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Nachtschatten
Teil 9 - Bananenschale
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Informationen
- Story: Nachtschatten
- Autor: Nero
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
- Bananenschale
- Frantz
- Großherzog
- Teamwork
- Diener zweier Häuser
- Die grauen Nebel
- Bumm!
- Wanderer zwischen den Welten
- Muster an den Wänden
- Katerstimmung
- Narben
- Die Tür
Bananenschale
Florian
»Flo, wir müssen reden.«
Die Worte meines Vaters hallten in meinem Schädel nach. Ärger keimte in mir ebenso auf, wie allgemeine Verwirrung und ein Gefühl von Ohnmacht. Mein Vater saß neben einem Nosferatu? Die Implikationen waren weitreichender, als mein Hirn auf einen Schlag verarbeiten konnte. Selbst für einen Vampir stellten Nosferatu ausgesprochen gewöhnungsbedürftige Wesen dar. Ein Mensch zeigt hingegen gemeinhin instinktives Fluchtverhalten. Nicht so mein Vater. Wenn ich die Situation, die Bilder und Fotos, die zwei Weingläser auf dem Wohnzimmertisch richtig deutete, hatten wir, Christiano und ich, meinen Vater und Tasmanir Musferatu, den Stammvater der Nosferatu des Westens, bei einer längeren Unterhaltung unterbrochen.
»Ja, wir müssen reden!«, stimmte ich mit ächzendem Sarkasmus in der Stimme zu.
Meine Entgegnung kam gereizt und reflektierte die aufwallende Wut in mir. Tamir seufzte und wirkte betrübt, was bei seiner Monsterfratze schon einiges bedeutete.
»Christiano, mein Junge, wärst du so nett und gehst in die Küche? Ich habe eine kleine Stärkung für euch im Kühlschrank deponiert. Vielleicht wärmst du sie noch ein wenig an, ja?«
»Ja gerne, Eure Heiligkeit.«, erwiderte der Angesprochene mit überraschender Demut in der Stimme. Ich hatte Christiano noch nie so ehrfürchtig erlebt.
»Bitte, nenn mich Tamir. Wenn ich etwas bin, dann alles andere als heilig.«
Christiano deutete eine kleine Verbeugung an und ging. Eine Sekunde später waren mein Vater, der Nosferatu und ich alleine, was wohl auch der Intention des Nosferatu entsprach.
»Du weißt, was er ist?«, fragte ich meinen Vater scharf - Paps passte irgendwie nicht - und deutete unhöflicherweise mit meinem Zeigefinger auf Tamir.
Mein Vater nickte, seufzte und meinte: »Natürlich weiß ich es.«
»Woher?«, hakte ich in einem inquisitionistischen Tonfall nach.
Statt zu antworten, schaute er auf meine Hand. Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass ich immer noch das Foto meiner Mutter in ihr festhielt.
»Was?«, fragte ich und wusste, dass alle Farbe aus meinem Gesicht wich. Ich kannte die Antwort. Ich wusste nicht wieso oder woher, aber ich kannte und ich fürchtete sie.
»Ja, Florian, deine Mutter war eine Vampirin. Es tut mir leid.«
»Es tut dir leid?«, brüllte ich meinen Vater an, »Es tut dir leid? Ich... Was? Wieso? Warum? Wie? Verdammte Kacke, ich kann nichtmal mehr eine klare Frage formulieren. Ist dir klar, was du da sagst? Moment mal, du kennst Tamir? Und du weißt auch, was Christiano ist? Okay, was hast du sonst noch vergessen zu erwähnen?«
»Flo, bitte!«, flehte mich mein Vater, den Tränen nahe, an, »Ich habe deine Mutter geliebt, wirklich über alles geliebt, und sie liebte mich.«
»Vielleicht«, schaltete sich Tamir mit sanfter Stimme ein, »sollten wir am Anfang beginnen. Florian, glaube mir, ich verstehe deine Wut. Ich glaube sogar, dass du allen Grund hast, wütend zu sein. Aber bitte, urteile nicht zu hart und vor allem nicht vorschnell. Dies ist eine Situation, die ich in meinem ganzen Leben noch nie erlebt habe.«
»Wovon redest du?« Was wollte mir der Nosferatu eigentlich erzählen? Von was für einer Situation sprach er? Ich wusste nur eins, dass mich mein Vater Zeit meines Lebens belogen hatte. Und ich hatte mir immer Sorgen gemacht, dass er mich eines Tages totprügelt, weil ich schwul war. Lächerlich.
»Ich rede davon, dass du das Kind eines Menschen und eines Vampirs bist. Es ist genau die Bananenschale, die ich befürchtet habe, denn sie ist nicht nur in der Lage, dein und Constantins Glück zu zerschlagen, sondern besitzt die Potenz, euch zu vernichten.«
»Constantin«, der Klang seines Namens beruhigte mich und dämpfte das Feuer meiner Wut.
»Also gut, Paps, erzähl mir alles - von Anfang an!«
Es war eigentlich ganz einfach. Mein werter Herr Vater und meine geliebte Mutter lernten sich ganz klischeehaft in einem Club, oder wie mein Vater es formulierte, „in der Disse“ kennen. Was er nicht wusste war, dass Mum eigentlich nur auf einen Snack aus war. Aber wie es manchmal so kommt, funkte es zwischen den beiden. Mir meinen Paps als heißen Discofeger vorzustellen, erforderte eine Menge Fantasie. Wobei ich meinem Erzeuger zugute halten musste, dass er damals allem Anschein nach noch nicht der langweilige Pantoffelheld und Spießer war, zu dem er in den letzten Jahren mutierte. Ganz im Gegenteil zeigten die alten Fotos einen ziemlich attraktiven Typen mit Potenzial zum Aufreißer. Objektiv gesehen sah er auf seine Weise wirklich nicht schlecht aus. Er war groß, über einen Meter neunzig, und zumindestens damals wirklich athletisch gebaut. Der Mann war ein Brecher, aber ohne die oft damit verbundene Tumbheit. Meine Mutter ließ sich hingegen nur mit übernatürlich beschreiben und ich war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Meine langen blonden Haare, mein schlankes, engelhaftes Äußeres, war das Erbe ihrer Gene. Kein Kontrast hätte größer sein können als meine Mutter neben meinem Vater zu sehen. Aber genau dieser Kontrast war es dann wohl, der die beiden zusammenführte und verband.
Meine Eltern waren gut drei Jahre zusammen, bevor meine Mutter ihm ihr kleines Geheimnis enthüllte, nämlich das, sich von menschlichem Blut zu ernähren. Wie sie es schaffte, dies drei Jahre lang geheim zu halten, musste entweder an der verblödenden Wirkung der Liebe auf geschlechtsreife Männer liegen oder an einer natürlichen Begabung von Vampiren an Tarnung und Verschleierung. Es änderte jedenfalls nichts an ihrer Liebe zueinander. Ganz im Gegenteil hielt mein Vater noch am gleichen Tag um ihre Hand an. Doch meine Mutter lehnte nicht nur ab, sondern zog sich sogar zurück. Die Beziehung der beiden geriet in ihre erste und einzige Krise. Wenn sich mein Paps etwas in den Kopf setzte, dann hielten ihn keine zehn Pferde auf. Er liebte meine Mutter und wusste auch, dass sie ihn liebte, weswegen er wissen wollte, warum sie seinen Antrag trotzdem ablehnte. Etwa nur, weil sie ein Vampir war?
»Sie war nicht irgendein Vampir.«, steuerte Tamir dem Bericht meines Vaters eine Information bei, »Sie war die letzte Nachkommin des Hauses Margaux. Ihr vollständiger Name war Großherzogin Isabell Maria Mercedes Margaux sur Rhone, eine gebürtige Vampirin. Aber das haben wir erst jetzt erfahren.«
Der Nachsatz war mit einem Blick zu meinem Vater verbunden. Der nickte bestätigend und erzählte weiter. Nachdem meine Mutter seinen Antrag abgelehnt hatte, ließ dieser nicht locker. Er war einfach nicht der Typ, der ohne eine plausible Antwort aufgab. Also bekniete er meine Mutter, ihm zu erklären, warum sie die Beziehung beenden wollte. Sie wollte es eigentlich nicht. Was sie wollte, war meinen Vater zu schützen. Man könnte es ihr dunkles Familiengeheimnis nennen. Meine Mutter war nicht nur die letzte Nachkomme des Hauses Margaux, sie war das Haus, das ganze Haus. Außer ihr gab es niemanden. Sie hatte nie jemanden verwandelt und alle Mitglieder waren einer Blutfehde zum Opfer gefallen. Alles, was sie besaß, war ihr Name, und auf dem lastete der Fluch der Blutfehde. Zwischen dem Haus Margaux und einem anderem Haus, dessen Namen sie gegenüber meinem Vater zu dessen Schutz niemals preisgab, herrschte ein Jahrhunderte alter Streit, an dem das Haus meiner Mutter aber auch zugrunde gegangen war. Sie allein bewahrte das Erbe, schützte und behütete es. Dies war der Grund, warum sie sich von meinem Vater trennen wollte, um ihn nicht in Gefahr zu bringen. Zuerst erschien die Idee, als Tarnung eine Beziehung mit einem Menschen zu führen, ausgesprochen verlockend. Als dann aber meine Mutter begriff, wie sehr ihr mein Vater ans Herz gewachsen war, wollte sie nicht riskieren, dass er durch irgendwelche Racherituale eines feindlichen Vampirclans zu Schaden kam.
Doch am Ende ließ sie sich vom Gegenteil überzeugen. Mein Vater argumentierte, dass es seine Entscheidung sei, das Risiko einzugehen oder nicht. Sie heirateten und verbrachten alles in allem zehn sehr glückliche Jahre miteinander. Fünf davon teilte ich mit ihnen. Dass meine Mutter überhaupt schwanger wurde, war für beide eine große Überraschung, da nach allem, was meiner Mutter zu diesem Thema bekannt war, eine Empfängnis bei gemischten Mensch-Vampirpaaren als extrem unwahrscheinlich galt. Die Natur hatte die entsprechenden Studien wohl nicht gelesen und entschied anders. Neun Monate später erblickte ich das Licht der Welt - als Mensch.
Wenn es um die Verteilung der Erbsubstanz ging, musste meine Mutter wohl als die dominantere von den beiden betrachtet werden. Kein Wunder, bei einem Wesen, das im Gegensatz zum Menschen eine Raubtierspezies war. Ich erbte ihr Aussehen. Haare, Gesichtszüge, Statur, bei den meisten äußerlichen Attributen drängelten sich die Gene meiner Mutter in den Vordergrund.
»Flo, oh Flo, ich schäme mich, wie schlecht ich dich nach Lissis Tod behandelt habe. Aber...«, Paps brach in Tränen aus, »Jeden Tag, den ich dich sah, sah ich Isabell. Du warst ein glühender Stachel in meiner Trauer, den ich nicht entfernen konnte. Ich war so schäbig, so grausam zu dir und das nur, weil ich deinen Anblick nicht ertragen konnte. Ich habe dich dafür gehasst, dass du lebtest und sie nicht. Flo, kannst du mir verzeihen?«
Ich wusste es nicht. Konnte ich? Mein Vater hatte mir die Hölle auf Erden bereitet und das nur, weil er nicht mit dem Tod meiner Mutter klar kam. War das fair? Was konnte ich, ein fünfjähriger Knirps dafür, dass meine Mutter während eines Autounfalls ums Leben kam? Nichts! Was konnte ich dafür, dass sie von einem betrunkenen Fahranfänger angekarrt wurde? Sie wurde doch von einem betrunkenen Fahranfänger überfahren, oder?
»Jaaein...«, wand sich mein Vater, »Es gab den Unfall, das ist soweit richtig. Die Polizei hat auch einen Täter ermittelt, eben diesen betrunkenen Fahranfänger, der aber Stein und Bein schwor, dass er nicht schuld wäre. Es wären geflügelte Monster gekommen, die seinen Wagen abgedrängt hätten.«
Geflügelte Monster? Also waren es Vampire, die meine Mutter auf dem Gewissen hatten. Natürlich glaubte niemand einem Alki am Steuer. Der war nur ein willkommener Sündenbock. Und was hieß das nun für mich? Das, was Tamir schon früher behauptete, nämlich dass mein ganzes Leben eine einzige Lüge war.
»Hier, trink!«, Christiano war aus der Küche zurückgekehrt und reichte mir einen warmen Blutbeutel, »Du siehst aus, als wenn du es gebrauchen könntest.«
»Du bist... ein... ?«, stammelte mein Vater entsetzt, als ich meine Hauer ausfuhr und sie genüsslich in den mit rotem Saft gefüllten Beutel bohrte. »Ich dachte, Christiano wäre nur dein Freund...«
»Es ist ein wenig komplizierter. Aber in einem Punkt hast du recht, du hast mir das Leben zur Hölle gemacht.«, begann nun ich meinen Part zu erzählen, »Allerdings bist du beileibe nicht der einzige. Kannst du dir vorstellen, wie schwer es war, mit meinem Aussehen zu überleben? Ich mag dich ständig an Mum erinnert haben, aber ich musste so rumlaufen. Kinder können richtig grausam sein. Hast du dich nie gefragt, warum ich keine Freunde hatte? Nein, natürlich nicht. Du warst ja damit beschäftigt, dich in deinem Selbstmitleid zu suhlen. Wusstest du, dass mich die Kids in der Schule schon als Schwuchtel beschimpft haben, als weder ich noch sie wussten, was eine Schwuchtel eigentlich ist. Ständig hieß es, der Typ ist ja ein Mädchen. Mädchen – ich bin ein Junge, ein Mann! Ich war es immer und wollte auch nie etwas anderes sein. Später, in der Berufsschule und bei Niederreuter, wurde es schlimmer. Da mobbten sie mich richtig. Paps, an dem Abend an dem ich verschwand, haben sie mich vergewaltigt! Ver-ge-wal-tigt! Fünf Typen sind über mich hergefallen. Fünf! An dem Abend wollte ich nicht mehr Leben und so fuhr ich zu Talbrücke und... Ich sprang herunter, schlug aber niemals auf. Constantin fing mich auf und stellte mich vor die Wahl: Ihm folgen oder der Natur ihren Lauf lassen. Ich folgte ihm und ich folge ihm noch immer. Er ist der Mann, den ich liebe und er ist der Mann, der mich verwandelt hat.«
War meine Offenbarung zu hart, zu direkt? Es kam extrem selten vor, dass mein Vater erbleichte. Dieses Mal wich ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht. Übrig blieb eine aschgraue, müde und alt wirkende Fratze.
»Schluss damit!«, Tamirs Stimme knallte wie ein Peitschenhieb, »Was soll dieser selbstzerfleischende Seelenstip? Wollt ihr ewig in der Vergangenheit leben oder die Zukunft für euch erobern? Florian, du bist nicht mehr das schüchterne, introvertierte Engelbübchen. Du hast dich nicht nur in einen attraktiven Vampir sondern auch in einen selbstbewussten Mann verwandelt. Sag mir, welche Bedeutung haben die Verletzungen, die körperlichen wie die seelischen, noch für dich?«
»Keine!«, antwortete ich überzeugt, »Ehrwürdiger Tamir, Ihr habt recht. Ich bin nicht mehr das Weichei, das sich duckte, in sich verkroch und schweigend erduldete, was ihm angetan wurde. Mich macht niemand mehr an. Und ja, wenn das die Frage ist, ich habe meinem Vater verziehen. In gewisser Weise litten wir beide unter dem Erbe meiner Mutter. Wofür ich ihr aber keinen Vorwurf mache, denn das Thema ist endgültig Geschichte.«
»Ich befürchte, ganz so einfach ist es nicht.«
Frantz
Constantin
»Constantin?«
Wenn ich Frantz Gesichtsausdruck richtig interpretierte, was bedingt durch die Laserlichtschutzbrille nicht ganz einfach war, dann zeigte er sich von meinem Besuch im Labor ein wenig überrascht. Immerhin blickte er in meine Richtung, drückte einen Knopf und die Laserstrahlen, die auf der optischen Bank hin und her flitzten, erloschen. Frantz nahm die Schutzbrille ab.
»Überrascht, mich zu sehen?«, fragte ich meinen bisherigen Leiter der medizinischen Forschung.
»Wohl mehr, als dass es dich wundert, mich hier zu sehen.«, erwiderte mein Gegenüber, »Seit wann weißt du es?«
Eine andere Reaktion hatte ich von Frantz nicht erwartet. Ausflüchte gab es bei ihm nie. Der Mann war an sich ein Freund klarer Ansagen, was in Anbetracht seiner momentanen Tätigkeit ein wenig überraschte. Auf der anderen Seite macht es wohl wenig Sinn, ein geplantes Attentat vorher zu verkünden. Da die Katze aber aus dem Sack war, gab es für meinen ehemals sehr geschätzten Wissenschafter wenig Gründe, seine Pläne zu leugnen.
»Dass du hinter den, nun sagen wir mal, Vorfällen stehst?«
»Das hast du nett gesagt.«
»Ich muss gestehen, dass ich dich seit geraumer Zeit im Verdacht habe. Du erinnerst dich an Basti und Phillip und die Sache mit dem vergifteten Blut? Sie konnte nur von jemandem ausgeheckt werden, den nicht ich erweckte hatte, was den Kreis der Verdächtigen auf die Geschöpfe meines Vaters einschränkte.«, begann ich meine Überlegungen zu erläutern. Frantz hörte aufmerksam zu.
»Gut, aber das sind immer noch etwa ein Drittel der Mitglieder deines Hauses.«, gab er zu bedenken.
»Das ist sicherlich richtig, allerdings gab es andere Aspekte, die die Gruppe weiter einschränkten. Das Gift... Eigentlich ist es ja gar kein Gift. Es ist wirklich genial. Respekt Frantz, eine Substanz zu entwickeln, die in unserem Körper mit Chemolumineszenz im UV-Bereich reagiert, ist eine beeindruckende wissenschaftliche Leistung. Leider aber auch eine perverse. Aber ich nehme an, der Zweck heiligte in diesem Fall die Mittel, oder?«
Mein Gesprächspartner ließ sich zu einem verächtlichem Schnauben hin, erwiderte aber nichts, weswegen ich fortfuhr.
»Es konnte sich also nur um einen Vampir meines Vaters mit außergewöhnlichen Fähigkeiten im Bereich der Biomidizin handeln. Da blieben nicht viele übrig. Als mich dann aber Ricardo an den Fall der Bruderschaft der Blutritter erinnerte und dass sie an einem Giftstoff gearbeitet hätten, der unsereins zu Asche verbrennen lässt, kam mir eine Idee.«
»Ich war aber gar nicht an der Jagd auf diese Mörder beteiligt.«, wandte Frantz korrekterweise ein.
»Nein, warst du nicht. Du bist kein Frontkämpfer, was keineswegs abwertend gemeint ist. Du warst aber in die Analyse des Kampfstoffs eingebunden. Es würde mich nicht wundern, wenn sich rausstellt, dass die Struktur des aktuellen Gifts auf dem des damaligen aufbaut.«
Wie ich bereits erwähnte, war Frantz niemand, der Spielchen spielte. Deswegen nickte er auch sofort, als klar war, dass ich korrekt eins und eins zusammengezählt hatte. Ich war aber noch nicht fertig.
»Bis dahin hast du sehr überlegt und fehlerfrei agiert, doch mit dem Tribunal gegen mich ist dir ein gewaltiger Patzer unterlaufen.«
Frantz zuckte bedauernd mit dem Kopf: »Ich weiß, ich sollte nicht pokern. Dafür habe ich einfach kein Talent. Natürlich war mir klar, dass ich mit den speziellen Beweismitteln, die ich Baron van Sanden zuspielte, ein wenig meiner Deckung aufgab. Aber die Fernbedienung für die Bestrafungskammer in deine Hose zu schmuggeln, war einfach zu verlockend. Deine Kleidung und die Überreste Breskoffs wurden beide in mein Labor gebracht. Ich konnte einfach nicht widerstehen. Natürlich war es ein Risiko, aber wie konnte ich ahnen, dass du selbst ein Tribunal austrickst?«
»Damit wären wir beim Thema. Mir ist das Wie und Was klar. Du möchtest mich gerne tot sehen, nur verstehe ich nicht, warum? Es muss etwas persönliches sein. Mein Vater hat dich verwandelt und wie ich meinen alten Herrn kenne, wird er dich unter Eid auf das Haus genommen haben. Ein Versprechen, das du niemals brechen wirst. Nein, du wirst das Haus niemals wissentlich schädigen oder gar verraten, jedenfalls wirst du es nicht als Verrat ansehen. Es ist etwas, das mit mir und nur mit mir zu tun hat. Also, was ist es?«
Frantz bedachte jedes meiner Worte mit zustimmendem Nicken, antwortete aber nicht sofort, sondern überlegte eine Weile. Schließlich setzte er drei, vier Mal an, eine Antwort zu geben, brach aber immer wieder ab und überlegte erneut. Das machte er immer so, wenn ihm die Worte fehlten. Frantz war durch und durch Wissenschafter und verabscheute unpräzise oder gar missverständliche Formulierungen, weswegen es immer etwas dauerte und der Geduld seiner Umwelt sehr viel abverlangte, bis er die richtigen Worte gefunden hatte.
»Constantin, glaube mir, es ist nicht persönlich gemeint. Ich kann dich ganz gut leiden. Du bist ein sympathischer Kerl. Aber...«, erneutes Zögern unterbrach den Redefluss, »Ich will es kurz machen: Du schadest nicht nur dem Haus, du schadest allen Vampiren. Versteh mich nicht falsch. Mir ist deine sexuelle Orientierung persönlich völlig egal. Aber du bist der Stammvater und für einen Stammvater gelten andere Regeln, als für uns einfache Leute. Du bist der Repräsentant unseres Hauses und als solcher hat für dich Persönliches vor dem Öffentlichen zurück zu treten. Jedes Fehlverhalten, jeder Makel, auch wenn er nur auf Vorurteilen beruht, betrifft nicht nur dich, sondern fällt auf das ganze Haus zurück. Deswegen bist du als Stammvater oder gar König völlig untragbar.«
Ich traute meinen Ohren nicht. Was Frantz da auch immer ausgebrütet haben mag, es war weder schlüssig noch logisch, geschweige denn von Vernunft geprägt. Am liebsten hätte ich meinem ehemaligen medizinischen Direktor links und rechts eine gescheuert, da der Mann aber die letzten Stunden allerlei Unheil angerichtet und sich anschließend in ein Labor zurückgezogen hatte, um an einem mehr als verdächtigen Projekt zu arbeiten, hielt ich es für besser, mich zurückzuhalten und ihn nicht zu reizen. Stattdessen galt es, sich zusammenzureißen, die in mir kochende Wut zu unterdrücken und einen sachlichen, nüchternen Tonfall anzuschlagen. Letzteres ging nur mit einer gewaltigen Kraftanstrengung.
