich von hinten an ihn ran und zog den ganzen Mann von mir los. Last, but not least packte Christiano Andreas an der Kehle, drückte soweit zu, dass er dessen ganze Aufmerksamkeit genoss, näherte sich ihm auf wenige Zentimeter und meinte mit einer Stimme, mit der man meterdicke Granitblöcke hätte schneiden können: »Verschwinde! Du hast hier Hausverbot. Pack deine Sachen und zieh Leine. In fünf Minuten kommen wir hoch. Wenn ich dann von dir auch nur einen Schatten sehe...«
Weiter kam Christiano nicht, denn Andreas war weg. Ich massierte mir das Kinn, leckte mir über die Zähne und zog sie so schnell es ging wieder ein. Nicht, dass noch jemand etwas bemerkte, was er nicht bemerken sollte.
»Hey, du...«, kümmerte sich prompt Steffen um mein Kinn, »Alles okay bei dir? Alle Zähne noch an ihrem Platz?«
»Ähm, ja, ich glaube schon.«, nuschelte ich und fuhr mir demonstrativ mit der Zunge über die Zähne, als ob ich testete, ob noch alle da waren, »Er hat mich nicht richtig getroffen, ist abgerutscht und hat sich an meinen Beißerchen den Handrücken aufgerissen.«
»Geschieht dem Arsch recht!«, kommentierte Markus meine Erklärung und fügte hinzu, »Den werden wir hier so schnell nicht wieder sehen. Piet duldet keine Schläger in seinem Laden, es sei denn, es dient dem Spieltrieb.«
Der letzte Teil der Bemerkung wurde von einem anzüglichen Grinsen begleitet. Erst jetzt fiel mir auf, dass Markus eine Peitsche in seiner linken Hand hielt. Als er bemerkte, wohin ich schaute, wurde sein Grinsen noch etwas breiter. Fast spitzbübisch wandte er sich an Steffen: »Nun, mein Kleiner, wollen wir weitermachen, oder bist du stimmungsmäßig raus?«
Bevor Steffen antwortete, zwinkerte er mir zu, wandte sich an Markus und meinte: »Was man anfängt, sollte man auch zu Ende bringen, oder?«
»Und was stehst du dann hier noch rum?«, blaffte Markus Steffen barsch an, dass ich mich erschreckte und fragte, ob in diesem Playroom nur Psychopathen rumliefen, bis mir dämmerte, dass Markus Ton zur Rolle als Top gehörte. Andernfalls hätte Steffen auch nicht selig gestrahlt, sich umgedreht und wäre zurück zur Spielwiese für Flagfans gerannt. Sein Rücken strahlte ebenfalls, genaugenommen die roten Striemen, die er bei seinem Abgang stolz präsentierte. Ich zuckte mit den Schultern und dachte, jedem Tierchen sein Pläsierchen.
»Ich glaube,«, begann Christiano, als wir einen Moment später relativ allein waren, »dass wir aufbrechen sollten. Für heute reicht's.«
Fünf Minuten später saßen wir auf Christianos Harley und fuhren in Richtung Appartement. Während der Heimfahrt ließ ich mir den Abend noch einmal Revue passieren. Erstaunlich, wozu ich plötzlich fähig war. Ich trieb mich in einem Darkroom rum, hatte mit zwei mir wildfremden Männern Sex und trank ihr Blut, nährte mich von ihnen. Hatte ich Gewissensbisse? Nicht einmal ansatzweise! Ganz im Gegenteil, ich war stolz auf das, was ich erreicht hatte!
Dann war da Andreas. Bisher war er einfach nur ein Intimfeind, einer meiner Hauptpeiniger. Seit heute Abend war er ein großes Fragezeichen. Was trieb er sich in einer Lederbar rum? Der Typ war homophob bis in die Knochen. War es Selbsthass? Oder noch etwas anderes?
Während ich vor mich hingrübelte, wanderte meine Zunge erneut über Zähne und Lippen, um diese zu putzen und die Spuren des Faustschlags wegzulecken. Etwas von Andreas Blut musste an meiner Lippe geklebt haben, denn kaum dass meine Zunge sie berührte, zuckte ich vor Schreck zusammen. Andreas Blut fühlte sich an, als ob ich an einer 9-Volt-Blockbatterie geleckt hätte. War das der Grund?
Vielleicht. Auf jeden Fall war es eine mögliche Erklärung für Andreas Verhalten gegen mich und für seinen Schwulenhass. Wenn... Ja, wenn. Ich wartete, bis wir das Appartement erreicht hatten. Müde und ein wenig erschöpft pulte ich mich aus meiner Lederjacke, hängte sie über die Garderobe und fragte Christiano, ob ich mir ein Bier aus seinem Kühlschrank nehmen dürfte.
»Klar! Mach mir aber auch eins auf!«
Ich schnappte uns zwei Flaschen, öffnete sie und ging zur Sitzgruppe, in die ich mich genüsslich plumpsen ließ. Ein paar Sekunden später gesellte sich Christiano zu mir. Ich hielt ihm seine Flasche hin und nahm aus meiner einen langen Zug.
»Was ist los?«, wollte Christiano wissen, »Gewissensbisse wegen der beiden Typen, die du vernascht hast. Oder machst du dir um Andreas Sorgen?«
»Letzteres, aber aus anderen Gründen, als du denkst.«
»Spuck's aus!«
»Er hat sich doch den Handrücken an meinen Zähnen aufgerissen.«, brachte ich den entscheidenden Vorfall meinem Freund in Erinnerung.
»Ja...?«
»Dabei muss etwas Blut an meiner Lippe kleben geblieben sein. Ich habe mir vorhin während der Fahrt darüber geleckt.«
»Junge, mach es nicht so spannend!«
»Andreas ist der Vergewaltiger, der mich mit Hep C infiziert hatte.«
panic room
Constantin
»Shit, musst du mich so erschrecken?«
Erstaunlich, was ein paar Tropfen Blut alles bewirken können. Ich hatte mein Handgelenk ein wenig aufgekratzt, was bei den rasiermesserscharfen Klauen meines Urvampirkörpers nicht sonderlich schwierig war, und Simon dem Besinnungslosen ein wenig Blut in den Mund geträufelt. Ein paar Sekunden später, und der Mann kam wieder zu Bewusstsein, um als erstes meine Monsterfresse zu erblicken. Selbst für einen hartgesottenen Vampir galt meine Urform als gewöhnungsbedürftig.
»Oh, Mann, was ist eigentlich passiert?«, stöhnte Simon.
»Du bist gestolpert und...«
Ich brauchte nicht weiter sprechen. Mein junger Vampir hatte auch so das Problem identifiziert. Dort, wo eigentlich ein Fuß sein sollte, befand sich nur ein verkohlter Stumpen.
»Na super!«, knurrte Simon frustriert, »Hat mir irgendjemand ein Schild Sonnenanbeter aufgeklebt?«
Der sonnenbedingte Verlust eines Körperteils stellte keinen Vampir vor ein ernsthaftes Problem. Etwas frisches Blut und die betreffende Extremität wuchs nach. Wie gesagt, ein Problem war es nicht, ein Handicap allerdings schon, zumal Simons anderes Bein durch den verunglückten Flug vom Hochhausdach gebrochen war. Um es kurz zu machen: Wir brauchten frisches Blut, und zwar eine Menge davon.
»Wo sind wir?«, fragte mein geistig durchaus munterer Freund.
»Noch nicht ganz in Sicherheit, aber fast. Wir befinden uns im Park gegenüber der Konzernzentrale.«
Genaugenommen hatte ich uns in ein Dickicht aus hohen Sträuchern und kleinen Bäumen gezerrt. Hier lag verborgen vor den Blicken der Parkbesucher ein niedriger, schattiger, dicht überwucherter Gang, der uns, wenn ich mich nicht täuschte, bis fast ans Ziel bringen sollte.
»Meinst du, dass du kriechen kannst? Ich kann dich in dem engen Gang nicht tragen.«
»Ich würde notfalls auf dem Zahnfleisch hinter dir herkriechen, Chef! Die Beine sind im Arsch, aber solange meine Arme funktionieren, kann ich hinter dir herrobben.«
Was für ein zäher kleiner Kerl! Ich hatte schon immer gemeint, dass die meisten Leute Simon unterschätzten. Der Junge war zäh und ließ sich so schnell nicht unterkriegen.
»Ich habe eine bessere Idee. Du musst nicht robben. Krall dich an mir fest!«
Er krallte und war dabei nicht sonderlich zartfühlend. Neben unseren Zähnen konnten wir auch unsere Fingernägel wie Krallen ausfahren. Da mein Körper momentan eh das eines leicht angerösteten Monsters war, spielte es wirklich keine große Rolle mehr, wenn sich ein paar Klauen in ihn bohrten und sich festkrallten. Ich grunzte, fragte Simon, ob er sich gut festhielt und kroch, als er dies bejahte, auf allen vieren los.
Der Gang war dornig, eng, finster, feucht, modrig und niedrig. Ab und an passierten wir einen Abzweig, eine Gabelung oder sogar eine Kreuzung. Der Park war wirklich groß. Ich konnte nur hoffen, dass der Plan in meinem Kopf mit den Gegebenheiten übereinstimmte. Das letzte Mal, dass ich mir das verborgene Wegenetz eingeprägt hatte, war einige Jahre her. Auf der anderen Seite, wie oft wurde so ein Park umgestaltet?
»Cons... Constantin«, stöhnte Simon hinter mir, »Können wir eine Pause machen?«
Natürlich konnten wir. Ich stoppte und Simon löste sich von mir. Der Mann sah fürchterlich aus, sodass ich ihm sofort mein Handgelenk in den Mund drückte.
»Trink!«, befahl ich, trotz meiner eigenen Schwäche. Simon trank und berappelte sich sichtbar.
»Es ist nicht mehr weit. Wir haben es gleich geschafft.«
»Verrätst du mir auch, was nicht mehr weit ist?«
»Lass dich überraschen!«
Wie ich freudig feststellen musste, hatten wir es wirklich fast geschafft. Der Tunnel aus Sträuchern und Büschen hatte uns bis fast an den Grottenbrunnen geführt. Der Park war ein Meisterwerk moderner Landschaftsarchitektur. Klare Linien, spektakuläre Blickachsen und immer wieder überraschende Perspektiven erfreuten das Auge des Betrachters. Selbst nachts, ohne brennende Sonne am Himmel, lud der Park zum Flanieren und Schlendern ein, was an einem ebenso spektakulären, wie dezenten Beleuchtungskonzept lag. Ich mochte den Park, und das nicht nur, weil ich ihn aus meiner Privatschatulle bezahlt hatte. In ihm eine laue Sommernacht zu verbringen, durch die unzähligen Gärten und über die Wiesen zu schlendern, war Balsam für die Seele. Allerdings gab es noch einen anderen Grund, warum mir die Anlage am Herzen lag und warum wir in sie hinein flohen.
Einer der spektakulärsten Einzelanlagen bildete der schon namentlich erwähnte Grottenbrunnen. Der Name mag barocker klingen, als der Brunnen eigentlich war. Innerhalb eines von Bäumen überschatteten Halbrunds war eine Art terrassenartiger Kessel eingebettet. Die einzelnen Ebenen luden zum Entspannen ein. Unzähligen Bänken und Liegen, die dort aus wetterfestem Holz und Vierkantstahlrohren standen, luden ein, sich auf ihnen niederzulassen. Absoluter Hingucker war aber der Wasserfall, der vom Rand der gegenüberliegenden Seite des Halbrunds in ein Becken am Boden des Kessels stürzte. Dieser Wasserfall war unser Ziel.
»Geht es wieder?«, fragte ich Simon und strich ihm sanft, soweit dies als Monsterurvampir möglich war, über die Schulter.
»Ja, es geht.«, erwiderte Simon nicht ganz wahrheitsgemäß und krallte sich wieder an mir fest.
Nach gut 100 Metern hatten wir das Ende des grünen Tunnels erreicht, der direkt in den unteren schattigen Teil des Kessels mündete. Das Rauschen des Wasserfalls war schon von Weitem zu hören, hier, direkt am Wasserfall, war es richtig laut.
»Den Rest der Strecke werde ich dich tragen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, packte ich Simon und trug ihn im Arm zum Wasserfall. Ein Schritt und wir standen im Bassin des Brunnens, ein weiter Schritt und wir durchquerten den Wasservorhang.
»Brrr, verdammt, ist das kalt... Nee, sag nicht, dass... Also wirklich, Constantin, das ist ja sowas von Klischee! Ein Geheimgang hinter einem Wasserfall, also wirklich.«
Das Brunnenbecken endete nicht unmittelbar hinter dem Wasserfall, sondern reichte noch ein Stück darüber hinaus. Am Ende befand sich allerdings keine Wand, wie man vermutet hätte, sondern ein kleiner Gang, der erst etwa zwei Meter in den Hang hinein führte, dann aber scharf nach rechts abbog. Natürlich wäre es hier so finster wie in einem Walfischbauch gewesen, hätte nicht jemand die Weisheit besessen, schwach glimmende Leuchtstreifen an den Wänden anzubringen, welche uns etwa zehn Meter weiter bis zu einer Tür führten. Ich setzte Simon ab und begann mich mit dem Schloss der Tür zu beschäftigen, obwohl Schloss das falsche Wort war. Die Tür ließ sich nur öffnen, wenn zuerst eine zwölfstellige PIN in ein Codeschloss eingegeben, anschließend ein Abdruck der rechten Hand und ein Retinascan des linken Auges überprüft wurde. Diese Tür ließ sich nur von drei Personen öffnen, von Laurentius, Christiano und mir.
Die Tür, die jede Tresortür vor Neid erblassen ließe, öffnete sich langsam und gab den Weg in eine Kammer mit einer zweiten, noch verschlossenen Tür frei. Es handelte sich um eine Schleuse, die eine weitere Schutz- und Verteidigungslinie bildete. In der Schleuse gab es nur einen Knopf. Ich drückte ihn und die äußere Tür schloss sich mit einem satten Klonk. Man konnte deutlich hören, wie armdicke Stahlankerbolzen einrasteten und verriegelten. Im gleichen Moment flammte an der Decke eine Lichtleiste auf. Es wurde hell.
»Sie haben eine Sicherheitsschleuse betreten.«, ertönte eine sympathische, freundliche Frauenstimme, »Sie haben fünfzehn Sekunden sich zu authentifizieren. Im Falle der Nichtauthentifizierung wird dieser Raum mit UV-Licht und Wasser geflutet. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«
»Constantin Varadin«, ich hatte weder Lust, eingeäschert noch ertränkt zu werden.
»Constantin Varadin, Sie wurden positiv identifiziert.«
Mit diesen Worten öffnete sich auch die innere Tür. Wir blickten in ein absolut schwarzes Nichts. Doch kaum dass ich mir Simon wieder gepackt hatte und die Türschwelle überschritt, flammte ein Lichtband nach dem anderen auf und enthüllte einen Gang, der schier endlos erschien.
»Lass mich raten.«, meldete sich Simon, »Dieser Gang führt in die Gruft, oder? Als wir Laurentius wiedererweckten, hast du sie von innen verschlossen und nebenbei erwähnt, dass sie auch ein Panikraum sei. Dies ist ein Fluchttunnel, oder?«
»Ich habe ja immer gesagt, dass du ein schlaues Kerlchen bist. Wobei Fluchttunnel in diesem Fall nicht ganz zutreffend ist. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal in mein eigenes Haus hereinschleichen muss. Aber du hast recht. Die Gruft ist ein Panikraum, der vollkommen autonom von der Gebäudetechnik des Hauses operiert. Er hat eine eigene Stromversorgung, ein eigenes Kommunikationsnetzwerk und ein eigenes und völlig unabhängiges Sicherheitssystem. Wer uns auch immer ausgesperrt haben mag, die Gruft kann er nicht unter seine Kontrolle bringen.«
Während ich Simon die Funktion des Panikraums erläuterte, war ich in lockeren Trab gefallen und eilte unserem endgültigen Ziel entgegen. Der Tunnel verlief unterhalb des Parks bis zum Firmengelände in etwa waagerecht und endete in einem Treppenhaus, welches in die Tiefe führte, um auf das Niveau der Gruft zu kommen. Bei der Planung des Fluchtwegs hatte ich mich ausdrücklich gegen einen Fahrstuhl entschieden. Fahrstühle müssen gewartet werden, was kaum unauffällig zu bewerkstelligen war. Da außer Christiano, Laurentius und jetzt Simon niemand von der Existenz dieses Tunnels wusste, war es ausgesprochen ungeschickt, das Geheimnis durch banale Wartungsarbeiten zu enthüllen. Mit Simon unterm Arm stampfte ich, immer noch in meiner Monsterform, die Stufen hinab und erreichte schließlich eine weitere Tür, welche sich allerdings durch die simple Eingabe einer Pin öffnen ließ. Sekunden später betraten wir die geheime Sicherheitszentrale der Gruft.
»So, geschafft.«, erklärte ich Simon und nahm endlich wieder meine menschliche Form an, »Schauen wir erst einmal, ob die Luft rein ist.«
Ein paar Tastendrücke später flammten diverse Flachbildschirme auf und zeigten uns die Gruft samt derer Zugänge. Die Luft war rein, das hieß, die Gruft verlassen. Ich schaute sogar in die Särge hinein, die über winzige Mikrokameras verfügten. Nicht, dass sich jemand in einem versteckt hielt, um uns zu überraschen. Auch sie waren verlassen. Überhaupt wirkte der ganze Bereich um die Gruft wie ausgestorben. Selbst die sonst immer präsenten Wachvampire fehlten, was kein gutes Zeichen war. Andererseits fiel dadurch mein nächster Schritt weitaus unauffälliger als geplant aus: Das Versiegeln der Gruft. Da niemand da war, der beobachten konnte, wie sich die schweren Grufttüren schlossen, durfte unsere Anwesenheit noch einen Moment länger unbemerkt bleiben.
»Erledigt!«, stellte ich zufrieden fest. Die Gruft war versiegelt und wir in Sicherheit. Endlich konnte ich mich um den verletzten Simon kümmern. Vorsichtig legte ich ihn in meinen Privatsarg. Der Mann brauchte Blut. Zum Glück war der Kühlschrank der Gruft gut gefüllt. Ich schnappte uns zwei Beutel, wärmte sie in der Mikrowelle, die wie der Kühlschrank auch hinter einer Granitplattenverblendung verborgen lag, auf und reichte einen Simon. Der biss zu, wollte saugen, zögerte dann aber. Ich hatte meine Zähne ebenfalls im Blutbeutel versenkt und war kurz davon, einen ordentlichen Zug zu nehmen, doch Simons Zögern bremste mich.
»Was?«
»Wir sollten das Blut testen. Wo uns Türen den Zugang verweigern, traue ich keinem Blutbeutel über den Weg.«
Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Simons Ahnung stellte sich als überaus begründetet heraus. Beide Blutbeutel waren mit demselben Biolumineszenzgift angereichert, dem mein Freund seine kürzliche Einäscherung zu verdanken hatte. Der Test war denkbar einfach. Wir brauchten nur etwas Blut aus dem Beutel mit unserem eigenen vermischen und einen Moment abwarten. Strahlte die Mischung blauviolett auf, war die Probe kontaminiert.
»Meinst du, dass alle Portionen versucht sind?«
»Kriegen wir es raus.«
Es waren nicht alle Päckchen verseucht, aber genügend. Erst nach drei weiteren Tests hielten wir eine Konserve in den Händen, die Simon nicht verbrannt und mich nicht umgebracht hätte. Statt weiterzusuchen, teilten wir uns den halben Liter. 250ml für jeden war in unserem angegangenen Zustand nicht viel, aber besser als nichts. Das Blut war zwei Tage alt, also noch relativ frisch, ausreichend, um belebend zu wirken und den Hunger zu stillen, aber nicht frisch genug, um Simons gebrochenes Bein zu heilen, geschweige denn den in Flammen aufgegangenen Fuß zu regenerieren. Dafür musste der rote Saft deutlich frischer sein.
»Sollen wir noch einen suchen?«
»Natürlich!«
Wir testeten die nächste Charge. Simon einen, ich zwei, alle positiv. Erst Simons zweiter Beutel war wieder giftfrei.
»Junge, Junge, da hat es aber einer echt auf dich abgesehen.«, meinte Simon, nachdem er seinen Teil getrunken hatte.
Verärgert schaute ich auf den Stapel mit der kontaminierten Ware: »Und ich bin geneigt, die Angelegenheit persönlich zu nehmen.«
»Was ist eigentlich aus meinem Schuh geworden?«, wechselte mein versehrter Freund das Thema.
»Du meinst nicht zufällig den Schuh, der früher deinen Fuß beherbergte. Es tut mir leid, aber ich befürchte, dass ich eine schlechte Nachricht für dich habe. Ich muss dir leider mitteilen, dass dein fehlendes Schuhwerk immer noch leicht angekokelt auf der Straße liegt. Möchtest du ihn holen kriechen?«
»Ich glaube eher nicht.«
Simon lachte und ich ebenfalls. Wir hockten verwundet, verstümmelt, angekokelt und eingeschlossen in einer mit verseuchten Blutbeuteln angefüllten Panikraumgruft und hatten nicht die geringste Ahnung, was eigentlich außerhalb der schützenden Panzertür los war. Wenn das kein Grund zum Lachen war, was bittschön denn dann? Zugegeben, unsere Lache fiel vielleicht ein klein wenig hysterisch aus. Wer mag es uns verdenken?
»Und was machen wir jetzt?«, wollte Simon wissen.
»Jetzt versuchen wir, etwas Klarheit in die trübe Suppe unserer Unwissenheit zu bringen.«
Wie erwähnt, war die Gruft nicht nur ein Panikraum, sondern auch eine Überwachungszentrale. Ich war eigentlich nicht paranoid veranlagt und auch kein Überwachungs- respektive Kontrollfreak, aber Laurentius hatte mir inständig dazu geraten, diese Technik in den Panikraum zu integrieren. Der Zugriff auf das autonome Sicherheitssystem, ausgestattet mit verborgenen Kameras, Lautsprechern und Mikrofonen, war grundsätzlich gesperrt und konnte nur von den üblichen drei Personen entsperrt werden. Es war das erste Mal überhaupt, dass die Anlage aktivierte wurde. Sie war nur zu einem einzigen Zweck installiert worden, nämlich dem, der gerade eingetreten war: Nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein.
»Du kannst uns alle bespitzeln?«, fragte Simon gereizt. Ihm missfiel der Gedanke, jederzeit überwacht zu werden. Mir auch.