»Tut mir Leid Frantz, aber du überzeugst mich nicht.«, begann ich vorsichtig, »Ich will dir gerne glauben, dass viele Mitglieder der anderen Häuser meine sexuelle Orientierung nicht gutheißen oder sogar verurteilen. Aber mal ganz ehrlich: Wo ist die Nachricht? Es ist ja nicht so, dass ich erst vor ein paar Tagen mein Coming Out gehabt hätte. Die letzten Jahrhunderte war es auch kein Problem. Warum jetzt? Und noch eine Frage kann ich dir nicht ersparen: Wieso hast du mich nie auf deine Bedenken bezüglich meiner Person angesprochen? Nein, Frantz, du überzeugst mich nicht. Niemand erwägt leichtfertig, seinen Stammvater zu liquidieren, erst recht nicht ein rational denkender Mann wie du.«
Oder hatte Frantz schlichtweg den Verstand verloren? Litt er unter einer Geisteskrankheit? Ich hielt es für unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Als primäre Empfindung war Wut allgemeiner Ratlosigkeit gewichen.
»Du steuerst uns in einen Bürgerkrieg.«, erwiderte Frantz knapp und voller Überzeugung, »Die anderen Häuser rüsten auf und mobilisieren ihre Leute. Wenn du mir nicht glaubst, frage Laurentius Spione. Sie werden es bestätigen. Die anderen verachten dich, weil du mit Männern schläfst und sie fürchten dich, weil du mit der Vereinnahmung des Hauses Breskoff ungeheuerlich an Macht gewonnen hast. Waren wir früher eines der kleinsten Häuser, sind wir jetzt mit Abstand das größte Haus. Glaubst du wirklich, Baron van Sanden und die anderen Dracul lassen es zu, dass ein Kodiac den Thron besteigt?«
Blieb ihnen etwas anderes übrig? Ich hatte das Gesetz auf meiner Seite. Alle anderen Häuser, die den Thron für sich beanspruchen konnten, waren ausgestorben, wie die Sepharini, die Margaux und die Poljakows, oder, wie die Breskoffs, in anderen Häusern aufgegangen. Frantz hatte da einen Punkt. Nachvollziehen, warum er dafür einen Fürstenmord begehen wollte, konnte ich allerdings immer noch nicht.
»Ich fasse zusammen: Ich muss mein Leben verlieren, weil mit mir ein Bürgerkrieg zwischen den Häusern ausbrechen wird? Tut mir Leid, aber das ist lächerlich.«
»Siehst du? Deswegen konnte ich nicht mit dir darüber reden. Du siehst das Problem nicht.«
»Aber du?«, schnaubte ich Frantz entgegen, der anlässlich meines kleinen Wutausbruchs bedenklich entschlossen dreinschaute.
»Offensichtlich!«, fauchte er mich wütend an, »Die Fraktion der Dracul wird gegen uns vorgehen, das ist sicher. Van Sanden wetzt doch schon sein Schwert. Glaubst du, er hat die Demütigung vergessen, die du ihm nach deinem Tribunal zugemutet hast? Nachdem er dich angriff, hättest du ihn erschlagen müssen. Aber nein, du musst ja den verständnisvollen Gutvampir herauskehren und ihm freien Abzug gewähren. Du achtest unsere Traditionen nicht. Ist dir niemals in den Sinn gekommen, dass du van Sanden entehrt hast? Und du weißt, dass er nur eine Möglichkeit hat, seine Ehre wiederzuerlangen.«
Ich erinnerte mich. Nachdem Tamir sein Urteil über mich gefällt und mich für unschuldig befunden hatte, kam van Sanden, der im Tribunal die Anklage vertrat, angesprungen und versuchte, mich mit dem Richtstuhl, an den ich gekettet war, doch noch zu töten. Sein Anschlag misslang. Doch statt ihn zur Verantwortung zu ziehen, ließ ich ihn als Zeichens des Friedens zwischen unseren Häusern gehen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, darin eine Entehrung zu sehen, hatte dabei wohl aber nicht mit der verdrehten Logik der Traditionalisten gerechnet.
In einem Punkt musste ich Frantz wirklich Recht geben. Ich war der letzte Kodiac und letzte gebürtige Vampir. Die Kodiacs. Waren wir wirklich auf einen Rest zusammengeschrumpft, der sich das Haus Breskoff-Varadin nannte? Mein Großvater hatte mir – Ewigkeiten ist es her – Geschichten von den stolzen, aufrechten und gerechten Fürsten der Kodiac erzählt. Damals kamen sie mir wie Märchen vor, inzwischen spürte ich, dass ich Teil dieser Geschichte war. Ein Teil, der in wenigen Minuten enden konnte, solange ich nicht klärte, was Frantz in dem Labor getrieben hatte, in dem wir uns gerade befanden.
»Du sagst also, van Sanden wird sich an mir rächen. Gut, soll er. Er weiß, wo er mich findet.«
»Hör auf die Sache ins Lächerliche zu ziehen!«, schnauzte mich Frantz an, bei dem ich einen wunden Punkt getroffen hatte: Seine Eitelkeit. Mein ehemaliger Leiter der medizinischen Forschung reagierte nämlich hochgradig ungehalten, sobald er das Gefühl bekam, entweder nicht ernst genommen, oder schlimmer noch, seinen Intellekt nicht angemessen gewürdigt bekommen zu haben. »Es ist genau diese leichtfertige, unreife Einstellung, die dich verdammt.«
»Ich ziehe die Sache nicht ins lächerliche.«, entgegnete ich beschwichtigend und ignorierte dabei gezielt Frantz Nachsatz, »Aber bitte, wie soll ich mich denn sonst verhalten? Soll ich die Königswürde ablehnen, weil es den Dracul nicht gefällt, und dabei die Nosferatu als Hüter unserer Gesetzte vor den Kopf stoßen? Ah, ich sehe, dass du unsere verehrten Heiligkeiten nicht in deine Überlegungen eingeschlossen hast.« Ich kam in Fahrt. Jetzt war ich es, der laut wurde: »Nein, Frantz, was du hier abziehst ist schlicht und ergreifend Hochverrat. Der einzige Grund, warum ich dir noch nicht die Kehle durchgebissen habe, ist, weil ich Antworten will. Ehrliche Antworten. Und komm mir nicht mit halbgaren Verschwörungstheorien. Wir sind Vampire. Verschwörungen sind Bestandteil unserer Existenz. Der Machtkampf zwischen den Kodiacs und den Dracul ist so alt, dass du davon in den Höhlenmalereien der ersten Menschen lesen kannst. Natürlich werden van Sanden und seine Alliierten nicht begeistert sein, mich auf dem Thron zu sehen und alles daran setzen, meine Regentschaft möglichst bald zu beenden. Glaubst du, das weiß ich nicht? Hältst du mich für so naiv? Aber nur, weil ich nicht seinen Vorstellungen von einem idealen König entspreche, wird er kaum einen Krieg vom Zaun brechen. Van Sanden mag alles mögliche sein, aber ein Idiot ist er nicht. Bei einem Krieg hätte er nämlich mindestens so viel zu verlieren, wie wir. Aber du... du hast nicht nur mich angegriffen. Damit könnte ich noch leben. Du hast dich am Haus vergangen. Oder sollte ich mich getäuscht haben und es gab weder ein Feuergefecht noch haben vergiftete Blutbeutel unschuldige Mitglieder unseres Hauses in Aschehäufchen verwandelt?«
Mein letzter Satz triefte vor ätzendem Sarkasmus.
Frantz schwieg, dafür sprach sein Körper um so mehr: Er vibrierte, seine beiden Kiefer vollführten Kaubewegungen, seine Halsschlagadern traten hervor. Frantz war hochgradig angespannt und kurz vor dem Platzen. Gut, vielleicht verriet er dann was ihn wirklich bewegte.
»Keine Antwort ist auch eine Antwort.«, provozierte ich mein Gegenüber, »Nein Frantz, erzähl mir nicht, es ginge nur um mich. Du hast dich gegen das Haus gewandt. Du bist ein Verräter.«
»Ich habe niemanden verraten.«, brach es aus Frantz heraus. Er schrie mich an, brüllte es heraus, »Wage es nicht, mir Verrat vorzuwerfen! Ich kämpfe für das Überleben unseres Hauses. Aber du... Du bist...«
Weiter kam Frantz nicht. Mit einem Satz, schneller als ein Wimpernschlag, war ich auf Frantz zugesprungen, hatte meine Hand in eine Klaue verwandelt und mit ihren rasiermesserscharfe Krallen das Brustbein meines Opponenten durchbrochen. Dessen Augen weiteten sich, nahmen einen entsetzten Ausdruck an und wagten kaum, an sich hinab zu blicken. Frantz öffnete seinen Mund, doch kein Wort kam heraus.
»Du weißt, was ich mit Vladimir gemacht habe? Ich halte dein Herz in meiner Hand. Ich kann es schlagen fühlen. Ein kleiner Ruck, etwas Druck an der richtigen Stelle und... Also, ich gebe dir noch eine Chance. Mein lieber Frantz, beantworte mir eine kleine Frage: Warum?«
Er war nie ein Kämpfer gewesen. Wenn es um wissenschaftliches Arbeiten, Forschung oder die Analyse eines vertrackten Problems ging, war Frantz ein Genie. Aber sobald es um praktischen Kampf ging, das Entwickeln einer Strategie oder Taktik, war der Mann einfach nicht zu gebrauchen. Ricardo, obwohl ebenfalls Wissenschafter und kein Mann des Kampfes, hätte mich nie dermaßen dicht an sich herankommen lassen, dass es mir die Möglichkeit eines Angriffs erlaubt und ihm die zum Parieren genommen hätte. Da Frantz derartige Erwägungen gänzlich unbekannt waren, steckte nun meine Hand dort, wo sie eigentlich nichts zu suchen hatte – in seinem Brustkorb.
»Wegen ihm.«, japste mein Medizinmann und starrte dann doch panisch auf mein Handgelenk herab. Die eigentliche Hand konnte er verständlicherweise nicht sehen. Natürlich war es ein gewalttätiger Akt. Frantz wusste, dass ich nur ein wenig an seinem Pumpmuskel zupfen musste und er hätte seinen letzten Atemzug getan. Was er hingegen nicht wusste war, dass meine Hand um sein Herz wie eine Art hochempfindlicher Lügendetektor wirkte. Jede noch so kleine Unregelmäßigkeit seines Pulses, ein Zucken, eine Arrhythmie, die Beschleunigung oder Verlangsamung des Herzschlags, ich konnte sie fühlen und in ihr lesen wie in einem Buch.
»Ihm?«
Ein etwas unregelmäßiger, aber deutlich beschleunigter Puls deutete auf Angst hin. Natürlich hatte Frantz allen Grund dazu. Wer hätte keine, stünde er keine Hand breit vor seiner Hinrichtung? Aber für diese Angst zeichnete nicht ich mich verantwortlich.
»Wer ist er?«, insistierte ich.
»Er... er...«, stammelte Frantz. Ein Schauer lief durch seinen Körper. Konnte es sein, dass es jemanden gab, den Frantz mehr fürchtete als den Tod?
»Constantin, bitte verzeih mir!«, hörte ich ihn die ersten wirklich ehrlichen Worte wimmern, »Du hast recht. Ich habe dich verraten. Ich habe euch alle verraten. Ich wollte es nicht, aber ich musste. Er hat mich dazu gezwungen.«
»Dann rede, verdammt nochmal!«
Er redete. Erst zögernd, stockend und voller Angst, aber mit der Zeit immer gefasster und flüssiger. Ich hörte mir alles an und kam zu dem Schluss, dass Frantz mit Abstand den Titel des intelligentesten Vollidioten aller Zeiten verdient hatte. Dieser Volltrottel hatte es tatsächlich geschafft, sich in eine Situation zu manövrieren, in der er erpressbar wurde. Und wieder einmal zeigte sich die unendliche Geduld meiner Artgenossen beim Spinnen von Plänen. Frantz Verführung, wenn man es so nennen will, begann vor mehr als dreißig Jahren.
Alles fing damit an, dass eine Hand voll Nerd-Vampire auf die Idee kam, sich interfraktionell, das heißt über die Grenzen ihrer jeweiligen Häuser hinweg, zu einem kleinen Zirkel zusammenzuschließen. Ganz nach dem Motto »Die da oben mögen ruhig ihre Machtspielchen spielen, wir sind die intelligenteren Vampire, stehen über den Dingen und haben besseres zu tun als sich gegenseitig mit kleinen Nadelstichen zu necken.«, pflegte das anfangs kleine Grüppchen den wissenschaftlichen Austausch. Bei allen politischen Differenzen zwischen den Häusern darf nicht vergessen werden, dass sie alle vor dem gleichen Problem standen: Wie lässt sich eine ausreichende Versorgung mit frischem Blut sicherstellen? Wie lässt sich dessen Haltbarkeit verlängern? Welches ist die effektivste und hautschonendste Sonnencreme? Die Intentionen des kleinen Zirkels waren absolut ehrenhaft, zumal sie sich einen strikten Ehrenkodex auferlegt hatten: Politik hatte draußen zu bleiben. Wenn sich die Gruppe traf, dann auf neutralem Boden, was hieß, auf von den Nosferatu kontrolliertem Terrain.
Es war kaum zu glauben, was Frantz alles erzählte, vor allem wie weit es die Nerds gebracht hatten. Aus einer Hand voll Forschern wurden innerhalb weniger Jahre zwei und bald vier Hand voller Eierköpfe. Was als gelegentliches Treffen zu einem Gedankenaustausch begann, ging schnell in einen festen Zyklus über, der anfangs einem Rhythmus von vier, später dann von zwei Wochen folgte, bis das Treffen letztlich in einer festen Einrichtung gipfelte. Ich wollte meinen Ohren nicht trauen, aber rund zwanzig Vampire aller Häuser, selbst der bis auf den Tod verfeindeten, hatten ein geheimes Forschungsinstitut für Hämophargologie gegründet und über fünfzehn Jahre lang betrieben, ohne dass auch nur eines der Häuser ansatzweise etwas davon ahnte.
Oder eben doch. Mindestens einer aus dem Club der blutsaugenden Wissenschafter spielte ein doppeltes Spiel und verstieß gegen den Kodex des Clubs. Abgesehen von ihren ehrenhaften Zielen hatten sich alle Mitglieder des Forschungsverbunds formal des Hochverrats gegenüber ihren Häusern schuldig gemacht. Die Jungs und Mädels waren allerdings alles andere als dumm und betrachteten gerade diese Regelübertretung als verbindenden Faktor. Sie vertrauten sich, weil jeder mit mindestens unangenehmen wenn nicht letalen Konsequenzen rechnen musste, sollte ihr Treiben allgemein publik werden. Die Idee war gut, funktionierte aber nur, solange alle mit offenen Karten spielten. Einer oder eine tat es nicht.
Die Veränderung erfolgte schleichend. Während anfangs die Forschung sich auf die Verbesserung der Lebensbedingungen aller Vampire konzentrierte, indem sie unsere Abhängigkeit von Blut im primären Fokus hatte, verschoben sich die Forschungsziele mit der Zeit in Richtung abseitiger und ethisch fragwürdiger Bereiche. Statt ein Verfahren zu entwickeln, das die Wirkung frischen Bluts verlängerte, befassten sich die Forscher plötzlich mit Fragen der biologischen Kriegsführung. Begründet wurde dieser Wechsel im Fokus mit der Notwendigkeit, auf entsprechende Angriffe seitens feindlicher Kräfte, wie den immer besser ausgerüsteten Vampirjägern, vorbereitet zu sein. Um wirksame Gegenmittel zu entwickeln müssten eben erst die Kampfstoffe verstanden werden. Aber deswegen, so die Meinung, dürften die Forschungsergebnisse nicht mehr mit allen Mitgliedern des Clubs sofort geteilt werden. Erst wenn ein Vorhaben erfolgreich abgeschlossen sei, sollten die Ergebnisse allen kund getan werden.
Es kam, wie es kommen musste, wenn ein Hecht im Karpfenteich sein Unwesen treibt. Die ebenso begeisterungsfähigen, wie gutgläubigen Wissenschafter stürzten sich auf die Aufgabenstellungen und merkten dabei gar nicht, wie sie sich voneinander entfremdeten. Statt Vertrauen hielt Misstrauen Einzug in ihren Reihen. Als dann die ersten begannen, sich zu fragen, was eigentlich passiert war, war es zu spät. Eine Gruppe hatte es tatsächlich geschafft, eine Substanz zu entwickeln, die bei Kontakt vampirisches Gewebe zersetzte, menschliches aber unversehrt ließ. Erst, als sie voller Stolz auf die wissenschaftliche Leistung ihre Ergebnisse präsentierten und die entsetzten und sprachlosen Gesichter ihrer Kollegen bemerkten, begriffen sie, was sie eigentlich wirklich entwickelt hatten. Ob es den Atomwissenschaftern wohl ähnlich erging, die seinerzeit die Atombombe entwickelt hatten? Begriffen sie, als der Blitz der thermonuklearen Explosion die Wüste Nevadas erhellte, welchen Geist sie aus der Flasche gelassen hatten?
Großherzog
Florian
»Was willst du damit sagen?«
Ich hatte meinem Paps verziehen, mehr oder weniger mit meiner Vergangenheit abgeschlossen und plante eigentlich, ein schönes Leben an der Seite Constantins verbringen zu können. Was sollte dem denn jetzt noch im Wege stehen?
»Ähm, ich glaube, ich hatte vorhin den vollständigen Namen deiner Mutter erwähnt, oder?«
Warum müssen manche Leute alles immer so spannend machen. Aber gut, wenn Tamir die Dramaqueen spielen wollte, mir war's recht, spielte ich halt mit.
»Wie war das noch gleich? Isabell, Mercedes... Moment, da war noch ein Vorname... Maria Margaux sur... Weiß nicht.«
»Großherzogin Isabell Maria Mercedes Margaux sur Rhone.«, vervollständigte Tamir den Namen. Der Groschen wollte noch immer nicht fallen.
»Also gut, dann eben Großherzogin Isabell Maria Mercedes Margaux sur Rhone. Und? Sie war eine Adelige. Ist Constantin doch auch. Was soll's? Ich glaube sogar, dass Christiano einen Titel trägt.«
»Yupp!«, bestätigte mein portugiesischer Freund, »Sogar zwei. Aber ich weiß, worauf Tamir hinaus will. Du bist der direkte Nachkomme deiner Mutter. Die Blutlinie der Margaux setzt sich in dir fort. Dass heißt, du bist Großherzog und Stammvater des Hauses Margaux.«
»Toll! Jetzt bin ich auch noch ein Blaublüter und Stammvater eines Hauses von, lass mich mal nachrechnen, null Mitgliedern. Wisst ihr, der Titel ist mir sowas von egal. Ich bin ein Tischler.«
»Er versteht es nicht.«, schüttelte Christiano amüsiert aber auch besorgt den Kopf.
»Flo«, versuchte es mein Vater, »ich glaube, was die beiden dir sagen wollen ist, dass du gar keine Wahl hast. Lissi hat mir ein wenig von eurer Welt erzählt. Als Stammvater eines noblen Hauses, und das ist das Haus der Margaux, stehen dir Sitz und Stimme im Rat der Häuser zu. Was mir viel mehr Sorgen bereitet ist die Blutfehde, die nun auf dich übergegangen ist.«
Langsam dämmerte es mir: Ich war in einem Kitschroman gelandet! Oder war es noch schlimmer? Drohten mir mit dem Titel des Großherzogs etwa Pflichten? Aber wieso? Hatte ich laut »Hier!« geschrien, als Fürstentümer und Königreiche verteilt wurden? Hatte ich darum gebeten, ein Blaublüter zu sein? Ehrlich gesagt konnte mir die ganze Scheiße gehackt bleiben. Ich gebe zu, dass diese Formulierung nicht gerade literarisch gehaltvoll war, dafür kam sie von Herzen.
»Florian«, unternahm Tasmanir Musferatu einen erneuten Versuch, mir das Problem begreiflich zu machen, »Constantin hätte dich niemals erwecken dürfen. Mit deiner Verwandlung hat er einen schweren Rechtsbruch begangen, der ihm nicht nur die Königswürde, sondern auch seinen Titel als Fürst, wenn nicht sogar den Kopf kosten kann. Der Rechtsbruch begann sogar noch viel früher. Indem er dich auffing, als du dich von der Brücke stürztest, und vor die Wahl stellte, dir zu folgen und einer der seinen zu werden, hat er rein formal deinem Haus den Krieg erklärt.«
»Aber das konnte er doch nicht wissen.«, wandte ich ein, »Ich wusste bis eben doch selbst nicht, dass ich ein Großfürst bin.«
»Großherzog, nicht Großfürst.«, korrigierte Tamir gelassen, »Auf das Wissen kommt es nicht an. Entscheidend ist, dass Constantin die Unanrührbarkeit der Blutlinie der Häuser verletzt hat. Indem er dich zu einem dem Seinigen machte, vereinnahmte er dein Haus. Das ist ein sehr schweres Verbrechen, egal, ob es wissentlich geschah oder nicht.«
»Na super«, knurrte ich, »Er hätte mich nur fallen lassen müssen. Ich wäre dann zwar tot, aber alle anderen glücklich.«
Was folgte war betretenes Schweigen. Natürlich hätte mein Tod niemanden glücklich gemacht. Insbesondere nicht Constantin und das wussten auch Christiano und Tamir genau so gut wie ich. Letzteres ließ uns noch etwas Zeit, bevor Tamir erneut das Wort ergriff und die eigentlich Katze aus dem Sack ließ. Denn in Wirklichkeit war alles noch viel, viel komplizierter.
Tamir begann, indem er mich daran erinnerte, dass das Arschloch Momsen auf der Lohnliste eines der Häuser stand. Den Nosferatu war es zwar immer noch nicht gelungen, zu ermitteln, welches Haus die Strippen zog, aber sie waren dicht dran. Immerhin schafften sie es, einige weitere Mosaiksteinchen der Geschichte zu beschaffen, sodass sich langsam ein Bild abzeichnete. Wie bereits vermutet, wurde ich ganz gezielt in den Selbstmord getrieben. Neu war, dass die geheimnisvolle Gegenseite wusste, dass Constantin sich in mich verliebt hatte und über mich wachte. Jemand spielte das ganz großes Spiel. Dass Momsen und ich seinerzeit ins Haus Constantin Varadins gerufen wurden, um die Wasserschäden, die der Rohrleitungsbruch verursacht hatte zu beseitigen, war ebenso geplant wie der Rohrleitungsbruch selbst. Constantin sollte auf mich aufmerksam werden. Momsens besonders brutaler Umgang mit mir sollte nur den einen Zweck erfüllen, die Beschützerinstinkte des Herrn des Hauses Varadin zu wecken. Dass er dann tatsächlich auf mich ansprang, erklärte Tamir mit der Vermutung, dass Constantins Körper unterschwellig wusste und spürte, dass ich ein vampirisches Erbe in mir trug. Dies erklärte auch, wieso ich einerseits unmittelbar nach meiner Verwandlung Fähigkeiten beherrschte, für die jeder andere Blutsauger Wochen und Monate brauchte, um sie sich anzueignen. Es erklärte auch, dass niemand meine genetische Präposition erkannte. Sie suchten an der falschen Stelle. Während jeder, dem mein Fall verdächtig vorkam, nach unterschwelligen Botschaften in meiner Psyche, nach versteckten Befehlen oder einem alternativen Bewusstsein stöberte, lag mir die Blutsaugerei quasi im Blut. Obwohl körperlich kein Vampir, war ich Zeit meines Lebens schon immer einer, sogar ein gebürtiger.