»Jein! Im Prinzip ja, praktisch nicht. Dies ist das erste Mal, dass ich die Anlage aktiviere. Was die Privatsphäre betrifft: Es gibt weder Mikrofone noch Kameras in den Unterkünften. Nur die Flure und gemeinsam genutzten Räume werden überwacht. Simon, glaub mir, ich habe diese Anlage vorher wirklich noch nie benutzt.«
Mein Compadre gab sich mit meiner Erklärung, wenn auch widerwillig, vorerst zufrieden: »Also gut, schalt ein!«
Als erstes überprüften wir die der Gruft angrenzenden Gänge - nichts - weit und breit war niemand zu sehen. Das Familiengrab der Varadins war in gewisser Weise das Heiligtum des Hauses. Außer meinem privaten Sarg wurden hier die Schätze der Familie verwahrt. Dabei handelte es sich zum einen um Objekte von spirituellem Wert, wie die Überreste meines Vaters und seines Vaters, Erde aus der Region meiner Geburt, eine Phiole mit etwas eingetrocknetem Blut meiner Mutter, welches mich immer, wenn ich es sah, melancholisch stimmte. Es waren die Reliquien meiner Blutlinie, denen wir hier ein sicheres Domizil geschaffen hatten. Neben diesen eher ideellen Werten bewahrten wir in der Gruft aber auch echte antike Kostbarkeiten von erheblichem materiellen Wert auf, wie etwa Zepter und Reichsapfel meines Ururgroßvaters, durch die unser Herrschaftsanspruch begründet wurde, oder der See der Stille, ein blauer Diamant, gegen den der Hope Klunker vor Neid erblasst wäre. Jedermann wird verstehen, warum immer zwei Vampire aus Laurentius Kampftruppe den Eingang zur Gruft bewachten. Im Moment taten sie es allerdings nicht.
Ich schaltete auf die Kamera der Regierungszentrale und erntete ein Bild gähnender Leere. Von jenem Ort aus wurde das gesamte Varadin-Breskoff Imperium gesteuert. Zurzeit allerdings nicht, denn alle Arbeitsplätze waren verwaist. Es war früher Morgen, weswegen ich nicht mit überquellendem Leben rechnen durfte, schließlich zählt unsere Art eher zu den nächtensaktiven Wesen. Aber eine vollkommen leere Zentrale war einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Irgendetwas war faul - oberfaul.
»Kannst du mal ranzoomen?«
Simon schien etwas auf den Bildern, die uns die Kameras übertrugen, entdeckt zu haben und deutete auf die linke obere Ecke des Bildschirms.
»Vermutlich«, gestand ich meine Unkenntnis ein, wie mit der Kameratechnik umzugehen war, »Ich mach das hier das erste Mal. Mal sehen... Ah, ja...«
Zum Glück waren die Kontrollen dermaßen intuitiv konstruiert, dass sogar ich sie verstand. Wichtigstes Werkzeug war ein kleiner metallener Joystick. Mit ihm ließ sich die gerade ausgewählte Kamera bewegen. Rauf, runter, rechts und links. Eigentlich ganz einfach. Zusätzlich ließ sich der Stick aber auch noch drehen, was sich unmittelbar in der Brennweite der Kamera niederschlug, die offensichtlich mit einem Motorzoom ausgestattet war. Ich zoomte die von Simon bezeichnete Stelle heran.
»Da! Genau da!«, schrie Simon aufgeregt, während ich versuchte, das Bild unter Kontrolle zu bringen. Je stärker ich einen Bildausschnitt heranzoomte, desto sensibler reagierte die Kamera bei Schwenks und desto wackeliger wurde das Bild, »Was ist das für ein Fleck dort auf dem Boden?«
»Das sieht aus wie...«, ich zoomte wieder etwas hinaus, um einen besseren Überblick zu gewinnen.
»Asche!«, stöhnte ich auf und blickte vom Monitor zu den verseuchten Blutbeuteln, wo sich mein Blick mit Simons kreuzte.
»Meinst du, da hat jemand einen vergifteten Beutel erwischt?«
Ich antwortete nicht sofort, sondern fuhr die Umgebung um den Aschehaufen mit der Kamera ab. Auf einem Schreibtisch fand ich, wonach ich suchte: ein halb leer getrunkener Beutel menschlichen Bluts.
»Die werden doch nicht alle...«
Simon sprach nicht weiter. Der Gedanke, dass alle meine Vampire zu Asche zerfallen waren, war einfach undenkbar. Andererseits sprach der Aschehaufen für sich selbst. Ich schaltete auf eine Kamera in der Nähe unserer Hauptblutbank um und bereute es sofort. Im Vorraum, den wir etwas gewagt den Speisesaal nannten, einem durchaus wohnlich eingerichteten Zimmer mit Stühlen, Tischen, Sesseln und einem Sofa, präsentierten sich uns gleich fünf Aschehaufen, mitsamt der dazugehörigen Blutbeutel.
»Ein Wachtrupp«, kommentierte Simon, der selbst ein Mitglied der Wache war, »Es sind immer fünf Mann in einem Trupp. Das ist Tradition: Am Ende einer Wache zusammen das Blutmahl einzunehmen. Die armen Schweine. Von innen verbrannt zu werden ist echt Scheiße!«
Der Mann wusste, wovon er sprach.
»Oh, das ist teuflisch!«, ließ sich Simon erneut verlauten, »Eine Frage: Wo nimmst du deine Mahlzeit ein?«
Shit! Ich begriff, worauf mein Freund hinaus wollte. Ich nahm meine Mahlzeit meistens in der privaten Umgebung meines Appartements ein, so wie die meisten anderen auch.
»Aber es können doch nicht alle... Oder doch?«
»Nein, auf keinen Fall. Selbst wenn ein paar Jungs verseuchte Nahrung erwischt haben sollten, kann unmöglich das ganze Haus betroffen sein. Wenn um dich herum deine Freunde und Brüder in Flammen aufgehen, bleibt das nicht unbemerkt. Da muss mehr vorgefallen sein.«, beruhigte Simon meine Nerven und brachte eine sachliche Note ins Spiel, »Schalt mal weiter. Irgendwo müssen noch Leute von uns rumlaufen.«
Ich schaltete weiter und arbeitete mich dabei systematisch von den äußeren Bereichen des Hauses zu den inneren vor. Sämtliche Ausgänge zur Außenwelt waren verriegelt, was sich an den rot pulsierenden Lichtern über den Türen erkennen ließ. An sich zeigten sie den Sonnenstatus an: Grün bedeutete „Nacht“, gelb stand für „Sonnenaufgang steht unmittelbar bevor“ und rot eben „Sonnenschein“. Pulsierendes rotes Licht sah man selten und stand für eine gezielt verriegelte Tür. Dies erklärte zumindest, warum wir den Zugang auf dem Dach nicht öffnen konnten. Es bedeutete aber auch, dass nicht nur niemand ins Haus kam, sondern auch niemand heraus. Das Haus Varadin war abgeriegelt.
»Da!«, rief Simon und stoppte mich beim Weiterschalten. Die ausgewählte Kamera zeigte nicht nur den kleinen Salon, sondern auch mindestens zwölf Mitglieder meines Hauses. Sie wirkten nicht wirklich glücklich. Drei Vampire, die zu Ricardos Stab zählten, waren intensiv miteinander am diskutieren. Ein Vampir schien verletzt zu sein, lag am Boden und wurde von einem weiteren gepflegt. Andere hockten in den Sesseln und Sofas und starrten sichtlich niedergeschlagen, fast schon verzweifelt vor sich hin. Wenn dies nicht schon beunruhigend genug war, dann war es der Anblick der Tür des Salons. Die war mit diversen Möbelstücken verbarrikadiert worden.
»Ich muss wissen, was da los ist.«
Ein kurzer Blick auf das Schaltpult vor mir reichte, um zu finden, was ich suchte, nämlich den Schalter für das Mikrofon der Kamera und einen Knopf, der mich auf den korrespondierenden Lautsprecher des Salons schaltete. Ich drückte also den Knopf mit der Beschriftung »talk to active camera port«.
»Hey!«, hauchte ich in das vor mir an einem Schwanenhals befestigte Mikrofon. Sofort zuckten meine Jungs im Salon zusammen und schauten sich suchend um, »Ihr könnt mich nicht sehen, aber ich sehe euch. Ich bin in der Gruft.«
»Chef, du lebst?«, ergriff einer von Ricardos Jungs, ich glaube er hieß Ulrich, das Wort, »Man hat uns gesagt, du wärst tot.«
»Bestenfalls untot.«, meine Scherze waren auch schon besser, aber es erfüllte den Zweck, die Stimmung im Salon hob sich, »Wer sagt, ich wäre tot?«
»Ähm, ich bin mir nicht wirklich sicher, wer das zuerst behauptet hat. Als gestern Abend die Hölle losbrach und du nicht da warst... Verdammt, dann war das nur eine Lüge.«
»Immer mit der Ruhe, Ulli. Sag mir lieber, was passiert ist.«
Ulrich fühlte sich geschmeichelt, dass ich seinen Namen kannte. Vermutlich dachte er, ich würde ihn nicht kennen, weil er nicht mein, sondern Ricardos Geschöpf war.
»Es begann damit, dass plötzlich reihenweise Leute in Flammen aufgingen. Bevor wir begriffen, dass es an den Blutkonserven lag, war die Hälfte unserer Brüder und Schwestern schon zu Asche zerfallen. Niemand wagte daraufhin, sich zu nähren. Es scheinen zwar nicht alle Konserven betroffen zu sein, nur wussten wir nicht, welche clean sind und welche nicht.«
»Warum habt ihr nicht mit Ricardo gesprochen? Er hätte euch sagen können, was mit den Konserven los ist.«
»Ihn hat es als erstes erwischt.«
»Scheiße!«, machte ich mir Luft, »Hört zu. Ich vermute, dass es sich um das gleiche Gift handelt, das Simon vor ein paar Tagen verbrannt hat. Das würde bedeuten, dass die Konserven einen latent biolumineszenten Stoff enthalten. Unser Blut wirkt als Katalysator und startet eine Lichtemission. Ihr kennt das bestimmt aus Fernsehkrimis, wenn die Spurensicherung verdächtige Flächen mit Luminol einsprüht, das bei Blut blau aufleuchtet. Das Spektrum dieser Substanz reicht über blau hinaus und in den UV-Bereich. Ihr könnt die Beutel relativ einfach testen. Vermischt etwas von dem Blut mit dem eurem. Sollte es blauviolett zu leuchten beginnen, ist es versucht. Ich komme gleich zu euch.«
»Nein Chef, bleib in der Gruft! Du weißt noch nicht alles.«, kam eine unerwartete Antwort, »Schau dir Tarik an.«
Ulrich deutete auf den offensichtlich verwundeten Vampir am Boden. Ich zoomte heran und erkannte Tarik, einen fast zwei Meter großen Kämpfervampir der Wachtruppe. Von Kampf konnte aber keine Rede sein. Tarik schien nicht nur verwundet zu sein, sondern sich auch in Agonie zu winden.
»Als wir das Labor verließen, wurde auf uns geschossen. Eines der Projektile traf Tarik. Wir sind nicht sicher, was für Munition verwendet wurde, aber wir wissen, wie sie wirkt. Sie lähmt die Muskeln und bereitet zudem unerträgliche Schmerzen. Ich bin mir nicht sicher, ob er das auf Dauer durchsteht.«
»Wer hat auf euch geschossen?«
»Wir wissen es nicht. Lady Lydia befahl, uns irgendwo zu verbarrikadieren. Das Sicherheitssystem funktioniert nicht richtig. Wir können die Tür des Salons nicht sperren, während sich andere Türen nicht öffnen lassen. Wir kommen nicht in die Unterkünfte. Deren Panzertüren sind verriegelt, das Kommunikationsnetz funktioniert auch nicht. Die Wachen, die uns helfen könnten, sind eingesperrt, während wir uns nur mit Schränken verbarrikadieren konnten.«
»Wisst ihr, mit wie vielen Gegnern wir es zu tun haben?«, rief Simon in Richtung Mikrofon.
»Nein, nicht genau. Lydia meint, dass es mindestens drei sein müssen. Sie hat sich die verbliebenen acht Mann der Wache geschnappt, die nicht ausgesperrt wurden, und durchkämmt mit ihnen das Gebäude, das heißt, soweit die Zugänge funktionieren. Immerhin hat sie verhindert, dass die Verräter davonkommen. Es gelang ihr zwar nicht, die Manipulationen am Sicherheitssystem rückgängig zu machen, aber immerhin konnte sie die Ausgänge verriegeln. Unsere Gegner können nicht fliehen und sind mit uns hier im Haus eingeschlossen.«
»Okay, bleibt dort. Ich schaue, was ich machen kann.«
»Chef, bitte, riskier nichts!«, bat Ulli, »Du bist das Haus.«
Ja, ich war das Haus, aber auch nicht aus Zucker. Ich war kein Herrscher, der sich vornehm im Hintergrund hielt und erst die Bühne betrat, nachdem sich der Rauch der Schlacht gelegt hatte. Wie konnte ich von meinen Geschöpfen erwarten, jederzeit alles zu geben, wenn ich nicht selbst dazu bereit war?
»Mindestens drei Gegner?«
Wieso verschwendete Simon sein Talent bei der Wache? Die Kampfvampire der Wachmannschaft erhoben nie den Anspruch, ausgesprochene Intelligenzbestien zu sein, was nicht hieß, dass ihr IQ nur knapp über der Raumtemperatur lag. Laurentius legte schon Wert auf Leute, die Verstand besaßen und diesen auch benutzten, statt stupide Befehle zu exekutierten. Trotzdem stellte Simon eine Ausnahme dar. In seinem Schädel, dies wurde mir erneut klar, tickte ein außergewöhnlich scharfer Verstand. Er brachte mit einer einzigen Frage unsere prekäre Situation auf den Punkt: Mindestens drei Gegner? Bisher waren wir von einem Verräter ausgegangen. Und jetzt waren es mindestens drei?
»Stopp!«, schrie Simon, während ich gedankenverloren durch die Kamerakanäle snappte, »Zurück! Welche Kamera hattest du eben aufgerufen?«
»Ich...« Ich wusste es nicht mehr. Ich hatte nicht wirklich auf den Bildschirm geachtet. Aber auch daran hatten die Konstrukteure des Sicherheitssystems gedacht. Es gab einen Verlaufsspeicher. Mit einem Tastendruck konnte ich die zuvor aufgerufenen Kameras erneut anwählen.
»Da!«
Das Bild zeigte einen Gang, den ich anhand der Leitstreifenfarben an Boden und Wänden als den Zugangstunnel zum medizinischen Forschungsflügel des Hauses identifizierte. Ich wollte kaum glauben, was ich sah: Im Gang hatte man Rollcontainer, Schreibtische und Schränke zu Barrikaden aufgetürmt, hinter denen sich eine Gruppe Vampire verbarrikadiert hatte. Zwischen dem improvisierten Schutzwall ließen sich hier und da die Läufe mehrerer Schusswaffen erkennen, aus denen sich gelegentlich Schüsse lösten. Mit dem Joystick wechselte ich die Blickrichtung der Kamera, um zu sehen, worauf geschossen wurde. Viel zu entdecken gab es nicht. Offenbar befand sich die Kamera genau zwischen zwei sich bekämpfenden Gruppen, denn auch der geänderte Blickwinkel präsentierte eine improvisierte Barrikade aus Schränken und Rollcontainern.
»Na super! Wer hat den Typen erlaubt, Counter Strike in meinem Haus zu spielen?«
Ehre
Hinter dem lauen Kalauer steckte handfeste Wut, Wut auf die Verräter, aber auch Wut auf mich selbst, das Verräterproblem nicht ernst genug genommen zu haben. Wäre ich nicht selbstsüchtig gewesen und hätte meine persönlichen Bedürfnisse nicht über die des Hauses gestellt, wäre dies alles nicht passiert.
»Das kannst du nicht wissen.«, bemerkte Simon. Hatte ich meine Gedanken tatsächlich laut ausgesprochen? Offensichtlich.
»Vielleicht wäre nichts passiert, wenn du hier gewesen wärst. Vielleicht gäbe es jetzt auch keinen Constantin Breskoff-Varadin mehr. Du konstruierst einen Gegensatz, wo gar keiner besteht. Woher willst du wissen, dass sich Florians Verwandlung als nicht viel wichtiger für das Haus herausstellt, als wir heute auch nur erahnen?«
»Du verstehst nicht. Ich weiß, wer der Verräter ist.«
»Du weißt es?«
Simon war entsetzt und ich konnte es ihm nicht verdenken, höchstens, ihm meine Beweggründe erklären.
»Ich glaube, es zu wissen. Die Idee war, Lydia den Verräter dingfest machen zu lassen. Mir schien es eine gute Idee zu sein, um die beiden Häuser zusammenzubringen. Außerdem wollte ich niemanden von meinen Leuten zumuten, gegen einen Bruder zu ermitteln.«
»Das war mir schon klar.«
»Ja«, ich musste lächeln, »Das ist es wohl. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein wirklich schlaues Kerlchen bist?«
»Ach, bin ich das?«, Simon zeigte ein freches, süßes Haifischlächeln.
Ich wandte mich wieder meinen Kamerakontrollen zu: »Also gut, schauen wir mal, wer da gegen wen kämpft.«
Die eine Fraktion war einfach zu ermitteln. Es waren Männer, die den räumlichen Gegebenheiten nach auf meiner Seite kämpften. Ob sie dabei ihre Gegner bis an den Eingang des Forschungsflügels des Hauses zurückgedrängt oder diese sich dort verschanzt hatten, ließ sich nicht eindeutig erkennen. Ich vermutete aber letzteres.
Die Gebäudestruktur unseres Hauses, unserer kleinen Vampirhöhle unterhalb des Firmengeländes der Varadin International Holding, hatte ich früher bereits schon einmal skizziert, dabei einen Aspekt der Einfachheit allerdings ausgelassen: die Segmentierung. Wenn man es genau nahm, bestand das Haus nicht aus einem einzigen Gebäude, sondern aus mehreren, voneinander isolierbaren Teilen. Man darf nicht vergessen, dass es sich bei unserem Haus auch um eine Festung handelte, die einem eindringenden Feind möglichst viel Widerstand leisten und ihm die Möglichkeit rauben sollte, das Haus im Handstreich zu überrennen. Genau dies war jetzt der Fall. Die Frontlinie verlief genau im Verbindungsgang zwischen dem zentralen Bereich und dem Flügel, der die medizinische Forschung beherbergte.
War es Fluch oder Segen, das Haus als Festung erbaut zu haben? In der gegenwärtigen Situation überwog wohl der Fluch. Es gab nur diesen einen Zugang zum Forschungstrakt, was den Verrätern erlaubte, sich sehr effektiv verschanzen zu können und meinen mir treu ergebenen Kräften erbitterten Widerstand zu leisten. Meine Seite wurde von Lady Lydia angeführt, die gerade damit beschäftigt war, sich mit Orwell, einem breitschultrigen, irischstämmigen Hauptmann der Wache zu unterhalten. Die Position der Kamera war leider ungünstig, sodass wir nicht genau erkennen konnten, worum es bei der Unterhaltung ging. Die beiden befanden sich nicht direkt hinter der diesseitigen Barrikade, sondern hatten Deckung in Quergang für ihre Unterredung gesucht. Lydia hielt irgendwelche Pläne, ich vermutete Baupläne, in den Händen und deutete zur Decke, woraufhin der etwa zweimeterzehn große Orwell hinauflangte und ein Verkleidungselement der abgehängten Decke zur Seite schob. Ich ahnte, worauf das hinauslief. Lydia wollte das Sperrfeuer heimlich umgehen, indem sie jemanden hinter der Deckenverkleidung entlang schleichen ließ. Platz genug gab es dort, wenn auch nicht für Orwell. Ein schlanker Mann oder eine schlanke Frau hingegen konnte den Raum zwischen der sichtbaren Verkleidung und der eigentlichen Decke durchaus als Schleichweg nutzen. Es galt nur ein Hindernis zu überwinden. In der Mitte des Verbindungsgangs, ungefähr auf der Höhe der Kamera beziehungsweise im Niemandsland zwischen den beiden feindlichen Linien, versperrte eine Stahlbetondoppelwand den Weg, die von oben bis direkt an das Deckenpanel heranreichte. Innerhalb dieser Wand befanden sich Sperrschotten, mit denen der Übergang, etwa bei einem Brand, zwischen den beiden Teilgebäuden verschlossen werden konnte. Es gab eigentlich nur eine Möglichkeit, dieses Hindernis unbemerkt zu umgehen: Den Hauptlüftungskanal, der, wie die meisten anderen Versorgungsleitungen den Raum zwischen Decke und Deckenverkleidung ausfüllte. Wenn ich mich an die Baupläne des Hauses richtig erinnerte, umging der Luftkanal das Sperrschott, besaß aber eigene Trennstellen. Hoffentlich waren diese nicht geschlossen. Auf der anderen Seite zweifelte ich ernsthaft daran, dass es jemanden in unseren Reihen gab, der in den Lüftungskanal passte.
Ich sollte mich irren, denn das Schicksal, das heißt, Lydia, erwählte Takumi, unseren kleinen, muskulösen und sehr gelenkigen Japanimport. Wenn jemand durch enge, verwinkelte Blechröhren schlüpfen konnte, dann er. Ich musste schmunzeln, als ich mich daran erinnerte, wie ich meinen fernöstlichen Freund kennenlernte. Es mussten mehr als vierhundertfünfzig Jahre her sein, aber die Erinnerung war frisch wie damals. Takumi war zu jener Zeit als Ninja tätig, den sein Herr mit der ebenso unsinnigen wie dann auch erfolglosen Aufgabe betraut hatte, mir das Leben zu nehmen. Ich war in jenen Jahren Gast eines lokalen Provinzfürsten. Sein ihm alles andere als wohlgesonnener Vetter hegte den Plan, meinen Gastgeber in Misskredit zu bringen, indem er mich ermorden ließ. Ein derartiges Unglück hätte seine Entehrung nach sich gezogen und ihn gezwungen, rituellen Selbstmord zu begehen. Allerdings hatte der feindlich gesonnene Cousin nicht damit gerechnet, dass sich Untote schlecht töten lassen.
Takumi war ein Meister der Spionage, der Sabotage und des Meuchelmordes. Es gelang ihm tatsächlich, unbemerkt in meine Unterkunft vorzudringen. Dort angekommen schlich er sich über den Dachboden bis zu meinem Nachtlager. Seine Spezialität war der klassische Giftmord mit einem dicken, schweren Bindfaden. An im wurde das schnell wirkende Gift herabgelassen und direkt in den Mund des schlafenden Opfers geträufelt. Normalerweise setzte dessen Wirkung sofort ein und lähmte vor allem die Stimmbänder, damit ein erwachender Delinquent nicht noch in letzter Sekunde um Hilfe rufen konnte. Nicht so bei Takumis letztem Ziel. Da ich nicht wirklich schlief, sondern nur leicht vor mich hin döste, bemerkte ich meinen Mörder noch bevor er seinen Bindfaden auch nur abgewickelt hatte, und begann mit ihm ein wirklich gemeines Spiel zu spielen.
Was ist für einen Meuchelmörder noch schöner, als ein ahnungsloses Opfer? Ein ahnungsloses Opfer, das sich auch besonders opferbereit präsentiert, zum Beispiel, indem es sich in fast schon ungehöriger Weise, direkt unter dem Bindfaden positioniert und seinen Mund obendrein auch noch halb öffnet. Ich konnte hören, wie das Herz meines Meuchelmörders vor Freude einen Satz machte, sich dann aber, ganz Profi, schnell wieder beruhigte. Was Takumi nicht ahnte, nicht ahnen konnte war, dass ich ihn dank meiner Vampirsinne selbst mit geschlossenen Augen so gut sehen konnte, als ob er auf einem leeren Marktplatz bei strahlender Sonne vor mir stünde. Sein Wärmebild, wie es wohl wissenschaftlich korrekt heißt, war klar und deutlich. Er lag auf einem Balkenkreuz, welches sich als dunkle Linie vor seinem Körper abzeichnete. Er trug einen vermutlich schwarzen Anzug, das Gesicht war, bis auf eine schmale Aussparung für die Augen verhüllt. An seinen Händen trug er Handschuhe. Langsam und vorsichtig spulte er den Faden ab, bis dessen Ende knapp über meinem Gesicht pendelte. Selbst in der Dunkelheit der Nacht, oder gerade durch sie, war er besonders gut zu erkennen. Die Wärme, die Takumi durch berühren mit seinen Fingern auf den Faden übertrug, ließen ihn im Wärmebild klar und deutlich aufleuchten. Gleiches halt für das zähflüssige Gift, das er daran herunterlaufen ließ. Takumi musste das Fläschchen mit der tödlichen Tinktur eng am Körper getragen haben, wodurch sich dessen Wärme übertrug, um nun wie glühende Lava zu strahlen, während es am Faden hinab floss.
Ich schmatzte. Ich gebe es zu, das Spiel gezielt auf die Spitze getrieben zu haben. Ich leckte mir sogar über die Lippen, als der erste Tropfen des tödlichen Giftes sein Ziel verfehlte und statt in meinem Mund, knapp daneben auf meiner Unterlippe landete. Mein Körper begann sofort mit der Analyse der Substanz. Es war eindeutig ein pflanzlicher Wirkstoff... ein Alkaloid... Nikotin, das Gift des Tabaks. Eine sehr toxische Substanz... für Menschen, für mich aber vollkommen ungefährlich, wenn man von einem leicht bitteren Geschmack auf der Zunge einmal absieht.
Da bereits ein Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht als tödliche Dosis gilt, hätte ich nach der Menge, die mir mein Meuchelmörder inzwischen eingeflößt hatte, längst meinen letzten Atemzug getan haben müssen. Da mein Tod aber weiterhin auf sich warten ließ, breitete sich eine deutliche Irritation in meinem kleinen Ninja aus, die sich von Sekunde zu Sekunde in Richtung Panik verschob. Takumis Puls beschleunigte sich, ebenso seine Atmung. Hektisch versuchte er, mir immer mehr von seinem Gift einzuträufeln, welches ich frech aufschlabberte, so als träumte ich von einem leckeren Eis, welches ich gerade schlecken würde.
Takumi stöhnte. So etwas war ihm noch nie passiert. Wieso wirkte dieses verfluchte Gift nicht? Verwirrt und verzweifelt schob er sich ein Stück vor. Dafür musste er aber ein wenig seine sichere Lage auf dem Balkenkreuz verlassen und sich mit einer Hand abstützen, um nicht abzustürzen. Genau darauf hatte ich gewartet. Ich öffnete meine Augen, starrte den entsetzten Ninja direkt an, schnappte mit meinem Mund nach dem festen Bindfaden und zog daran, dass ich Takumi die Garnrolle entriss. Dies führte wiederum dazu, dass dieser seine Balance verlor, abstürzte und direkt in meinen Armen landete.
»Netter Versuch, mein Kleiner.«, begrüßte ich in perfektem Japanisch den geschockten Kerl in meinen Armen, die ich, ganz Vampir, fest um ihn geschlungen hatte. Mit einer freien Hand riss ich dem überrumpelten Ninja die Kapuze vom Kopf und fand darunter einen ebenso verstörten, wie attraktiven jungen Mann vor. »Du weißt, dass dein Leben jetzt mir gehört?«
Dass ein Gaijin, ein Fremder, ein Ausländer, der japanischen Sprache mächtig war, schien meinen Meuchelmörder mehr zu überraschen, als die Tatsache, dass er seinen Auftrag verbockt hatte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an. Ich grinste frech und sah mir den Kerl in meinen Armen ein wenig genauer an, was allerdings erforderlich machte, eine Lampe zu entzünden.
»Ich werde dich jetzt loslassen.«, einen Japan zu duzen, kam einer kleinen Folter gleich, »Ich rate dir aber inständig davon ab, einen Fluchtversuch zu wagen. Glaub mir, er wird scheitern.«
Das Messer, mit vermutlich vergifteter Klinge, das Takumi nach mir warf, kaum dass ich ihn losgelassen und ihm den Rücken zugewandt hatte, fing ich kommentarlos aus der Luft und setzte meinen Versuch fort, etwas Licht zu machen. Als dann aber zwei Wurfsterne in meinem Rücken landeten, wurde es mir dann doch zu bunt, zumal ich an die Teile nicht ran kam, weil sie ergonomisch sehr ungünstig zwischen meinen Schulterblättern steckten.
»War es das jetzt?«, fragte ich entnervt. Takumi zuckte zusammen und verstand die Welt nicht mehr, wieso lag ich nicht am Boden? Er hatte sich doch wirklich alle Mühe gegeben, mich vom Leben zum Tode zu befördern. Aber Mühe allein genügt eben manchmal nicht. »Wärst du bitte so freundlich, die Messer wieder zu entfernen?«
Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass mein Wunsch erfüllt wurde, doch Takumi tat es. Mit gesenktem Haupt trottete er heran und entfernte die Wurfsterne, wobei er, wenn auch nur kurz und fast schüchtern, meinen Rücken streichelte. Gefiel dem Ninja etwa, was er sah?
Vielleicht hätte ich erwähnen sollen, dass ich nackt geschlafen hatte. Südjapanische Nächte im Hochsommer konnten recht warm und ausgesprochen schwül sein. Ich streckte und reckte mich, während die beiden Schnittwunden an meinem Rücken heilten und verschwanden. Mein Gastgeber war so nett gewesen, mir zum Abendbrot seine Halsschlagader zur Verfügung zu stellen. Ich war somit recht satt und strotzte nur so vor Kraft. Den Ninja in meinem Zimmer brachte die Kombination aus unverhülltem Körper und dessen Schnellheilungsfähigkeit gänzlich aus dem Konzept. Er stand nur da und gaffte mich ungläubig an.
»So, und jetzt wollen wir dich erst einmal entwaffnen.«
Genaugenommen wollte ich meinen Ninja ein wenig entkleiden, da ich wissen wollte, wer und was sich hinter dem schwarzen Kampfanzug verbarg. In erster Linie waren es Waffen, Unmengen von Waffen. Es war unglaublich, wo der Kerl überall Tötungswerkzeuge versteckt hielt. Ihn zu entkleiden war wie ein mit mehreren Schichten Papier eingewickeltes Geschenk auszupacken: Messer, Dolche, Wurfsterne, Giftnadeln, Draht zum erdrosseln purzelten zu Boden. Mit der Menge hätte man bequem eine halbe Armee ausstatten können. Doch am Ende stand ein attraktiver junger Mann vor mir, der arge Mühe hatte, eine Erektion zu verbergen. Vielleicht hätte ich ihn nicht gar so intensiv nach versteckten Waffen abtasten sollen? Aber auf der anderen Seite, wo wäre sonst der Spaß geblieben?
Da stand er also nackt, entwaffnet und mit halb steifem Schwanz vor mir. Die meisten anderen japanischen Männer wären in Anbetracht dieses unglaublichen Gesichtsverlusts vor Scham im Boden versunken oder hätten gleich damit begonnen, ihr Tanto, das Messer für den rituellen Selbstmord des Seppuku, zu suchen. Nicht so Takumi. Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, mit seinem Auftrag gescheitert zu sein, stand er aufrecht, selbstbewusst und fast schon fordernd vor mir.
»Ich will ehrlich zu dir sein.«, vielleicht war es gar nicht schlecht, um ein wenig Vertrauen zu werben. »Du hattest nicht die geringste Chance. Hier, nimm!«
Ich reichte meinem Gegenüber sein Katana. »Stoß zu!«, forderte ich ihn mit ernster Miene auf. Der nackte Ninja hielt sein Schwert mit beiden Händen, doch statt zuzustoßen, zögerte er und forschte stattdessen in meinem Gesicht nach einer Antwort auf mein seltsames Verhalten. Ich gab sie ihm. Ich packte seine Hände, die nach wie vor das Katana festhielten, und rammte es mir selbst in den Bauch. Als das Heft bis zum Anschlag in mir steckte, fuhr ich meine Zähne aus und lächelte den wirklich attraktiven Mann vor mir freundlich an.
»Du kannst niemanden töten, der nicht lebt. Nicht mit einem Schwert. Ich bin Constantin, Fürst des Hauses Varadin. Ich bin ein Vampir und ich lebe vom Blut der Menschen.«
Wenn mein Meuchelmörder bisher kein Wort von sich gegeben hatte, dann sollte sich dies nun ändern. Es begann damit, dass ich meinen Griff um Takumis Hand lockerte, was dieser dazu nutzte, sein Schwert aus mir zu entfernen. Ich gebe zu, dass es ein wenig ziepte, als die Klinge durch meine Eingeweide schnitt. Aber das war es mir wert, zumal die Verwundung, die für einen Menschen absolut tödlich gewesen wäre, innerhalb weniger Sekunden verheilt war.
»Und, wollt Ihr euch von mir nähren, Constantin-san?«, fragte Takumi gefasst. Ging er davon aus, dass ich plante, ihn vollständig auszusaugen?
»Das wäre keine gute Idee.«, entgegnete ich und deutete mit einem Finger auf das kleine Giftfläschchen des Ninjas, welches bei seinem Sturz auf meinem Futon gelandet war, »In meinem Mund dürften sich noch ausreichende Mengen Gift befinden, um dich in Sekunden zu töten.«
»Wollt Ihr mich denn nicht töten?«, Takumi wirkte entsetzt, »Wollt Ihr mich etwa auch noch um den Rest meiner Ehre berauben?«
»Entschuldige bitte, dass ich mit euren Sitten und Gebräuchen nicht so vertraut bin, wie ich es sein sollte, aber dich zu töten erscheint mir eine arge Verschwendung zu sein. Du bist ein junger, attraktiver Mann, dem die Welt zu Füßen liegen sollte.«
»Ich bin ein toter Mann.«, korrigierte der überaus lebendige Meuchelmörder ernst, »Ich bin nicht nur an meinem Auftrag gescheitert, sondern wurde auch noch von euch enttarnt. Ich habe Schande über meine Familie und meinen Herren gebracht. Diese Entehrung lässt sich nur auf eine Weise wiederherstellen.«
Wer hat das Recht, über die Traditionen und Rituale fremder Kulturen zu urteilen? Fakt war, dass die japanische Gesellschaft, deren Gast ich war, von komplizierten und zum Teil sehr subtilen Ritualen zusammengehalten wurde. So sehr mir die sich daraus ergebenen Konsequenzen zuwider waren, stand es mir nicht zu, sie zu ignorieren. Aber wer weiß, vielleicht ließen sie sich umgehen?
»Ich will ganz ehrlich zu dir sein. Ich hasse es, wenn Lebewesen aus nichtigen Gründen getötet werden. Vielleicht bin ich respektlos, aber ich kann nicht akzeptieren, dass Ehre mehr wert sein soll, als das Leben. Ich möchte dich etwas fragen: Willst du wirklich sterben?«
»Natürlich nicht! Ich liebe mein Leben.«
»Immerhin.«, das war ein Anfang. Es war Zeit, dem Kerlchen den Teppich unter dem Boden wegzuziehen: »Eine weitere Frage: Findest du mich attraktiv?«
Takumi reagierte so, wie ich erwartet hatte. Im gleichen Maße, wie sich sein Gesicht rot verfärbte, versteifte sich auch sein Schwanz, wie er es bereits getan hatte, als ich den Ninja nach Waffen durchsuchte und dabei vollständig entkleidete.
»Warum tut Ihr das?«, fauchte Takumi wütend, »Macht es Euch Spaß, mich zu demütigen?«
»Nein, eigentlich verfolge ich ein anderes Ziel.«
»Und das wäre?«
»Ist das nicht klar? Ich will dich zu mir auf den Futon bekommen.«
Lebensrettung durch Sex? Ein interessantes Konzept, das ich mir bei Gelegenheit patentieren lassen sollte. Im Falle von Takumi ging es darum, ihm etwas zu geben, das schwerer wog, als sein kruder Ehrenkodex, auch wenn es nur körperliche Nähe war.
Meine Anmache war plump. Trotzdem erntete ich ein zaghaftes Lächeln. Immerhin schämte sich Takumi nicht seiner Nacktheit. Ich hatte sogar den Eindruck, dass er auf seinen Körper durchaus stolz war - mit Recht. Er war nicht sonderlich groß, ich schätzte ihn auf bestenfalls einen Meter siebzig, was für einen Ninja aber alles andere als ein Nachteil war. Sein Körperbau war stämmig, allerdings nicht in Richtung dick, sondern viel mehr in kompakt muskulös. Fett war an diesem Körper nicht zu entdecken. Takumi hatte etwas von einem Baumstamm. Sein Kreuz war genauso wenig breit, wie seine Taille schmal war. Wenn er sich bewegte, dann konnte man perfekt auf seine Tätigkeit als Ninja ausgebildete Muskelpäckchen unter seiner vollkommen haarlosen Haut arbeiten sehen. Der Kerl sah wirklich knuffig aus und ich war... unausgelastet. Seit meiner Ankunft in Japan köchelte meine Libido auf Sparflamme, was einfach nur qualvoll war, gerade für einen Vampir.
»Ihr seid ziemlich direkt, Constantin-san.«, bemerkte Takumi, wobei er mich offen und provozierend musterte, »Was habt Ihr vor?«
»Mit dir schlafen, was denn sonst? Und bitte, höre auf, mich mit Euch anzusprechen. Hier ist niemand, vor dem Ihr Euer Gesicht wahren müsst. Hier sind nur wir beide - zwei Männer, die sich offensichtlich attraktiv finden, oder?«
Takumi zögerte genau fünf Sekunden, dann stand er direkt vor mir und begann, mich sinnlich zu berühren. Er machte das wirklich gut, wie mein immer steifer werdender Schwanz dokumentierte.
»Ihr Europäer seid ein interessantes Volk. Sehr direkt, man könnte fast sagen... barbarisch.«, Blicke strichen über meinen Körper, »Sehen alle so aus wie du?«
»Nein, nicht wirklich.«, ich musste mir immer wieder klar machen, dass Japan ein stark abgeschottetes Land war, das nur sehr selten von Ausländern, Gaijins, besucht wurde. Außerdem war reisen im 16. Jahrhundert ein regelrechtes Abenteuer. Ich hatte allein sechs Monate benötigt, um mich von Salzburg, wo ich mich längere Zeit aufgehalten hatte, über Konstantinopel, Bagdad, Delhi und unzählige andere Metropole nach Kyoto, der Kaiserstadt durchzuschlagen. Und warum? Um inneren Frieden und ein Ziel für mich zu finden. Ich fand beides; wofür ich meinem Gastgeber danken musste.
Katsumi Nakamura, der Herr des Hauses, erkannte meine innere Zerrissenheit und nahm mich bei sich auf. Katsumi war Zen-Buddhist und ich... Nun, ich wurde sein Schüler. Ich lernte zu meditieren, grübelte über Koans und versuchte aufzuhören, das zu suchen, was schon immer da war. Mit anderen Worten: Ich verzweifelte. Den Weg des Zen zu beschreiten, ist schwer, was sich bereits an der Begriffsdefinition erkennen lässt. Zen ist der weglose Weg, das torlose Tor und eine hervorragende Methode, sich das Gehirn zu verdrehen.
Der entscheidende Punkt aber war, dass mich Katsumi akzeptierte; nicht nur als Mann, der Männer liebte, sondern insbesondere auch als Vampir, was alles andere als selbstverständlich war. Beides waren im Europa des 16. Jahrhunderts todeswürdige Verbrechen, weswegen ich in Japan erstmals so etwas wie Frieden und Freiheit fühlte. Katsumi zeigte mir, oder besser, er ließ mich selbst erkennen, wie meine Zukunft aussehen könnte. Nicht als Ziel, denn Zen hat kein Ziel, sondern als Erkenntnis. Man ahnt schon, dass die Sache nicht ganz so einfach war und in der ersten Zeit auch eher verwirrender wurde.
Katsumi war aber nicht nur mein Lehrer, er war auch ein einflussreicher Mann. Entfernt mit der Familie des Kaisers verwandt, bekleidete er eine recht hohe Stellung in der Adelshierarchie des Landes, was unweigerlich Neider wie seinen Vetter auf den Plan brachten. Und so rückte ich in das Zentrum des Interesses, nämlich als mögliches Ziel eines Anschlags, welcher mein Leben beenden und Katsumi entehren sollte.
Womit wir wieder bei Takumi, dem Ninja wären. Sein Scheitern brachte uns beide in eine kniffelige Lage. Mich, weil ich nicht wollte, dass er starb und ihn, der meinte, keinen Ausweg zu wissen, außer sich das Leben zu nehmen. Wobei er daran gerade nicht zu denken schien. Takumi war viel mehr damit beschäftigt, mich mit seinen Augen aufzusaugen und sehr sinnlich zu berühren. Mir kam der Gedanke, dass er mich als eine Art Henkersmahlzeit betrachtete.
»Constantin-san, du bist wirklich einzigartig. Ich habe noch nie einen Mann wie dich kennengelernt.«
»Ich vermute, dass die Männer, die dich kennenlernen nicht sehr lange davon berichten können.«, zog ich Takumi auf, der nur hintersinnig lächelte.
»Du irrst.«, meinte Takumi und stieß mich auf den Futon. Noch während ich fiel, packte ich ihn an den Handgelenken und zog ihn mit mir auf die Matte. Takumi landete direkt auf mir, was bedeutete, dass unsere nackten Körper aufeinander zu liegen kamen. Danach folgte eins auf das andere. Hände gingen auf Wanderschaft, tasteten, fühlten, streichelten, berührten, massierten, liebkosten. Mein kleiner Ninja fühlte sich richtig gut an.
Und dann passierte es. Takumi küsste mich. War es Absicht oder hatte er nicht mehr daran gedacht, dass mein Mund voller Nikotin war? Die Wirkung des Gifts setzte sofort ein. Takumi lief rot an, Schweiß brach auf seiner Stirn aus, mit schmerzverzerrtem Gesicht griff er sich an die Brust, wo sein Herz seinen normalen Rhythmus verlor.
»Ich dachte, du wolltest leben?«, fragte ich überrascht.
Takumi stöhnte; viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Mit schmerzverzerrtem Gesicht starrte er mich an: »Ja, aber ich habe keine Wahl.«
»Doch, die hast du immer noch. Akzeptiere mich als deinen Meister!«
Ich hielt Takumi fest, trotz der Krämpfe, die seinen Körper erfasst hatten. Demonstrativ fuhr ich meine Zähne aus und zeigte sie meinem Ninja. Nun lag es an Takumi, zu entscheiden, was er wollte: Leben oder sterben.
»Ja! Ja! Ja! Sei mein Sensai!«
Ich biss zu, ließ Takumis Blut meine Kehle hinab rinnen, trank ihn aus, um ihn anschließend mit meiner Essenz zu fluten. Ich drang in ihn ein, mit meinen Zähnen, mit meinem Schwanz, mit meinem Wesen und verwandelte Takumi. Er klammerte sich an mich, fühlte die Liebe, die ich jedem meiner Geschöpfe entgegen brachte, und saugte sie auf, wie ich sein Blut aufgesaugt hatte. Wir hatten Sex, wilden, unersättlichen, handfesten Sex, dem schönsten und geilsten Seiteneffekt einer Erweckung, insbesondere, wenn man ihn mit einem so standfesten Mann wie Takumi zelebrieren konnte.
In dieser Nacht endete das Leben des Ninjas Takumi Watanabe und Takumi Varadin erblickte die Schönheit meiner Welt, der Welt der Dunkelheit und Schatten und wurde zu einem der treusten, pflichtbewusstesten und verlässlichsten Mitglieder meines Hauses. Und zu einem Freund. Auch wenn die Beziehung zwischen ihm und mir nie die Tiefe erreichte, die ich mit Laurentius oder Christiano pflegte, zählte er immer zu denjenigen Männern, denen ich bedingungslos meine Existenz anvertraute, die einen besonderen Platz in meinem Herzen einnahmen, die ich wirklich liebte. Was ich bedauerte war, dass ich Takumi nur sehr selten sah. Die meiste Zeit war er außerhalb des Hauses tätig. Seine Aufgabe? Ninjavampir.
Sir Simon
Ich wusste nicht, dass Takumi im Hause weilte, bis er bei Lydia aufkreuzte, die ihn bat, die Zwischendecke entlang zu kriechen und sich in den Lüftungsschacht zu zwängen, der ihn hinter die Linien der Verräter führen sollte. Die Idee war nicht schlecht. Ich war mir ziemlich sicher, wer der eigentliche Verräter war. Was ich nicht wusste, war, wie und wen er als Anhänger für sich gewinnen konnte. Eines fiel mir allerdings auf: Weder der Verräter noch seine Mannen wussten, wie man kämpfte. Sie dachten zweidimensional und deckten mit ihrem Sperrfeuer nur den Bereich vor ihren Barrikaden ab. Dass jemand, wie zum Beispiel Lady Lydia, auf die Idee käme, ihre Linie einfach zu umgehen, sich an ihnen vorbei zu schleichen, schien ihnen nicht in den Sinn zu kommen.