Und das sollte einer verstehen? Mir rauchte der Kopf. Außerdem begann mich die ganze Vampirkacke – für den nachfolgenden Kraftausdruck erntete ich einen bösen Blick von meinem Vater – anzukotzen. Was waren das für kranke Geister, die mit dem Leben unschuldiger Menschen spielten als wären sie Schachfiguren? Wer gab ihnen das Recht, meine Kindheit und Jugend zu verpfuschen und mir aus purem Machtinteresse die Hölle auf Erden zu bereiten? Was für ein verfickt kranker Verstand macht sowas? Ja, ich war rechtschaffend wütend, ich kochte und bemerkte gar nicht, wie meine Zähne ausfuhren und meine Augen zu glühen begannen. Erst als ich das ängstliche Gesicht meines Vaters sah, beruhigte ich mich, zwang die Beißerchen dazu, wieder einzufahren und sah meinen Paps verlegen an.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht verschrecken.«
Der einzige Mensch im Raum zog eine linkische Miene und meinte: »Ist schon in Ordnung. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass ich Vampirzähne bewundern durfte. Aber was man dir, was man uns angetan hat, ist unverzeihlich. Mir hat man die Liebe meines Lebens geraubt. Aber dir hat man das Leben selbst geraubt.«
»Wenn ich dich, Tamir, richtig verstehe. Ist die Angelegenheit noch nicht zu Ende, oder?«, schaltete sich ein auffällig nervöser Christiano in die Unterhaltung ein.
»Nein, noch nicht ganz. Um im Bilde eines Schachspiels zu bleiben: Wir befinden uns jetzt im Endspiel. Der Gegner hat langsam aber sicher seine Position aufgebaut, mit der er meint, jetzt zum Vernichtungsschlag ausholen zu können. Ich bin mir sogar sicher, wann dies geschehen wird. Gestern wurde von mehreren Häusern der Antrag gestellt, Constantins Krönung entsprechend des Kodex um zwei Wochen zu verschieben. Den Anträgen wurde von der Synode der Nosferatu stattgegeben. Übernächste Woche ist es dann soweit. Der Rat der hohen Häuser wird zusammentreten. Einer meiner Brüder wird der Reihe nach jeden Stammvater fragen, ob Gründe vorliegen, Constantin die Königswürde zu verweigern. Welcher Moment wäre besser geeignet, als diesen dazu zu nutzen, Constantin wegen seines Verbrechens gegenüber dem Hause Margaux anzuklagen?«
»Er wird stürzen, oder? Man wird ihn schuldig sprechen, oder?«
»Ja, sehr wahrscheinlich.«
»Tamir, Christiano, Paps. Ich liebe diesen Mann. Mir ist egal, ob unser Zusammentreffen geplant war oder eingefädelt wurde. Ich weiß nur, dass ich zu Constantin gehöre. Die anderen dürfen auf keinen Fall siegen. Sie haben uns so viel angetan. Sie haben meine Mutter ermordet, meinem Vater das Liebste genommen und mich... Nein, so nicht! Sie sollen für ihre Intrigen, ihre Verbrechen gerade stehen. Wie war das noch gleich? Ich bin der Großherzog Margaux. Gut, dann fordert der Großherzog und Stammvater des Hauses Margaux Vergeltung.«
Tasmanir Musferatu, der Stammvater der Nosferatu des Westens, hatte etwas sibyllinisches an sich. Die meisten Bemerkungen, obwohl scheinbar klar und eindeutig formuliert, enthielten oft eine weitergehende Anspielung oder die Andeutung anderer Möglichkeiten. Er war ein Mann, dem Vorsicht in dem was er sagte, sehr, sehr wichtig war. Seine Position verlangte nicht nur Objektivität sondern insbesondere Überparteilichkeit. Wenn er etwas vorschlug, dann nur, wenn ihm vorher die richtige Frage gestellt wurde. Auf der anderen Seite wurde er von einem kompromisslosen Verlangen nach Gerechtigkeit angetrieben, was ihm mancher als Bruch mit der von ihm geforderten Überparteilichkeit ankreidete.
»Mein Wunsch nach Vergeltung ist lächerlich, oder?«, sprach ich meinen Gedanken aus, »Ein Haus bestehend aus einer Person macht wohl nicht viel her. Obendrein bin ich Constantins Eigentum.«
»Das ist das eigentliche Problem.«, bemerkte Tamir ernst, »Du hast keine eigene Stimme. Du bist Constantins Untertan.«
»Es ist verrückt.«, mir kam eine Unterhaltung wieder in den Sinn, die ich kurz vor meiner Verwandlung mit meinem Geliebten geführt hatte, »Ich bin sein, darf es aber nicht sein. Dabei meinte er letztens noch, ich würde ihm nichts schulden. Wenn es doch nur so einfach wäre.«
»Was?«, Tasmanir Musferatu saß plötzlich kerzengerade, »Was hast du da eben gesagt?«
»Ach nichts. Es war nach deinem Besuch, kurz vor meiner Verwandlung. Was du uns enthülltest, hatte Constantin ziemlich verstört. Er hatte Angst, ich würde ihn nicht mehr wollen, weil mir der ganze Vampirmist, die Intrigen, die Manipulationen, das Rumgepfusche in meinem Leben abstoßen würde. Er könne verstehen, wenn ich sauer sei und von all dem nichts mehr hören wollte. Außerdem hätte ich nach dem Attentat auf seine Wagenkolonne, sein Leben gerettet. Schon deswegen seien wir quitt.«
»Und?«, bohrte Tamir aufgeregt nach.
»Nichts weiter. Ich meinte, ich wäre zwar wütend, aber meine Wut hätte nichts mit ihm zu tun. Er hätte mich gerettet und mir nicht nur ein neues Leben geschenkt, sondern auch Liebe und Zuneigung. Wie könnte ich ihm da nicht dankbar sein.«
»Gut, gut, weiter! Was hat Constantin geantwortet.«, Tamir geiferte fast schon, was bei seiner Totenfratze selbst Christiano nervös machte. Ich beeilte mich daher, seinen Wissenshunger zu stillen.
»Naja, er meinte, ich würde ihm gar nichts schulden. Ich hätte sein Leben gerettet und sei frei, zu entscheiden, was ich wolle.«
»Das ist es!«, rief der Stammvater der Nosferatu des Westens, »Florian, das ist jetzt ganz wichtig. In welchem Tonfall sprach Constantin? Hat er das nur so dahingesagt, oder klang er ernst und entschlossen?«
»Er war schon toternst. Wieso?«
»Weil er dich mit diesem Satz wirklich freigegeben hat. Ob aus Dankbarkeit dahin gesagt oder aus tiefster Überzeugung, er hat es gesagt, und nur das zählt. Deine und seine Feinde werden zwar anzweifeln, dass Constantin wirklich meinte, was er sagte, allerdings werden sie mit dieser Argumentation keine Chance haben, wenn wir deine Aussage validieren.«
»Validieren?«
»Ich werde ihren Wahrheitsgehalt überprüfen und ein Testat ablegen. Niemand wird das Urteil eines Inquisitors anzweifeln. Christiano, du bist zwar Mitglied des Hauses Varadin, wurdest aber verbannt, oder?«
»Ähm...«, stammelte mein Freund und Lehrer unsicher, nicht wissend, was er genau sagen sollte: Die offizielle Lesart oder dass seine Verbannung nur gespielt war. Tamir erkannte seine Not und fügte hinzu: »Wurdest du offiziell aus deinem Haus verbannt? Bist du ein Geächteter, dem der Tod droht, sollte er seinen Fuß auf Grund und Boden des Hauses setzen?«
»Ja, Tasmanir Musferatu, ich bin ein Geächteter des Hauses Varadin.«
»Bist du, Christiano, Geächteter des Hauses Varadin, bereit, die Validierung einer Aussage des hier anwesenden Großherzogs Florian Margaux zu bezeugen?«
»Das bin ich.«
»Dann schwöre bei deinem Blut, dass du wahrhaftig beobachten, nichts verschweigen und nichts hinzufügen wirst!«
»Ich schwöre bei meinem Blut, dass ich wahrhaftig beobachten, nichts verschweigen und nichts hinzufügen werde.«
»So wurde es vernommen.«, verkündete Tamir feierlich, »Nun höre und vernehme die Worte des hochwohlgeborenen Großherzogs Florian Margaux.«
Für meinen Geschmack ging die ganze Geschichte ein wenig zu schnell. Doch bevor ich überhaupt »Pieps« sagen konnte, ruhte Tasmanir Musferatus Hand auf meiner rechten Schulter und seine Stimme erfüllte meinen Kopf.
»Sprich!«, ertönte ein Befehl und ich wiederholte, was Constantin zu mir gesagt hatte. Jedes Wort, das meinen Mund verließ, verließ auch Tamirs Mund. Wir sprachen mit einer Stimme. Was auch immer ich in jenem Moment dachte, erfüllte auch Tamirs Geist. Er wurde Ohren- und Augenzeuge meiner Erinnerung. Und so wiederholte ich, wie mich Constantin seinerzeit freigab.
»Vernehmt nun das Urteil meines Testats: Florian Margaux ist ein freier Mann und keines Herrschers Untertan. Ich Tamir Musferatu, Stammvater der Nosferatu des Westens bestätige sein Recht, den Titel des Großherzogs führen zu dürfen.«
Das war's. Ich war amtlich beglaubigt blaublütig und um einen ganzen Strauß Probleme reicher.
Teamwork
Constantin
»Ihr habt also eine Waffe entwickelt?«, kommentierte ich Frantz Schilderung. Der sah mich zerknirscht an und schüttelte den Kopf. »Schlimmer.«
Der Geist war aus der Flasche und ließ sich auch nicht wieder einfangen. Nachdem der Schock über die Vampirgewebe zersetzende Substanz abgeklungen und rationales Denken wieder Einzug in die Reihen der Forscher gefunden hatte, stellte sich die beunruhigende Frage, an was für beunruhigenden Dingen denn die anderen Teams arbeiteten. Diese Frage offen auszusprechen traute sich allerdings niemand. Stattdessen ging man wieder an die Arbeit und forschte weiter.
»Außer den Leuten des eigenen Teams traute niemand niemandem mehr.«, erläuterte Frantz, »Statt offenem Wissensaustausch, so wie wir den Club ursprünglich geplant hatten, war ein reiner Arbeitsort, eine Laborgemeinschaft entstanden, in der jede Arbeitsgruppe für sich arbeitete und peinlich darauf bedacht war, den anderen nichts von den jeweiligen Erkenntnissen Preis zu geben.«
»Gut, bis hierhin verstehe ich deine Geschichte.«, ich musterte Frantz, bedachte ihn mit einem forschenden Blick und fühlte mit meiner Hand sein Herz. Der Mann war fertig. Jetzt, da er zu erzählen begonnen hatte, war der Damm gebrochen, was nicht hieß, dass Frantz mein Vertrauen zurückgewonnen hatte. »Ich werde jetzt meine Hand aus deinem Brustkorb nehmen. Glaube aber ja nicht, dass du damit vom Haken bist. Wenn ich auch nur eine Sekunde das Gefühl habe, dass du mich verarscht, bist du Geschichte.«
Damit hoffte ich, meinem Gegenüber so viel Furcht eingeflößt zu haben, dass er den eigentlichen Beweggrund nicht erkannte. Ich war fertig. Ich war körperlich ausgelaugt und brauchte dringend frisches Blut. Mich hatte die Sonne gut durchgeknuspert, ich hatte Simon nicht nur tragen, sondern ihm einen Teil meiner Kraft geben müssen, damit dieser überlebte und am Ende durfte ich mich auch noch als Dunst durch ein Lüftungssystem kämpfen. All das hatte von meinen Reserven gezehrt. Als Auto hätte der Zeiger meiner Tankanzeige jetzt auf leer gestanden. Dass ich mich überhaupt noch auf den Beinen halten konnte und nicht zusammenklappte, war ein Wunder. Es war somit purer Eigennutz, mich nicht mehr mit voller Kraft auf Frantz konzentrieren zu müssen.
Darauf achtend, meinen Chefblutwissenschafter nicht weiter zu verletzten, zog ich meine Hand aus seinen Brustkorb, der sich sofort zu schließen begann. Frantz befand sich in einer deutlich besseren Verfassung, als ich, wenn er über derartige Heilkräfte verfügte. Mir drohten hingegen die Beine wegzusacken. Das Blut an meiner Hand glänzte feucht und verlockend.
»Erzähl weiter!«, Angriff war eben oft doch noch die beste Verteidigung. Frantz zuckte zusammen, zeigte für einige Sekunden Anzeichen von Auflehnung, sackte dann aber doch resigniert zusammen und nahm seinen Bericht wieder auf.
»An meinen Händen klebt Blut.«
An meinen auch, schoss mir durch den Kopf, wobei klar war, dass Frantz es nur metaphorisch meinte. Seine Hände waren im Gegensatz zu meinen absolut sauber. Immerhin kamen wir jetzt zum interessanten Teil seines Berichts.
Das hausübergreifende, idealistische Forschungsinstitut hatte sich in sein Gegenteil verkehrt. Viele Mitglieder überlegten, aus dem Projekt auszusteigen, entschieden sich aber dagegen. Die Furcht, diejenigen, die weiter arbeiteten, könnten einen Vorteil daraus ziehen, war stärker als die eigenen ethischen Maßstäbe aus denen heraus sie das ganze eigentlich ursprünglich gestartet hatten. Alle blieben, niemand verließ den Club, stattdessen zog Paranoia ein.
»Ich weiß nicht, wie die Sache so schiefgehen konnte?«, fragte Frantz frustriert, »Jeder beäugte misstrauisch jeden, es sei denn, er zählte zur eigenen Arbeitsgruppe. Und selbst dann schwang immer etwas Misstrauen mit.«
»Soweit habe ich dass verstanden.«, knurrte ich ungeduldig und betrachtete demonstrativ meine blutige Hand. »Komm endlich zur Sache.«
»Ich bin über eine Leiche gestolpert.«, platzte es aus Frantz heraus. »Es ist so ein Klischee, dass ich selbst nicht begreife, wie ich in eine solche Situation geraten konnte.«
Mit diesen Worten reichte mir mein Gesprächspartner einen Satz leicht vergilbter Fotos. Ihr Inhalt war in der Tat purstes Klischee. Das erste Bild zeigte, wie sich Frantz über einen leblosen Körper beugte, das nächste, wie er eine Art Dolch aus dem Brustkorb des Körpers zog, dann, wie er es erschrocken fallen ließ und schließlich vom Ort des Geschehens floh, dann aber mit einer Plane zurückkehrte, den Körper darin einwickelte und mit ihm verschwand. Ohne den weiteren Zusammenhang zu kennen unterstellten die Bilder, oder genauer Frantz Verhalten auf ihnen, dass er sich an dem leblosen Körper nicht ganz unschuldig zeichnete.
»Ich weiß, wie das aussieht.«, kommentierte Frantz die Fotos, »Aber die Fotos lügen. Yves war schon tot. Ich habe bis spät abends gearbeitet. Kurz bevor ich das Labor verließ, bin ich nochmals auf die Toilette gegangen und dort lag er mit einem Dolch in der Brust. Bitte glaub mir, er war bereits tot. Nur habe ich Trottel das nicht sofort begriffen und wollte helfen.«
Wie gesagt, der ganze Vorfall entsprach nicht nur dem billigsten aller Klischees, er stank auch bis zum Himmel nach einer Falle. Woher sollten sonst die Fotos stammen? Aber ich verstand Frantz. In einer von Paranoia geprägten Umgebung, bei der jeder jeden belauert und jeder jedem alles zutraut, zählt die Suche nach der Wahrheit zu den zweitrangigen Fragestellungen.
»Und wer war Yves?«, wollte ich wissen.
»Ein van Sanden, wenn du verstehst, was ich meine. Niemand hätte mir geglaubt, dass ich ihn nicht abstach, zumal wir wenige Stunden zuvor vor der gesamten Mannschaft heftig aneinandergeraten sind. Yves hatte die Forschungsergebnisse seines Teams präsentiert, ein Gift, das gezielt die vampirische Blutgerinnung verhindert und sich auf Projektilen von Schusswaffen auftragen lässt. Ich konnte nicht anders, als die Ethik seiner Forschung in Frage zu stellen. Wieso entwickelten wir Waffen, die uns töten konnten, statt Mittel, um unser Leben zu verbessern? Es kam zum Schlagabtausch, ein Wort gab das andere. Wahrscheinlich wären wir uns sogar an die Gurgel gegangen, hätten die anderen uns nicht zurückgehalten. Um die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen, zog ich mich in mein Labor zurück und versuchte dadurch wieder runterzukommen, dass ich mich auf meine Arbeit konzentrierte. Tja, als ich dann abends Schluss machen wollte, stolperte ich über Yves Leiche.«
Frantz hatte recht, niemand würde ihm abnehmen, unschuldig zu sein. Warum musste es auch ausgerechnet ein Mitglied der van Sandens erwischen? Jeder wusste, dass der Baron zu meinen Intimfeinden zählte. Die Antipathie zwischen unseren Häusern war Legende. Eine Leiche, die, egal ob tatsächlich oder inszeniert auf die Rechnung meines Hauses ging, hätte van Sanden den perfekten Vorwand für eine offizielle Fehde geliefert. Das wusste auch Frantz, weswegen er entsprechend reagierte und die Leiche verschwinden ließ, womit die Falle zuschnappte.
»Wann kamen die Fotos?«
»Zwei Tage später lag ein Umschlag in meinem öffentlichen Mitteilungsfach. Außer den Fotos befand sich auch eine Notiz darin, nach der ich mir keine Sorgen machen solle. Man würde schweigen, aber vielleicht hin und wieder einen kleinen Gefallen erbitten.«
Natürlich – Was auch sonst? Die ganze Aktion diente schließlich keinem anderen Zweck, als sich Frantz gefügig zu machen. Ich konnte mir ziemlich gut vorstellen, wie die Sache weiterging. Die ersten kleinen Gefallen waren genau das – kleine Gefallen, das heißt völlig harmlos und nichts, was Frantz in moralische oder ethische Gewissenskonflikte gestürzt hätte. Doch dann, nach einer Phase der Gewöhnung dürften die Daumenschrauben langsam angezogen worden sein. Der Erpresser wird sehr behutsam und in ganz kleinen Schritten die Schwelle dessen, was Frantz noch bereit war zu tun, angehoben haben. Genau so wird ein Maulwurf aufgebaut. Wenn er letztendlich begreift, dass ihn jemand in einen Verräter verwandelt hat, ist es zu spät. Dann steckt er so weit drin, dass es kein Zurück mehr gibt. Genau das ist dann der Moment, zu dem die wirklich heftigen Gefallen eingefordert werden. Fotos, wie die von Frantz, spielen zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr, der Verrat am eigenen Haus überwiegt alles andere und wird zur eigentlichen Motivation.
»Woher weißt du das?«, fragte Frantz völlig von den Socken, nachdem ich ihn in meine Überlegungen einband.
»Weil ich es ebenso gemacht hätte.«
Für diese Bemerkung erntete ich einen entsetzten Blick, weswegen ich nachschob: »Unter der Voraussetzung, ich wollte einen Maulwurf implementieren, was ich nie tat und auch nicht beabsichtige. Aber wir reden nicht über mich sondern über dich. Du hast uns also verraten? Gut, daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern. Was wir ändern können sind die Auswirkungen. Was hast du an wen verraten?«
»Die Sache mit Bastian und Phillip hast du ja bereits selbst herausbekommen.«
»Ja, und ich muss gestehen, dass ich es nicht nett finde, dass du mich umbringen wolltest.«
»Sie sagten, dass es die letzte Aufgabe wäre, die sie von mir verlangen würden. Sollte ich dich nicht beseitigen, würden nicht nur die Bilder an van Sanden gehen.«, Frantz zuckte entschuldigend mit seinen Schultern, »Ich erwähnte ja schon, dass Blut an meinen Händen klebt. Bei dir war ich nicht erfolgreich, bei anderen schon. Constantin, ich bin ein Feigling. Ich habe nicht nur dich und unser Haus verraten. Und das nur, um meine eigene Haut zu retten.«
»Und wo hat es dich hin gebracht?«, fragte ich kalt, »Dafür, dass du ahnungslos in eine Falle getappt bist könnte ich noch Verständnis aufbringen. Aber dass du dich nicht spätestens dann an mich oder Laurentius gewandt hast, als die Bilder auftauchten, war deine Entscheidung, für die du ganz allein die Konsequenzen tragen musst.«
Es hätte mich arg gewundert, wenn Frantz bei dieser Bemerkung nicht erblasst wäre. Er tat es und zeigte mir, dass er verstanden hatte.
Diener zweier Häuser
Florian
Großherzog Florian – Etwas schwachsinnigeres als diesen Titel hatten sie wohl nicht für mich auf Lager. Wie oft sollte ich es noch wiederholen? Ich war Tischler! Ich liebte es, ein Tischler zu sein und wollte auch nie etwas anderes werden. Mit Holz zu arbeiten, aus unförmigen Brettern und Klötzen einen Tisch, einen Schrank, Stühle oder sogar eine Truhe zu fertigen, war das, was ich wollte, etwas, in dem ich aufgehen konnte und vor allem etwas, was ich verstand. Aber Großherzog?
Auf der anderen Seite... Der Titel verband mich mit meiner Mutter. Meine Mutter – Mit fünf Jahren seine eigene Mutter zu verlieren war hart, wirklich hart, insbesondere weil eine sehr enge Bindung zu ihr bestand. Meine Mum liebte mich und war sich auch nicht zu fein, dies zu zeigen. Was nicht heißen soll, dass sie mich verwöhnte und über Maß verhätschelte. Es war einfach ihre Art, mit mir umzugehen, die mich spüren ließ, wie sehr sie mich liebte. Inzwischen, selbst ein Vampir, war mir natürlich klar, dass sie dabei ihren Lockruf einsetzte. Es gibt keinen direkteren Weg, Gefühle zu übermitteln, als von Hirn zu Hirn. Wer war diese Frau, die mir immer eine unglaubliche Geborgenheit schenkte?
Wenn es jemanden gab, der von Isabell Maria Mercedes Margaux sur Rhone – der Name war wirklich ein wenig überkandidelt und unhandlich – berichten konnte, dann mein Vater. Und so richtete sich meine, Christianos und selbst Tamirs Aufmerksamkeit voll und ganz auf ihn. Im ersten Moment wusste mein Paps nicht, wo er beginnen sollte und stammelte einfach drauf los. Doch nach den ersten Sätzen fing er sich und begann, uns mit der Schilderung einer ebenso fantastischen wie faszinierenden Frau in den Bann zu schlagen. Paps erzählte, und je mehr er erzählte, breitete sich ein ebenso melancholischer wie glücklicher Glanz in seinen Augen aus. Ab und an griff er sogar nach einem der auf dem Wohnzimmertisch ausgebreiteten Fotos, strich versonnen über das Bild und beschrieb uns haarklein, wann und zu welchem Anlass es entstanden war.
Und wir? Wir schwiegen und ließen uns von seiner Erzählung verzaubern. Minute um Minute, Foto um Foto, Geschichte um Geschichte gewann meine Mutter Kontur. In meinem Kopf formte sich das Bild einer beeindruckenden Frau. Sie war frech, gescheit, bodenständig, elegant, verspielt, aber auch ernst und wohlbesonnen, mal extrovertiert und spontan, dann aber auch wieder in sich gekehrt. Sie liebte das Leben, obwohl sie als Vampirin ein wenig gehandicapt und mehr der Nachtmensch war. Doch am meisten liebte sie eins: Ihre Familie.
Es wurde spät. Als mein Vater wirklich all das erzählt hatte, was sich an einem Abend erzählen ließ, und ihm beim besten Willen nichts mehr einfallen wollte, zeigte meine Armbanduhr zwanzig nach drei. Wir schwiegen und ließen die Stille auf uns einwirken. Paps hielt ein besonderes Bild in seinen Händen. Es zeigte Mum, wie sie mich als Säugling im Arm hielt und meinen Paps, der mit einer Hand mich streichelte und die andere verliebt und stolz auf Mum ruhen ließ.
»Ich weiß wie unverzeihlich grausam ich dich behandelt habe.«, flüsterte Paps in die Stille, »Dabei bist du das wichtigste und das einzige, was mir von Lissi geblieben ist. Florian, du bist mein Sohn. Ich liebe dich und ich wünsche mir, dass du glücklich wirst.«
»Es wird Zeit.«, fügte Tasmanir nach einer Pause hinzu.
Hallo? Hatte ich irgendetwas nicht mitbekommen? Meine Blicke wechselte zwischen Tamir und Paps hin und her. Was ging hier ab? Zwischen meinem Vater und dem Nosferatu gab es irgendeine Übereinkunft.
»Wofür wird es Zeit?«
»Du musst mit Tamir gehen. Es ist wichtig.«, Paps griff nach meinen Händen und massierte sie nachdenklich, »Weißt du, es fällt mir immer noch schwer, dich anzusehen. Es ist wie eine Wunde, die nicht heilen will. Sie juckt und man kratzt an ihr rum, obwohl man weiß, dass es dadurch auch nicht besser wird. Oh, Flo, Mum fehlt mir so sehr. Es ist, als hätte jemand einen Teil aus mir herausgeschnitten. Aber das kann keine Entschuldigung dafür sein, was ich dir angetan habe.« Paps seufzte und blickte mir plötzlich direkt in die Augen: »Ich bin froh, dass Constantin dich aufgefangen hat. Ich hätte es nicht ertragen, dich auch noch zu verlieren. Doch jetzt musst du gehen! Lass dir von Tamir helfen, dein Erbe anzutreten. Isabells Tod darf nicht ungesühnt bleiben.«
»Dann ist Constantin also nicht vom Haken?«
Mein Vater hatte sich zurückgezogen und uns, das heißt Christiano, Tamir und mich, allein im Wohnzimmer zurückgelassen.
»Jein, ganz so einfach ist es nicht.«, bestätigte Tamir meine Befürchtung, »Das Verbrechen wurde begangen und seine Folgen dauern an.«
»Aber es muss doch etwas geben, die Sache wieder hinzubiegen, oder?«, warf Christiano in die Diskussion.
Tamir nickte, »In der Tat, es gibt da ein Schlupfloch. Es gibt immer ein Schlupfloch.«
Der entscheidende juristische Dreh lag in dem Umstand begründet, dass ich nicht Constantins Untertan, sondern mein eigener Herr war. Damit fiel das Recht, gegen das Verbrechens der unrechtmäßigen Unterwerfung klagen zu dürfen, einzig und allein mir zu. Aber genaus, wie es immer ein Schlupfloch gab, gab es auch immer einen Haken. Ich war nach wie vor durch meine Erweckung an Constantins Blut gebunden. Ich war rechtlich frei, körperlich und seelisch aber immer noch Constantins Geschöpf, was mir wiederum das Recht der Klage raubte und auf die anderen Häuser übertrug. Eine ziemlich verzwickte Situation.
»Es gibt da eine Möglichkeit...«, begann Tamir vage. Inzwischen hatte ich ein gewisses Gespür dafür entwickelt, zu wissen, wie der alte Nosferatu tickte. Zum Beispiel, dass er immer dann zögerte, eine Information Preis zu geben, wenn sie mir garantiert nicht sonderlich gut gefiel.
»Ja?«
»Es ist ein Ritual, mit der sich die seelische und körperliche Bindung, die durch die Erweckung entstand, wieder lösen lässt.«
»Aber?«
»Du liebst Constantin, oder? Du zweifelst nicht daran, dass du ihn liebst?«
Was für eine absurde Frage. Natürlich liebte ich Constantin und Tamir wusste es. Warum also diese Frage?
»Du wirst nach dem Ritual nicht derselbe sein.«, erläuterte der Nosferatu, »Verstehst du, was ich sagen will? Zurzeit erfüllt Constantins Essenz deinen Körper. Florian, wir sind Vampire. Wir sind Sklaven unseres Blutes. Für uns ist es kein schnöder Saft, der profane Substanzen wie Sauerstoff, Kohlendioxid, Wasser, Nährstoffe und Stoffwechselprodukte transportiert. Unser Blut bestimmt unser Wesen. Das Blut unserer Stammväter, unser Erwecker, definiert uns. Es definiert aber auch unsere Stammväter. Eine Erweckung ist keine Einbahnstraße. Genauso wie du durch Constantin verändert wurdest, wurde Constantin durch dich verändert.«
Soweit konnte ich dem Nosferatu folgen. Er hatte mit allem recht. Ich konnte Constantin tatsächlich in mir fühlen. Wie ein leises Echo hallte er in mir wieder. In ruhigen Momenten konnte ich ihn sogar fast körperlich spüren. Diese Verbindung, so seltsam sie sich darstellte, hatte etwas sehr beruhigendes und schuf Geborgenheit. Die Verbindung war aber nicht auf Constantin beschränkt, sondern verband mich auch mit all seinen Geschöpfen wie Simon und Christiano und erschuf ein Gefühl von Familie.
»Das Ritual ist...«, Tamir zögerte als suchte er nach richtigen Worten, »es wird dich in das verwandeln, was du qua deiner Geburt eigentlich sein solltest: Der Stammvater deines Hauses. Mehr noch, deine Mutter wurde als Vampir geboren. Du bist ihr Sohn. Warum du nicht als Vampir sondern als Mensch geboren wurdest, ist mehr als verblüffend und unerwartet, könnte aber die Antwort auf eine ganze Reihe Fragen geben. Entscheidend ist aber etwas anderes. Das Ritual wird dich zu einem gebürtigen Vampir machen, zu dem, der du eigentlich sein solltest.«
»Und der Haken an der Sache?«
»Himmel bist du argwöhnisch.«, lachte Tamir nur scheinbar amüsiert, »Aber du hast recht. Die Sache hat in der Tat einen Haken. Sogar zwei... Und einer ist schlimmer als der andere.«
Woraus diese Haken konkret bestanden, wollte Tamir vorerst allerdings nicht preisgeben. Stattdessen lud er mich ein, ihn in eines der Kloster der Nosferatu zu begleiten, worauf sich Christiano fast an seiner eigenen Spucke verschluckt hätte. Es kam nur sehr, sehr selten vor, dass einem einfachen Vampir erlaubt wurde, seinen Fuß in eine der heiligen Stätten der Nosferatu setzen zu dürfen. Davon ahnte ich natürlich nicht das geringste. Statt mich also geehrt zu fühlen, löste die Vorstellung, noch mehr Totenschädelfratzen begegnen zu dürfen, eher gemischte Gefühle als Begeisterung aus. Mein Gesicht muss Bände gesprochen haben, denn während Tamir wissend schmunzelte, erhielt ich von Christiano einen Crashkurs in vampirischer Spiritualität und welche Rolle dabei die Nosferatu spielten.
Ich kann nicht behaupten, das Glaubenskonzept auf Anhieb verstanden zu haben, begriff aber, dass Vampire keine Theisten waren, also nicht an einen oder mehrere Götter glaubten, sondern sich viel mehr in eine Richtung orientierten, die dem Buddhismus ähnelte. Eine zentrale Rolle nahmen dabei die Meditation und nicht näher erläuterte Rituale ein, denen sich die Nosferatu unterzogen. Es klang alles sehr geheimnisvoll, um nicht zu sagen mystisch. Während Christianos Schilderung war es unmöglich zu überhören, wie sehr er mich um die Einladung beneidete. Ich hatte sogar das Gefühl, dass er ein wenig geknickt war, nicht ebenfalls eingeladen worden zu sein. Umso begeisterter reagierte er, als Tamir bemerkte, dass ich für meine Zeit im Kloster einen Beistand bräuchte und Christiano ideal für diese Aufgabe geeignet sei. Der portugiesische Blutsauger hätte beinahe Luftsprünge vollführt, so freute er sich über die Einladung, um dann überraschend doch abzulehnen und eine nachdenklichere und leicht kühlere Haltung einzunehmen.
»So sehr ich mich danach sehne, die Hallen Eurer heiligen Stätten besuchen zu dürfen, muss ich ablehnen. Ich habe geschworen, für Florians Sicherheit zu sorgen, wozu insbesondere auch zählt, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Die würden wir aber wecken, wenn sowohl Florian als auch ich morgen nicht zur Arbeit erschienen. Tamir, ihr erwähntet, dass Momsen im Kontakt zu demjenigen Haus steht, welches im Hintergrund die Fäden dieser gigantischen Intrige zieht?«
Wie bitte? Christiano wollte mich nicht begleiten?
»Das ist insofern korrekt, als wir inzwischen tatsächlich vermuten, dass es sich bei den Mördern von Florians Mutter um die gleichen handelt, die auch Momsens Spielschulden beglichen haben, damit dieser im Gegenzug Florian mobbt.«, bestätigte Tamir sachlich, auch ihm war die Veränderung im Auftreten meines portugiesischen Freundes aufgefallen.
»Dann sollten wir kein Risiko eingehen.«, meinte Christiano sachlich nüchtern, »Niemand weiß, dass Florian inzwischen einer von uns ist und dabei sollte es im Moment auch bleiben.«
Die vorgebrachten Argumente waren ebenso stichhaltig wie beunruhigend. Bei aller Aufregung und aufrichtiger Freude um mein wiederentdecktes Erbe, musste er auch die Auswirkungen auf das Haus Varadin im Auge behalten. War es das? Begann sich mein Freund und Lehrer deswegen von mir abzusetzen, weil ich rein formal nicht mehr zur Familie zählte und bald auch nicht mehr sein Bruder im Blute war?
»Christiano?«, sprach ich meinen Tischlerkollegen direkt an und fixierte ihn mit meinen Augen. Sein Blick sprach Bände. Hin- und hergerissen zwischen Pflichterfüllung seinem Haus gegenüber und der Freundschaft zu mir, wanderten seine Pupillen unstetig umher. Einerseits versuchten sie meinem Blick auszuweichen, kamen doch anderseits nicht von ihm los. »Ich verstehe dich.«
Christianos Mund öffnete sich – langsam. Es bedurfte dann zweier Anläufe, um ein einziges Wort herauszubringen: »Wirklich?«
»Ich glaube schon.«, so wie vorhin mein Vater meine Hände ergriffen hatte, ergriff ich nun Christianos. Dieser zuckte im ersten Moment zurück, ließ es dann aber doch geschehen: »Du bist mein Freund. Ich weiß, in welchem Konflikt du gerade steckst. Du bist nicht nur Constantins bester Agent, du bist auch sein bester Freund. Ich glaube sogar, dass du ihm auf eine Weise näher stehst als Laurentius. Aber auch ich bin dein Freund und du mein bester Freund und ich glaube, dass diese Freundschaft wirkliche Tiefe besitzt. Doch was wir heute erfahren haben, verändert alles. Denn unsere Freundschaft bringt dich in einen Loyalitätskonflikt. Du bist ein Varadin und ich... Ich habe keine Ahnung, was ich bin oder sein werde. Ich weiß nur, dass du mich als den Repräsentanten eines fremdes Haus betrachten musst. Du kannst nicht wissen, was das Haus Margaux für das Haus Varadin, für Constantin bedeutet. Shit, ich weiß es ja selbst nicht einmal. Ich weiß nur so viel, dass meine Existenz eine potenziell letale Bedrohung für Constantin darstellt. Aber dafür kann ich nichts. Ich will es auch nicht. Ich kann nur versuchen, diese Bedrohung abzuwenden. Verdammt, ich liebe Constantin und könnte niemals etwas tun, das ihm schadet. Aber du, du kannst nicht Diener zweier Herren sein. Deswegen sollten sich unsere Wege vorerst trennen. Ich werde mit Tamir gehen und mich, wenn es denn die einzige Chance ist, um Constantin zu retten, dem Ritual unterziehen.«
»Danke, Flo.«, flüsterte Christiano erleichtert, »Es tut mir leid...«
»Nein!«, unterbrach ich den Satz und legte ihm sanft einen Finger auf den Mund, »Es muss dir nicht leidtun. Erfülle deine Pflicht gegenüber Constantin und halte die Augen auf. Sorge dafür, dass Momsen nicht auf die Idee kommt, dass es etwas gäbe, das er seinen Gönnern melden müsste. Melde mich morgen krank. Lass Marco die Baustelle managen. Er kann das und sollte ihm die Courage dafür fehlen, könntest du ihm vielleicht einen kleinen mentalen Schubser geben.«
»Danke, Florian und ja, ich bin dein Freund.«
Die grauen Nebel
Wenige Minuten später brachen wir auf. Während Christiano noch zu seinem Wagen ging, rollte fast lautlos eine sehr lange, schwarze Limousine heran. Ein Nosferatu stieg aus und öffnete Tamir und mir die Tür zum Fond. Wir stiegen ein und wurden von einer schwarzen, schweren und weichen Ledersitzbank empfangen. Kaum hatten wir Platz genommen, wurde die Seitentür wieder geschlossen. Mit einem satten Ompf fiel die gepanzerte Tür ins Schloss. Der türöffnende und -schließende Nosferatu hatte kaum seinen Platz eingenommen, da beschleunigte der Fahrer, ein weiterer Nosferatu, den Wagen auch schon.
»Ist alles vorbereitet?«, fragte Tamir, alias Tasmanir Musferatu, den auf dem Beifahrersitz hockenden Türöffner. Dieser drehte sich samt seines Stuhls zu uns herum und meinte, »Ja, man erwartet uns. Bruder Marcus lässt ausrichten, dass es ihm eine Ehre sei, unserer Bitte zu entsprechen. Der Order der Bruderschaft des grauen Nebels steht voll uns ganz hinter uns.«
»Und die andere Sache?«
»Auch für die wurde gesorgt. Bis auf Widerruf werden ständig drei Brüder alle Schritte Christiano Varadins begleiten.«
»Was?«, schrie ich entsetzt auf, »Ihr traut Christiano nicht und überwacht ihn?«
Tamir sah mich entschuldigend an: »Um es mit Lenin zu sagen: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Dabei geht es primär gar nicht darum, Christiano auszuspähen. Es geht vor allem um seinen Schutz. Sollte Momsen sich doch mit den Hintermännern in Verbindung setzen, hätten wir eine Chance, ihre Identität zu erhellen.«
»Ich verstehe.«
»Sehr gut.«, Tamir wandte sich dem Türschließer zu, »Und nun, mein lieber Petrus, möchte ich dir Florian, den Großherzog des verschollenen Hauses Margaux vorstellen. Florian, dies ist Petrus, mein Sekretär und, viel wichtiger, ein guter Freund.«
»Es freut mich, Euch kennenzulernen, Bruder Petrus.«
»Petrus reicht, Euere Königliche Hoheit.«
»Florian reicht... glaube ich jedenfalls.«
»Nachdem wir mit dem Austausch gegenseitiger Höflichkeiten durch sind«, machte sich Tamir bemerkbar und wandte sich an Petrus, »Wäre es nett, wenn du unserem jungen Freund erklärst, was ihm bevorsteht.«
»Das ist mal wieder typisch«, entgegnete der angesprochene gespielt entrüstet, »Die unangenehmen Aufgaben überlässt du wieder mal mir.«
»Privileg des Stammvaters.«, schmunzelte der Stammvater der Nosferatu des Westens.
Nach einem resigniert, humorvollen Kopfschütteln begann mich Petrus in das einzuweihen, was mir bevorstand, sollte ich mich dem Ritual der Blutsbindung unterwerfen. Tamir hatte recht, die Sache hatte einen Haken. Es gab kein Drumherumreden, die einzige Möglichkeit, Constantins Essenz wieder aus mir heraus zu bekommen, bestand darin, es aus mir herauszufiltern. Und das ging nur, wenn ich in Pulverform, das heißt in Asche vorlag. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was dies bedeutete, nämlich dass sie mich einäschern wollten. Allein beim Gedanken daran wurde mein Mund staubtrocken. Christiano hatte erwähnt, dass er von einem Vampirjäger seinerzeit gefoltert wurde, indem dieser ihn langsam mit Sonnenlicht verbrannte. Ich hatte nicht nachgefragt, wie es sich angefühlt hatte. Es war nicht nötig, sein Gesicht sprach Bände. Constantin hatte ihn zwar später wiedererweckt, aber die Erinnerung an den Schmerz blieb. Er hatte sich wortwörtlich in seine Erinnerung eingebrannt.
»Ich weiß, was du denkst. Aber die Erfahrung des Rituals ist anders.«, erklärte Petrus.
»Ist es?«, fragte ich zynisch.
»Dieses spezielle Ritual wird nur von den Brüdern des grauen Nebels zelebriert. Seine Existenz zählt selbst unter den Nosferatu nicht unbedingt zum Allgemeinwissen. Wie soll ich es am besten erklären?«, Petrus überlegte einen Moment, bevor er wieder ansetzte, »Vielleicht so. Dieser Orden ist außergewöhnlich, selbst für Nosferatumaßstäbe. Wir alle streben nach Weisheit und Erleuchtung. Nach unserer Überzeugung kann beides nur aus uns selbst heraus entstehen, weswegen wir die meiste Zeit in unsere Klöster zurückgezogen leben und uns aus dem Treiben der profanen Welt heraushalten. Allerdings gibt es nicht den einen richtigen Weg, um Erleuchtung zu erlangen. Jeder Nosferatu muss seinen eigenen finden. Dies tut er, indem er sich einem Orden anschließt, der ihm als für sich geeignet erscheint. Denn auch die Suche nach dem richtigen Weg ist bereits ein sehr wichtiger Teil des Weges. Die meisten Nosferatu wählen den Weg der Meditation, andere gehen einen Schritt weiter und fügen Isolation hinzu. Es gibt einen Orden, der fantastische Wandteppiche webt. Jeder Knoten wird einzeln und erst dann geknüpft, wenn sich der Bruder im Zustand völligen Einklangs mit sich und seinem Werk befindet. Es dauert Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte, bis ein solches Werk vollendet ist. Einer dieser Teppiche wurde unserem Stammvater, dem ehrwürdigen Tasmanir Musferatu, zum Geschenk gemacht und schmückt nun die Halle unseres Klosters. Drei Nosferatu haben einhundert Jahre lang an ihm gearbeitet. Ihn perfekt zu nennen trifft es nicht annähernd. Er ist vollkommen. Allein ihn zu betrachten ist ein spirituelles Erlebnis. Andere Orden haben die Musik als Werkzeug zur Erlangung von Weisheit für sich entdeckt. Ihre Chor- und Orgelwerke sind von solcher emotionaler Kraft, dass sie selbst Granit erweichen könnten. Tja, und dann ist da der Orden der grauen Nebel.«
Petrus pausierte einen Moment.
»Die Grauen sind Brüder, die glauben, dass sie nur dann Erleuchtung erlangen können, wenn sie sich einer Reinigung von Geist und Körper unterziehen. Sie betreten damit sicherlich den radikalsten Weg, denn zur Reinigung des Körpers gehört es auch, sich ihm in Abständen zu entledigen, das heißt, ihn zu zerstören. Nur der wiedererweckte Körper, so ihre Überzeugung, ist wirklich rein. Wobei sie ihren alten Körper nicht verdammen. Ganz im Gegenteil besteht ein Teil der Vorbereitung für eine Wiedergeburt, wie sie es nennen, in einem Ritual, in dessen Verlauf dem alten Körper gedankt wird, als Gefäß der Seele gedient zu haben.«
»Wie Phönix aus der Asche.«, murmelte ich in mich hinein.
»In der Tat spricht sehr viel dafür, dass die Phönixsage ihren Ursprung in einem Wiedergeburtsritual der Grauen besitzt.«
»Woher wisst ihr das alles?«
»Ich war ein Bruder des Ordens der Grauen. Ich feierte meine siebenundvierzigste Wiedergeburt, bevor ich einen anderen Weg für mich entdeckte, Erleuchtung zu erlangen.«
Wer kennt es nicht, das Gefühl, sich vollkommen verloren zu fühlen. So erging es mir während ich tief versunken auf der weichen, knirschenden Lederrückbank der gepanzerten Limousine Tamirs hockte und versuchte, das Wesen der Nosferatu zu verstehen. Oder war dies vielleicht überhaupt nicht möglich? Die Nosferatu waren vollkommen anders. Alle Vampire, denen ich bisher begegnet war, hatten auf ihre Weise immer noch etwas menschliches an sich, selbst wenn sie wie Christiano mehrere hundert Jahre alt waren. Aber die Nosferatu ließen sich mit viel Wohlwollen bestenfalls als Humanoide bezeichnen. Trotzdem entdeckte ich in mir eine Verbundenheit mit ihnen, die sich nicht erklären ließ. Ihre Physiognomie war nach menschlichen Maßstäben einfach nur abstoßend, nach meinen neuen vampirisch veränderten Maßstäben hingegen erschien sie eigentümlich pur und von einer übernatürlichen Reinheit durchwirkt, die Respekt und Ehrfurcht erweckte. Ich vertraute ihnen und wusste instinktiv, dass mir von einem Nosferatu keine Gefahr drohte und verstand, warum Christiano oder auch Constantin sie als Autoritäten anerkannten. Vielleicht war es eine Form von Sehnsucht, die dabei aus meinen Freunden sprach, eine Sehnsucht nach einer Existenz in reiner spiritueller Erfüllung, so, wie sie die Nosferatu lebten. Die Vorstellung, einhundert Jahre an einem einzigen Wandteppich zu arbeiten, war für mich unvorstellbar. Was mussten die drei Nosferatu bewegt haben, sich einem derartigen Werk zu widmen?
Tiefste Nacht gepaart mit schwarz getönten Autoscheiben ließ wenig von der Landschaft erkennen, die unser Wagen durcheilte. Nur das Fehlen von Lichtern der Stadt, ihren Straßenlaternen, Ampeln, Schaufenstern, Leuchtreklamen oder Werbetafeln ließ vermuten, dass wir uns außerhalb besiedelter Gebiete bewegten. Die Fahrt schien sich endlos hinzuziehen. Zeit genug, meine Gedanken zu ordnen. Tamir und Petrus respektierten mein Schweigen und überließen mich mir selbst. Ich starrte aus dem Fenster und konnte doch nichts erkennen, obwohl meine Gastgeber die Leseleuchten gedimmt hatten, die anfangs das Innere des Fonds erhellten. Es war kurz vor Sonnenaufgang, ich konnte das drohende Zentralgestirn bereits deutlich spüren, als der Wagen seine Fahrt verlangsamte und schließlich zum Stillstand kam.
»Wir sind da.«, verkündete Petrus und stieg aus, um Tamir und mir die Wagentür zu öffnen.