Was mich ein wenig beunruhigte war, dass sich Lydias und meine Intention, wie mit den mutmaßlichen Verrätern zu verfahren sei, in einem entscheidenden Punkt unterscheiden könnte. Während mich geradezu brennend interessierte, warum sie mich verrieten, vermutete ich, dass Lydia eher die Beseitigung der Bedrohung als primäres Ziel anstrebte. Es gab keine andere Möglichkeit, ich konnte nicht mehr passiv hinter dem Monitor hocken und zusehen, ich musste mich persönlich um die Angelegenheit kümmern.
»Kannst du die Kontrollen übernehmen?«, fragte ich Simon und deutete auf das Bedienpult. Der invalide Vampir nickte und ließ sich von mir auf einen Hocker setzen. Für Simon etwas überraschend, rammte ich ihm meine Zähne in den Hals, obwohl er diese Geste inniger vampirischer Zweisamkeit und Beweis von Zuneigung natürlich zu schätzen wusste. Allerdings war die Geste nicht völlig selbstlos, sondern von einem Hintergedanken motiviert: »Erinnerst du dich daran, wie du Laurentius Urne nach dessen Verbrennung bewacht hast?«
»Wie könnte ich das vergessen? Damit begann ja der ganze Schlamassel.«, knurrte Simon, nicht wirklich ernsthaft frustriert. Seine Bemerkung besaß gleichwohl einen wahren Kern. Laurentius Bestrafung war indirekt tatsächlich der Startpunkt für Simons Eintritt in die Geschichte.
»Ich sagte dir damals, dass du einfach an mich denken sollst, sollte dir irgendetwas in der Gruft seltsam oder nicht koscher vorkommen. Mit dem Biss eben habe ich die geistige Verbindung zwischen uns beiden vorübergehend verstärkt. Ich möchte dich um folgendes bitten: Verfolge mich mit den Kameras, leite mich durchs Haus und warne mich vor eventuellen Fallen oder Hindernissen. Ich bin zwar davon überzeugt, dass hinter allem nur eine Person steckt, trotzdem könnte ein Irrtum tödlich enden.«
»Danke, Chef!«
»Danke wofür?«
»Dass du mir vertraust!«
Sah ich da feuchte Äuglein blinzeln? Mir kam eine Idee. Eigentlich war es mehr eine Geste, etwas, dass ich schon wesentlich früher hätte machen sollen. Zu Simons Überraschung nahm ich wieder meine vampirische Urform an. Ganz Raubtier nahm ich einen ängstlichen Simon in meine klauenbewehrten Arme und drückte in fest an mich, was gleichzeitig gewalttätig als auch zärtlich und sinnlich war.
»Ich vertraue dir bedingungslos, Sir Simon, Ritter des Hauses Varadin.«, ein Grinsen umspielte mein Gesicht, was bei meiner momentanen Form für außenstehende Panik auslösend gewirkt haben dürfte, »Vielleicht ist es nicht der richtige Moment, um Titel zu verleihen. Außerdem könnte kein Titel auch nur annähernd ausdrücken, was ich für dich empfinde, wie wichtig du für mich bist. Du bist Familie. Simon, ist dir eigentlich klar, was ich dir zu verdanken habe? Du wurdest wegen mir eingeäschert. Vorhin hat dir die Sonne einen Fuß abgekokelt. Was machst du? Maulst du rum? Jammerst du? Beklagst du dich? Nein! Ganz im Gegenteil. Ich habe selten einen so zähen und treuen Kerl wie dich erlebt. Wenn je jemand den Titel Ritter des Hauses Varadin verdient hat, dann du. Deswegen, bei meinem Blut, schlage ich dich hiermit zum Ritter, Sir Simon!«
Muss erwähnt werden, dass mich zwei wirklich verdatterte, feuchte, aber auch mächtig stolz funkelnde Augen anschauten? Ein paar Sekunden schlich sich ein verschmitztes Lächeln auf Simons Lippen.
»Dein Timing ist wirklich einzigartig. Ein Teil unserer Leute liegt als Aschehaufen herum oder wurde in die Unterkünfte eingeschlossen, eine andere Gruppe hat sich allem Anschein nach von uns abgewendet, du bist ziemlich angeknuspert, während mir ein Fuß fehlt und das andere Bein gebrochen ist. Aber alles, was dir dazu einfällt, ist mich zum Ritter zu schlagen. Wahnsinn!«
»Wahnsinn? Simon, ich könnte mir keinen besseren Moment vorstellen.«, entgegnete ich gut gelaunt, »Und jetzt sei bitte so nett und öffne mir die Tür zur Gruft.«
»Ich habe doch gar nicht... Oh! Ähm, ja, sofort.«
So eine mentale Verbindung ist eine wirklich praktische Angelegenheit, konnte ich doch »Sir Simon, dem Ritter vom fehlenden Fuß,« die Kennworte und Befehlscodes der Panikraumgruft wesentlich direkter mitteilen. Ein paar Momente später lief ich durch die Gänge meines Hauses, sicher geleitet von Simon, der für mich vorher jeden Gang und jede Kreuzung mit den Kameras abcheckte. Wo ich auch hinkam, die Hauptwege waren allesamt verwaist. Erst als mich mein Weg an einem Aufenthaltsraum vorbei führte, der über eine lange Fensterfront zum Gang verfügte, begegnete ich den ersten Mitgliedern meines Hauses.
»Constantin, du lebst?«, schallte es mir durch die Scheibe gedämpft entgegen, »Es hieß, du wärst verunglückt und verbrannt.«
»Die Gerüchte über meinen Tod sind arg übertrieben.«, konnte ich mich nicht beherrschen zu scherzen, »Ihr seid eingeschlossen, oder?«
»Ja, verdammt!«, fluchte der Sprecher der Gruppe, den ich als Henry identifizierte, einem etwa hundertzwanzig Jahren alten Vampir, der seinerzeit von Laurentius erweckt wurde, »Die Türen sind verriegelt und die Scheiben aus Panzerglas. Beide lassen sich weder öffnen noch einschlagen.«
»Jemand hat das Sicherheitssystem gehackt und verwendet es gegen uns. Ich kläre das. Bitte bleibt hier, bis wir die Lage bereinigt haben. Ihr mögt zwar nicht raus kommen, aber umgekehrt kann auch niemand zu euch rein.«
»Aye, Chef!«, meinte Henry und gab damit die Meinung aller im Raum wieder, das heißt, wenn ich deren zustimmendes Nicken richtig interpretierte.
»Es tut mir Leid, dass ich nicht für euch da war.«, gestand ich in einem Anfall von Schuldgefühlen, »Ich hätte das Haus nicht verlassen sollen.«
Statt zu nicken schüttelten meine Vampire einheitlich die Köpfe. Wieder war es Henry, der ihre Gedanken in Worte fasste: »Du musst dich bei uns nicht entschuldigen! Constantin, hier ist niemand, der dir einen Vorwurf macht. Wenn unser Stammvater in privater Mission ohne Bodyguard und aufgebrezelt wie ein Zirkuspferd das Haus verlässt, braucht man kein Hellseher sein, um zu wissen, was abgeht. Was uns viel mehr interessiert: Ist er süß?«
»Äh, ihr wisst... Woher?«
»Glaubst du wirklich, du und Simon hättet uns mit eurer Show täuschen können? Uns weißmachen zu wollen, der kleine Blutsauger wäre dein Betthase, war wirklich absurd. Bitte, Chef, wir kennen dich, wir kennen Simon und wir wissen, wie viel Christiano Simon bedeutet. Christiano magst du zwar verbannt haben, woran aber nicht nur ich arge Zweifel hege, ob dazu wirklich das letzte Wort gesprochen wurde, aber Simon wird Christiano niemals gegen dich eingetauscht haben.«
»Touché!«, ich gab mich geschlagen, »Und ja, er ist wirklich süß. Aber das muss warten. Wenn es morgen noch ein Haus für Vampire wie uns geben soll, muss ich jetzt weiter.«
»Klar musst du das.«, rief Henry, »Und wenn du den Arsch von einem Verräter erwischt hast, fass ihn bitte nicht mit Samthandschuhen an!«
Womit ich losstiefelte. Geleitet von einem zusätzlichen Augenpaar namens Simon lief ich durch die Gänge der untersten Ebene und kam bis zu den Feuerschotttoren der Treppenhäuser, die die einzelnen Stockwerke miteinander verbanden. Sie waren nicht nur ge- sondern auch verschlossen. Zum Glück war ich kein einfacher Feld-, Wald- und Wiesenvampir, sondern ein gebürtiger Blutsauger der Extraklasse. Wer mich aufhalten wollte, musste schon etwas früher aufstehen. Ein paar Tricks hatte ich schon noch auf Lager, zum Beispiel die absurde Fähigkeit, mich in einen dunklen Dunst, eine schwarze Nebelschwade verwandeln zu können. Auf diese Weise hatte ich unter anderem Christiano seinerzeit in Portugal aus seiner Kerkerzelle geholt. Die Sache hatte nur einen Nachteil. Eine derartige Verwandlung zehrte heftig von den eigenen Kraftreserven, weswegen sich diese Form nie lange halten ließ. Man sollte schon richtig fit sein und sich vorher ausreichend gestärkt haben. Also genau das, was ich nicht war. Ich fühlte mich weder fit, noch stark. Ganz im Gegenteil war mein Körper angekokelt und hungrig. Aber trotzdem, für eine kurze Strecke durch die Luftkanäle sollte es reichen - musste es reichen.
Ruf doch bitte mal die Baupläne des Gebäudes auf und such mir einen Weg durch die Luftkanäle, der mich zwei Stockwerke höher bringt, sandte ich Simon eine mentale Bitte. Der Weg muss wirklich kurz sein. Ich glaube nicht, dass ich meine Rauchform länger als eine Minute halten kann, eher kürzer.
Simon ließ sich nicht lange bitten und wartete ein paar Minuten später mit einem möglichen Pfad auf, der mich prinzipiell exakt dorthin bringen sollte, wo ich hin wollte. Die Angelegenheit hatte nur einen kleinen Schönheitsfehler: Die Windgeschwindigkeit im Luftkanal. Der Lüftungsschacht saugte Luft über den Feuerschotttoren ab. An meinem Ausgangsort stellte dies kein Problem dar, ich konnte mich einfach einsaugen lassen, in Richtung Ziel musste ich hingegen gegen den Strom schwimmen. Es war schon kniffelig genug, als Rauchschwade seinen Körper halbwegs beisammenzuhalten, gegen die Strömung einer ganzen Lüftungsanlage zu schweben, dürfte eine Erfahrung für sich sein. Aber was blieb mir anderes übrig? Einen anderen Weg gab es nicht und darauf zu warten, bis wir das Sicherheitssystem wieder unter unsere Kontrolle gebracht hatten, war völlig unrealistisch.
Vielleicht kann ich die Klimaanlage dazu bringen, ein paar Sekunden weniger Luft zu fördern. Ließ sich Simon vernehmen und fügte hinzu, dass ich einen Moment warten sollte. Ich hatte mich schon auf eine längere Wartezeit eingestellt, als der junge Vampir mir signalisierte, die Klimaanlage drosseln zu können. Du wirst aber nur wenige Sekunden Zeit haben, höchstens 30 Sekunden, bevor die Lüftung wieder mit voller Leistung arbeitet. Ich habe mich in die Haussteuerung gehackt. Irgendjemand hat da ganz schön rumgefummelt. Es wird eine ganze Weile brauchen, das System wieder in Ordnung zu bringen.
War Simon etwa auch noch ein Computergenie?
Nachdem ich mich verwandelt habe, warte mit dem Drosseln der Anlage, bis ich den Abzweig erreicht habe. So kann ich die Saugwirkung nutzen und Kraft sparen.
Ich hasse es, mich in Rauch zu verwandeln. Es fühlt sich merkwürdig an, als ob man zerfließt, und erforderte höchste Konzentration, um nicht genau das zu tun, wonach es sich anfühlte – nämlich zu zerfließen. Die Sache hatte noch einen zweiten, wenn auch eher nebensächlichen Haken - meine Kleidung ließ sich nicht mitnehmen.
Also los!
Ich begann. Die Textilien, die nach der Verwandlung in meine vampirische Urform eh schon zerrissen waren und nur noch in Fetzen vom Körper hingen, sackten in sich zusammen, kaum dass ich mich in dunklen Dunst verwandelt hatte und ihnen entschlüpft war. Ich schwebte zur Decke, an dem sich unmittelbar vor der verschlossenen Treppenhaustür ein Lüftungsgitter befand. Bereits ein paar Zentimeter davor erfasste mich der Sog der Klimaanlage, der mich in das dahinter liegende Lüftungsrohr saugte. Durch Lüftungsgitter gesaugt werden war gewöhnungsbedürftig. Immerhin wusste ich jetzt, wie sich ein Ei im Eierschneider fühlte.
Es mag überraschend klingen, doch als Rauchschwade verfügt man tatsächlich über so etwas wie Sinne. Ich konnte fühlen. Der Dunst nahm Druckwellen der Luft auf und erlaubte mir so, zu hören. In gewissen Grenzen konnte ich sogar sehen, wenn auch auf eine völlig andere Art als sonst. Letzteres nutzte mir allerdings rein gar nichts, da es im Luftkanal größtenteils zappenduster war, von gelegentlichen Lufteinlässen einmal abgesehen. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich anhand meines Tastsinns zu orientieren und meine Eindrücke, mental an Simon weiterzusenden, der daraus hoffentlich meine Position ableiten konnte. Der sandte mir tatsächlich Anweisungen zurück, die mir sagten, in welche Richtung ich mich wenden sollte.
Der Anfang verlief weitaus schneller als gedacht. Keine zehn Sekunden nach dem Start hatte ich bereits die Kreuzung erreicht, an der mein Luftkanal in den Hauptkanal mündete. Ab hier musste ich gegen die Luftströmung ankämpfen. Simon bemerkte meine Lage, handelte schnell und schaffte es tatsächlich, den Luftstrom zu drosseln. Ich jagte los. Trotz der verminderten Windgeschwindigkeit musste ich mich massiv anstrengen, um überhaupt etwas voranzukommen. Der Zug im Kanal zerrte an meiner formlosen Gestalt. Es war unheimlich schwer, meine Dunstmasse zusammenzuhalten.
Weiter! tönte Simon in meinem Kopf. Du hast es gleich geschafft! Kam eine Anfeuerung. Jetzt links... geradeaus... weiter... Nicht schlappmachen! Es sind nur noch fünfzehn Meter.
Meine Kräfte schwanden. Kann man als schwarzer Dunst Schmerzen empfinden? Oh ja, und wie. Es war, als zog mich etwas bis zum zerreißen auseinander. Je weniger ich es schaffte, meine Masse zusammenzuhalten, desto brennender wurde der Schmerz. Ich konnte nicht mehr. Mit letzter Kraft ballte ich mich zu einer dichten Masse zusammen und drückte mich in eine strömungsarme Nische. Es hatte alles keinen Sinn. Auf diese Weise konnte ich das andere Stockwerk niemals erreichen.
Du wirst verdammt nochmal nicht aufhören!, brüllte mir Simon in den Kopf, Constantin, hör mir zu. Für wen kämpfst du? An wen denkst du, wenn du dich schwach fühlst? Wen willst du in deinen Armen halten?
Florian! Ein Energiestoß durchfuhr meinen Nichtkörper und katapultierte mich voran. Simon sagte nichts mehr, sondern sandte mir nur Gefühle der Zuversicht und Hoffnung. Ich weiß nicht wie, aber ein paar Sekunden später tropfte meine Rauchmasse aus einem Lüftungsgitter. Noch bevor der Dunst den Boden berührte, zog ich ihn zusammen und verwandelte mich zurück in meine menschliche Form.
»Umpf!«, mein Körper platschte unkoordiniert zu Boden, »Oh, Scheiße!«
Zu behaupten, ich hätte mich wie ausgekotzt gefühlt, traf es nicht wirklich. Es brauchte eine ganze Weile, bis ich mich halbwegs berappelt hatte. Der Ausflug durch die Lüftungsschächte hatte heftig geschlaucht, allerdings weitaus mehr, als erwartet. In jenem Moment hätte ich für eine jungfräuliche Halsschlagader morden können. Der Hunger, das Verlangen nach frischem, körperwarmem Blut ist ein überwältigendes Gefühl, eines, dessen sich kein Vampir ohne eiserne Selbstkontrolle widersetzten konnte und das ich in jenem Moment überhaupt nicht gebrauchen konnte.
Den Gang entlang, dann rechts, wieder links und du stehst vor Lydia - splitterfasernackt. Die Zoomfunktion der Kameras ist wirklich cool. Chef, du siehst einfach megageil geil aus, zum anbeißen., vernahm ich Simons Stimme in meinem Kopf. Dieser frech, lüsterne kleine Blutsauger. Allerdings hatte er recht, ich musste los. Also riss ich mich am Riemen, sprang auf die wackeligen Beine und eilte los. Dreißig Sekunden später stand ich vor Lydia, die vor Schreck ein PDA fallen ließ, das sie gerade in ihren Händen hielt.
»Constantin?«
Tiefgarage
Florian
»Andreas also...«
Christiano hockte nach vorne gebeugt in einem Sessel und rollte eine halb leere Bierflasche in seinen Handflächen hin und her. Wir hatten es uns bequem gemacht. Während ich mich auf das Sofa gefläzt hatte, hockte Christiano grübelnd im Freischwingersessel, wobei ihm die Flasche als Denkhilfe diente. Eine ganze Weile saß er da, die Arme aufgestützt, die Flasche zwischen den Handflächen und überlegte. Ich ließ ihn, wusste ich selbst nicht, was ich mit der neuen Informationslage anfangen sollte.
»Ich weiß, das ist kein angenehmes Thema für dich, aber wenn du dich für jemanden entscheiden solltest, würdest du sagen, dass dein Mobbing von Andreas ausging?«
»Nein, überhaupt nicht. Andreas war ein Arschloch, einer der Obermobber, er schubste mich rum und wurde auch schon mal handgreiflich, war aber nie die treibende Kraft. Ich glaube, dass er mich aufrichtig verabscheut, vielleicht sogar hasst, aber solange ich nicht konkret seinen Weg kreuzte, ließ er mich zufrieden. Da gab es ganz andere, wie Momsen, der wenn ihm danach war notfalls nach mir suchte, um mich dann vor versammelter Mannschaft fertigzumachen.«
»Das habe ich vermutet.«, Christiano nickte und nahm einen Schluck Bier, bevor er fortfuhr, »Es ändert aber nichts daran, dass Andreas eine Gefahr darstellt. Was da vorhin im X abging, hat mich stutzig gemacht. Ich halte den Kerl für eine tickende Zeitbombe, die kurz davor ist, zu explodieren. Er scheint mir voller aufgestauter Wut und Hass zu sein, die nur einen Anlass suchen, sich zu entladen. Wenn das passiert... Ich will nichts überdramatisieren, aber ich halte Andreas für einen potenziellen Amokläufer.«
»Shit!«, mir fiel plötzlich etwas ein, das der an sich so stille Hans erwähnt hatte.
»Was?«
»Mario soll ein Waffennarr sein. Es soll Knarren, Wurfsterne, Schwerter und solch Zeug sammeln. Er und Andreas sind befreundet. Was wenn...«, ich ließ das Ende des Satzes offen. Christiano wusste auch so, was ich meinte. Mir kam ein ganz anderer Gedanke in den Sinn.
»Sie werden sich mich bei nächster Gelegenheit vorknüpfen, oder? Ich bin das Ziel. Mario weiß, dass ich mich wieder an die Vergewaltigung erinnern kann, was ihm Angst machen dürfte; ihm und den anderen. Sie glauben, dass sie ein Problem haben. Wäre ich ein Mensch, könnte ich sie anzeigen und sie dadurch vielleicht im Knast landen, je nachdem, ob jemand von den Gaffern bei Niederreuter den Mut aufbringt, auszusagen. Oder einer von den Spezialisten verplappert sich, sollten sie, was wahrscheinlich ist, von der Polizei verhört werden. In ihrer Situation würde ich nicht mehr ruhig schlafen. Sie wissen, dass sie Scheiße gebaut haben und Typen, wie Mario traue ich zu, darüber nachzudenken, das Problem final zu lösen.«
»Indem sie dich aus dem Weg räumen.«
»Indem sie mich aus dem Weg räumen, genau.«
»Na, dann wünsche ich ihnen viel Spaß dabei.«, Christiano grunzte verächtlich, »Du weißt, was unser Kodex dazu sagt?«
»Ähm, nein, ich weiß ja noch nicht einmal, was unser Kodex ist.«
»Unser Gesetzbuch. Viele Gesetze leiten sich von einer einfachen, aber umso wichtigeren Regel ab: Hüte unsere Identität um jeden Preis. Die Menschen dürfen nicht erfahren, dass Vampire unter ihnen leben. Sie würden uns jagen, wir würden sie jagen. Es käme unweigerlich zum Krieg, den niemand gewinnen kann. Deswegen: Hüte unsere Identität. Wenn du einen Menschen beißt, von ihm trinkst, dann lösche seine Erinnerung und trinke nur so viel, dass der Blutverlust unbemerkt bleibt. Sollte dich allerdings ein Mensch angreifen, hast du das Recht, dich zu verteidigen; mit allen Mitteln, deinen Zähnen eingeschlossen. Allerdings heißt das nicht, dass du es auch solltest.«
»Bevor ich Mario beiße, friert eher noch die Hölle ein.«, meine Lust, mich mit den Typen auseinanderzusetzen, hielt sich in engen Grenzen, in sehr engen Grenzen. Andererseits hatte ich bei der Sache wohl kein großes Mitspracherecht. »Also gut, was schlägst du vor? Was soll ich tun, wenn die lieben Kollegen sich entscheiden, das Problem Florian aus dem Weg zu schaffen?«
Die Flaschenrollbewegung wurde gestoppt und aus dem Rollobjekt erneut ein Schluck getrunken. »Vorschlagen?« Christiano zeigte seine Ratlosigkeit durch demonstratives Schulterzucken, »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich dir raten könnte. Vielleicht eins: bleib entspannt. Da wir es mutmaßlich nicht mit Vampirjägern zu tun haben, dürfte das Risiko, ernsthaft zu Schaden zu kommen, sehr, sehr überschaubar sein.«
»Ähm, das wollte ich sowieso mal fragen: Was bringt einen Vampir eigentlich um? Wenn ich Simon richtig verstanden habe, ist Sonnenlicht nicht tödlich, nur unangenehm.«
»Unangenehm?«, kreischte Christiano hysterisch auf, »Wer hat dir denn den Schwachsinn erzählt? Okay, Gegenfrage: Hast du dir schon mal die Finger verbrannt?«
»Ja, natürlich.«
»Und, war es unangenehm?«
»Es hat höllisch wehgetan... Oh!«
»Genau, es tut höllisch weh. Nun stell dir vor, du würdest dir nicht nur die Finger verbrennen, sondern dein ganzer Körper stände in Flammen. Glaub mir, du willst es nicht erleben. Von der Sonne in Asche verwandelt zu werden ist absolut widerlich. Das eigentlich Schlimme daran ist gar nicht mal der Moment, in dem es passiert, sondern die Erinnerung daran. Ich habe es erlebt und ich kann mich noch viel zu gut an den Schmerz erinnern, als dass ich diese Erfahrung wiederholen möchte.« Christiano nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche, »Aber du hast recht, die Sonne bringt uns nicht um. Also gut, die Eine-Million-Euro-Frage: Wie tötet man einen Vampir?«
Das Wichtigste zuerst: Wir Biester sind zäh. Ich hätte nicht gedacht, wie widerstandsfähig mein neuer Körper war. Normale Schusswaffen verpufften größtenteils. Es bedurfte schon deutlich größerer Kaliber, um einem Vampir ernsthaften Schaden zuzufügen. Im Prinzip musste man unsere Körper regelrecht zu Püree verarbeiten, etwa durch ein nettes Päckchen C4, um uns den Garaus zu machen. Logisch oder wissenschaftlich erklären konnte man die hämophagische Physis sowieso nicht. Einerseits konnte man einen verbrannten Vampir vollständig wiedererwecken, einen Blutsauger, der aber das Pech hatte, auf eine Mine zu treten hingegen nicht. Mehr oder weniger stand und fiel alles mit unserem Blut und dessen Verlust. Es gab eine Grenze, ab der unser Körper zu schwach war, sich selbst zu regenerieren. Wenn diese überschritten war, half nur noch frisches Blut oder das Spiel war aus.