Am östlichen Horizont begann tatsächlich ein neuer Tag herauf zu dämmern. Noch war die Sonne nicht zu sehen, für uns Vampire reichte der blasse Schimmer, um die Umgebung deutlich und klar erkennen zu können. Ich stand im inneren Hof dessen, was wohl ein Bauernhof war. Ein Mensch, er war eindeutig kein Vampir schloss gerade das große Hoftor, während am Hauptgebäude – ich nahm an, dass es das Hauptgebäude war, es war zwar nicht das größte, die Scheune war größer, besaß aber die meisten Fenster – eine Tür geöffnet wurde. Eine Frau, ebenfalls menschlich, trat heraus und kam auf uns zu.
»Bruder Petrus.«, begrüßte uns die Frau, deren Alter ich auf Mitte dreißig schätzte, »Schön, euch einmal wiederzusehen. Dann müsst Ihr Tasmanir Musferatu sein. Es ist uns eine Ehre, Euch auf unserem Hof begrüßen zu dürfen. Und Ihr«, die Frau wandte sich an mich, »seid dann derjenige, dem wir die ganze Aufregung zu verdanken haben. Herzlich Willkommen!«
Sie griff nach meine Hand und schüttelte sie durchaus kraftvoll. Mit einem besorgten Blick zum östlichen Horizont deutete unser Begrüßungskommando zur Tür des Hauses.
»Ich glaube, wir sollten lieber reingehen. Die Dämmerung hat bereits begonnen.«
Wir hatten gerade die Haustür erreicht, als der erste Sonnenstrahl über den First der Scheune kroch. Mit einem letzten Blick auf den anbrechenden Tag betrat ich gefolgt von meinen Begleitern das Kloster des Ordens der grauen Nebel.
Kloster? Ich stand in einem stinkordinären Hausflur, wenn auch einem geschmackvoll eingerichteten. Versonnen strich ich über die Maserung eines alten, massiven Holzschranks im Landhausstil. Was ich sah und fühlte war eine sehr gute Arbeit. Wer immer diesen Schrank gefertigt hatte, er liebte Holz und verstand sein Handwerk.
»Entschuldigt...«, Ich hatte den Anschluss an meine Gruppe verloren, die ohne mich weitergegangen war.
»Du musst dich nicht entschuldigen.«, entgegnete Petrus, »Ich hörte schon, dass du Tischler bist. Gefällt dir die Arbeit?«
»Ja, sehr.«, schüchtern warf ich unserer Gastgeberin einen fragenden Blick zu. Sie verstand und schenkte mir ein zustimmendes Lächeln. Ich öffnete die Tür, hegte allerdings keinerlei Interesse am Inhalt des Möbels. Viel mehr war ich auf die Verarbeitung und die Machart gespannt. Ich wurde nicht enttäuscht. Die Tür schwang leichtgängig und ohne zu quietschen auf. Sie hing perfekt in ihren Angeln, die statt aus Metall ebenfalls aus Holz gefertigt waren. Der ganze Schrank war abgesehen vom Schloss vollkommen metallfrei. Es war ein wirklich schönes Stück: einfach, aber nicht billig, schnörkellos, funktional und absolut präzise gefertigt.
»Bruder Matthias hat ihn gebaut.«, erläuterte unsere Empfangsdame, die sich, nachdem sie ihre Jacke ausgezogen hatte, als eine sportliche, sympathische Frau präsentierte. »Wenn Ihr mir dann folgen wollt?«
Wir folgten, und zwar in die große Küche des Hauses. Den zwei großen Gasherden, langen Tischen und Arbeitsflächen, zwei überdimensionalen Kühlschränken und etlichem Kochgeschirr in Übergröße zu urteilen wurde hier für eine ganze Armee gekocht. Wir gingen weiter und wurden zu eine Tür geführt, die den Blick auf eine Kellertreppe freigab. Es ging nach unten. Vorbei an eingekochtem Obst und Gemüse, einer Kartoffelschütte und Konserven, die auf unzähligen Regalen gelagert wurden, ging der Weg weiter in einen Raum mit Fässern. Dem Essiggeruch nach zu urteilen wurden hier Gurken in Sauer eingemacht. Es folgte ein weiterer Raum, kühler als die ersten. Auch hier lagerten Fässer, deren Gärröhrchen aber eher auf die Produktion alkoholischer Produkte schließen ließ.
»Apfelwein.«, kommentierte unser Tourguide, die meinen neugierigen Blick bemerkt hatte, »So, wir sind da. Petrus, wärst du so nett?«
Der angesprochene Nosferatu nickte und ging zu einer Wand, an der ich erst jetzt eine schwere eiserne Tür ausmachen konnte, die aber über keinerlei Klinke oder Schlösser zu verfügen schien. Dies hinderte Petrus aber nicht, die Tür zu öffnen. Er stellte sich einfach vor sie hin, strich über diverse Stellen des Türblatts und der Zarge, bis es plötzlich Klick machte und sich ein Spalt auftat.
»Die Nacht ist Euer!«, rezitierte die Frau, dessen Namen ich nie erfuhr.
»Die Nacht ist unser!«, erwiderte Petrus, verneigte sich und deutete Tamir und mir, ihm zu folgen. »Ihr betretet jetzt das eigentliche Kloster.«, erklärte der Nosferatu nachdem er die Tür hinter uns geschlossen hatte, »Es befindet sich weit unterhalb der Oberfläche in einer natürlichen Höhle. Der Bauernhof dient zwar primär als Tarnung und Zugang, wird allerdings ganz ernsthaft und durchaus mit Gewinn bewirtschaftet. Die Äcker und Viehzucht des Hofes wurden übrigens schon nach strengen ökologischen Richtlinien betrieben, als noch niemand den Begriff ökologisch buchstabieren konnte. Inzwischen hat sich der Hofladen zur Anlaufstelle für Spitzengastronomen entwickelt. Natürlich dient er auch der Selbstversorgung der menschlichen Bewohner und Mitarbeiter, was man deutlich schmeckt. Bio liegt voll im Trend, auch bei den Nosferatu.«
Da soll nochmal jemand behaupten, Nosferatu hätten keinen Humor. Da ich meinen Gattungswechsel vom Menschen zum Blutsauger offensichtlich noch nicht vollständig verinnerlicht hatte, brauchte es ein paar Sekunden, bis der Groschen fiel und ich begriff, was Petrus mit seiner letzten Bemerkung meinte.
»Bitte folgt mir.«, forderte uns der ehemalige Bruder der grauen Nebel auf und übernahm die Vorhut. Vor uns lag ein von leise flackernden Kerzen erleuchteter Gang, der uns nach wenigen Metern zu einer Wendeltreppe führte. Es ging abwärts. Windung um Windung schraubten sich die Stufen tiefer in die Erde. Stufen, Wände und Decke waren aus massivem Stein gefertigt und schienen wirklich sehr alt zu sein. Es hätte mich nicht überrascht zu hören, dass diese Anlage bereits seit dem Mittelalter bestand. Ebenso altertümlich wie die Treppe selbst war auch ihre Beleuchtung. In regelmäßigen Abständen waren Nischen in die Wand eingefügt worden in denen kleine Lampen mit Kerzen standen.
»Das Kloster verfügt über keine elektrische Beleuchtung.«, erklärte Petrus, meine Gedanken erratend, »Aber keine Angst, die grauen Nebel sind nicht technikfeindlich. Es war einfach eine Abwägung zwischen Tradition und Nutzen. Das Kloster wurde seit Alters her mit Öl- und Karbidlämpchen sowie Kerzen erleuchtet. Mehrere Mönche sind ständig damit beschäftigt, abgebrannte Kerzen zu ersetzen oder leere Lämpchen wieder aufzufüllen. Warum diese Mühe? Warum kein elektrisches Licht? Ist es doch praktisch, wartungsarm und ständig verfügbar. Genau dies waren die Gründe, warum wir uns dagegen entschieden. Beim Leben im Kloster geht es nicht darum, effizient und praktisch zu handeln, sondern bewusst zu leben. Die Pflege der Lampen und Kerzen hilft dabei und ist Teil des klösterlichen Lebens.«
Dann hatten die Mönche aber eine Menge zu tun. Am unteren Ende der Treppe angekommen durchschritten wir einen Torbogen und standen unvermittelt in einer großen Säulenhalle. Ich war sprachlos. So etwas schönes hätte ich an einem Ort wie diesem nie und nimmer erwartet. Der Grundriss der Halle war näherungsweise quadratisch. Die längeren Seiten wurden in gleichmäßigen Abständen von Säulen unterbrochen, während die Zwischenräume mit langen farbenprächtigen Bannern behängt waren vor die jeweils eine Statue platziert war. Wir hatten die Halle durch einen Eingang an dessen Stirnseite betreten, sodass die Statuen zwei präzise Reihen zu unserer linken und rechten Seite bildeten. Zwischen den Skulpturen standen funkelnde Kandelaber, die mit von der Decke abgehängten Kronleuchtern im Dialog standen. Obwohl ausschließlich von Kerzenlicht beleuchtet, war es ausreichend hell. Überhaupt verbreiteten die Kerzen ein sehr warmes und heimeliges Licht. Doch dies war nicht der Grund, dass es mir der Sprache verschlug, sondern der gigantische Wandteppich, der die gesamte Fläche der uns gegenüberliegenden Wand einnahm. Obwohl aus Stoff gewebt, erweckte das Bild einen fast fotorealistischen Eindruck. Aber das war noch nicht alles. Überlebensgroß und von einer Lebendigkeit umgeben, die ich bei einem Bild nie für möglich gehalten hätte, blickten mich Constantin, ein anderer Mann und ein Nosferatu, den ich eindeutig als Tamir identifizierte, an. Oder war es doch nicht Constantin? Auf den zweiten Blick wirkte der Mann auf dem Wandteppich älter und zeigte auch leicht abweichende Züge.
»Nein, es ist nicht Constantin, den du dort erblickst.«, erläuterte Tasmanir Musferatu, der aber selbst ein klein wenig erstaunt war, hier unten sein Ebenbild zu erblicken, »Was du dort siehst ist das Bild einer Jahrhunderte währenden Freundschaft. Constantins Vater, Graf Breskoff und meine Wenigkeit verband mehr, als sich mit Worten ausdrücken lässt. Der Verlust Alexejs, Constantins Vater, war ein schwerer Schlag und jetzt ist auch Vladimir, Graf Breskoff von uns gegangen. Nur ich bin übrig geblieben. Seltsam, ich wusste gar nicht, dass ein Bildnis von uns dreien existiert.«
»Wenn es es nicht gäbe, müsste es erschaffen werden!«, erschallte eine satte Bassstimme. Ein stämmiger Nosferatu, ich wusste gar nicht, dass es soetwas gab, kam in einer typischen Mönchskutte auf uns zu. »Tasmanir Musferatu! Welch Freude, Euch endlich in unserem bescheidenen Heim begrüßen zu dürfen.«
Der Typ hatte etwas von einem Bären. Seine Hände waren Pranken und wenn er mit seiner Bassstimme sprach, hätte es mich nicht erstaunt, wenn die Wandteppiche und Bannerbahnen zu flattern begonnen hätten. Unvermittelt wandte sich der Mann mir zu, legte seine Hand auf meine Schulter und meinte: »Du musst dann Florian sein. Willkommen in unserem Heim, möge es für die Zeit deines Aufenthalts auch zu deinem Heim werden.«
»Vielen Dank, Bruder Abt.«
Mir fiel keine passendere Anrede ein. Dabei wusste ich noch nicht einmal, ob er wirklich der Abt war. Ich hatte mehr oder weniger geraten beziehungsweise vermutet, dass eine Persönlichkeit wie der Stammvater der Nosferatu des Westens, wohl kaum vom Hausmeister empfangen wurde.
»Bruder Marcus reicht.«, Bruder Marcus betrachtete mich ausgiebig, »In der Tat, unverkennbar ein Margaux. Du weißt, warum du hier bist?«
»Um an einem Ritual teilzunehmen, das meine Bindung zu Constantin Varadin aufhebt.«, sollte ich ehrlich zu Bruder Marcus sein? Warum eigentlich nicht. Sein Erscheinungsbild entsprach zwar dem eines Totenkopfteddybären, verfügte aber über einen recht hohen Knuddelfaktor. Der Mann, respektive Nosferatu war ein echter Genussvampir. Ich wusste zwar nicht warum, aber ich vertraute ihm. Von ihm drohte mir keine Gefahr.
»Ich... Ich weiß nicht, was ich eigentlich möchte. Einerseits liebe ich Constantin und habe Angst, ihn durch das Ritual zu verlieren. Doch wenn ich an dem Ritual nicht teilnehme, dann verliere ich Constantin auf jeden Fall. Also bleibt nur der logische Schluss, den eingeschlagenen Weg weiter zu beschreiten.«
Statt sofort zu antworten, nickte Marcus nachdenklich: »Du solltest dein Handeln nicht nur durch die Logik bestimmen lassen. Was sagt dir dein Herz?«
»Das ich es nicht ertragen könnte, wenn Constantin durch mich zu Schaden kommt. Wenn die anderen Häuser Constantin anklagen, wird er verlieren. Doch wenn ich Tamir richtig verstanden habe, bietet das Ritual ein Stück Hoffnung. Zwischen Nichts und ein wenig Hoffnung, wähle ich die Hoffnung.«
Bruder Marcus Kopfnicken wandelte sich von nachdenklich zu anerkennend: »Ich glaube, wir haben etwas gefunden, wo wir ansetzen können. Nochmals, willkommen in unserem Heim, Florian Margaux. Mögen sich deine Hoffnungen erfüllen.«
»Danke, Bruder Marcus.«
Völlig unbemerkt war ein junger Nosferatu an uns herangetreten. Wobei jung wahrscheinlich relativ zu sehen war. Vom Aussehen her schien er etwa in meinem Alter zu sein, was bei Blutsaugern aber nicht viel bedeutete. Als Mensch hätte ich ihn auf etwa 20 Jahre taxiert, als Vampir hätte er aber auch genauso gut 200 Jahre alt sein können. Was mich an ihm überraschte war der fröhliche, fast schon kecke Gesichtsausdruck. Ich hätte nicht gedacht, dass es fröhliche Nosferatu gab. Auf der anderen Seite, was wusste ich schon von den Nosferatu?
»Ah, Bruder Nicolas, auf die Sekunde.«, stellte der Abt den Neuankömmling vor, »Wärst du bitte so nett und kümmerst dich um unseren lieben Florian hier?«
Bumm!
Constantin
Unser Handeln hat Konsequenzen – Immer. Wir können uns eine Weile vor ihnen verstecken, sie verleugnen, verdrängen, versuchen sie auszutricksen, aber am Ende holen sie uns wieder ein. Diese Erfahrung musste auch Frantz machen. Es waren seine Handlungen, seine Entscheidungen, die ihn bis zu dem Punkt führten, an dem er sich jetzt befand. Aus einem angesehenen, geachteten, respektierten Wissenschafter, einem Freund und Vertrauten, war ein Verräter geworden. Natürlich hatte ihm jemand eine Falle gestellt. Natürlich befand er sich in einer Ausnahmesituation, als er über die Leiche in der Toilette seines Forschungsinstituts stolperte. Aber das änderte rein gar nichts daran, dass er ganz allein die Entscheidung traf, sich der Falle zu ergeben und sich ihr nicht zu erwehren.
Wie weit hätte ich ihm geholfen, die Situation zu bereinigen? Sehr weit. Ich bin der Stammvater des Hauses. Es ist mein Job dessen Mitglieder vor Bedrohungen zu schützen. Ich hätte alles getan, um den Fall aufzuklären. Und ich bin sogar nach wie vor davon überzeugt, dass Baron van Sanden ebenfalls ein brennendes Interesse daran hegte, dass der Mord an Yves, einem Mitglied seines Hauses nicht nur aufgeklärt, sondern auch gesühnt wurde.
Aber es gab eine Grenze, die Frantz übertrat, als er sich gegen das eigene Haus wandte und für die er die Verantwortung übernehmen musste.
»Und wie gedenkst du soll es jetzt weiter gehen?«, fragte ich nach einer Weile beiderseitigem Schweigens und fügte mit einem Blick auf die Versuchsapparaturen des Labors hinzu: »Was hattest du vor?«
»Ich werde dem allem ein Ende bereiten.«, bestätigte Frantz meine Befürchtung.
»Es ist eine Bombe, oder?«
»Es ist mehr als das. Es ist die Apokalypse. Die ultimative Antivampirwaffe. Es wirkt wie eine Art Infektion, ein anorganischer Virus, den nichts und niemand aufhalten kann. Lungengängige Nanopartikel, die sich selbst reproduzieren. Es war eigentlich erschreckend einfach.«
»Was hast du getan?«, nun war es an mir, zu erbleichen.
»Ich habe einen Weg entwickelt, uns, uns alle, diesen Irrtum der Natur, aus der Welt zu schaffen. Das ist mein Vermächtnis an diejenigen, die mich dazu brachten, alles was mir teuer und wichtig war, was ich liebte, zu verraten. «
Hatte Frantz gerade wirklich gesagt, was er sagte? Hatte er vollständig den Verstand verloren?
»Und du willst sie wirklich einsetzen?«
Natürlich konnte und durfte ich nicht zulassen, dass diese Waffe zum Einsatz kam. Ob sie wirklich zur globalen Vernichtung aller Vampire fähig war, spielte keine Rolle. Ob ein, zwei, fünf, hundert, tausend oder alle Vampire dieser Welt starben, war unerheblich, denn jedes einzelne Leben war wertvoll. Außerdem verlor ich mit Frantz langsam die Geduld. Es wurde Zeit, das Thema zu beenden – Wie auch immer.
»Warum nicht?«, beantwortete Frantz meine Frage mit der mit Abstand unglücklichsten Variante, »Welchen Grund sollte es geben, sie nicht einzusetzen? Mein Schicksal ist doch sowieso besiegelt, oder etwa nicht?«
»Nein, du weißt, dass es die Todesstrafe in meinem Haus nicht gibt. Solltest du aber versuchen, dich deiner Höllenmaschine auch nur um einen Millimeter zu nähern, bist du schneller Geschichte, als du Bumm sagen kannst.«
Was folgte war Schweigsamkeit, dafür sprachen unsere Augen umso mehr. Ich fixierte Frantz und hielt ihn mit meinem Blick fest, belauerte ihn. Er wiederum versuchte zu widerstehen, musste aber nach ein paar Sekunden wegschauen... und verriet sich. Es war eine reine Reflexreaktion, ganz seinem Unterbewusstsein geschuldet. Beim Wegschauen blieben seine Augen an einem kleinen Schaltkästchen hängen. Wobei die Auffälligkeit nicht im Hängenbleiben an sich, sondern im krampfhaften Versuch bestand, es sich nicht anmerken zu lassen. Als Frantz sah, dass ich seinen fauxpas bemerkt hatte, machte er sich bereit, in Richtung des Schaltkästchens zu springen, was für mich bedeutete, es ebenfalls zu tun. Statt aber sofort loszuhechten, belauerten wir uns. Immer wieder schielten wir zum offensichtlichen Zünder der Höllenmaschine herüber, um uns aber sofort wieder gegenseitig ins Visier zu nehmen.
Wie standen die Chancen? Ich tippte auf 50 zu 50. Frantz war zwar näher, hatte dafür aber mit dem Nachteil zu kämpfen, dass sein Zünder nach allem was ich erkennen konnte mit einem Schlüsselschalter gesichert war. Der Kasten besaß genau die drei Elemente, die vom Zünder einer Bombe traditionell erwartet wurden: den erwähnten Schlüsselschalter, um sie scharf zu stellen, eine große runde rote Kontrollleuchte, die die Scharfstellung anzeigte und den berühmten knallroten Knopf, bei des dann »Bumm!« machte. Die Frage, die uns beiden durch den Kopf ging war, wer wohl schneller war: Frantz mit dem Schlüsselschalter und dem Zündknopf oder ich mit meinen Klauen und Fangzähnen?
»Lass es!«, ich versuchte, an Frantz Vernunft zu appellieren, »Warum willst du unzählige Brüder und Schwestern für etwas bestrafen, für das sie nicht verantwortlich sind?«
»Sie haben aber auch nichts unternommen, um es zu verhindern.«, schrie mich Frantz an.
»Was verhindern? Dass du durch eine dumme Entscheidung zum Verräter wurdest? Frantz, das war deine und nur deine Entscheidung, für die nur du dich verantworten musst. Ich verspreche dir einen fairen Prozess und solltest du für schuldig befunden werden, dass ich kein Todesurteil unterschreiben werde.«
»Wie gnädig von dir.«, spie mir mein Gegenüber entgegen, das Schaltkästchen fest im Blick, »Aber auf deine Gnade kann ich gerne verzichten. Glaubst du, ich will die nächsten hundert Jahre in einer Zelle versauern? Es tut mir leid, Constantin, aber du kannst mir nichts anbieten, was meine Meinung ändern könnte. Wie heißt es doch so schön: Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.«
»Dann wäre wohl alles gesagt.«, antwortete ich enttäuscht.
»Ja.«, erwiderte Frantz und sprang in Richtung des Schaltkästchens, welches er auch vor mir erreichte. Wenn auch nur knapp. Ich hatte mit diesem Zug gerechnet und war fast gleichzeitig ebenfalls gesprungen, erreichte den Schaltkasten aber erst, als Frantz den Schlüssel bereits gedreht hatte. Mir blieb keine andere Wahl. Trotzdem flehte ich Frantz an.
»Lass den Kasten fallen!«
Statt einer Antwort erntete ich nur Entschlossenheit. Frantz packte den Kasten fester und starrte auf die Kontrolllampe, die noch nicht leuchtete. Hinter uns begannen Aggregate hochzufahren. Auf der optischen Bank flackerte es, dann sprangen die Laserstrahlen wieder an und zogen ihre Bahnen.
»Bitte!«, flehte ich erneut, »Sonst muss ich dich aufhalten.«
»Dann halte mich auf!«, schrie mich Frantz an. Eine Träne lief ihm die Wange herunter. In diesem Moment flammte die Kontrollleuchte rot auf. Was sollte ich tun? Frantz ließ mir keine Wahl. Ich packte den Arm, der den Schaltkasten hielt und griff mit der Kraft eines gebürtigen Urvampirs zu. Es krachte, als Elle und Speiche der Belastung nachgaben und brachen. Aber Frantz ließ nicht los. Mit äußerster Brutalität riss ich an Frantz Arm, doch statt endlich loszulassen, riss er den Schaltkasten, das Kabel daran und die gesamte Technik, die sich am Ende des Kabels befand, mit sich. Trotzdem wollte diese verdammte Kontrollleuchte nicht aufhören, rot zu leuchten. Schlimmer noch, Frantz Finger näherte sich dem Zündknopf.
Er hatte es nicht anders gewollt! Mit der anderen Hand griff ich nach dem Finger und riss ihn ab. Gleichzeitig lockerte ich den Griff der anderen Hand, ließ meine Krallen wachsen und rammte sie ihm in den Brustkorb. Sein gerade wieder geheiltes Brustbein zerbröselte wie trockener Keks. Während meine klauenbewehrte Pranke weiter bis zum Herz vordrang, rammte ich meine Zähne in seine Halsschlagader.
»Erlöse mich!«, hörte ich Frantz flüstern.