Die andere Methode, einen Untoten in einen wirklich Toten zu verwandeln, war Gift. Wenn Vampire gegen Vampire kämpften, wurde es ernst. Auch hier spielten unsere Zähne eine entscheidende Rolle. Im ungünstigsten Fall reichte ein Biss eines anderen Vampirs, um unsereins zu töten. In der Beziehung waren wir wie Giftschlangen. Wenn wir wollten, konnten wir unserem Speichelsekret sehr wirkungsvolle Gifte beimengen, deren Effekt von Schmerz über Lähmungen bis hin zum Tod reichte. Zum Glück kamen Kämpfe zwischen den Clans und Häusern nur sehr selten vor. Das letzte Mal, dass ein Vampir offen von einem anderen getötet wurde, lag mehr als achtzig Jahre zurück. Obwohl, eigentlich auch wieder nicht, schließlich hatte Constantin Vladimir umgebracht, wenn auch unter besonderen Umständen.
»Wenn Mitglieder eines Hauses töten, dann heimlich und diskret, da andernfalls eine Blutfehde entstehen würde. Das letzte, was wir wollen, ist ein Krieg zwischen den Häusern. Die wirkliche Gefahr für unsere Existenz droht von ganz anderer Seite: von Vampirjägern. Das sind straff durchorganisierte, international vernetzte und hervorragend ausgerüstete, geheime Bruderschaften, die sich den Tod aller Vampire auf die Fahne geschrieben haben. Seit einigen Jahren verfügen sie über Waffen, die Vampirgift verwenden. Wie sie an diese Substanzen kamen, ob sie echt oder synthetisiert wurden, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass es sich um brandgefährliche, fanatische Leute handelt, die keine Ruhe geben, bevor sie nicht jeden von uns beseitigt haben. Solltest du einem begegnen, dann denke nicht einmal daran, ihm oder ihr entgegen zu treten. Flieh! Flieh so schnell du kannst.«
»Also soll ich darauf hoffen, dass Mario oder Andreas keine Vampirjäger sind.«, fasste ich Christianos Ausführungen zusammen.
»Wenn sie es wären, wüssten wir es, denn dann wären entweder sie oder wir bereits tot. Vampirjäger zögern nicht, sondern handeln und ihre Arbeit macht ihnen Spaß. Es sind Fundamentalisten, die von ihrem Handeln hundertprozentig überzeugt sind.«
»So langsam beschleicht mich das Gefühl, das Kleingedruckte nicht richtig gelesen zu haben. Gibt es noch etwas, das ich wissen sollte?«
»Oh, massenweise.«, Christianos Lippen umspielte ein feines, hinterhältiges Grinsen, »Aber nichts, was nicht warten könnte. Bis auf eins: Mach dir nicht zu viele Gedanken. Denk immer an eins. Du bist nicht mehr allein. Du bist nicht mehr der kleine Florian, den jeder mobben kann. Du bist jetzt ein Varadin. Hinter dir stehen die ganze Macht und der gesamte Einfluss eines angesehenen Hauses. Wenn dich jemand angreift, nimmt er es mit uns allen auf, aber insbesondere mit mir. Und jetzt lass uns noch etwas schlafen. Morgen früh ist dein erster Arbeitstag als Vampir bei Sonnenlicht.«
Ich war noch nie ein Morgenmuffel. Morgens um sieben bei Niederreuter auf der Matte stehen zu müssen, hatte mich nie gestört, auch wenn ich dafür um halb sechs aufstehen musste. Doch an diesem Morgen kam ich überhaupt nicht in Gang, obwohl wir sogar erst um acht in der Firma sein mussten. Es begann damit, dass ich mehr schlecht als recht einschlafen konnte. Ich war einfach viel zu aufgewühlt, um abschalten zu können. Meine Verwandlung, meine Liebe zu Constantin, die Unwissenheit, was aus mir als ein Varadin werden sollte, die Begegnung mit Andreas, all das ließ mir keine Ruhe. Da half auch nicht, in Christianos schützenden Armen zu liegen. Als der Schlaf dann doch endlich kam, wirkte er weder erholend, noch beruhigend oder erfrischend. Umso müder war ich, als gegen sechs der Wecker fiepte.
»Guten Morgen, Schlafmütze.«, begrüßte mich ein auch nicht viel munterer portugiesischer Blutsauger, der ähnlich verpennt aus der Wäsche schaute, »Oh, wie ich es hasse, tagsüber nicht schlafen zu können.«
Es folgte das übliche, morgendliche Ritual der Körperreinigung, die wir allerdings zusammen ausführten, was uns nicht nur ein wenig Spaß bereitete, sondern auch aufmunterte. Frisch geduscht begannen wir uns mit reichlich UV-Blocker einzucremen. Im Gegensatz zur bisherigen Paste, die mir seinerzeit der Arzt im Krankenhaus verschrieben hatte, besaß die Variante, die mir Christiano reichte, einen mehr als hundertfach höheren Schutzfaktor. Als ich die viskose Creme sah, mit der ich mich einkleistern sollte, befürchtete ich schon, von nun an mit einer dicken Fettschicht auf Haut herumlaufen zu müssen, doch ich täuschte mich. Die Salbe ließ sich nicht nur leicht verteilen, sie wurde auch vollständig von der Haut aufgesogen.
»Und die wirkt?«, fragte ich ein wenig skeptisch, obwohl ich wusste, dass dies eine blöde Frage war. Christiano war der beste Beweis dafür.
»Komm mal her. Ich habe hier neue Kontaktlinsen für dich.«, ging mein Freund und Bruder nicht auf meine alberne Frage ein. Stattdessen setzte er mir zwei glibberige Haftschalen ein, die meinen gesamten Augapfel bedeckten, »Was du jetzt in den Augen trägst, sind gleichzeitig extrem widerstandsfähige, ultradünne und hochgradig UV absorbierende Linsen. Du solltest sie eigentlich kaum spüren.«
Er hatte recht. Die Linsen waren wirklich dermaßen dünn und flexibel, dass ich sie so gut wie nicht spürte.
»Eins noch.«, meinte Christiano, nachdem er sich selbst ein paar Haftschalen eingesetzt hatte, »Es gibt eine Körperregion, die sich nicht schützen lässt und auf die du selbst achtgeben musst.«
Ich überlegte, welche ominöse Körperregion dies sein könnte. Obwohl später mit Kleidung bedeckt, hatten wir den gesamten Körper eingekleistert, selbst meinen Schwanz und Sack. Sogar den Bereich, bei dem auch bei Nichtvampiren die Sonne nie hinschien, wurde mit Salbe versorgt. So sehr ich grübelte, ich kam nicht drauf.
»Dein Mund.«, löste Christiano das Rätsel, »Du solltest deinen Mund nicht öffnen, wenn er der Sonne zugewandt ist. Glaub mir, eine verkohlte Zunge ist nicht lustig und der Sprachverständlichkeit ausgesprochen abträglich.«
Das klang plausibel, weswegen wir das Thema damit abschlossen und uns dem Kleiderschrank zuwandten. Es stand uns ein stinknormaler Arbeitstag bevor und entsprechend stinknormal kleideten wir uns. Hemd, darunter ein T-Shirt, schwarze Jeans und Socken, fertig war ein unauffälliges, neutrales Outfit.
»Und jetzt?«
»Ein Frühstück für die Seele.«
Für die Seele hieß, dass es keinen Nährwert besaß. Es gab Kaffee, Toast, Käse und Marmelade. Sogar ein Glas Orangensaft landete auf dem Frühstückstisch. Es schmeckte zwar richtig gut, machte aber einfach nicht satt. Ich wollte Blut und fragte, warum wir keine Beutel aus dem Kühlschrank bekamen. Statt sofort zu antworten, schaute mein Kollege zur Küchenuhr und nickte zufrieden.
»Warum zu Konserven greifen, wenn das Echte so nah liegt?«
Was Christiano damit auch immer meinen mochte, es ließ vermuten, dass es frischen Saft zu schlürfen gab.
»Du erinnerst dich an Martin?«, fragte mein Vampirbruder nebenbei, während er sich gerade erheben wollte, um unseren Frühstückstisch abzuräumen.
»Bleib sitzen! Ich räume ab.«, stoppte ich meinen Freund, »Es ist zwar nett, dass du immer den perfekten Gastgeber gibst, aber mir ist das unangenehm. Ich kann hier nicht die ganze Zeit rumsitzen und dich die Arbeit machen lassen.«
Überrumpelt von meinem überraschenden Ausbruch blieb Christiano sitzen und überließ mir das Abräumen. Das gab mir Zeit darüber nachzudenken, wer eigentlich Martin war.
»Martin... Isst du das noch auf? Nicht?«, wer war Martin, »Ah, ich weiß wieder. War das nicht der Typ, den du unten in der Garage gebissen hast?«
Ich erinnerte mich wieder. Martin war ein Investmentbanker, den Christiano regelmäßig auszuzelte. Er war uns in der Tiefgarage begegnet, wo er die Fahrzeugsammlung in der abgeteilten Privatgarage bewunderte. Christiano schaltete sofort seinen Lockruf ein, verführte Martin, was sich darin äußerte, dass der Mensch von einem Orgasmus und der Vampir mit einem kräftigen Schluck Blut beglückt wurden. Mir dämmerte, was Christiano plante.
»Du meinst die Büroarbeiter, die bald an ihre Arbeitsplätze strömen? Du willst, dass wir unser Frühstück in der Tiefgarage fortsetzen?«
»Sagen wir mal so: Du wirst unter der Sonne stehen und deswegen alle Kraft brauchen, die du bekommen kannst. Außerdem ist es eine gute Gelegenheit, deine Jagdfertigkeiten zu trainieren.«
Vielleicht war dies die gewöhnungsbedürftigste Veränderung in meinem Leben: Sich daran gewöhnen zu müssen, von nun an ein Raubtier zu sein und Menschen als legitime Nahrungsquellen zu betrachten. Am meisten irritierte mich, dass mir dabei jegliche Skrupel abgingen. Die beiden Jungs im X zu beißen, hatte nicht einmal ansatzweise Gewissensbisse bei mir hinterlassen. Was Christiano nun allerdings als Frühstücksimbiss plante, unterschied sich in essenziellen Punkten von unserem Besuch in der Lederbar. Anders als die Besucher des X hatten die ins Bürohochhaus der Farinvest strömenden Menschen keine sexuellen Abenteuer im Sinn, sondern gingen nur zur Arbeit. Es war eben doch ein himmelweiter Unterschied, auf der einen Seite im Darkroom per se experimentierfreudigen Männern während des Sex etwas Blut abzusaugen und andererseits arglose Anzugsträger auf dem Weg zum Schreibtisch irgendwie zur Blutspende zu bewegen. Ich hatte nicht die geringste Idee, wie ich letzteres bewerkstelligen sollte und äußerte dementsprechend meine Bedenken.
»Bekommen wir es heraus.«, meinte Christiano, griff nach Jacke, Haustür- und Fahrzeugschlüsseln und deutete zum Fahrstuhl, »Nach dir!«
Mit jedem Meter, dem sich der Lift der Garage näherte, wurde ich nervöser, aber vor allem unsicherer. Wie bringt man einen fremden Mann dazu, sich von mir beißen zu lassen? Ich muss gestehen, dass mich der Gedanke, eine Frau zu beißen, völlig kalt ließ. Die Fahrstuhlkabinentür öffnete sich und wir traten in den abgeteilten Privatgaragenbereich. Statt sich einem Wagen zuzuwenden, betätigte Christiano die Fernbedienung an seinem Autoschlüssel und öffnete damit das Rolltor zum Rest der Tiefgarage. Das Tor war kaum zur Hälfte aufgefahren, da entdeckte ich bereits die ersten Büroarbeiter neugierig in unsere Richtung blicken. Ihren unverhohlenen Blicken nach zu urteilen muss es wohl eher selten bis nie vorgekommen sein, dass sich ein Blick in die geheimnisvolle Privatgarage erhaschen ließ.
Wir hatten die Aufmerksamkeit von drei Männern von etwa Ende zwanzig bis Anfang dreißig geweckt, die gerade ihren ebenso klischeemäßigen wie umweltunverträglichen SUVs entstiegen. Wo wir gerade bei Klischees waren, die Jungs hätten locker als Prototyp für die Kaste der Cityboys durchgehen können. Mit Anzughose, weißem Hemd, Krawatte und Hosenträger sahen sie aus, als wenn sie vor dem Frühstück bereits zig Warentermingeschäfte mit Schweinehälften und tiefgefrorenem Orangensaft als Lockerungs- und Aufwärmübung getätigt hätten und nun kurz davor waren, die wirklich großen Orders zu platzieren. Neben den drei hätte selbst Gorden Gecko aus Oliver Stones Film Wall Street wie ein Waisenknabe ausgesehen. Ihr ganzes Auftreten, ihre Gestik, die Art, wie sie sich bewegten, brüllte jedem entgegen, dass diese drei über die richtig dicken Eier verfügten, die jemand benötigt, um im Big Business mitspielen zu können.
»Welchen möchtest du?«, raunte mir Christiano zu.
»Den linken, mit den roten Hosenträgern.«
»Eine gute Wahl, versuch doch mal, deinen Lockruf einzusetzen. Ich kümmere mich um den Mittleren. Schicken wir den Rechten arbeiten. Pass auf.«
Ich passte auf und durfte bewundern, wie Christiano seinen Lockruf mit chirurgischer Präzision einsetzte. Nicht nur, dass er den mittleren Cityboy mental dazu brachte, näher zu kommen, sondern dass er den rechten Typen dazu bewegte, das eben noch geweckte Interesse an uns zu verlieren, mit den Schultern zu zucken, sich seine Anzugjacke und Aktenmappe zu schnappen und in Richtung Fahrstühle davon zu machen.
»Hey!«, rief Rothosenträger plötzlich und musterte uns abschätzig von oben bis unten. Sein Blick war wenn nicht gar feindlich, so doch wenigstens argwöhnisch. In unseren Outfits schienen wir in seinen Augen nicht viel herzumachen. T-Shirt und Jeans? Selbst Büroboten trugen in seiner Welt Krawatten. Ob deswegen mein Lockruf nicht so funktionierte, wie ich es beabsichtigte? Der Typ schien sich auf eine völlig andere Weise von mir angezogen zu fühlen, als Christiano und ich geplant hatten.
»Was treibt ihr hier?«, blaffte der Kerl los, während er in meine Richtung stiefelte.
Der zweite Mann, mit grauen aber dafür deutlich breiteren Hosenträgern, war ebenfalls herbeigeeilt. Sein Auftreten war nicht ganz so aggressiv, wie das des meinen, allerdings immer noch weit davon entfernt, ähnliche Begierde zu zeigen, wie seinerzeit Martin. Zusammen drangen die beiden in Christianos Privatgarage ein und betrachteten uns mit argwöhnischen Blicken. Was wir wohl in ihren Augen darstellten? Die Hausmeister? Hilfsarbeiter? Reinigungskräfte? Oder vielleicht sogar finstere Gesellen, die hier eingebrochen waren, um wertvolle Fahrzeuge zu stehlen? Was sie auch immer dachten, auf einen Gedanken kamen sie sicherlich nicht, nämlich, dass es sich bei uns um hungrige Vampire handeln könnte und sie unser Frühstück darstellten.
»Wir?«, entgegnete Christiano spöttisch und betätigte beiläufig den Knopf des Rolltors, das sich so leise schloss, dass die beiden Jungs es erst bemerkten, als es mit einem satten Klonk ins Schloss fiel. »Wir haben auf euch gewartet.«
Appetithappen
»Oh, auf uns gewartet habt ihr?«, höhnte der rote Hosenträger, der eindeutig der Wortführer der beiden war, »Was glaubt ihr eigentlich, mit wem ihr redet? Wenn das ein Autodiebstahl werden sollte, habt ihr zwei Witzfiguren euch die Falschen ausgesucht. Hier wimmelt es vor Sicherheitskameras. Die Security dürfte bereits auf dem Weg sein.«
Als wenn uns Sicherheitskameras interessieren täten. Die zwei Männer kamen mit einem Selbstbewusstsein auf uns zugestürmt, welches kaum in die an sich geräumige Garage passte. Es war immer problematisch, Vorurteile zu hegen, aber diese Hosenträgerjungs bedienten alle denkbaren in geradezu prototyphafter Weise. In der festen Überzeugung, zwei Bösewichte auf frischer Tat ertappt zu haben, bauten sich die zwei Kerle nicht nur vor uns auf, sondern kamen dabei auch immer näher auf uns zugestiefelt. Dass sie mit uns zusammen in Christianos Privatgarage eingeschlossen waren, schien sie überhaupt nicht zu beunruhigen. Wer täglich mit Milliardenbeträgen an den Finanzmärkten der Welt jongliert, der würde wohl auch mit zwei Strauchdieben wie unsereins fertig werden. Dies schien ihnen jedenfalls ihr Ego zuzuflüstern, denn anders konnte ich mir das Verhalten der zwei nicht erklären.
»Ah, jetzt hat es dir die Sprache verschlagen.«, meinte mein roter Hosenträger, als er unmittelbar vor mir stand. »Na, welches Auto wolltest du klauen?«
Der Typ sah mich nicht nur schief an, sondern wurde sogar handgreiflich, indem er dreist mit seinen Händen gegen meine Brust stieß. Wut keimte in mir auf. Niemand schubst mich - nicht mehr. Früher habe ich mich von allen möglichen Typen rumschubsen lassen. Aber damit war Schluss.
»Stopp!«
Aus dem schier unerschöpflichen Arsenal an Möglichkeiten, mein Gegenüber auszubremsen, wählte ich die mit Abstand defensivste. Ich wehrte seinen nächsten Schubser mit meinen Händen ab. Genauso gut hätte ich ihn auch packen und quer durch die Garage werfen können. Ich hätte einfach auf meine Vampirfähigkeiten vertrauen und an die Decke springen können, um seinen Angriff ins Leere laufen zu lassen. Stattdessen hielt ich einfach seinem Schubser stand.
»Stopp?«
So leicht war mein Cityboy dann aber doch nicht aus dem Konzept zu bringen. Ganz im Gegenteil, mein Widerstand stachelte ihn an.
»Hab ich das richtig gehört? Du hast Stopp gesagt? Du kleine Zecke brichst hier ein, willst dich am Eigentum hart arbeitender Leute bereichern und wagst es dann auch noch, als wir dich auf frischer Tat ertappten, das Maul aufzureißen? Ich glaube, ich muss dir ein paar Takte Anstand beibringen.«
Eins musste ich dem Hosenträgertypen lassen: Er achtete nicht nur auf seinen Körper, er wusste mit ihm auch umzugehen, was vielleicht an der neuen Trendsportart lag, der die Kaste der Cityboys neuerdings nachhing. Was war das Börsenparkett, auch wenn es nur virtuell im Computer existierte, anderes, als ein Boxring? Während sie sich tagsüber mit Put und Calls prügelten, streiften sie sich abends ihre Boxhandschuhe über und nahmen ihre Fäuste. Der erste Schlag traf mich daher ebenso überraschend wie unvorbereitet direkt an der Flanke. Der zweite Hieb ging dann aber bereits ins Leere, was primär daran lag, dass ich blitzschnell meine Position gewechselt hatte und nun hinter meinem Freund mit den roten Hosenträgern stand. In dieser Konstellation konnte ich ihn in meine schraubklemmenstarken Arme nehmen. Schneller als er begreifen konnte, was vorging, hatte ich den Typen in meiner Gewalt.
»Lass mich los, du... Penner!«, fauchte er mich an.
Vampir, hätte ich den Typen am liebsten korrigiert. Eigentlich hatte ich diesen aufgeblasenen Laffen von einem Besserverdiener genau dort, wo ich ihn haben wollte. Sein schöner, glatter Hals befand sich unmittelbar vor meinen Augen, dass ich den Pulsschlag in seiner Halsschlagader unter der Haut sehen konnte. Ich hätte mich nur vorbeugen müssen, um zubeißen zu können, doch ich tat es nicht. Irgendwie kam es mir nicht richtig vor. Die Typen mochten Arschlöcher und ich hungrig sein, trotzdem kam es mir einfach falsch vor, mich von ihnen zu nähren. Vampir hin oder her. Das hieß aber noch lange nicht, dass ich mich wegen billiger Provokationen gehen ließ.