Ich Idiot! Einmal auf einen Trick hereinzufallen, war Pech, zweimal Dummheit. Erst durch diese zwei Worte begriff ich, dass ich erneut benutzt wurde. Wie zuvor schon Vladimir, brachte auch Frantz mich dazu, gegen meine Überzeugung und meinen Willen zu handeln. Frantz wollte nicht gerettet werden. Er wollte, dass ich ihn tötete. Wie verzweifelt musste er sein, wenn er so weit ging, zu drohen, einen alles vernichtenden Sprengsatz zu zünden, nur damit ich handeln musste?
Selbst wenn ich gewollt hätte, konnte ich nicht riskieren, von Frantz abzulassen. Trotz zerschmetterten Unterarmknochen und abgerissenen Fingern, hielt er den Schaltkasten fest umschlossen und hätte sofort den Zündknopf gedrückt, sollte er glauben, ich würde ihn verschonen.
Nun gut, wenn es sein Wunsch war zu sterben.
»Ich verzeihe dir.«, flüsterte ich, »Ich hoffe, du findest den Frieden, den du dir so sehr wünscht.«
Frantz schloss seine Augen. Tränen liefen ihm beide Wangen herunter. Trotzdem wirkte er gelöst, erleichtert und völlig entspannt. Ich begann zu saugen, ließ sein Blut meinen Mund spülen. Ich trank. Ich trank immer weiter. Meine Krallenhand hatte Frantz Herz fest umschlossen und konnte so fühlen, wie es immer langsamer schlug. Während mein Leiter der hämologischen Abteilung eben noch fest und kräftig auf seinen Beinen stand, sackte er plötzlich zusammen. Seine Kräfte schwanden.
»Danke, Constantin, danke...«, flüsterte er noch, dann verlor er sein Bewusstsein.
Ich trank weiter. Es gab kein Zurück. Es ging nicht mehr darum, die Zündung der Bombe zu verhindern. Es ging darum, Wort zu halten. Ich hatte Frantz Wunsch akzeptiert. Jetzt aufzuhören, ihn mit Blut wieder aufzupäppeln, um ihn anschließend einzusperren, wäre in meinen Augen einem Verrat gleich gekommen. Und so hielt ich Wort und saugte seinem Körper selbst den letzten Tropfen Blut ab. Selbst als das Herz in meiner Hand längst zu schlagen aufgehört hatte, sog ich weiter, bis nichts mehr kam, erst dann löste ich mich von Frantz Hals. Betrachtete ihn traurig und schloss seine Augen. Ein friedlicher, erlöster Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Jetzt gab es nur noch eins zu tun. Ich umschloss sein Herz, griff fast zärtlich zu und zog es vorsichtig, aber trotzdem mit Kraft aus Frantz Brustkorb heraus. Arterien und Venen trennten sich. Frantz war tot.
»Es tut mir leid, mein alter Freund. Ich wollte nicht, dass es so endet. Du hast Fehler gemacht, schwere Fehler, aber kein noch so schwerer Fehler sollte mit dem Preis des Todes bestraft werden. Doch diese Entscheidung hast du mir genommen. Ruhe in Frieden, Frantz Freiherr zu Varadin!«
Sanft und mit Respekt legte ich den leblosen Körper auf den Boden des Labors, denn auch die Toten verdienen es, dass ihre Würde gewahrt bleibt.
»Oh, Shit!«
Völlig mit der Leiche beschäftigt, hatte ich den Schaltkasten und das daran hängende Kabel vergessen. Letzteres stand unter Spannung, womit ich nicht Elektrizität meine. Es zog, wie eine Schnur, rein physisch an der Apparatur an der es befestigt war. Diese wiederum lag auf einem Labortisch. Das heißt, sie hätte dort liegen sollen. Stattdessen hatte das Kabel sie über den Rand des Tisches gezogen bis zum dem Moment, an dem der Schwerpunkt nicht mehr auf dem Tisch lag. Sie kippte und ich konnte nichts mehr daran ändern, dass sie herunterfiel und auf den Boden knallte.
Mein Entsetzten ließ den Sturz wie in Zeitlupe ablaufen. Was in Echtzeit keine Sekunde benötigte, lief vor meinen Augen in gefühlten Minuten ab, bis der Apparat, eine unscheinbare Kiste, scheppernd auf den Steinfußboden krachte. Doch dabei blieb es nicht. In das metallische Krachen mischte sich ein schriller dissonanter elektronischer Ton, der immer lauter und kreischender wurde. Mir gelang es gerade eben noch, hinter einem Labortisch aus Steingut in Deckungen zu gehen. Es blitzte. Für einen ganz kurzen Moment wurde das Labor in gleißendes Licht getaucht, während ich das Gefühl hatte, von Millionen von Nadeln durchbohrt zu werden. Dann wurde es dunkel – stockdunkel und ich verlor das Bewusstsein.
Wanderer zwischen den Welten
Florian
Bruder Nicolas musterte mich, grinste spitzbübisch, stülpte seine Lippen vor, meinte zu seinem Chef »Yupp!« und zu mir »Wie isses, kommst du mit?«
»Sure!«, Nicolas gefiel mir.
Mein persönlicher Nosferatu führte uns durch ein regelrechtes Labyrinth an Gängen, Treppen, Fluren und kleineren und größeren Hallen, die für mich alle gleich aussahen. Bereits nach der dritten Biegung – oder war es die vierte? – hatte ich die Orientierung verloren.
»Verwirrend, was?«, erriet Nicolas meine Gedanken, »Während meiner ersten zwei Wochen habe ich mich hier ständig verlaufen, bis sich ein Bruder erbarmte und mir den Trick verriet.«
»Es gibt einen Trick, um sich zurechtzufinden?«
»Natürlich gibt es den. Es gibt immer einen Trick.«
»Aber du wirst ihn mir nicht verraten, oder?«
Nicolas blieb stehen, bedachte mich mit einem forschenden Blick, grinste anschließend breit und meinte: »Hab ich doch schon. Ich habe dir verraten, dass es einen Trick gibt.«
Also ging es darum, herauszufinden, worin dieser Trick bestand. Ich sah mich also um, während Nicolas geduldig wartete. Wir standen in einem von Säulen gesäumten Flur. An den Säulen hingen Karbidlampen. Die Wände dazwischen waren, ähnlich den Bannern in der Empfangshalle, mit fein gewebten Stoffbahnen behangen. Ansonsten war es einfach nur ein Gang, so wie die unzähligen anderen, die wir zuvor passiert hatten.
»Sollen wir weitergehen?«, fragte Nicolas, während ich mich fragte, wie groß das Kloster eigentlich war.
Es war riesig. Auf unserem weiteren Weg versorgte mich mein Führer durch den Irrgarten mit allerlei Details zum Kloster der grauen Nebel. Die Anlage erstreckte sich in seiner vertikalen Ausdehnung zwischen dreißig und unglaublichen vierhundertfünfzig Metern unter der Erdoberfläche und war seit über dreizehnhundert Jahren Zuflucht-, Pilger- und Lebensstätte der Nosferatu. Die eigentliche Bruderschaft umfasste siebenundvierzig Mönche, wobei Nicolas mit gerade einmal vier Jahren als Vampir in der Tat der Jüngste war. Neben den eigentlichen Brüdern beherbergte das Kloster aber meist um die hundert Pilger. Ähnlich dem Leitsatz der Benediktiner ora et labora – Bete und arbeite! – bestand das Klosterleben der ansässigen Mönche primär aus Arbeit und Meditation. Es gab eine Öl- und Karbidlampenmanufaktur, eine Kerzenzieherei, eine Tischlerwerkstatt, die ich mir unbedingt ansehen wollte, aber auch eine Gerberei, Sattler, Bibliothekare, Germanisten, Anglizisten und sogar Sinologen. Das Klosterleben wäre eben nicht nur Meditation, erklärte mir Nicolas, sondern auch Arbeit. Die Suche nach Erleuchtung ließe sich nicht durch Faulheit erlangen, sondern nur durch Hingabe zu einer Aufgabe. Ich muss gestehen, dass mich der junge Bruder faszinierte und ich mich fragte, wie er wohl zu einem Nosferatu wurde.
»Leukämie«, erriet mein Begleiter meinen Gedanken und beantwortete nebenbei auch eine Frage, die mich seit geraumer Zeit bewegte: Woher stammen die Nosferatu?
»Es gibt viele Wege, wie jemand zu uns gelangt.«, erläuterte Nicolas, »In meinem Fall stieß die ärztliche Kunst an ihre Grenzen. Das Urteil lautete auf infaust. Das ist Latein und bedeutet ungünstig. Das ist doch eine nette Formulierung für am Arsch, oder? Ich war damals gerade zwanzig Jahre alt geworden. Meinen einundzwanzigsten Geburtstag sollte ich, wenn die Prognosen meiner Ärzte zutreffend waren, nicht mehr erleben. Warum sehen wir Nosferatu aus, wie wir aussehen? Totenfratzen, Monsterfressen, Totenschädel. Ich kenne all die Namen, die man uns gibt. Als mich Bruder Marcus an meinem Krankenbett aufsuchte, hielt ich ihn für einen Patienten, wie mich. Mein erster Gedanke war daher auch: >Armes Schwein, dir hat die Chemo ja richtig zugesetzt.< Aber das ist es, was wir Nosferatu sind. Wesen jenseits des Lebens. Im Gegensatz zu euch Vampiren haben wir die Grenze nicht nur gesehen, wir haben sie überschritten. Der Tod ist kein plötzliches Ereignis. Wenn dein Arzt den Zeitpunkt deines Todes auf dem Totenschein notiert, zieht er eine willkürliche Grenze in einem längeren Prozess. Wann bist du tot? Wenn dein Herz aufhört zu schlagen? Wenn dein Hirn keine Signale von sich gibt? Ich weiß es nicht. Marcus holte mich direkt vom Totenbett, aber war ich tot? Wie tot war ich denn?«
Diese schonungslose Offenheit war gleichzeitig entwaffnend und beschämend. Ja, ich schämte mich für meine Zurückhaltung gegenüber den Nosferatu und ihrem auf den ersten Blick zum Teil wirklich abstoßenden Äußeren. Also, eigentlich sahen sie auf den zweiten Blick auch nicht besser aus. Auf den dritten Blick hingegen hatten bisher alle Nosferatu, die mir begegnet waren, etwas in mir geweckt, das ich nicht verstand und auch nicht richtig in Worte fassen konnte. Sie waren zwar faszinierend, aber wirklich gerecht wurde ihnen dieser Begriff auch wieder nicht. Nicolas war das beste Beispiel dafür. Etwas an ihm, an seiner Art, seinem Auftreten, der Weise, wie er sich bewegte, wie er sprach oder den Raum um ihn herum mit seiner Präsenz füllte, war auf die gleiche Weise unheimlich wie ein Horrorfilm: Du hast die Hosen voll und willst eigentlich nicht hinsehen, da bestimmt gleich der wahnsinnige Massenmörder seinem blutigen Handwerk nachgeht. Du kneifst die Augen zusammen oder hältst die Hände vors Gesicht, um dann aber doch die Neugierde siegen zu lassen und durch den Fingerspalt oder die Augenlider zu luschern. So waren die Nosferatu – einerseits unheimlich und Angst einflößend, gleichzeitig aber auch fesselnd und dermaßen rätselhaft fremd, dass ich einfach wissen musste, welches Geheimnis hinter ihrer Totenfratze steckte.
Immerhin begriff ich jetzt, was einen Nosferatu von einem normalen Vampir unterschied. Wir waren von gleicher Art und doch grundverschieden. Vielleicht erklärte es die sprichwörtliche Friedfertigkeit der Nosferatu. Sie hatten jene Grenze überschritten, die irdische Dinge belanglos erscheinen ließen.
»Ich weiß jetzt, was der Trick ist. Es sind die Stoffbahnen, mit denen die Gänge dekoriert sind. Jeder Gang besitzt ein anderes Farbmuster.«
Statt mit Worten zu antworten nickte mir Nicolas zufrieden zu. Und plötzlich stand mir nicht mehr der Furcht einflößende Nosferatu gegenüber, sondern ein junges Kerlchen, das eher schüchtern als cool war. Ich ahnte, was ihn umtrieb. Wie ich war auch er auf der Suche nach sich selbst. Was hieß es, ein Vampir oder Nosferatu zu sein? Was macht es aus einem? Worin bestand unsere Aufgabe, der Sinn unserer Existenz?
»Da sind wir.«, verkündete Nicolas und hielt vor einer Tür, die auf Augenhöhe eine Plakette mit farbigen Streifen, ähnlich den Stoffbahnen in den Gängen und Sälen zierte. »Willkommen in meiner Zelle, die für die nächste Tage auch deine Zelle sein wird.«
Mönche lebten in Zellen, obwohl der Raum schon ein wenig größer als eine klassische Zelle war. Nicolas hatte ein paar Karbidlampen entzündet, sodass ich sein Reich erkunden konnte. Es gab einen Schrank von ähnlich beeindruckender Qualität wie ich ihn im Haupthaus des Hofs bewundern durfte, dazu einen Tisch mit drei Stühlen, von gleicher hervorragender Machart, ein Regal voller Büchern, einen Schreibtisch mit Notebook und ein Bett. Ein Bett?
»Ich weiß, was du denkst«, meinte Nicolas, mit todernster – was für ein Kunststück – Miene, nachdem er meinem Blick zum Bett gefolgt war, »Das Notebook. Kein elektrisches Licht aber ein Computer: Wie passt das zusammen?«
»Ähm...« Wie jetzt? Notebook? Elektrisches Licht? Was faselt der Mann da? Ich sah ein Bett – Singular. Wir waren aber zwei – Plural.
Möchte jemand einen wohlmeinenden Tipp von mir? Pokert niemals mit einem Nosferatu! Ihr verliert. Dieser durchtriebene Typ von einem totenschädelhaften Blutsauger hatte mich ohne rot zu werden, ohne mit der Wimper zu zucken nach allen Regeln der Kunst verarscht. Ich merkte es erst, nachdem er mein wohl überaus blödes Gesicht ausgiebig ausgekostet hatte und seiner Monsterfratze erlaubte, Amüsiertheit zu zeigen. Als ich schließlich begriff, was los war, begann er laut loszulachen.
»Du Arsch!«, knurrte ich, konnte ihm aber nicht wirklich böse sein und kicherte ähnlich albern wie er.
»Hey, für einen Vampir bist du wirklich okay.«, war das ein Lob?
»Für einen Nosferatu bist du auch nicht ganz ohne.«, erwiderte ich das Lob und deutete erneut auf das Bett.
»Ich habe die Zelle neben dieser für dich vorbereitet.«, entgegnete Nicolas mit plötzlichem Ernst in der Stimme. Mit gesenktem Blick schaute er zum Bett, dann wieder zu mir, »Ich wollte dich allerdings fragen, ob du bei mir bleiben möchtest.«
Es ging nicht um Sex, jedenfalls nicht im Moment. So viel konnte ich aus der Stimme des jungen Nosferatu heraushören. Gab es einen Grund, warum ausgerechnet er als mein Betreuer ausgewählt wurde?
»Ich weiß, weswegen du hier bist.«, begann Nicolas und ließ sich aufs Bett fallen, »Uns verbindet etwas. Auch mir steht eine Veränderung bevor. Seit meiner Erweckung sind vier Jahre vergangen. Es wird Zeit, dass ich diesen Körper hinter mir lasse und wiedergeboren werde. So, wie du.«
»Wie ich?« Wem machte ich etwas vor? Als Tamir das Ritual das erste Mal erwähnte, ahnte ich bereits unbewusst, dass die Angelegenheit kein Spaziergang werden würde. Als dann Petrus die unterschiedlichen Wege der verschiedenen Bruderschaften auf dem Weg zur Erleuchtung aufzählte und dabei die Praktik der Wiedergeburt der grauen Nebel schilderte, hätte mir eigentlich eine Halogenbirne (100 Watt) aufgehen müssen. Ohne Wiedergeburt konnte es keine Trennung von Constantins Blut geben, oder?
»Ich versteh es nicht.«, tastete ich mich vorsichtig an das Thema heran, »Es gibt da einen guten Freund, Christiano. Er erzählte mir, wie ihn ein Vampirjäger folterte, ihn langsam zu Asche verbrannte. Er hatte Glück und wurde von seinem Stammvater wiedererweckt. Doch obwohl dieses Erlebnis viele Jahre zurückliegt, konnte ich die Qual und den Schmerz in seinen Augen sehen. Christiano erzählte mir auch, dass von Sonnenlicht verbrannt zu werden dermaßen grausam ist, dass es als Strafe für schwere Verbrechen verhängt wird. Und jetzt kommst du und die Bruderschaft der grauen Nebel und erklärst mir, dass ihr euch freiwillig einer derartigen Prozedur unterwerft und dass ich es ebenfalls soll?«
»Krass was? Aber wer hat etwas von einem Sonnenbad gesagt? Aber ja, die Wiedergeburtsgeschichte ist kein Spaziergang.«, Nicolas Augen funkelten hinterhältig, »Du fragst dich, ob du mitten in die Höhle eines Clubs durchgeknallter Masovampire geraten bist, oder?«
»Nett formuliert. Aber du hast recht, der Gedanke drängte sich auf.«
»No pain, no gain« Nicolas zwinkerte mich verschwörerisch an.
»Ganz toll!«, knurrte ich wenig begeistert.
»Weißt du eigentlich, dass du richtig süß aussiehst, wenn du schmollst?«
»Ich schmolle nicht.«, protestierte ich und bewies damit genau das Gegenteil.
»Also gut, du schmollst nicht.«
»Also gut, ich schmolle. Ich habe wohl auch allen Grund, oder?«
Statt zu widersprechen, nickte mir Nicolas nur zustimmend zu: »Ja, hast du. Ich versteh dich. Während ich mich frei entschieden habe, mich dem Ritual zu unterziehen und die letzten vier Jahre darauf vorbereitet habe, weißt du weder was auf dich zukommt, noch bleibt dir wirklich eine Wahl. Ich weiß, was mir bevorsteht und warum ich es machen will. Niemand zwingt mich dazu; niemand übt Druck auf mich aus. Den Weg, den ich beschreite, beschreite ich aus eigenem Willen und innerer Überzeugung. Doch du hast diese Wahl nicht. Willst du nicht verlieren, was du liebst, bleibt dir kein anderer Weg übrig, und selbst dieser zieht Konsequenzen nach sich. Florian, Bruder Marcus hat mich aus einem guten Grund eingeweiht. Du musst den Weg nicht alleine beschreiten.«
Das klang alles zu sehr nobel und selbstlos, als dass es die Wahrheit sein konnte. Nein, Nicolas log nicht, aber er sagte auch nicht die ganze Wahrheit.
»Du hast selbst Angst.«, es war mehr eine Feststellung, als eine Frage. Sie traf ins Schwarze. Mein Wegbegleiter senkte seinen Blick, weswegen ich fort fuhr, »Du magst dich vier Jahre auf das Wiedergeburtsritual vorbereitet haben, aber es ändert nichts. Du hast Angst.«
»Untertreib nicht! Ich habe die Hosen gestrichen voll.«
Da saßen wir in einer Klosterzelle. Ein Jungvampir und ein juveniler Nosferatu, die sich seit höchstens einer halben Stunde kannten, aber bereits damit beschäftigt waren, voreinander einen Seelenstrip hinzulegen. Warum mochte ich Nicolas? Wir lagen unzweifelhaft auf der gleichen Wellenlänge. Aber warum? Mir war der Mann vorher noch nie begegnet und trotzdem vertraute ich ihm. Gut, er war ein Nosferatu, die nach allem was Christiano mir erzählte generell über jeglichen Zweifel erhaben waren. Aber darüber hinaus?
»Du hast die Grenze ebenfalls gesehen.«
Während Nicolas auf seinem Bett hockte, hatte ich mich auf seinem Schreibtischstuhl niedergelassen, der übrigens ein wahres Meisterwerk des Schreinerhandwerks war. Die Bemerkung meines Gastgebers riss mich aus meinen Gedanken. Wovon sprach der Mann.
»Wenn ich dich ansehe, bin ich mir absolut sicher. Du hast etwas von einem Nosferatu. Keine Angst, du siehst überirdisch gut aus, obwohl ich glaube, dass deine blonde Engelsgestalt dir schon argen Stress bereitet hat. Trotzdem, da ist diese Aura, die dich umgibt. Du hast den Tod gesehen, die Grenze, wenn auch nur für einen kurzen Moment überschritten.«, Nicolas fasste mich fester ins Auge, »Faszinierend. Du scheinst in beiden Welten verwurzelt zu sein, überwiegend Vampir, aber auch Nosferatu.«
Was? Im ersten Moment fragte ich mich, wie Nicolas auf die Idee kam, in mir stecke auch ein wenig Nosferatu, bis ich mich an Constantin erinnerte, der sich mit von einer Autobombe zerfetztem Körper verblutend von mir nährte, mir mit Gewalt Blut und damit das Leben entriss. Es stimmte. Ich hatte jene Grenze überschritten, wenn auch nur für einen kurzen Moment.
»Und was bedeutet das?«
»Dass du ein Bruder bist und auch etwas besonderes. Du bist ein Grenzgänger zwischen den zwei Welten unserer Art. Aber wenn du es praktischer haben willst: Ich glaube, dass du als Teilnosferatu die ganze Wiedergeburtsgeschichte leichter wegstecken wirst, als als reiner Vampir.«
Was war ich eigentlich noch alles? Tischlergeselle, Vampirgeliebter, Vampir, Thronprinz, Großherzog und jetzt auch noch ein Nosferatu? Was kam als nächstes? König aller Vampire? Constantins lang verlorener Cousin? Ein von außerirdischen Mikroben besetzter Körper, der die Weltherrschaft anstrebt?
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte ich meinen neuen Freund. Freund? Doch, durchaus.
»Gehen wir etwas essen? Ich glaube, wir haben gerade erstklassiges Null negativ reinbekommen.«
Muster an den Wänden
Die Stoffbahnen an den Wänden waren nicht nur kongeniale Wegweiser, sondern auch Meisterwerke der Webkunst. Wer sie auch immer gefertigt haben mochte, musste sich darin vollkommen verwirklicht haben. Allein der Stoff war ein Lehrstück in Perfektion. Die Basis bildete feinstes, absolut makelloses Seidenbrokat. Nicht die kleinste Unebenheit, geschweige denn ein Webfehler verunzierte seine Erscheinung. Die verwendete Seide war von einer Güte, die dem typischen Seidenglanz zusätzlich noch einen besonderen Schimmer verlieh. Damit nicht genug war der Brokatstoff auch noch von feinsten Silber-, Gold- und Platinfäden durchzogen. Aus diesem feinsten Lame hatte der oder die Künstler, denn das waren die Stoffbahnen, pures Kunsthandwerk, zwar abstrakte aber dafür umso faszinierendere Muster geschaffen. Die richtige Strahlkraft entfalteten die Banner allerdings erst durch das weiche Acetylenlicht der Karbidlampen.
»Dieser Code der Wandvorhänge...«
Wir befanden auf dem Weg zum Speisesaal. So nannte Nicolas den Ort, an dem die Brüder ihre flüssigen Mahlzeiten einnahmen. Es fuchste mich, nicht zu wissen, wie die Orientierung in diesem verwinkelten Kaninchenbau funktionierte. Neben den Mustern auf den Stoffen schien auch die Farbgebung eine Rolle zu spielen. Beides änderte sich von Stoffbahn zu Stoffbahn. Das heißt, nicht ganz. Die Farben änderten sich nicht so stark, wie die Muster. Sie blieben innerhalb eines Gangs sogar gleich. Das war ein Anhaltspunkt. Während mich Nicolas provozierend breit angrinste und mit einer Frage rechnete, überlegte ich es mir anders und grinste zurück.