»Hör zu, mein großkotziger Freund. Siehst du den netten Herren mit den schwarzen Haaren da drüben, der deinen Kollegen im Schwitzkasten hat? Das ist mein Freund Christiano. Christiano wohnt hier. Was du hier in dieser Garage siehst, gehört ihm. Der Sportwagen, der Kleinwagen und die Harley - alles seins. Sogar die Garage gehört ihm. Und das Haus um die Garage herum ebenfalls. Wahrscheinlich arbeitet ihr sogar in einer seiner Firmen. Also, es ist ja durchaus lobenswert, dass ihr euch um die Sicherheit des Gebäudes Sorgen macht, aber überlasst das besser den Profis, ja?«
Ein paar Meter von uns entfernt hielt Christiano tatsächlich den anderen Investmentbanker in Schach, erstaunlicherweise, hatte er seinen Fang ebenfalls noch nicht gebissen. Worauf wartete er? Dass ich den Anfang machte? Dann hatten wir ein Problem, denn offensichtlich war ich ein saumäßig schlechter Vampir.
»Sorry, Christiano!«, rief ich meinem Freund, Mentor und Kollegen zu, »Aber ich kann das nicht.«
»Wie, du willst mich nicht beißen?«
»Was?«, hatte ich richtig gehört? Mr. roter Hosenträger grinste mich breit an. Ich schaute zu Christiano und dem anderen Hosenträgerträger und erntete dort ebenfalls breites Grinsen. »Oh, ihr hinterhältigen Ratten! Was war das denn jetzt? Ein Test? Eine kleine Trainingssession?«
Nach dieser Enthüllung sah ich wenig Sinn darin, meinen Typen weiter umarmt zu halten. Stattdessen packte ich ihn an seinen Schultern und stellte ihn mir vor mir auf die Füße. In der Zwischenzeit waren Christiano und der andere Typ zu uns gekommen.
»Ja, Flo, dies war ein kleiner Test, den du mit Bravour bestanden hast.«, erläuterte Christiano zufrieden, »Doch zuvor möchte ich dir Brian und Marcus vorstellen, zwei gute Freunde aus unserer Londoner Niederlassung, die für ein paar Wochen in der Stadt sind. Jungs, dies ist Florian, mein neuer Bruder.«
»Aber... wieso?«, stammelte ich.
»Beherrschung - ich wollte wissen, wie du in einer Stresssituation reagierst. Vergiss nicht, dass ich immer noch dein Lehrer bin.«
»Aber was, wenn ich... Äh, wie heißt du eigentlich, Brian oder Marcus?«, fragte ich den Typen mit den roten Hosenträgern.
»Ich bin Brian.«, meinte Brian, »Nett dich kennenzulernen, Flo.«
»Ähm, Hi Brian...«, grüßte ich den bis eben noch aggressiven und provokanten Investmentbanker, der inzwischen aber eher wie ein großer Junge daher kam, um mich dann wieder an Christiano zu wenden, »Entschuldigt, wenn ich ein wenig direkt bin, aber was wäre, wenn ich Brian angegriffen hätte?«
»Keine Angst, ich hätte schon eingegriffen.«, meinte Christiano zu mir und wandte sich dann an die beiden Geldfachverkäufer, »Wie sieht's aus, Jungs. Steht euer Angebot noch?«
Die Angesprochenen antworteten auf ihre Weise: Sie legten ihre Anzugjacken beiseite und knüpften sich ihre schneeweißen Hemden auf.
»Aber keine Blutflecken, ja?«, meinte Marcus, womit klar war, dass ich meinen Hunger doch noch stillen durfte. Die zwei Männer hatten zwischenzeitlich auch ihre weißen Hemden abgelegt und standen mit nacktem Oberkörper vor uns. Das Boxtraining tat ihnen sichtlich gut und hatte zwei attraktiv ausgebildete, muskulöse Körper geformt. Ich musste unwillkürlich über die Oberlippe geleckt haben, denn Brian, der mich verlockend angrinste, meinte, dass da wohl jemand Hunger hätte.
»Nun schnapp ihn dir schon.«, forderte mich Christiano auf, Brian anzuzapfen, während er sich selbst Marcus zuwandte, der diese Zuwendung sehr willkommen annahm.
»Und, hast du keinen Hunger?«, fragte mich Brian mit einem Augenzwinkern.
»Ihr wisst, was wir sind?«
»Sicher. Marcus, John, der Typ, den Christiano vorhin fortgeschickt hat und ich, arbeiten in Constantins Londoner Niederlassung. Kennst du Gordon? Der Typ ist ein totales Finanzgenie. Ich glaube, wir werden nie aufhören, immer wieder noch etwas von ihm zu lernen. Wenn er im Londoner Haus ist, was regelmäßig vorkommt, gehören wir zu seinem Team.«
»Und sind seine Nahrungsquelle?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen und wurde prompt missverstanden. In Brian flammten Wut und verletzter Stolz auf.
»Was willst du damit sagen?«, fuhr er mich an, »Dass ich meinen Job nur bekam, weil ich mich beißen lasse?«
Shit! Das hatte ich wohl verbockt. Ich kannte Gordon nicht wirklich und hatte ihn bisher nur einmal gesehen, nämlich als mir Christiano an meinem ersten Tag das Haus zeigte. Ich kannte allerdings Constantin. Seit ich sein Geschöpf war, verstand und kannte ich ihn sogar besser als zuvor. Ich ahnte, oder glaubte zu ahnen, wie er dachte und handelte - zumindest teilweise - und dazu zählte die Art der Persönlichkeiten, mit denen er sich umgab. Constantin schien ein Händchen für besondere Menschen zu haben. Allen, denen ich bisher begegnet war oder von denen mir Christiano erzählte, waren nicht nur außerordentliche Spezialisten in ihren Fachgebieten, sondern zeichneten sich auch durch diese besondere Humanität aus, die Constantins Haus durchströmte. Vampire und Humanität - eine interessante Kombination. Was ich eigentlich damit ausdrücken will: Gordon wäre niemals Constantins Geschöpf geworden, wäre er ein Typ, der sich von Bestechungsversuchen, sei es Sex oder Blut, beeinflussen ließ. Wenn für Gordon etwas zählte, dann Leistung, exzellente Leistungen.
Der Respekt vor seiner Arbeit war meinem Cityboy sehr wichtig. Meine missverständliche Frage kratzte an Brians Selbstwertgefühl. Oder... Nein, ich beging den Fehler, Brian weiterhin als den großkotzigen Investmentbanker zu betrachten, den er mir während Christianos Charade vorgespielt hatte. Er wurde nicht wütend, weil ich ihm unterstellte, sich hochbeißen zu lassen, der vampirischen Form des Hochschlafens. Ich hatte nur zufällig seinen wunden Punkt getroffen. Es war genau umgekehrt: Brian mochte ein großer Junge sein, trotzdem war er genauso unsicher, wie wir alle, wenn es um unsere eigenen Leistungen ging. Ich wollte auch nicht glauben, dass meine Arbeit bei Niederreuter wirklich so gut war, wie mein Chef immer betonte, und glaubte stattdessen, dass er mich nur trösten wollte, weil mich meine Kollegen nicht mochten. Brian brauchte ein Aufbauprogramm; eines, das einem Fighter wie ihm gerecht wurde.
»Wohl kaum!«, zischte ich Brian mit voll ausgefahrenen Saugzähnen zu. Noch ehe er begriff, was passierte, hatte ich ihn mir gepackt und durchaus ruppig gegen eine der Garagenwände gedrückt, seine Anzughose geöffnet und zusammen mit den darunter befindlichen unvermeidlichen Boxershorts, nach unten geschoben, sodass Brian von den Fußknöcheln an nackt gegen die Betonwand der Garage lehnte. Jetzt stand ich vor ihm und schnupperte wie ein Raubtier, das seine Beute taxierte, Brust, Bauch und Hals ab, »Glaubst du, wir geben uns mit Zweitklassigkeit zufrieden?«
Brian zitterte, wenn auch nur zu einem kleinen Teil aus Furcht. Überwiegenderweise schien ihn meine aggressive Art anzumachen. Ich wollte ihn nicht enttäuschen und ließ eine meiner Hände auf Wanderschaft gehen, während ich gleichzeitig seinen Hals leckte.
»Wir sind Vampire, Dämonen der Nacht, Untote, Wiedergänger. Wir sind Raubtiere, und du mein Freund bist meine Beute. Ich bräuchte dich nicht um dein Blut bitten. Ich könnte es dir einfach nehmen.«, meiner Stimme hatte ich einen ebenso betörenden wie aggressiven Klang verliehen, der Brian mehr und mehr anmachte, »Ich könnte dich sogar dazu bringen, mich anzuflehen, von dir zu trinken. Genauso wie Gordon. Aber wir tun es nicht.«
»Warum?«, stammelte Brian gleichzeitig panisch und aufs Höchste erregt.
»Weil wir euch respektieren. Brian, du bist keine Kuh, die man melkt!«, säuselte meine Stimme nun sanft, während meine Hand seinen Schwanz festhielt und ihn massierte.
»Nein?«, japste Brian, während ich leicht über die noch feuchte Stelle an seinem Hals blies, die ich eben noch mit meiner Zunge befeuchtet und dabei desinfiziert hatte. Brian zitterte und japste.
»Nein«, flüsterte ich Brian ins Ohr, »Du bist ein Kerl, der weiß, was er will, und selbst entscheidet, was dieser hungrige Vampir an deinem Hals darf oder nicht.«
Natürlich machte ich Brian geil, natürlich beeinflusste ich ihn, blieb dabei allerdings fair und ließ meinen Vampirlockruf insoweit ausgeschaltet, dass er frei entscheiden konnte, was er wollte. Von mir in der dritten Person zu sprechen, gab dem ganzen noch einen gewissen schrägen Kick.
»Dieser Vampir soll mich endlich beißen!«, stieg Brian, vor Lust stöhnend, auf mich ein.
Sein Wille war mir Befehl. Mit der Präzision eines schweizer Uhrwerks stießen meine Saugzähne in seine Halsschlagader vor, auf dass sich mein Mund sofort mit dem lebensspendenden Saft füllte. Genüsslich ließ ich ihn mir die Kehle hinunter laufen. Brians Saft schmeckte gut, wenn auch etwas anders als der der beiden Jungs aus dem X. Während ich von den beiden sehr schnell getrunken hatte, ließ ich mir bei meinem boxenden Brokerboy sehr viel mehr Zeit. Statt gierig zu saugen, überließ ich es Brians Blutdruck, mir den Mund zu füllen. Da dieser an der Halsschlagader besonders stark war, drosselte ich sogar den Zufluss. Umso länger konnte ich meine Zähne in Brians Hals belassen, was diesen fast wahnsinnig vor Geilheit machte. Denn so erreichte seine Erregung während meiner Blutmahlzeit unbeschreibliche Höhen, ohne dass die geringste Chance bestand, sich entladen zu können. Der toughe Cityboy wurde weich wie Wachs und wand sich wie ein Aal in meiner Umarmung. So sehr er hoffte, von meinem Biss alsbald erlöst zu werden, um endlich kommen zu können, so sehr wünschte er sich, dass dieses Gefühl, direkt auf der Klippe zu tanzen, auf dem Höhepunkt von Lust und debil, geiler Glückseligkeit ewig währte.
Ich gebe zu, ich genoss es, Brian zu quälen. Doch auch diese beiderseitig lustvoll empfundene Qual musste irgendwann enden. Spätestens nachdem meinem Opfer rund 350ml abgezapft waren, war es wohl sinnvoll, sich langsam vom Hals meines Opfers zu lösen. Ich zog meine Zähne ein und tauchte mit meinem Kopf zu tiefer liegenden Körperregionen ab, bis es mir gelang, meinen Mund über Brians granitharten Schwanz zu stülpen. Ich begann ihn zu blasen. Es dauerte keine dreißig Sekunden, dass er sich mit Kraft entlud und seinen lang ersehnten, aber von meiner Beißtechnik geil und schmerzhaft hinausgezögerten Orgasmus erreichte.
»Oh Shit!«, seufzte Brian noch, bevor er entkräftet in meinen Armen landete, als ihm seine Beine den Dienst versagten.
»Was für eine Show!«, hörte ich Marcus Stimme hinter mir, »Nichts für ungut Christiano, aber nächstes Mal will ich von Flo gebissen werden.«
Statt sich den beiden Männern hinter mir zuzuwenden, kümmerte ich mich lieber um den besinnungslosen Brian. Ich hielt ihn in meinen Armen, damit er nicht auf dem kalten Betonboden liegen musste und wartete, dass er wieder zu sich kam, was er dann nach ein paar Minuten auch tat.
»Junge, für dich braucht man ja echt einen Waffenschein.«, war sein erster Kommentar, als er die Augen aufschlug und verträumt in die meinen blickte, »Mann, so wie du mich gemolken hast, bin ich wohl doch eine Kuh.«
»Wohl eher ein Bulle, zudem ein ganz stattlicher.«, korrigierte ich Brians Irrtum bezüglich des Geschlechts paarhufiger Wiederkäuer und half dem ganzen Kerl auf die immer noch leicht wackeligen Beine. Kräftig, ohne brutal zu sein, hielt und stützte ich den Cityboy und half ihm in seine Klamotten.
»Was?«, fragte Brian, als er meinen nachdenklichen Ausdruck bemerkte, »Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Nein, überhaupt nicht.«, versicherte ich meinem Frühstückslieferanten, »Es geht darum, wie du vorhin auf meine Bemerkung reagiert hast. Du weißt, was ich meine, oder?«
»Ja...«, kam es kleinlaut, »Ich wollte nicht...«
Heftiges Kopfschütteln meinerseits, ließ Brian innehalten.
»Entschuldige, wenn ich vorhin eine unglückliche Formulierung gewählt haben sollte.«, begann ich, »Wenn Gordon dich, Marcus und John in sein Team aufgenommen hat, dann einzig und allein, weil ihr verdammt gut sein müsst und seine Erwartungen übertroffen habt. Ich bin zwar noch nicht lange Mitglied dieses Blutsaugervereins, habe aber inzwischen so eine Ahnung, wie die Jungs ticken, und weiß aber auch, dass es andere Flattermänner gibt, die ganz andere Prioritäten setzen. Natürlich könnten wir uns einfach euer Blut nehmen. Aber das ist nicht die Art des Hauses Varadin. Ihr seid unsere Freunde, und wenn ihr uns als solche euer Blut schenkt, dann nehmen wir es in Dankbarkeit an. Meine Oma sagte immer, dass man Freundschaft kein Preisschild umhängt. Sie hatte recht. Wer glaubt, sich unsere Gunst, durch Blutspenden erkaufen zu können, wird bitter enttäuscht werden. Freundschaft gewinnt man anders.«
»Junge, du klingst wie euer Chef.«, Brian lachte, »Constantin schafft es auch immer, total bedeutungsschwanger zu reden. Aber du hast recht. Freundschaft hängt man kein Preisschild um. Ich lasse mich von Gordon, von Christiano und nun auch von dir gerne beißen, weil ich euch mag und weil es jedes Mal eine total geile Nummer ist.«
Womit alles gesagt war. Während sich unsere zwei Blutspender wieder in einen passablen Zustand brachten, was primär hieß, sich zu bekleiden, tauschten wir noch ein paar Belanglosigkeiten aus. So baten uns Marcus und Brian, dass wir uns unbedingt bei ihnen melden sollten, würde unser Weg einmal nach London führen. Zehn Minuten später saßen Christiano und ich in dessen Auto auf dem Weg zur Arbeit, während die beiden Cityboys hinter ihren Schreibtischen mit zig Monitoren hockten und wieder mit Millionenbeträgen jonglierten.
Genickschlag
Constantin
»Constantin?«
Lady Lydias PDA gab ein unangenehm schepperndes Geräusch von sich, als es, nachdem es ihren Händen entglitten war, auf dem Natursteinfußboden des Hauses aufschlug. Der finale Schmerzenslaut des kleinen Geräts blieb allerdings ungehört, da dessen Besitzerin mit anderen Dingen beschäftigt war, nämlich mit mir.
»Constantin, du lebst?«
»Nicht wirklich, aber für einen Vampir bin ich hinreichend lebendig.«, mein Blick deutete erst an mir herunter, dann in die Runde, »Hättet ihr zufällig etwas zum überziehen. Mir wird ein wenig frisch da unten.«
Ganz Profi vermied es die anwesende Dame, auf meine entblößte Männlichkeit zu blicken, womit sie eindeutig in der Minderheit war. Überwiegend Schwuppen zu seinen Geschöpfen zu zählen, brachte eben auch Schattenseiten mit sich. Die Jungs konnte es sich einfach nicht verkneifen, mein Gemächt zu taxieren, was dieses mit signifikanter Schrumpfung quittierte. Bürgerkriegsartige Auseinandersetzungen im eigenen Haus wirkten sich bei mir eher stimmungstötend aus. Zum Glück musste ich nicht lange warten, bis ich meine Blöße bedecken durfte. Takumi, mein tapferer Ninja, hatte seine Erkundungstour hinter die feindlichen Linien kurzfristig zurückgestellt und mir stattdessen eine Trainingshose und T-Shirt organisiert. Einen Slip gab es nicht.
»Danke, Takumi San.«, geduldig warteten die umstehenden Vampire, bis sich ihr Chef angezogen hatte. Bei dem einen oder anderen ließ sich ein Anflug von Bedauern entdecken. Ich musste grinsen. »Kann mir jemand verraten, gegen wen wir eigentlich kämpfen?«
»Gegen unsere eigenen Leute.«, seufzte Lady Lydia deprimiert und auch ein klein wenig resigniert, »Ich weiß selbst nicht, wie der ganze Schlamassel eigentlich entstanden ist. Es begann mit vergifteten Blutkonserven. Bevor wir begriffen, was eigentlich los war, hatte es bereits ein Viertel unserer Brüder erwischt. Ich weiß nicht, wer dann das Gerücht in Umlauf brachte, aber es hieß, du seist tot. Bevor ich einen Trupp losschicken konnte, um das Gerücht zu bestätigen, oder besser zu widerlegen, oder Hilfe aus dem Haus Breskopol anfordern konnte, waren wir bereits eingesperrt und von der Außenwelt abgeschnitten. Dieser Bau ist eine verdammte Festung. Genauso wenig, wie sie jemanden hereinlässt, lässt sie jemanden heraus. Die Sicherheitscodes, die du mir gabst, funktionieren nicht. Schlimmer noch, das Haus scheint meine Versuche, die Sperren zu deaktivieren, als Angriff interpretiert zu haben und verriegelte daraufhin die einzelnen Sektionen. Die Telefonleitungen sind auch gekappt und Mobiltelefone funktionieren hier unten nicht.«
»Und die Barrikaden? Warum schießt ihr aufeinander?«
Lydia holte tief Luft und atmete laut und frustriert aus: »Bis auf einen, den eigentlichen Übeltäter, sind es wohl alles gute und aufrechte Jungs, die sich da im Wissenschaftstrakt verschanzt haben. Ihr Problem ist, dass sie glauben, ich wäre der Verräter und habe dich ermorden lassen.«
»Dieser Irrtum müsste sich relativ leicht korrigieren lassen.«
Doch zuvor musste Lydia über den Stand der Dinge informiert werden, etwa, wie ich es geschafft hatte, trotz verriegelter Türen ins Haus zu gelangen. Die Zeit des Geheimnisses des Panikraums war sowieso abgelaufen. Jedem, der in der Lage war, eins und eins zusammenzuzählen, dürfte früher oder später dämmern, dass es einen geheimen Zugang geben musste. Was aber ist ein geheimer Zugang wert, wenn jedermann weiß, dass er existiert? Es gab noch einen anderen und weitaus wichtigeren Grund, warum mir die Heimlichtuerei um die Gruft egal war. So wie sich die aktuelle Lage präsentierte, bestand die reale Möglichkeit, dass der bewusste Zugang für absehbare Zeit der einzige Zugang zum Haus war. Zwar vertraute ich voll und ganz auf Simons Fähigkeit, das korrumpierte Sicherheitssystem des Hauses wieder in Gang zu bringen, wusste aber auch, dass die äußeren Türen über wesentlich komplexere Steuerungssysteme verfügten, als die Brandschutzschotten zwischen den Stockwerken.
Wir brauchten Blut, frisches, körperwarmes und hundert Prozent giftfreies Blut, um die Verletzten zu heilen und um die vom Gift verbrannten wiedererwecken zu können. Außerdem war Simon ohne seinen Fuß ein wenig maulig. Wer wollte es ihm verdenken? Mir fiel etwas ein, das Ulli, einer von Ricardos Jungs erwähnt hatte. Ricardo, unser Wissenschaftsgenie, derjenige, der nicht nur die Wirkung des Biolumineszenzgifts entschlüsselt, sondern auch ein Verfahren entwickelt hatte, wie man das Gift wieder aus der Asche heraus bekommt. Dumm nur, dass ausgerechnet Ricardo einer der Ersten war, der einen vergifteten Blutbeutel erwischte. Möglicherweise hatten wir da ein Problem. Doch einen Schritt nach dem anderen. Zuerst galt es, die auf uns schießenden Spinner wieder einzufangen.
»Geh ich recht in der Annahme, dass du für Takumi einen Spaziergang durch die Lüftungskanäle geplant hast?«, konfrontierte ich Lydia mit ihrem Plan. Takumi schmunzelte, während mich Lydia überrascht und erstaunt anstarrte.
»Ich habe gesehen, wie du die Baupläne durchgegangen bist.«, meine Augen ruhten nachdenklich auf Takumi, »Die Idee ist gut. Wir sollten allerdings über die Missionsziele sprechen. Ich nehme an, dass ihr bisher eine eher endgültige Lösung anstrebtet?«
Ich brauchte keine Antwort, ich kannte sie auch so. Takumi war ein Ninja und Lydia... Der Überraschung und darauf folgenden Erleichterung nach zu urteilen, mich lebend zu sehen, ließ ahnen, dass die Frau bisher einen Rachefeldzug ins Auge gefasst hatte. Der hatte sich zum Glück erübrigt und sich damit die Möglichkeit aufgetan, die Angelegenheit unblutig zu klären - vom eigentlichen Urheber des ganzen Chaos einmal abgesehen. Die Frage war: Wo befand er sich. Hielt er ebenfalls die Stellung an der Barrikade, oder verfolgte er andere Ziele. Ich hatte da so eine Ahnung. Die Art und Weise, wie improvisiert sich das Häuflein der Abtrünnigen hinter Aktenschränken, Schreibtischen und Rollcontainern verschanzt hatte, ließ vermuten, dass sie ihrem Anführer primär Zeit verschaffen sollten. Nur, wofür?
Simon, könntest du versuchen, die Typen hinter der Barrikade zu identifizieren? Mein mental geäußerter Wunsch wurde sofort bestätigt und wenig später erfüllt. Kaum hatte der Ritter vom fehlenden Fuß eine geeignete Kamera gefunden, konnte er mir die einzelnen Kämpfer der anderen Seite benennen. Unser Verräter war nicht dabei - wie ich vermutet hatte.
»Also gut. Takumi, meinst du, du könntest die Jungs der anderen Seite unschädlich machen, ohne sie gleich zu entkörpern?«
»Darf ich ihnen wehtun?«, den Mund des Ninjas umspielte ein diabolisches Grinsen; meinen auch.
»Ich bitte darum. Dummheit muss bestraft werden.«
Natürlich wollte ich den verführten und fehlgeleiteten Brüdern die Hand reichen und schlussendlich sogar verzeihen. Ihnen vorher allerdings einen kleinen Denkzettel zu verpassen, war mehr als angemessen. Wenn ich Lydia in Laurentius Abwesenheit die Befehlsgewalt über unsere Kämpfer verliehen hatte, dann war dies Gesetz und von allen Mitgliedern des Hauses zu akzeptieren. Selbstverständlich durfte jedermann meine Entscheidung hinterfragen, kritisieren und sogar missbilligen, aber auf keinen Fall ignorieren und das Heft selbst in die Hand nehmen. Es mag sein, dass die Brüder hinter ihrer Barrikade in bestem Glauben gehandelt hatten, das richtige zu tun, nur hätten sie es besser wissen müssen. Wenn sie glaubten, Lydia hätte mich beseitigt und einen Staatsstreich angezettelt, hieß dies in letzter Konsequenz, dass sie meinem Urteilsvermögen nicht trauten. Das war etwas, das ich nicht ignorieren konnte, wollte und durfte, sollte sich eine derartige Situation nicht wiederholen.
Takumi nahm seine Arbeit auf. Eingehüllt in einen schwarzen Zentai wurde er von Orwell, dem hünenhaften Hauptmann der Wache zur abgehängten Decke gehoben. Der Ninja kroch sofort in den Zwischenraum und war wenige Sekunden später nicht mehr zu sehen.
»Jetzt heißt es warten.«, kommentierte Lydia die Situation, »Ich hoffe, er schafft das.«
»Es war deine Idee.«, gab ich zu bedenken und erklärte, woher ich wusste, was Lydia und Orwell geplant hatten. »Takumi ist ein Naturtalent. Die Typen hinter der Barrikade sind keine Kämpfer. Takumi schon. Er wird sie schneller schlafen gelegt haben, als sie auch nur realisieren, was ihnen widerfährt. Vertrau mir.«
Lady Lydia blieb skeptisch. Ich kannte Takumi. In gewisser Weise war er ein Besessener, der seine Ziele konsequent verfolgte. Scheitern kam in seinem Sprachschatz nicht vor, was ihn nach Christiano zum wertvollsten Agenten des Hauses machte. Beide Männer zeichneten sich durch eine erschreckende Effektivität aus, unterschieden sich aber deutlich in ihren Methoden. Christiano suchte die Öffentlichkeit und spielte das oberflächliche, egozentrische Partyluder. Sein Trick bestand darin, dass ihn niemand wirklich ernst nahm. Die meisten Leute hielten ihn für harmlos, nett, sogar charmant. Wenn Christiano flirtete, konnten dem nur wenige widerstehen. Männlein wie Weiblein wickelte er so um seinen Finger und brachte sie dazu, über Dinge zu sprechen, die sie an sich lieber für sich behielten. Dieser verrückte Portugiese brachte sogar einen Sicherheitsfachmann dazu, ihm nicht nur die Funktion einer Einbruchsmeldeanlage zu erklären, sondern sogar deren Schwachpunkte und Einrichtungscodes zu verraten, was Christiano dazu nutzte, um völlig unbemerkt ein paar sehr wichtige Dokumente zu organisieren.
Wenn es eine Antithese zu Christiano gab, dann hörte sie auf den Namen Takumi. Das Arbeitsprinzip meines japanischen Freunds lautete Heimlichkeit. Man gab ihm einen Auftrag, er tauchte unter und erschien erst wieder, wenn der Auftrag erledigt war. Dazwischen war der Mann von der Erdoberfläche verschwunden. Egal was er tat oder wie sein Auftrag lautete, er hinterließ keinerlei Spuren. Galt es, in ein Objekt einzudringen, um etwa Kopien von irgendwelchen Dokumenten aus einem hochsicheren Tresor anzufertigen, stellte er sicher, dass dieser Vorfall garantiert unbemerkt blieb. Takumi war ein Geist. Selbst Ziele, die wussten oder ahnten, dass er auf sie angesetzt war, gelang es nicht, von diesem Wissen zu profitieren, was meinen Ninja zu einer absolut tödlichen Waffe machte. Es kam allerdings nur sehr, sehr selten vor, dass ich Takumi wirklich als Meuchelmörder einsetzte. Seit seiner Verwandlung in einen Vampir wurde diese spezielle Fähigkeit nur drei Mal genutzt.
Das Feuergefecht im Durchgang zum Forschungstrakt hielt unverändert an. Es waren erst zwei Minuten vergangen, seit Takumi in die Zwischendecke geschlüpft war, zu wenig, um die andere Seite bereits erreicht zu haben. Um ihm seine Aufgabe etwas leichter zu machen, hatten wir abgesprochen, für Ablenkung zu sorgen, was mich ins Spiel brachte. Die abtrünnigen Blutsauger waren davon überzeugt, dass ich tot wäre. Warum sollten wir nicht versuchen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Ich glaubte zwar nicht, dass sie mir glaubten, würden sie nur meine Stimme hören, aber vielleicht reichte es, um ihre Aufmerksamkeit zu binden.
»Hört auf zu schießen!«, rief ich im Befehlston den Gang hinunter, blieb dabei aber in Deckung.
»Warum?«, kam es als Antwort, »Wollt ihr aufgeben?«
»Nein. Ihr sollt aufgeben, weil ich es euch befehle!«, setzte ich nach, »Ich, Constantin Varadin, befehle euch, das Feuer einzustellen und euch zu ergeben!«
Für einen kurzen Moment schwiegen die Waffen, was einen unvorsichtigen Wächtervampir auf unserer Seite dazu verleitete, seine Deckung zu verlassen. Ein Fehler, den zu bereuen, er keine Gelegenheit fand. Das Projektil traf ihn an der Schulter, riss ein Loch hinein und ließ ihn um seine Körperachse wirbeln, bevor er besinnungslos zusammenbrach.
»Was, zum...«, normale Kugeln hätten niemals eine derartige Wirkung auf unsereins gehabt.
»Sie sind vergiftet.«, erläuterte Lydia, »Zum Glück sind sie nicht tödlich. Sie machen nur kampfunfähig. Wer die Besinnung verliert, ist dabei noch gut dran. Das Gift verursacht unerträgliche Schmerzen.«
»Netter Versuch!«, schallte es vom Wissenschaftstrakt herüber, »Glaubt ihr wirklich, wie würden auf derart billige Lügen hereinfallen? Constantin ist tot und ihr habt ihn umgebracht!«
»Nein, das bin ich nicht, ihr Arschlöcher!«, langsam verlor ich die Geduld mit den Spinnern. »Letzte Warnung: Hört mit dem Mist auf und kommt raus, dann könnte ich mich dazu hinreißen lassen, euch nicht...«
Die Typen ließen mich gar nicht erst aussprechen, da flogen uns schon wieder Kugeln um die Ohren. Eins musste ich unseren abtrünnigen Brüdern zugestehen, sie waren konsequent und absolute Überzeugungstäter. Da hatte jemand ganze Arbeit geleistet, dass es ihm gelang, eine ganze Gruppe umzudrehen. Allerdings war es nicht ganz so überraschend, wie manch einer vielleicht erwartet hätte. Die Männer, die auf uns schossen, waren samtsonders Kollegen des Anstifters, des Verräters, der die Blutkonserven vergiftete und versucht hatte, mich mithilfe manipulierter Beweise vom Tribunal zum Tode verurteilen zu lassen. Er war ihr Chef und sie ihm loyal ergeben. Aber warum auch nicht? Bis vor wenigen Tagen gab es keinen Grund an der Loyalität der einen faulen Frucht zu zweifeln. Ich war bisher sogar der Überzeugung gewesen, dass er nicht das Haus, sondern nur gegen mich war. Bisher - mit der jetzigen Aktion allerdings setzte er sich vollends ins Unrecht. Welche Probleme er auch immer mit mir haben mochte, es waren Probleme mit ihm und mir. Das Haus und seine Bewohner blieben weitestgehend unbeteiligt, wenn man von Simon einmal absah. Das hatte sich geändert. Gute Leute lagen mit schmerzhaften Schusswunden am Boden, etliche waren in Flammen aufgegangen, nachdem sie vom verseuchten Blut getrunken hatten. Das sollte er mir erklären: Warum mussten andere leiden, wenn ich gemeint war?
Etwas rumpelte, etwas knackste, dumpfes Stöhnen schallte den Gang entlang, dann herrschte Ruhe. In meinem Kopf fühlte ich Simon schmunzeln, nein, zufrieden grinsen.
»Ich glaube, Takumi-san war erfolgreich.«, ließ ich Lydia und Orwell an meinem Wissen teilhaben. Im gleichen Moment hörten wir unseren Hausninja rufen, dass die Lage unter Kontrolle wäre, woraufhin Orwells Leute sofort damit begannen, die Schreibtisch- und Rollcontainerbarrikaden fortzuräumen. Gemessenen Schrittes und alles andere als eilig bewegten wir uns, das heißt Lydia, Orwell und ich, in Richtung des feindlichen Terrains. Auf halbem Weg kam uns Takumi entgegen, die Kapuzenmaske seines Zentais zurückgezogen. Er wirkte sichtlich zufrieden.
Wir trafen den Ninja auf halbem Weg zwischen den beiden Fronten. Während er noch über Schrank- und Schreibtischberge geklettert war, sorgte Orwell mit meiner Mithilfe für einen freien Zugang zum besetzten Wissenschaftstrakt. Die Jungs auf dieser Seite hatten ganze Arbeit geleistet, und Massen an Büromöbeln ineinander verkeilt, was uns zwang, zum Teil rohe Gewalt einzusetzen. Nach einigem Gezerre und Geschiebe gelangten wir endlich hinter die Hürden und fanden unsere Gegner. Ich kannte sie alle - Wilhelm, Armin, Yvgeni, Morten, Edward... An sich alles vernünftige Leute, die gute Arbeit in der biomedizinischen Abteilung leisteten. Ihre Einzelkämpferqualifikation ließ zum Glück aber einiges zu wünschen übrig, andernfalls hätten wir sie nicht kampfunfähig am Boden liegend vorgefunden. Takumi war in dem was und wie er etwas tat ausgesprochen konsequent und vor allem effizient. Ein Genickbruch konnte einen Vampir zwar nicht töten, lähmen und damit kampfunfähig machen aber schon. Ein Handkantenschlag gegen den Nacken und der Getroffene sank wie ein nasser Sack in sich zusammen und blieb auch so, bis ihm eine frische Blutmalzeit genügend Kraft gab, das verletzte Rückenmark zu regenerieren.
»So, meine Lieben, und jetzt wiederholt bitte nochmals eure Behauptung, ich wäre tot!«, knurrte ich die Typen an und ließ dabei ein wenig von meiner Urform durchschimmern. Die Spinner sollten ruhig wissen, dass ich sauer war. Es wirkte. Oder bildete ich mir nur ein, dass einer nach dem anderen vor meinen Augen zu schrumpfen schien. Gleichzeitig wurden ihre Augen immer größer.
»Du... du... Du lebst?«, stammelte Yvgeni, mein Russlandimport stellvertretend für alle anderen zusammen. Er war der Einzige, dem die Stimmbänder noch gehorchten.
»Offensichtlich«, knurrte ich die Idioten an und setzte die finsterste Miene auf, die mir zur Verfügung stand, »Wo ist er?«
»Du weißt...?«, wagte Yvgeni eine Gegenfrage.
Ich antwortete indirekt. Ich hob eine Augenbraue. Was willst du mir eigentlich erzählen?
»Er ist in Labor II. Er hat dort irgendein Experiment laufen.«, erklärte Yvgeni.
»Ein Experiment?«, ich wurde hellhörig. Die Antwort erklärte eine Frage, die ich mir schon seit geraumer Zeit stellte: Warum war er in den Wissenschaftstrakt geflohen? Meine Nackenhaare wollten mir etwas mitteilen. Sie stellten sich auf.
»Äh, ja... Er meinte... Äh, er würde sich um das Problem kümmern.«
Das Kribbeln meiner Nackenhaare nahm zu. »Das Problem?«
»Lydia«, erläuterte Yvgeni weiter, »Sie wäre es, die dich hat umbringen lassen, um sich an dir für den Tod Breskoffs zu rächen. Nebenbei würde sie das Haus unter ihre Kontrolle bringen.«
Ich starrte auf die kampfunfähigen Trottel herab, blickte zu Orwell, zu Takumi und zu Lydia, bis plötzlich irgendetwas in meinem Schädel Klick machte. Mit einem Satz sprang ich auf den ersten der abtrünnigen Typen zu, riss ihn hoch und drückte ihn Orwell in den Arm.
»Bringt sie hier raus und seht zu, dass ihr hier wegkommt. Ihr müsst den Bereich sofort räumen und die Schotten zum Wissenschaftstrakt verschließen. Verriegelt sie! Schweißt sie zu! Mauert den Zugang zu! Was auch immer! Nur tut es schnell! Los, verschwindet hier!«
Die Angesprochenen starrten mich verständnislos an.
»Habt ihr nicht zugehört? Er will sich um das Problem kümmern. Im Labor. Versteht ihr nicht?«
Sie verstanden und wurden plötzlich sehr, sehr schnell. Takumi schnappte sich den nächsten gehandicapten Spinner und lief mit ihm los.
»Und was ist mit dir?«, fragte mich Lydia, obwohl sie meine Antwort kannte.
»Das ist mein Problem. Er ist immer noch ein Mitglied meines Hauses. Du weißt, was zu tun ist. Verschließ die ganze Abteilung. Versiegel sie und öffne sie erst wieder, sollte ich Entwarnung geben! Jetzt!«
Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte ich mich um und ging. Ich wusste genau, wo ich hin wollte, wo ich hin musste. Labor II, das war nicht allzu weit entfernt. An sich wurde in diesem Trakt biomedizinische Forschung betrieben. Unter anderem suchten wir nach Möglichkeiten, Blut länger frisch halten zu können. Die meisten Projekte drehten sich um Blut, was bei einem Haus voller Vampire nicht sonderlich überraschen dürfte. Die Labore entsprachen modernsten Standards, zählten aber nicht zur Hochsicherheitsklasse. Schließlich wurde nicht mir hochinfektiösen Stoffen experimentiert. Allerdings blieb ein Labor immer noch ein Labor. Es gab technische Geräte, etwa zur Destillation, oder auch Massenspektrometer. Und es gab ein Stofflager mit allem, was ein biochemisches oder chemisches Labor an Reagenzien benötigte, vielleicht sogar ein wenig mehr. Aber selbst mit den üblichen Substanzen ließ sich eine Menge Unheil anrichten. Schwefelsäure, Ammoniak, Salzsäure, Natrium, Toluol, Phosphor - die Liste ließ sich endlos fortführen. In Kombination mit unserem mutmaßlichen Verräter und seinem Wissen um die Biologie unserer Art ergaben sich Möglichkeiten, die... der Gedanke ließ mich schaudern.
Die lange Fensterfront des Labors II erlaubte einen umfassenden Blick auf alles, was sich im Inneren des Raums abspielte. Auf einem Labortisch aus rotem Steingut hatte jemand eine Destillationskolonne aufgebaut. In Rundkolben blubberten seltsame Flüssigkeiten. Für ein biomedizinisches Labor eher untypisch, nahm ein Teil des Tisches eine optische Bank ein, auf dem ein Laser für farbige Lichteffekte sorgte. Zwischen Erlenmeyerkolben und Laserstrahl hantierte ein Mann, dem Mann, mit dem ich ein paar ernste Worte wechseln wollte, obwohl ich am Erfolg dieser Aktion arg zweifelte. Ich war mir nicht sicher, aber das Experiment auf dem Tisch gefiel mir nicht. Es gefiel mir ganz und gar nicht.
Warum fiel es mir so schwer, dir Tür zum Labor aufzustoßen und... Und was? Natürlich war ich wütend, ich kochte sogar vor Wut. Wie konnte sich ein Mitglied meines Hauses, meiner Familie, gegen uns, gegen mich wenden? Was brachte ihn dazu? War ich schuld? Es gab nur eine Möglichkeit, dies rauszufinden. Ich musste fragen. Entschlossen stieß ich die Tür zum Labor auf.
»Hallo Frantz.«
Foto
Florian
Die Sonne - natürlich musste mein erster Tag als Vampir mit blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein beginnen. Christiano war so nett, statt der Harley den schwarzen Sportwagen mit den dunkel getönten Scheiben zu wählen. Viel brachte es leider nicht. Während der ganzen Fahrt vom Appartement zu Niederreuter fühlte ich die Sonne auf uns niederbrennen. Es war ein unangenehmes Gefühl: auslaugend, schwächend und ermüdend. Schlimmer noch, die Sonne weckte meinen Hunger. Am schlimmsten war ihr Anblick. Er weckte Übelkeit, die selbst von den dunklen Scheiben des Autos, meinen UV-Schutzkontaktlinsen und einer fast schwarzen Sonnenbrille kaum gemildert wurde. So wie es aussah, war der Tag einfach nicht mehr mein Ding.
Es gab da noch ein paar andere Effekte, die mit meinem neuen Wesen zusammenhingen. Zum Beispiel hatte sich meine Sehkraft verändert. Sie war, mit Verlaub, beschissen. Zumindest bei Tage. Selbst durch die drei Schichten Sonnenschutzfilter, Frontscheibe, Sonnenbrille und Kontaktlinsen, präsentierte sich die Welt vollkommen überbelichtet, blass und farblos, richtiggehend ausgezuzelt, fremdartig.
»Ungewohnt, oder?«, bemerkte Christiano. Wehmütig fügte er hinzu: »Ich kann mich immer noch genau daran erinnern, wie es früher war. Wie sich die Sonne in den Gassen Lissabons verfing. Die strahlenden Farben eines Fischerdorfs in glasklarer Luft.«
»Du vermisst es, oder?«
»Vermissen? Ja. Bereuen? Keine Sekunde.«
Ich verstand, was Christiano meinte. Ich verstand es tatsächlich. Die Wehmut fühlte ich ebenfalls, aber genauso wie Christiano verspürte ich keine Reue, mich von Constantin verwandeln zu lassen.
Etwas mehr als eine Viertelstunde später erreichten wir das Werksgelände Niederreuters. Wer jetzt glaubt, ich hätte mich darauf gefreut, in die kühle und relative Dunkelheit des - fensterlosen - Aufenthaltsraums zu fliehen, täuscht sich. Ich war hochgradig nervös, oder weniger förmlich ausgedrückt, mir ging der Arsch auf Grundeis. Wer kennt es nicht, das Gefühl, jeder würde einen anstarren? So ging es mir. Es war ein völlig irrationaler Gedanke, der mich da beschlichen hatte, aber ich glaubte wirklich, jeder gaffte mich nicht nur an, sondern konnte in mich hineinsehen und wusste, was und wer ich war. Gut, es war nur ein Gefühl und alles andere als realistisch, reichte aber, um meine Knie in diesen weichen, zittrigen Zustand zu versetzen. In diesen grübelnden und nervösen Zustand versunken, hatte mein Bewusstsein die Umgebung ausgeblendet. Ich schreckte erst wieder aus meinem Tagtraum auf, als Christiano die Wagentür öffnete und ausstieg.
»Musst du mich so erschrecken?«, fuhr ich meinen Freund und Kollegen barsch an. Statt meinen unfreundlichen Anraunzer mir einer ebenso scharfen Replik zu parieren, lachte der portugiesische Blutsauger amüsiert auf.
»Muffensausen?«, der Mann wusste genau, was mir durch den Kopf ging. Woher eigentlich?
»Ja!«, knurrte ich gereizt.
»Ach Flo. Du machst dir viel zu viele Gedanken. Niemand wird etwas bemerken. Komm schon, die anderen warten bestimmt schon. Außerdem brauch ich dringend einen Kaffee.«
Grummelnd und unsicher trottete ich dem vorauseilenden Kollegen hinterher und folgte ihm in den Aufenthaltsraum. Dort war es angenehm. Was eine Stahlbetondecke und das Fehlen von Fenstern doch ausmachen kann. Die Sonne war zwar immer noch zu spüren, aber mit deutlich verminderter Kraft. Der sonst immer etwas schummrig empfundene Raum präsentierte sich meinen neuen vampirischen Sinnen in hellen, klaren und kontrastreichen Farben. Ich sah mich interessiert um. Das wichtigste, niemand, von meinem Team abgesehen, beachtete mich. Etwas ruhiger und nicht mehr ganz so nervös folgte ich Christiano zum Regal mit der Kaffeemaschine und schenkte mir einen großen Becher des heißen, braunen Gebräus ein.
»Seit wann trinkst du Kaffee schwarz?«, stellte Marco überrascht fest.
Stimmt, bisher bestand mein Kaffee immer zur Hälfte aus Milch und drei Teelöffeln Zucker. Ab jetzt nicht mehr. Der Gedanke an Milch, geschweige denn Zucker, weckte Ekel. Ich beschränkte mich als Antwort auf ein indifferentes Schulterzucken. Was hätte ich auch sagen sollen?
»Wer fehlt noch?«
Montagmorgen, das bedeutete eigentlich jour fix, oder neudeutsch Teambesprechung. Die allgemeine Idee bestand darin, zu Wochenbeginn die laufenden Projekte und Baustellen mit den Kollegenteams durchzusprechen und die Arbeiten der nächsten Tage zu planen. Ich gebe zu, dass dieses Treffen auf meinem Mist gewachsen war. Anfänglich skeptisch betrachtet und von den Kollegen der anderen Trupps als Laberveranstaltung abgetan, gewann das Konzept von Woche zu Woche mehr Anhänger. Inzwischen trafen sich gut zwei Drittel aller Teams zu ähnlichen Meetings. Die einzigen, die sich vehement dagegen sträubten, waren die Leute unter Momsens und Andreas Regime, obwohl jeder, der seine Augen und Ohren nicht verschloss, die Vorteile sehen konnte. Wer weiß, was er zu tun hat oder es sich gegebenenfalls erklären lässt, macht einfach weniger Fehler.