»Ich komme auch so dahinter.«
Das war hoch gepokert, aber nicht vollkommen aus der Luft gegriffen. Ein Schema glaubte ich nämlich entschlüsselt zu haben. Der Brokatstoff besaß eine Grundfarbe, und die änderte sich sehr selten, während einzelne Farbbänder deutlich öfter wechselten. Wenn ich davon ausging, dass die Farben und Muster auf irgendeine Weise den Ort an dem wir uns befanden beschrieb und sich ein Element nicht änderte, ließ sich vermuten, dass auch an der Eigenschaft des Ortes etwas gleich blieb.
Das war einfach herauszubekommen. Ich musste nur abwarten, bis sich die Grundfarbe wieder änderte und dann die Orte miteinander vergleichen, zwischen denen diesen Wechsel statt fand. Nett überlegt, nur änderte sich die Grundfarbe nicht. Wir stiefelten durch nicht enden wollenden Gänge, aber die Grundfarbe der Stoffbanner an den Wänden blieb gleich – ein sattes Bordeauxrot. Bis wir eine Treppe erreichten und in eine anderes Stockwerk wechselten. Aus rot wurde ultramarin.
»Ebene blau?«
Nicolas grinste erneut, wenn auch nicht mehr provozierend, sondern anerkennend: »Gut erkannt. Und weiter?«
Ich schüttelte den Kopf, denn außer der Grundfarbe hatte sich auch alles andere geändert. Die Farbbänder, die Muster, nichts erinnerte auch nur ansatzweise an das vorherige Stockwerk. Es war sogar ein völlig anderer Stil, was nur eins bedeuten konnte. Jede Ebene des Klosters besaß ein eigenes Schema. Oder doch nicht? Dieses Mal waren es die Muster, die mir bekannt vorkamen. Ähnliche Strukturen waren mir schon vorher begegnet. Natürlich! Ich durfte nicht den Fehler begehen, bei meiner Analyse den ästhetischen Aspekt der Wandbehänge zu ignorieren. Neben der Eigenschaft, über den Ort zu informieren, waren sie vor allem auch Schmuck und Zierde. Die Muster variierten so wie Schriften variierten. Ein A blieb ein A, unabhängig davon, ob es in Schreibschrift, in Helvetica, Times oder Courier gesetzt war. Gleiches galt für die Muster. In einem Stockwerk waren sie barock, in einem anderen postmodern schlicht. Aber die Grundstruktur blieb gleich.
»Wow!«, meinte Nicolas beeindruckt, »Du bist wirklich gut. Ich habe zwei Wochen gebraucht, um zu erkennen, dass die Muster eigentlich gleich sind. Dieses hier deutet übrigens auf den Speisesaal hin.«
Speisesaal? Was mir Nicolas präsentierte war eine Speisekathedrale. Wir bogen um eine Ecke, durchschritten einen Durchgang und plötzlich stand ich in einem riesigen Gewölbe rohen, unverkleideten Gesteins. Die Höhe der dunklen, rußgeschwärzten Decke war kaum auszumachen, aber ich schätzte sie auf gute zwanzig Meter. Neun etwa zweieinhalb Meter hohe Kandelaber mit je sechzehn armdicken Kerzen erleuchteten die Halle. Ihr Grundriss war nicht ganz quadratisch, das heißt, die eine Seite war etwa ein Drittel länger als die andere.
»Ziemlich leer.«, bemerkte ich trocken.
Dominierendste Elemente eines jeden Speisesaals, sei es eine Betriebskantine oder eine Mensa, waren die Tische, an denen die Mahlzeiten eingenommen wurden. In dieser Hinsicht folgte auch dieser Saal der Tradition, erinnerte aber eher an eine altenglische Internatsschule als an eine moderne Betriebskantine. Beiderseits eines breiten Mittelgangs reihten sich meterlange Tische mit dazugehörigen Sitzbänken auf. Genau in der Mitte der Halle kreuzte ein Quergang und teilte die Bankreihen in vier Raumquadranten. Die Kandelaber markierten die vier Anfangs- und Endpunkte der Gänge, die äußersten Ecken des Saals und die Mitte, an der sich die beiden Gänge kreuzten. Neunmal sechzehn Kerzen, das machte einhundertvierundvierzig Lichter und reichte trotzdem nicht aus, um das Gewölbe richtig zu erhellen. Aber für mich als Vampir war es mehr als ausreichend, um die Atmosphäre des Saals aufsaugen zu können. Auch seine Wände zierten Stoffbahnen, die aber statt Muster farbenprächtige Wappen trugen. Auch sie mussten aus lamedurchwirkter Seide gefertigt worden sein, da sie im Schein der Kerzen typisch metallisch glänzten.
»Was erwartest du?«, ging Nicolas auf meine Bemerkung und auf die leeren Bankreihen ein, »Es ist halb neun Uhr vormittags. Seriöse Nosferatu sollten zu dieser Tageszeit in ihren Särgen liegen.«
»Särgen? Du hast keinen Sarg.«
»Ich bin auch kein seriöser Nosferatu.«, Nicolas grinste breit und deutete in Richtung eines der Armleuchter an den Enden des Quergangs, »Lass uns doch mal schauen, was für Stoff die Küche für uns bereithält.«
Vom Licht der Kerzen geblendet konnte ich nicht genau ausmachen, worauf mein Gastgeber deutete. Erst als wir den Kandelaber passiert hatten entdeckte ich eine etwas dunklere Stelle an der Felswand. Ein schwerer Vorgang verdeckte einen Durchgang, den Nicolas aber ohne zu zögern beiseiteschob. Einen Moment später standen wir in einer... Ja was eigentlich? Der Begriff Küche wollte nicht wirklich passen, da hier nicht gekocht wurde. Andererseits gab es schon küchentypische Gegenstände. Es gab Schalen und Tiegel, kleine Töpfe, Kräuter, Gewürze, und natürlich Blut. Die Lagereinrichtung war interessant, auch wenn ich nicht verstand, wie sie funktionierte. Offensichtlich wurde das Blut gleichzeitig gekühlt, um es frisch zu halten und sanft gerührt, um ein Gerinnen zu verhindern.
Nicolas griff nach zwei Holzkelchen und füllte uns jeweils gut einen halben Liter ab. Sofort erfüllte der typisch metallische Geruch frischen Bluts den Raum. Unwillkürlich fuhren meine Zähne aus.
»Na, da ist aber einer hungrig.«, lachte mein Nosferatu und reichte mir den Becher, »Hier, trink! Aber vorsicht, es ist nach Nosferatu Art gewürzt.«
Was hieß, dass es ein wirklich besonderes kulinarisches Erlebnis war. Die Nosferatu begnügten sich offensichtlich nicht damit, ihre Hauer in profane Plastikbeutel zu rammen, sondern gönnten sich den Luxus von Trinkkelchen. Und auch das Blut war nicht einfaches Blut. Ganz im Gegenteil zum bisher genossenen war dieses mit duftenden Kräutern versetzt.
»Es ist nicht nur der Geschmack.«, klärte mich Nicolas auf, »Es sind medizinische Kräuter. Sie machen das Blut haltbarer und verstärken seine Wirkung.«
Der Nahrungsausgaberaum zählte nicht unbedingt zu den Orten, die ich als gemütlich bezeichnen würde. Nicolas schien dies ähnlich zu sehen und führte uns zurück in den Speisesaal. Wir setzten uns an einen der langen Tische.
»Und, wie geht es jetzt weiter?«
Für eine Weile war das eigentlich Thema, das mich in das Kloster der Bruderschaft der grauen Nebel verschlagen hatte, weit, weit weg gewesen. Plötzlich war es wieder da. Mit aller Gewalt brachen die Fragen meiner Zukunft über mich herein und spukten in meinem Hirn herum, was nicht unbemerkt blieb. Nicolas saß mir gegenüber und blinzelte mich müde an.
»Als erstes sollten wir uns ausruhen.«, gähnte er und präsentierte dabei ein Paar spektakuläre Beißerchen, »Oben ist es helllichter Tag; eigentlich Zeit, um zu schlafen.« Es folgte ein erneutes Gähnen gefolgt von einem ironisch prüfenden Blick: »Aber wenn ich dich so sehe, ist mir völlig klar, dass du keine Ruhe finden wirst, bevor ich dir nicht ein wenig von dem erzählt habe, was Bruder Marcus mit dir vorhat.«
»So, meinst du?«
»Sicher.«, Nicolas griff nach seinem Becher und trank ihn aus, »Ich werde dir etwas erzählen, aber nicht hier. Komm, trink aus und lass uns zurückgehen.«
Auf unserem Weg zurück zeigte sich Nicolas hinterhältig gesprächig. Statt mir zu erklären, wie die Muster auf den Stoffbahnen zu lesen waren, beschrieb er nur, an was für Orten wir vorbei kamen. Es war an mir, eine Verbindung zwischen beiden Informationen herzustellen. Wir erreichten die orange Ebene in der, wenn ich mich nicht irrte, Nicolas Zelle gelegen war. Und genau dort entschlüsselte ich mein erstes Muster, das für Unterkünfte.
»Junge, du lässt mich echt alt aussehen.«, bemerkte mein Wegbegleiter und öffnete die Tür zu seiner Zelle. Wir gingen hinein. Nicolas fläzte sich wie gehabt auf sein Bett, während ich es mir auf seinem Bürostuhl gemütlich machte.
»Wovor hast du Angst? Wovor fürchtest du dich?«
Wie jetzt? Was war das für eine Frage? »Äh...«
»Lass es mich erklären.«, griff mein Gesprächspartner meine artikulatorische Höchstleistung auf, »Wir, die Bruderschaft der grauen Nebel, suchen Erleuchtung. Erleuchtung? Klingt ziemlich hochtrabend, was? Aber wir gehen das ganze Thema ganz praktisch an, nämlich über unsere Ängste. Wir sind der Überzeugung, dass sich Erleuchtung nur erlangen lässt, wenn wir frei sind, und frei sind wir nur, wenn wir uns unserer Ängste entledigt haben. Was ganz konkret heißt, sich ihnen zu stellen.«
»Und was sind deine Ängste?«, rutschte es mir als Reaktion auf Nicolas sehr formelhaften Text heraus. Er klang auswendig gelernt oder einem Lehrbuch entlehnt oder beides. Aber wenn ich schon einen Seelenstrip hinlegen sollte, dann bitteschön nicht als einziger. Es überraschte mich daher nicht wirklich, keine Antwort zu erhalten.
»Lassen wir das rumgeeiere und werden konkret.«, wo kam plötzlich diese aufgeräumte, abgeklärte Stimmung her? »Ich bin aus einem einzigen Grund hier: Um mein verficktes Leben in Ordnung zu bringen. Haben deine Oberen dir erzählt, worum es eigentlich geht? Dass jemand am ganz, ganz großen Rad dreht und nicht nur in meinem, sondern auch im Leben einer ganzen Reihe lieber Men... okay, Vampiren, aber auch ein paar Menschen, rumpfuscht?«
Ich erntete ein unsicheres Kopfschütteln. Bruder Marcus hatte Nicolas einiges, aber noch lange nicht alles erzählt. Vielleicht war der Abt selbst nicht in alle Details eingeweiht, aber das war nicht mein Problem. Mein Problem bestand darin, dass sich bisher niemand dazu ermüßigt sah, mich in die kommenden Dinge einzuweihen. Wäre mir nach einer profunden Dosis Sarkasmus zumute gewesen, hätte ich behaupten können, dass sich in meinem Leben eigentlich nichts verändert hatte, obwohl ich jetzt ein sogenanntes Wesen der Nacht, ein Vampir war. Ich wurde als Vampir ebenso herumgeschubst, wie als Mensch. Andere Leute planten meine Geschicke und ich hatte es satt! Es kotzte mich an, die Marionette mir völlig unbekannter Puppenspieler zu sein. Sie wollten Constantin an den Karren pinkeln? Natürlich wollten sie das. Aber »Die« wussten nur zu gut, dass sie bei einem Frontalangriff nicht die geringste Chance hatten. Also erschuf man mich. Florian – ein designtes Leben, ein Kunstprodukt.
Aber dieses Kunstprodukt hatte keine Lust, keinen Bock mehr, bei dieser Inszenierung mitzuspielen. Ich war ein empfindendes Wesen! Oder... Natürlich! Was hatte Constantin gesagt? Pläne versteckt man in Plänen. Vampire planen nicht in Minuten, nicht in Stunden, Tagen oder Wochen. Sie planen in Jahren und Jahrzehnten. Sie haben Zeit, unendlich viel Zeit. Ein guter Stratege übereilt nichts. Er bringt in Ruhe seine Figuren in Position und wartet. Geduld ist wirklich eine Tugend. Jeder Schachzug will wohl bedacht sein und so unauffällig durchgeführt werden, dass ihn der Gegner nicht bemerkt. Ganz, ganz langsam zieht sich dann die Schlinge zu. Bis...
Was war schiefgelaufen? Ich war mir sicher, dass etwas schiefgelaufen war, da ich nicht glaubte, dass es zum Plan gehörte, dass ich von meinem Erbe erfuhr. Oder vielleicht doch? Oh, natürlich. Ich vergaß die alte Blutfehde zwischen dem Haus Margaux und... Tja, wem eigentlich? Der Plan, das musste ich zugestehen, war einfach nur genial. Welch brillanter Kopf konnte sich ein derartiges Meisterwerk nur ausgedacht haben? Ich, der letzte der Margaux, sollte als Werkzeug der Vernichtung des Hauses Varadin dienen. Es spielte keine Rolle, dass ich die Wahrheit erfuhr, denn wenn ich sie erfuhr, wäre es bereits zu spät. Zwei Fliegen mit einer Klappe erschlagen. Nur zwei? Ein wenig hatte ich von Christiano über höfisches Recht erfahren. Wer immer die Fäden zog, er würde am Ende den Jackpot einheimsen: den Titel des Großherzogs Margaux und dessen Haus, was bei meiner Person nicht sonderlich spektakulär war, aber auch das Haus Varadin und damit ebenfalls das Haus Breskoff, was folglich wohl auch die Königswürde mit einschloss. Drei Häuser auf einen Streich absorbieren? Wenn das kein Erdbeben im Machtgefüge des Rats der Häuser darstellte, was dann?
Und es war doch etwas schief gelaufen. Unserem, also Constantins und meinem Gegner, dürften zwei Umstände in seiner Planung entgangen sein. Zum einen, dass mich Constantin in einem Anflug von Dankbarkeit freigab und zum anderen, dass die Nosferatu offenbar doch nicht so neutral waren, wie sie immer behaupteten. Warum half mir Tamir? Warum hatte er mich in dieses Kloster gebracht, auf dass auch noch meine körperliche Bindung an Constantin getilgt wurde? Welchem Plan folgte dieser alter Nosferatu?
Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszubekommen. Ich musste Fragen stellen. Im Moment gab es aber nur einen, dem ich welche stellen konnte – Nicolas. War es paranoid zu vermuten, dass er mehr wusste, als er vorgab?
»Also, raus mit der Sprache!«, ich war aufgestanden, hatte die Tür zur Zelle verriegelt und mich demonstrativ mit dem Rücken gegen sie gelehnt. Nicolas wurde unruhig. Ich war also doch nicht paranoid. Statt ihn sofort zu fragen, breitete ich meine eben angestellten Überlegungen vor ihm aus. Er wirkte nicht wirklich überrascht, das heißt, nicht von meinen Schlüssen, aber doch davon, dass ich mir die Zusammenhänge wohl sehr treffend zusammengereimt hatte.
»Es ist wie mit Stoffbahnen in den Fluren. Man darf sich nicht von formalen Variationen der Muster ablenken lassen, sondern muss sich auf das zugrunde liegende Konstruktionsprinzip konzentrieren. Es ist unerheblich, ob ein Wort in rot oder blau, in Schreibschrift, Fraktur oder Groteskschrift geschrieben ist, das Wort bleibt immer das gleiche. Genau so arbeitet mein Gegner, das habe ich jetzt erkannt. Mir ist nur nicht klar, warum ihr, die Nosferatu, mir und Constantin helfen wollt. Und bitte Nicolas, erspar es mir, den ahnungslosen Jungbruder zu spielen. Wenn die Einsätze des Spiels wirklich so groß sind, wie ich glaube, dass sie es sind, dann hätte mir weder Tamir noch Bruder Marcus einen unerfahrenen Bruder zur Seite gestellt. Du bist weit mehr, als du zugeben willst. Also, erzähl mir, welche Pläne die Nosferatu verfolgen. Warum ergreift ihr Partei und unterstützt Constantin und mich?«
Katerstimmung
Constantin
Verflucht nochmal, was war das? Mein Schädel tat weh. Genaugenommen die Schläfen, Nasenwurzel, Augenhöhlen und Stirn. Die Schädeldecke tat nicht weh, sie pochte nur unangenehm. Dafür schmerzte der Hinterkopf umso mehr, genauso Ober- und Unterkiefer, Nacken und Hals. Hals? Der zählt eigentlich nicht mehr zum Schädel, tat aber trotzdem weh. Wenn ich schon beim Auflisten bin, kann ich auch gleich den Rest meiner schmerzenden Körperteile erwähnen: Hände (beide), Arme (auch beide), Schultern, Brust, Bauch, Rücken, Hüften, sogar mein Arsch brüllte vor Schmerz. Natürlich schmerzten auch die Beine, Waden und Füße. Meine Haut schien in Flammen zu stehen. Meine Knochen knirschten, dass ich vor Agonie gestöhnt hätte, wenn ich mich nur getraut hätte, meinen Mund zu bewegen. Doch der brannte dermaßen, dass ich befürchtete, dass er bei der kleinsten Bewegung explodierte. Ich traute mich nicht einmal zu wimmern.
»Ah, du bist wach.«
Welch unvorstellbarer Krach quälte meine Ohren? Objektiv waren es dreieinhalb geflüsterte Worte. Der Ausruf »Ah« fällt bei mir nicht unter die Kategorie der Worte. Erstaunlicherweise arbeitete mein Hirn mit erschreckender Klarheit. Oder war es gehässige Klarheit? Freute sich mein Denkapparat heimlich darüber, dass ich meinen unerfreulichen Zustand bei glasklarem Verstand erlebte? Dass mir selbst das fiese Stechen im linken kleinen Zeh nicht entging?
»Ich kann mir vorstellen, dass du dich richtig beschissen fühlst.«, kreischte die säuselnde Flüsterstimme erbarmungslos leise in meinen Ohren, »Solltest du aber den Wunsch verspüren, etwas an deinem bedauernswerten Zustand zu ändern, dann versuche deinen Mund einen Spalt weit zu öffnen.«
Das meinte die Stimme doch wohl nicht erst, oder? Ich sollte mich bewegen? Meinen Kiefermuskeln den Befehl geben, sich zusammenzuziehen? Die warteten doch nur darauf, mich mit einem Feuerwerk voller Schmerzreize zu beglücken. Warum musste mein Verstand auch so klar arbeiten? Leicht angesäuselt wäre es wesentlich leichter gewesen, die kalte Stimme der Vernunft in meinem Schädel zum Schweigen zu bringen. So aber brüllte sie laut und deutlich: »Reiß dich zusammen, du Jammerlappen! Kapierst du Schwachkopf nicht, dass sie dir helfen und dir Blut einträufeln wollen.«
Wenn's denn sein muss. Mit diesem nonverbalen Stoßseufzer im Kopf ließ ich die Dendriten feuern. Gab den Synapsen den Befehl zur ungehemmten Botenstoffausschüttung, bevor mich der unvermeidliche Agonieschub von den virtuellen Socken haute. Er haute tatsächlich. Ein gequältes Röcheln entwich meinem Schlund, aber der Mund war offen.
»Na geht doch!«, zwitscherte die Stimme sadistischerweise frohgelaunt in mein Ohr, »Dann wollen wir mal.«
Das leise Klirren von Glas an Glas, ähnlich dem, das die Pipette einer Nasentropfenflasche von sich gibt, wenn man mit ihr hantiert, drang zu meinen Ohren vor. Durch die geschlossenen Lider meiner Augen nahm ich eine Helligkeitsveränderung wahr. Jemand beugte sich über meinen Körper, vermied dabei aber jede Berührung. Vielleicht war der Eigentümer der Stimme doch nicht ganz so sadistisch veranlagt, wie es schien.
Lippen, oh ihr wundervollen Lippen. Ich gebe es zu. Ich bin ein sehr oral fixierter Mann. Damit meine ich nicht, dass ich gerne Schwänze blies, das auch, aber darum geht es nicht. Lippen sind so sensible Organe. Wir Vampire sind für unsere Fänge berühmt, dabei sind unsere Saugzähne alles andere als empfindlich. Wie denn auch? Sie bestehen aus hartem Zahnschmelz. Wenn ich jemanden biss, dann stellten meine Lippen die eigentliche Verbindung her. Sie berühren die Haut meines Opfers, fühlen die Wärme seines Körpers, registrieren jede Regung: die Gänsehaut, die Verzückung gebissen zu werden, den Puls der Halsschlagader. Auch wenn das Bild etwas schief ist, aber in gewisser Weise konnte ich mit meinen Lippen sehen.
Auf jeden Fall fühlte ich, dass sich ihnen etwas näherte. Der unverwechselbare Duft frischen Bluts drang zu meiner Nase vor. Plitsch. Ein kleiner Tropfen zäher Flüssigkeit verfehlte meinen Mund und landete auf meiner Unterlippe, verharrte dort einen Moment, bevor er der Schwerkraft und Adhäsion folgend in meinen Mund rann, um sich dort mit dem Speichel zu vermischen. Sofort zündete mein Verlangen nach mehr. Blut, dieser Lebens-, dieser Überlebenssaft weckte meine Lebensgeister. Dieser eine erste vorsichtige Tropfen wirkte wie ein lokales Schmerzmittel, das mir die Kontrolle über meinen Mund zurück gab.
»Ah, ich sehe, es wirkt.«, meinte die Stimme und versorgte mich mit weiteren Tropfen, »Ganz langsam. Warte einen Moment, bevor du schluckst.«
Die Stimme hatte recht. Mein Zustand war dem eines Verdurstenden, der auch erst wieder an Flüssigkeit gewöhnt werden musste, nicht unähnlich. Tropfen um Tropfen füllte sich mein Mund mit Blut und trieb die Schmerzen aus diesem immer weiter zurück, bis schließlich eine kleine Menge Speichelblutgemisch den Weg in meinen Rachen fand und langsam die Speiseröhre herunter rann. Ich konnte genau sagen, wo sich die Flüssigkeitsmenge gerade befand. Wirkte sie doch wie heilender Balsam.
Die Stimme wurde mutiger. Statt mit einer Pipette wurde mir die nächste Portion aus einem Becherglas eingeflößt. Zum Glück hatten die ersten Tropfen den Weg geebnet und ich konnte relativ schmerzarm schlucken. Von da an beschleunigte sich meine Rekonvaleszenz von Sekunde zu Sekunde, von Schluck zu Schluck. Je mehr Blut ich in mich aufnahm, desto schneller ebbten die Schmerzen ab und desto mehr kehrte mein Körper zur Normalität zurück. Zwei Minuten nach dem ersten Tropfen wagte ich, meine Augen langsam zu öffnen.