»Hans und Mario sind noch in der Umkleide.«, erwiderte Jan und begann frech zu grinsen, »Und ihr zwei, habt ihr ein nettes Wochenende gehabt?«
Statt mit einer schlagfertigen Bemerkung zu kontern, setzte Christiano ein dermaßen zufriedenes Lächeln auf, dass es mir heiß unterm Kragen wurde.
»So nett?«, fragte Marco gleichzeitig ungläubig und unterschwellig neidisch.
»Besser!«, konnte ich mich nicht beherrschen, meinen Senf dazuzugeben.
»Na, wenn das nicht unser Arschfickerkaffeekränzchen ist.«
Da sitzt man friedlich am großen Tisch des Aufenthaltsraums, unterhält sich mit seinen Kollegen und muss sich solch blöde Sprüche anhören. Vor wenigen Wochen wäre ich bei einer derartigen Anmache, mit der wir wenig überraschend von Andreas bedacht wurden, vor Scham und Angst im Erdboden verschwunden. Ich wäre rot angelaufen und hätte mich massiv zusammenreißen müssen, nicht in Tränen auszubrechen. Inzwischen ließen mich solche mentalen Ausfälle kalt und hätte sie auch nur mit einem mitleidigen Schulterzucken bedacht, wären da nicht meine heterosexuellen Kollegen gewesen, die Andreas mit seiner Bemerkung in Sippenhaft nahmen. Bevor ich zu einem geistreichen Konter ausholen konnte, nahm Marco den Federhandschuh auf.
»Oh schaut mal! Was ist das denn für ein Ding in Andreas Schädel?« - dramaturgische Pause - »Ein kleiner grüner Gehirnfresser! Und was macht er da?« Eine perfekte zweite hochdramatische Pause und ein Wechsel in eine albern kieksige Stimmlage - »Verhungern!«
Der Tisch beziehungsweise die Anwesenden am Tisch prusteten los. Jan verschluckte sich an seinem Kaffee und verteile eine volle Ladung über die Tischplatte. Andreas fand das gar nicht witzig. Er mochte nur Witze, die auf Kosten anderer gingen, was ihn logischerweise ausschloss. Während wir uns köstlich amüsierten, verfinsterten sich seine Gesichtszüge. Sie bekamen etwas verkniffenes voller kaum unterdrücktem Zorn. Offen feindselig fixierte Andreas mit zu Schlitzen zusammengezogenen Augen Marco.
»Marco, mein Freund«, das letzte Wort buchstabierte sich zwar F-r-e-u-n-d, klang aber verdammt nach F-e-i-n-d. Mit einer Stimme, dessen Temperatur nur knapp über dem absoluten Nullpunkt lag, fuhr Andreas fort: »Ich glaube ja nicht, ob ausgerechnet du dich zu dem Thema äußern solltest. Wissen deine neuen Freunde eigentlich, wie intensiv du sie schätzt?«
Die Mehrheit am Tisch freute sich schon auf eine elegante Erwiderung, doch die kam nicht. Statt etwas zu sagen, wurde Marco kreidebleich mit einem leichten Hauch von Grün. Für knapp eine Zehntelsekunde kreuzten sich unsere Blicke, doch dieser kurze Moment reichte, um mir einen eisigen Schauer über den Rücken zu jagen. In Marcus Augen schimmerten Scham, Schuld und Verzweiflung. Ohne auf Andreas oder uns zu achten, sprang unser Kollege auf und rannte zum Klo, dessen Tür sich direkt am Ausgang des Aufenthaltsraums befand. Entgeistert verfolgten wir seinen Spurt zur Sanitärkeramik und vernahmen kurze Zeit später, wie sich sein Mageninhalt in das aufnahmewillige Becken entleerte. Entsetzt und ziemlich verwirrt schauten meine Kollegen, Christiano ausgenommen, von der Klotür zu Andreas, zu mir und wieder zurück zur Klotür. Während ich nur mit den Schultern zuckte und damit nicht unbedingt wahrheitsgemäß antwortete, zeigte sich Andreas überaus zufrieden und verließ mit beschwingten Schritten den Aufenthaltsraum.
Während die anderen sich fragten, was da gerade für eine schräge Szene abgegangen war, überlegte ich, wie mit der Situation umzugehen war. Mir war sofort klar, worauf Andreas anspielte: Auf meine Vergewaltigung und der offensichtlich von Marco verdrängten Tatsache, dass er einer meiner Vergewaltiger war. Marcos spontaner Würfelhusten war demnach nichts weiter, als die »Ich bin auch noch hier«-Meldung seines schlechten Gewissens. Der Mann wusste, was er mir getan hatte, aber offensichtlich begriff er erst jetzt, was er mir angetan hatte. Die Erkenntnis muss ihn wie ein Vorschlaghammer getroffen haben. Anders ließ sich kaum die rebellische Reaktion seines Magens erklären.
In gewisser Weise befriedigte mich Marcos Verhalten. Ich hatte schon vor längerer Zeit entschieden, meinem Kollegen seine Tat zu verzeihen, da ich davon überzeugt war, dass seine Tat gänzlich anders motiviert war, als bei meinen anderen Vergewaltigern. Dass er jetzt sogar Schuld und Reue zeigte, zumal in einem Maße, welches ihm das Essen aus dem Magen trieb, festigte meinen Entschluss nur noch. Allerdings galt es, sehr vorsichtig vorzugehen. Wenn mich meine Nase - oder war es ein Vampirsinn? - nicht trügte, befand sich Marco in einer sehr labilen Verfassung, ähnlich der, die mich seinerzeit in Constantins Hände trieb.
Mit einem ahnungslosen »War was?« kam Hans in den Aufenthaltsraum gestolpert, bemerkte unsere betretenen Gesichter und formulierte seine Frage erneut, wenn auch mit vollkommen anderer Betonung: »War was?« So viel zum schlechten Timing.
Wenn einmal der Wurm drin ist, dann kann man machen was man will, es wird nicht mehr besser. Diese ebenso universelle wie von jedermann bestimmt schon mal am eigenen Leibe erfahrene Regel gilt gleichermaßen für Dinge wie Tätigkeiten. Ich kann mich noch gut an den Fall eines Meisters bei Niederreuter erinnern, der sich den Traum eines Sportwagens erfüllen wollte. Eigentlich war die Karre über seinen finanziellen Möglichkeiten, aber was tut man nicht alles, wenn die Leidenschaft das Handeln diktiert? Wäre der Traum doch nur Traum geblieben, aber wie der Volksmund so schön sagt: Hinterher ist man immer schlauer. Es begann damit, dass der bereits mit einem Plattfuß ausgeliefert wurde. Mahlzahn, so der Name des Meisters, hatte sich extra freigenommen, um den Wagen direkt beim Werk abzuholen. Der Bolide rollte vor, der Verkäufer überreichte die Schlüssel, doch genau in dem Moment, als Mahlzahn sich in seinem neuen fahrbaren Untersatz niederlassen wollte, gab das linke hintere Rad ein unschönes »Pfffffffffffffft« von sich und war platt. Es hätte allen beteiligen eine Warnung sein sollen. Denn von da an ging es bergab. Schon bei der Fahrt vom Werk nach Hause kam es zur nächsten Panne. Mitten auf der Autobahn fiel die komplette Motorelektronik aus, inklusive der Scheinwerfer und Rückleuchten, die bei nächtlicher Fahrt nicht ganz unwichtig waren. Im gesamten nächsten Jahr versuchte eine ganze Legion Mechatroniker dem Wagen die Macken auszutreiben. Sie scheiterten. Von den 365 Tagen weilte das Fahrzeug 270 Tage in der Werkstatt, bis der Hersteller ein Einsehen hatte und einer Wandlung des Kaufvertrags zustimmte.
Ähnlich verlief der restliche Tag. Mit Marcos verbalem Zusammenstoß mit Andreas war die Stimmung gekippt. Aller Versuche zum Trotz, das Ruder irgendwie wieder rumzureißen, scheiterten. Unser jour fix lief in einer völlig verkrampften und unkonzentrierten Stimmung ab. Themen, für die wir sonst keine zwei Minuten brauchten, um sie durchzusprechen, hielten uns fast eine Viertelstunde auf. Als wir eine Stunde später als sonst üblich auf unserer Baustelle, der Schwammsanierung im Festsaal, eintrudelten, mussten wir feststellen, einen Teil des für den Tag benötigten Materials vergessen zu haben. Zu aller Überraschung bot sich Mario an, zurückzufahren und die Sachen zu holen, was damit endete, dass er auf dem Rückweg mit dem Firmentransporter liegen blieb. Der Tag ging so verhext weiter: Jan stellte nach zwei Stunden Arbeit fest, dass er eine Balkenkonstruktion spiegelverkehrt eingebaut hatte und von vorne anfangen durfte. Jeder für sich schien irgendwie neben sich zu stehen. Selbst Christiano, den eigentlich nichts und niemand erschüttern konnte, zeigte nicht nur eine gewisse Nervosität, sondern auch eine für ihn völlig untypische Dünnhäutigkeit. Als ihn ein Maurer, einer der vielen anderen, aus Versehen mit einer Schubkarre voller Hohlziegel ankarrte, fauchte Christiano ihn mit einer Vehemenz an, die ich so bei ihm noch nicht erlebt hatte. Es war nur der Ignoranz des Maurers zu verdanken, der nach einem genuschelten »'tschuldigung!« karrenquitschenderweise seines Weges zog, dass die voll ausgefahrenen Zähne des portugiesischen Blutsaugers unbemerkt blieben.
»Ähm...«, kam mein Freund und Lehrer für alternative Lebenskonzepte auf mich zugestiefelt, nachdem er sich wieder gefangen hatte, »Ich versteh nicht, was mit mir los ist. Aber seit heute Morgen stehe völlig neben mir.«
»Mir geht es ähnlich. Ich mache drei Kreuze, wenn in zwei Stunden Feierabend ist. Ich möchte diesen Tag so schnell wie möglich abhaken dürfen.«
Ich durfte nicht. Statt zwei Stunden verschob sich der Feierabend um mehrere Stunden. Keine halbe Stunde nach dem kleinen Vorfall mit Christiano sorgte erneut der hohlziegelkutschierende Maurer für Verdruss. Schwamm, insbesondere echter Hausschwamm ist ein aggressiver Holzschädling, dessen zerstörerisches Treiben meist im Verborgenen abläuft. Nachdem wir das Ausmaß des Schadens ermittelt und dokumentiert hatten, sahen wir uns genötigt, Teile des Gebäudes zu sperren, insbesondere den Bereich direkt über dem hauptsächlich betroffenen Ballsaal. Der Boden in diesem Stockwerk mochte stabil und sicher wirken, war es aber nicht. Während die Holzdielen oberflächlich noch gut aussahen, waren ihre Unterseite und die Balken darunter fast vollkommen vom Schwamm zerfressen. Obwohl mehrfach von der Bauleitung auf die Probleme hingewiesen wurde, schien der rempelnde Maurergeselle noch nie etwas davon gehört zu haben. Auch die Bedeutung des rotweißen Flatterbands, das den gefährdeten Bereich weiträumig markierte, hielt ihn nicht davon ab, mit seiner Schubkarre voller Mauersteine über die morschen Fußbodenbohlen zu schiggern. Es kam, wie es kommen musste, es gab ein Knacken, dann ein Krachen und Schubkarre und Steine folgten der Schwerkraft nachdem sich der Boden unter ihnen schwammbedingt in Wohlgefallen aufgelöst hatte. Der Maurer folgte nicht, denn dieser hatte sich rechtzeitig mit einem Hechtsprung in Sicherheit gebracht, dabei aber den Arm geprellt.
Zusammen mit der Decke war auch unsere Feierabendplanung zusammengebrochen. Während der Verursacher des Desasters eine herzerweichende Arie hinlegte und lamentierte, welch unerträgliche Schmerzen er ertragen müsse, dass man sich seiner erbarmte und ins Krankenhaus karrte, durften wir uns vom Gedanken an ein baldiges Arbeitstagsende verabschieden. Stattdessen galt es mit vereinten Kräften, die Bruchstelle zu sichern und zu verhindern, dass sich weitere Deckenteile dem Vorbild anschlossen und ebenfalls abstürzten. Es war wirklich ein absoluter Scheißtag.
Statt gegen vier unsere Sachen zu packen, zogen sich die Arbeiten bis halb acht hin. Als wenn der angerichtete physische Schaden nicht so schon groß genug war, durfte ich mich als Niederreuters Vertreter auch noch mit den rechtlichen Aspekten auseinandersetzen. Als erstes galt es, offiziell eine Behinderungsanzeige gegenüber dem GU abzugeben. Schließlich waren wir für die nun eingetretene Bauverzögerung kaum verantwortlich zu machen. Als wenn dies nicht reichte, verlangten die anderen Gewerke, dass ein Statiker den Bau begutachten sollte. Vorher würden sie keine Hand rühren. Sie hätten schließlich eine Verantwortung gegenüber ihren Mitarbeitern und könnten ihnen nicht zumuten, auf einer unsicheren Baustelle zu arbeiten. Jeder im Container der Bauleitung wusste, dass sie sich einen Scheißdreck um ihre Mitarbeiter sorgten, sondern nur eine gute Gelegenheit witterten, dem Investor auf einfache Weise Kohle aus der Tasche zu ziehen, indem sie sich den Arbeitsausfall bis zum Gutachten des Statikers vergolden ließen. Befand ich mich wirklich in einem Baucontainer oder in einem Haifischbecken?
Während der ganzen Hektik war mir zuerst gar nicht aufgefallen, dass ich mit jeder Minute, die der Nachmittag voranschritt und in den Abend überging, munterer wurde. Erst, als die Sonne untergegangen war, begriff ich, was meine Lebensgeister weckte und meine Laube hob. Als ich kurz nach neun mit Christiano, Jan und Hans die Baustelle verließ - die anderen Kollegen hatte Mario mit einem Ersatzwagen für den liegen gebliebenen zweiten Transporter zwischenzeitlich abgeholt - war ich zwar fix und fertig, aber doch froh, den verkorksten Tag endlich überstanden zu haben. Ich wollte eigentlich nur noch eins: Nach Hause.
»Zu dir oder zu mir?«, fragte Christiano, während wir uns den Staub des Tages in der Dusche der Umkleide vom Körper spülten. Die Sonne war lange hinterm Horizont versunken, weswegen wir uns um Details, wie Sunblocker, nicht mehr kümmern mussten.
»Ich würde gerne zu mir fahren. Paps wartet bestimmt schon und möchte bestimmt von Christine erzählen. Kommst du mit?«
»Wenn du möchtest?«, Christiano überlegte, »Ja, ich komme mit, werde aber nachher nochmal kurz verschwinden und uns ein paar Konserven besorgen.«
Sauber und frei von Shampooresten stellte ich die Brause ab: »Ich bin wirklich froh, dass dieser Tag zu Ende ist. So viel Scheiß wie heute habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt. Ach was, noch nie!«
In vampirischer Abwandlung eines Sprichworts der Menschen hätte Christiano an dieser Stelle bemerken müssen, dass man den Abend nicht vor dem Tage loben sollte, doch mein Freund, selbst von den vergangenen Ereignissen geschafft, tat es nicht. Auf der anderen Seite: Was sollte jetzt noch schlimmes passieren?
Wir zogen uns an, knipsten als Letzte das Licht aus und schlossen die Werkstatt ab. Christianos Wagen brachte uns in knapp fünfzehn Minuten bis nach Hause. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war eine freie Parklücke, die uns die sonst übliche Suche zu dieser Tageszeit ersparte. Gewohnheitsmäßig schaute ich zu unserer Wohnung empor und entdeckte Licht im Wohnzimmer.
»Ah, Paps ist zu Hause.«, bemerkte ich, »Ich glaube, wir sollten ihm bei Gelegenheit beichten, dass du nicht mein Geliebter bist. Auf der anderen Seite, wie erklärt man seinem Vater, dass man der Lebenspartner des Königs der Vampire ist?«
»Zum Glück ist letzteres dein Problem.«, erwiderte Christiano nicht ohne einen Anflug von Schadenfreude. »Ich stelle mir gerade vor, wie meine Eltern reagiert hätten. Oh, das wäre bestimmt...«
Christiano verstummte abrupt und schaute sich mit alarmierten Sinnen um. Ich folgte seinen Blicken und entdeckte, dass er insbesondere die dunklen Winkel und Schatten der Umgebung taxierte. War da etwas? Meine ebenfalls durch die Verwandlung zum Blutsauger geschärften Sinne spähten in die Dunkelheit. Da war etwas, oder nicht? Es war wie in jener Nacht, als ich ebenfalls das Gefühl hatte, in den Schatten meiner Straße jemanden gesehen zu haben, nur dass der Eindruck dieses Mal deutlicher stärker war.
»Schau genau hin.«, flüsterte Christiano, »Dort, unter dem Baum und auch zwischen den Büschen.«
Ich schaute, schaute genauer und sah: Nosferatu. Ich konnte zwar nur ihre Umrisse erkennen, spürte aber deutlich ihre Präsenz.
»Nosferatu? Was wollen die hier?«
»Oh, du bist gut.«, lobte mich mein Freund, »In der Tat, es sind Nosferatu. Wenn ich vermuten soll, was sie hier treiben, dann das, dass sie dich bewachen und beschützen. Hatte Constantin nicht erwähnt, dass Tamir ein wachsames Auge auf dich werfen wollte?«
Bei der Nennung von Tamirs Namen lief mir ein kalter Schauer den Rücken runter. Tamir, Tasmanir Musferatu, wie ihn Constantin nannte, war ein unheimlicher Vogel und noch weitaus gruseliger, als Totenschädelgesicht Laurentius. Nosferatu, das waren unheimliche Gesellen, obwohl sowohl Constantin als auch Christiano ihnen mit Ehrfurcht begegneten, sie sogar verehrten. Vielleicht sollte ich mich einfach nur geschmeichelt fühlen, dass Tamir höchstselbst für meine Sicherheit sorgte. Aber eigentlich war mir die ganze Angelegenheit ziemlich egal. Ich wollte nur eins: Heim und mich an Christiano gekuschelt aufs Sofa legen.
»Lass uns hoch gehen.«, meinte ich schulterzuckend und marschierte in Richtung Haustür. Christiano schaute sich noch einmal um und folgte mir dann. Gemeinsam stiegen wir die Stufen zu meiner und meines Vaters Wohnung empor. Gut gelaunt, jedenfalls besser, als nach dem verkorksten Tag zu erwarten war, nahm ich meinen Wohnungsschlüssel und wollte gerade die Tür aufschließen, als mir der vermaledeite Schlüsselbund entglitt und scheppernd zu Boden fiel.
»Okay, das war es jetzt aber hoffentlich.«, meine Frustration mit dem Tag hatte den Punkt erreicht, in der sie in fatalistische Resignation umschlug. Ich lachte und schüttelte Kopf. Christiano grinste: »Hoffentlich!«
Ich schloss die Tür auf. Im Flur war nur eine kleine Tischleuchte an, dafür schien Licht aus dem Wohnzimmer zu uns herüber.
»Ich bin's und habe Christiano mitgebracht.«, rief ich den Gang entlang. Es war der gleiche Trick, den ich auch beim ersten Mal als mich Christiano begleitete, angewendet hatte. Mein Paps sollte genügend Zeit erhalten, um sich und einen eventuell weiblichen Gast, nötigenfalls wieder in einen gesellschaftsfähigen Zustand zu versetzen. Nichts wäre peinlicher, als meinen Erzeuger beim Fummeln zu überraschen. Ich hätte mich im umgekehrten Fall in Grund und Boden geschämt.
»Wir sind im Wohnzimmer.«, schallte es uns entgegen. Wir? Dann lag ich mit meiner Vermutung also nicht verkehrt. Mein Vater hatte einen Gast. Zwischen Christine und ihm schien es wirklich ernst zu werden, was mich glücklich stimmte. Wie lange würde ich ihn als Vampir, der ich nun war, noch besuchen können? Da war es gut zu wissen, dass mein Paps offensichtlich jemand gefunden hatte, der für ihn da war und ihn mochte, vielleicht sogar liebte.
Ohne uns besonders zu beeilen, sondern eher langsam, legten wir unsere Sachen ab und schlenderten gemütlich in Richtung Wohnzimmer.
»Hallo Paps, wir...«
Mein Vater war in der Tat nicht allein. Allerdings war es nicht Christine, die ihm Gesellschaft leistete. Es war auch keine Frau, nicht einmal ein Mensch, sondern niemand anderes, als Tasmanir Musferatu, der im Sessel neben meinem Paps saß. Die beiden Männer schienen sich unterhalten zu haben. Auf dem Wohnzimmertisch lagen alte Fotoalben. Einzelne Fotos waren vorsichtig herausgelöst worden.
»Eure Heiligkeit.«, grüßte Christiano den Nosferatu mit aufrichtiger Ehrfurcht und auch mir erschien der unheimliche Vampir nicht mehr unheimlich, sondern irgendwie erhaben. Meine Verwandlung hatte offenbar die Weise verändert, mit der ich Nosferatu wahrnahm. Auf einen Menschen wirkten sie wie die Verkörperung des monströsen, zombiehaften, kaum noch menschenhaften Monsters, aber uns Vampiren erschloss sich ein ganz anderes Bild. Sie waren immer noch weit davon entfernt, auch nur ansatzweise als schön oder ästhetisch zu gelten. Aber da war etwas, eine Art Funken, eine Ausstrahlung, der ich mich nicht erwehren konnte und das Tamir eine Aura von Spiritualität verlieh.
Tasmanir Musferatu nickte Christiano zu und tat dann etwas sehr überraschendes. Er griff mit einer Hand nach der Schulter meines Vaters und massierte sie, was diesem Kraft zu geben schien.
Mein Blick wanderte über die Bilder auf dem Wohnzimmertisch. Kaltheißer Schweiß brach auf meiner Stirn aus und perlte an ihr herab. Zitternd und zögerlich trat ich vor. Ich wollte die Bilder sehen, doch fürchtete ich sie auch. Mein Paps nahm eines vom Tisch, schloss seine Augen, während er über die Oberfläche des Bildes streichelte. Tränen quollen aus seinen Augenwinkeln. Und plötzlich waren seine Augen offen und schauten mich an - traurig und wehmütig.
»Flo, wir müssen reden.«
Sprach's und reichte mir das Foto. Es war ein Bild meiner Mutter.
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