Normalität? Zum Teufel, was war hier los? Die Stimme, die mich freundlicherweise mit Lebenssaft versorgt hatte, gehörte zu einem Vampir, den ich nach mehrmaligem Blinzeln zum Zweck der besseren Sicht als Bruno, einen Wissenschafter aus Ricardos Forschungsteam, identifizierte. Dass ich blinzeln musste, war weniger mangelnder Sehkraft geschuldet, sondern vielmehr dem Umstand, dass Bruno in einem hermetisch verschlossenen Vollschutzanzug steckte. Der Einrichtung nach lag ich in unserem S4-Labor. Schutzstufe 4, das hieß vollkommener Schutz der Außenwelt vor Kontamination mit potenziell tödlichen Gefahrstoffen wie Viren, Bakterien oder chemischen Stoffen.
»Bruno?«
»Chef?«, Bruno beugte sich zu mir herab. Wie ich im gleichen Moment feststellen musste, lag ich auf einem alles andere als bequemen Labortisch aus rotem Steingut.
»Das S4 Labor?«
»Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Wir haben zwar inzwischen eine ungefähre Vorstellung davon, womit Frantz, dieser Arsch, experimentiert hat, brauchen aber noch eine Weile, um die Folgen zu reparieren. Du hast ein verdammtes Glück, noch am Leben zu sein.«
»Was ist eigentlich passiert? Woher weißt du von Frantz?«
»Oh, wir haben alles live mitanhören und teilweise auch ansehen können. Simon war so nett, die Kamera und Mikrofone des Labors auf Mithören zu stellen. So wussten wir, dass es eine ziemlich dumme Idee gewesen wäre, einfach Frantz Labor zu stürmen. Nachdem du die Bombe vom Tisch gerissen hast, wodurch sie dann halb explodierte oder mehr oder weniger verpuffte, mussten wir nach allem was Frantz gesagt hatte davon ausgehen, dass das Labor mit irgendetwas unerfreulichem kontaminiert sein könnte. Was es dann auch war.«
»Schön, das Labor wurde also kontaminiert. Ähm, und warum lebe ich dann noch?«
»Du hast Frantz doch ausgezuzelt. Sein Blut war mit einem Gegenmittel geflutet.«
Diese Antwort gab mir einiges zu denken. Hatte Frantz seinen Abgang wirklich bis ins kleinste Detail geplant? Er musste wissen, dass mich sein Blut beschützen würde, sollte die Bombe ihrer Aufgabe nachkommen und explodieren. Aber nein, er konnte nicht wissen, dass ich sie vom Tisch reißen würde. Oh, Frantz, warum nur?
»Wisst ihr schon, wann ich hier raus kann?«, wollte ich von Bruno wissen, der damit beschäftigt war, meine Vitalwerte zu prüfen.
»Ähm... Nein.«, kam es entschuldigend, verlegen und ziemlich bestimmt vom angesprochenen, »Im Moment bist du der wandelnde Tod. Eine Berührung reicht.«
»Oh!«, die Bedeutung wollte nur langsam einsinken. »Könntest du mir wenigstens erklären, womit wir es zu tun haben?«
Dazu zeigte sich Bruno durchaus in der Lage. Das Was war ziemlich klar. Nur mit dem Wie hatte er noch Probleme. Frantz hatte einen chemischen Kampstoff entwickelt, der auf der Basis pseudointelligenten Nanopartikeln mit Fullerenen als Grundstruktur und Transportvehikel fußte. Ich war kein Experte und mein chemisches Fachwissen eher begrenzt, weswegen Bruno seine Erklärungen allgemeinverständlich halten musste. Er und sein Team waren zum Schluss gekommen, dass der Sprengsatz der Bombe eher klein bemessen war, da sein Zweck nicht in physischer Destruktionsarbeit bestand, sondern darin, den Kampfstoff möglichst fein zu versprühen. Wäre dem nicht so gewesen, hätte ich die Explosion nicht überlebt. Der Labortisch, hinter dem ich in Deckung gegangen war, hätte bei einer echten Detonation keinerlei Schutz geboten.
Es war unverschämtes Glück, dass es Simon gelungen war, die Mikrofone und Kameras im Labor zu aktivieren und auf alle Monitore und Lautsprecher des Hauses geschaltet hatte. Nur so konnte Bruno sofort die richtigen Schlüsse ziehen und noch bevor die Bombe explodierte den Zugang zum Labortrakt hermetisch versiegeln lassen. Die Kontaminierung beschränkte sich somit auf einen relativ kleinen und überschaubaren Bereich des Labortrakts. Nachdem dann durch meine Tapsigkeit die Bombe explodiert war, bestand Bruno darauf, dass das Labor nur durch eine noch zu errichtende Doppelschleuse und ausschließlich in Hochsicherheitsschutzkleidung zu betreten sei. Obwohl es einen ganzen Tag brauchte, um die Schleuse zu errichten, was nebenbei die Frage aufwarf, wie lange ich eigentlich weggetreten war, stellte sich seine Sorge als überaus berechtigt heraus. Der gesamte Labortrakt war mit den Nanopartikeln der Bombe verseucht. Während ein Bergungsteam nach mir suchte, begannen Brunos Leute sofort mit der Entschlüsselung des mutmaßlichen Kampfmittels.
»Wir fanden dich in einer Art Stasis. Dein urvampirischer Körper ist wirklich erstaunlich. Nach der Explosion hat er sich einfach heruntergefahren. Deine Vitalwerte waren kaum noch messbar, aber vorhanden. Wir haben dich eingetütet, das heißt in einen hermetisch dichten Foliensack gepackt, und sofort in unser S4 Labor verfrachtet, um hier in sicherer Umgebung mit deiner Rettung zu beginnen. Das Labor ist hingegen nicht zu retten. Die Nanopartikel bedecken nicht nur alle Oberflächen, sie sind auch in jede Ritze gekrochen. Manches ließe sich vielleicht reinigen, bei den meisten Einrichtungsgegenständen ist es hingegen kaum möglich, sie vollständig zu säubern. Wir haben deswegen begonnen, die Räume pyrolytisch zu dekontaminieren. Die Partikel zersetzen sich oberhalb von 450 Grad Celsius und zeigen auch eine signifikante Anfälligkeit gegenüber hochenergetischer Mikrowellenstrahlung. Trotzdem schlage ich vor, den Trakt aufzugeben und nach Abschluss der Arbeiten vollständig mit Beton zu verfüllen.«
»Scheiß auf den Trakt!«, gab ich Bruno meine Zustimmung, wollte aber noch einmal auf das Thema meiner Person zurückkommen, »Wenn ich dich richtig verstanden habe, stehen die Chancen, Frantz Dreckszeug alsbald loszuwerden eigentlich recht gut, allerdings nur, wenn wir von meiner Person absehen, oder? Ich bin jetzt Träger des Kampfstoffs. Meine Berührung ist tödlich, während ich selbst dagegen immun bin?«
»Das trifft es ziemlich genau.«, meinte Bruno, betrachtete mich nachdenklich und schien mit sich zu hadern.
»Raus mit der Sprache.«, forderte ich den Mann im Schutzanzug auf. Schlimmer konnte seine Diagnose sowie so nicht mehr ausfallen. »Dir brennt doch etwas auf der Seele.«
»Es ist so. Diese Sache... dieser Kampfstoff... Er überfordert meine Fähigkeiten. Wenn wir dich von dem Zeug befreien wollen, brauch ich Ricardos Hilfe. Nur der...«
»... ist ein Häufchen Asche.«, vervollständigte ich Brunos Satz. Vielleicht war die Einschätzung meiner Lage etwas voreilig gewesen. »Ich verstehe. Dann kümmer dich zuerst um ihn. Ich kann warten. Ich kann doch warten, oder?«
»Ähm, ja. Du bist stabil. Da gibt es keine Probleme. Es ist nur...«, Bruno druckste erneut herum, »Um Ricardos Asche zu reinigen, bräuchten wir Ricardos Wissen. Du verstehst unser Dilemma? Er hat das Verfahren entwickelt, nachdem Simon von den vergifteten Jungen trank. Leider hat er nicht alle Details verraten. Es könnte also etwas dauern, bis wir das Verfahren verstanden haben. Wenn wir allerdings an seine Computerdateien...«
»Ich hätte da eine Idee.«, unterbrach ich Bruno, »Könntet ihr es einrichten, dass ich mit Simon spreche?«
»Sicher.«, Bruno war ein unheimlich aufgeräumter, aber vor allen Dingen positiv eingestellter Mann. Er behielt sogar dann seine zuversichtliche, gute Laune, wenn nicht alles vom Start weg perfekt lief: »Sobald wir das Haus wieder unter unsere Kontrolle gebracht haben, kann er dich auch besuchen kommen. Zurzeit versuchen wir, die Brandschutztüren mechanisch zu entriegeln.«
»Raus mit der Sprache: Wie ist die Lage?«
Sagen wir, die Lage war ernst, aber nicht hoffnungslos. Die Haustechnik arbeitete nach wie vor mehr gegen als für uns. Die einzelnen Stockwerke waren weiterhin verriegelt, sogar die Feuerschutztüren innerhalb der Stockwerke waren blockiert. Gleiches galt auch für die Personenschleusen nach draußen. Als einziger Weg verblieb nur der nicht mehr sonderlich geheime Geheimgang in der Gruft. Der war zwar umständlich und endete hinter einem Wasserfall, aber immer noch besser als nichts.
Das nächste Problem stellte die Kommunikation mit der Außenwelt dar. Auch diese war komplett unterbrochen. Mobiletelefone konnten im Hause Varadin prinzipbedingt nicht funktionieren. Dass sie es trotzdem taten, lag daran, dass das unterirdische Gebäude mit Repeaterstationen gespickt war, die die Funkverbindungen nach draußen weiterleiteten. Aber auch dieses System hing an der streikenden Gebäudetechnik. Wollte jemand telefonieren, musste er oder sie den Geheimgang nehmen und sein Glück im Park vor dem Firmengebäude versuchen. Dies war zwar unschön, aber keine Katastrophe, die sich nicht von kompetenter Hand managen ließ.
Die Eigentümerin dieser Hand hörte auf den Namen Lydia. Die Witwe Breskoff hatte unter tatkräftiger Unterstützung seitens Simons das Krisenmanagement übernommen und sofort damit begonnen, die anstehenden Arbeiten zu koordinieren. Wer irgendwie helfen konnte, wurde einem Team zugeteilt. Ein Trupp kümmerte sich um die Aschehäufchen der verbrannten Brüder. Sie versuchten die Häufchen zu identifizieren, kehrten sie anschließend vorsichtig zusammen und tüteten sie ein, sodass wir sie einen nach dem anderen wiedererwecken konnten. Bruno meinte, in seinem Labor würden sich die Aschebeutel bereits stapeln. Leider ließ sich nicht jeder Aschehaufen direkt einem Mitbruder zuordnen. Hatte es jemanden in seinem Appartement erwischt, war die Identifizierung einfach, ebenso wenn das Häufchen neben dem Arbeitsplatz lag. Stieß der Bergungstrupp bei seiner Suche auf einen öffentlichen Raum mit mehr als einem Opfer, konnte niemand sagen, um wen es sich handelte.
Das Problem mit den verbrannten Mitbrüdern führte direkt zu einem anderen Problem, um das sich Lady Lydia unmittelbar kümmern musste: Der Versorgung des Hauses mit frischem, unverseuchtem Blut. Statt aber sämtliche menschlichen Spender des Hauses um Hilfe zu bitten, informierte sie Laurentius im Prager Haus, der ehemaligen Residenz Vladimir Breskoffs. Wie Bruno kolportierte, führten die beiden ein längeres Gespräch, das abgeschirmt von unerwünschten Zuhörern im Brunnenkessel des Parks geführt wurde. Sieben Stunden später trafen die ersten, sehr frischen Konserven ein. Davon abgesehen erlaubte Lydia nur minimale Kontakte mit der Außenwelt. Nur einem ausgewählten Personenkreis war es gestattet, das Haus zu verlassen. Es herrschte Nachrichtensperre.
»Bruno?«
Wenn man vom Teufel spricht. Während mich Ricardos Teammitglied über die aktuellen Entwicklungen informierte, war Lady Lydia ebenfalls in das S4-Labor gekommen und stand nun vor uns. Im Gegensatz zu Brunos grenzenlosem Optimismus zeigte ihre Stirn Sorgenfalten.
»Ich muss mit Constantin sprechen – Jetzt! – Allein!«
»Okay!«, entgegnete mein persönlicher Medizinmann, nickte mir zu und verließ das Labor. Lydia schaute ihm nach und wartete, bis sich die Tür zur Dekontaminierungsschleuse hinter ihm vollständig geschlossen hatte.
»So, wir sind jetzt ungestört.«, begann die Sicherheitschefin, »Simon hat für die Zeit unseres Gesprächs sämtliche Mikrofone abgeschaltet.«
»Das klingt ernst.«, erwiderte ich mit einem schiefen Lächeln. Ich war nicht auf den Kopf gefallen und ahnte, was Lydia von mir wollte. Genau wie ich, war sie gewohnt in strategischen und taktischen Bahnen zu denken. Während Bruno primär die wissenschaftlichen Aspekte einer Situation interessierten, gingen Lydias und meine Erwägungen weit darüber hinaus. Uns interessierte nicht das Was, sondern die Frage, welche Folgen und Bedeutungen es hatte.
»Du ahnst, worüber ich mit dir sprechen will?«
»Natürlich.«, ich musste sarkastisch grunzen, »Du hast nicht umsonst eine Nachrichtensperre verhängt und die Kontakte mit der Außenwelt auf wenige Personen beschränkt. Mir ist völlig klar, worum es dir geht: Um meinen Kopf.«
»Auch wenn ich Gefahr laufe, mich zu wiederholen, muss ich mich bei dir entschuldigen. Dieser Kopf, von dem du sprichst, ist ein sehr kluger, den man leicht unterschätzt. Ja, ich habe eine Nachrichtensperre verhängt. Constantin, in deinem Zustand bist du die tödlichste Bedrohung, mit der wir Vampire uns jemals konfrontiert sahen. Sollte von dem Vorfall mit Frantz auch nur eine Silbe an ein falsches Ohr gelangen, ist dein Leben keinen Pfifferling mehr wert.«
»Ja, ich weiß. Die anderen Häuser werden den Rat einberufen und beschließen, die Bedrohung für unsere Art zu eliminieren. Sie werden verlangen, dieses Labor und alles in ihm thermisch reinigen zu lassen. 500 Grad werden alles, was mit den Nanopartikeln kontaminiert wurde, vernichten. Mich eingeschlossen.«
Lady Lydia musterte mich, sagte aber nichts. Es gab auch nichts zu sagen. Die Situation war eindeutig: Sollte es Bruno und gegebenenfalls Ricardo nicht gelingen, innerhalb kürzester Zeit ein Neutralisationsmittel zu entwickeln, waren meine Tage, oder eher meine Stunden gezählt. Die Häuser würden die Vernichtung der tödlichen Bedrohung unserer Art fordern und ich konnte noch nicht einmal behaupten, ihre Gründe nicht nachvollziehen zu können.
»Lydia, du musst mir etwas versprechen.«, wer hätte gedacht, dass ich die folgenden Worte jemals sprechen würde?
»Constantin?«
»Ich will, dass du es tust! Wenn Bruno kein Gegenmittel findet, musst du dieses Labor mit allem und jedem, das sich in ihm befindet, pyrolytisch reinigen lassen.«
Hatte ich an der harten Schale meiner Gesprächspartnerin eine weiche Stelle gefunden? Lady Lydia, der Inbegriff des unnahbaren Kühlschranks, musste sichtbar mit ihrer Haltung kämpfen. Vielleicht mochte sie mich doch ein wenig mehr, als sie sich sonst immer anmerken ließ.
»Versprichst du es mir?«, bohrte ich nach.
Lydia zitterte, ihre Augen nahmen einen glasig feuchten Schimmer an. Sie schluckte, neigte ihren Kopf und sah mich traurig an.
»Ja, Constantin, mein Fürst, mein Stammvater, ich verspreche es.«
Narben
Florian
»Also gut, warum auch nicht? Ich war eh der Meinung, dich von vornherein einzuweihen.«
Sich zu verstellen und sich kleiner, ahnungsloser, naiver und unbedeutender zu machen, als man eigentlich war, schien eine gängige Praxis bei den Nosferatu zu sein. Der Wechsel in Nicolas vollzog sich nahtlos. Eben gebar es sich noch als nonkonformer und kumpelhafter Jungvampir, um eine Sekunde nach meinem Frustausbruch auf einen aufgeräumten und selbstwussten Charakter umzuschalten. Ein Trick, den auch Tamir perfekt beherrschte, wie Constantin bemerkte, als er mir von seinem Tribunal erzählte.
»Ihr macht das absichtlich, oder?«, knurrte ich Nicolas an, »Tamir spielt Constantin den unfreiwilligen Henkersknecht, dem das alles total unangenehm ist vor, du mir den coolen, verständnisvollen Kumpel. Aber das ist alles nur Show, oder? Eine Maske, die ihr aufsetzt, damit niemand eure eigentlichen Absichten durchschaut.«
»Jein...«, wandte sich mein Gegenüber, »Wie du es sagst, klingt es wie etwas schlechtes und stimmt auch nicht.«
»Ach, jemanden zu täuschen, dessen Vertrauen man gewinnen will, ist nicht schlecht?«, ätzte ich zurück.
Nicolas grunzte frustriert und auch ein wenig gekränkt vor sich hin.
»Du willst also die Wahrheit hören?«, plötzlich wurde ich von zwei wütenden, aber auch verzweifelt blickenden Augen fixiert, »Dann höre mir gut zu: Wir haben Angst. Wir haben eine Scheißangst. Wir, die ach so mächtigen, ebenso verehrten wie gefürchteten Nosferatu haben Angst. Was ich dir jetzt sage kommt von Nosferatu zu Nosferatu, der du zu einem kleinen Teil bist, und sollte diese Mauern nicht verlassen. Ich bin ein Mitglied des Konzils. Tamir, aber insbesondere Petrus sind meine Förderer. Ihnen habe ich die Berufung in unser höchstes Gremium zu verdanken. Wahrscheinlich müsste ich mich über diese Ehre freuen, aber ich tue es nicht, denn ich wurde nur berufen, weil andere für immer von uns gegangen sind. Die Umstände ihres Dahinscheidens sind... verdächtig, um es vorsichtig auszudrücken. Es konnte zwar in keinem Fall ein Fremdverschulden festgestellt werden, aber...«
»Lass mich raten.«, fiel ich Nicolas ins Wort, »Die Umstände lassen euch an Zufällen zweifeln.«
»Ein Todesfall ist bedauerlich, aber auch etwas natürliches, zwei sind schrecklich, aber Zufall, drei seltsam, aber mehr als drei sind besorgniserregend. Es ist ein Gefühl, das ich mit Tamir, Petrus und auch Bruder Markus teile. Jemandem, nennen wir es eine unbekannte Kraft, ist es gelungen, in unsere Kreise einzudringen, die der Nosferatu aber auch die der Vampire, und wir haben nicht die geringste Ahnung, um wen es sich dabei handelt. Ein Feind, den wir nicht kennen, greift uns an, sogar von innen. Wir wissen nicht, ob die Ränkespiele des hohen Rats, der Kampf um Constantins Macht, auf seine Rechnung gehen. Aber dass eine Verurteilung Constantins einer faktischen Vernichtung dreier hoher Häuser, Varadin, Breskoff und Margaux gleichkommt, die dem Rat auf Dauer schaden und das heikle Machtgefüge auf lange Zeit durcheinanderbringen wird, steht außer Zweifel. Vielleicht ist genau das der Plan. Während die hohen Häuser ihre Kräfte in sinnlosen Ränkespielen verschwenden, hat der eigentliche Feind leichtes Spiel in unsere Reihen einzudringen und uns zu unterwandern. Dieser Kampf dient niemandem. Ganz im Gegenteil, er schwächt uns alle. Deswegen helfen wir Constantin – und auch dir. Ihr beide seid geistig jung, entscheidungsfreudig, wagemutig und seht die Welt nicht durch die Augen versnobter, machtgeiler und geistig träge gewordener Potentaten. Constantin ist ein guter Fürst. Er verlangt nicht nach Macht, aber er ist bereit, sie einzusetzen, wenn es nötig ist. Wenn es eine Zukunft für Vampire und Nosferatu geben soll, dann durch Wesen wie ihn oder, da bin ich mir ziemlich sicher, durch jemanden wie dich. Du und er, ihr beide verkörpert unsere Zukunft und Hoffnung.«
»Wir? Das kannst du nicht ernst meinen. Constantin mag ein kluger Kopf sein. Aber ich? Ich bin ein Tischler.«
»Oh, bitte. Nicht schon wieder diese alte Leier. Natürlich bist du ein Tischler, sogar ein wirklich guter, wie ich hörte, aber du bist auch Großherzog Florian Margaux sur Rhone und ein wirklich kluger Kopf. Das eine hat zwar nichts mit dem anderen zu tun, kann sich aber in seiner Kombination als ausgesprochen hilfreich erweisen. Florian, du musst aufhören, dich zu unterschätzen und kleiner zu machen, als du wirklich bist. Ich weiß nicht, ob dir das schon jemand gesagt hat, aber du bist ein brillanter Analytiker. Du hast das Konzept der Banner und Stoffbahnen schneller entschlüsselt, als jeder andere vor dir. Dabei hängen die Fetzen zum Teil schon seit über achthundert Jahren an den Wänden. Auch die Analyse deiner Situation war einfach nur brillant. Klar, schnörkellos und auf den Punkt. Die Frage, die ich dir jetzt aber stellen muss ist: Was willst du tun? Dir, deinem Geliebten, Constantin, Christiano, Simon, Tamir, Petrus, Markus, mir, uns, einfach allen Vampiren und Nosferatu helfen und die Sache weiter durchziehen, oder...?«
»Natürlich ziehe ich die Sache durch.«, knurrte nun ich, »Darum geht es nicht. Ich mag es einfach nicht, dass jeder meint, für mich entscheiden zu müssen, wie mein Leben zu verlaufen hat. Also, raus mit der Sprache, was hat es mit dem Ritual auf sich? Und komm mir nicht wieder mit irgendwelchem verquasten Esotherikgelaber über Erleuchtung.«
Dem zitronensauren Blick Nicolas zu urteilen, hatte ich nicht nur einen wunden Punkt getroffen, sondern war wohl auch ein wenig über das Ziel hinaus geschossen.
»Entschuldige, ich wollte nicht... Also, Erleuchtung... ähm, das ist bestimmt eine tolle Sache... Gut für's Karma und so...«
Mein Gestammel schien meinen Nosferatu zu erweichen. Nicolas lächelte vergebend.
»Mach dich nur lustig über uns. Dabei kannst du gutes Karma verdammt gut gebrauchen – Tonnen guten Karmas.«
Die Nosferatu mochten durchtriebene Strategen und Taktiker sein, sie mochten überall ihre Fäden ziehen, aber sie blieben trotz allem ein Haufen spiritueller Jungs. Politik war eine wichtige Sache, aber bei weitem nicht so wichtig, wie ein erleuchteter Geist.
»Das Ritual ist eine Prüfung für Geist und Seele. Der Prozess besteht aus der Überwindung von Angst, Furcht und Schmerz. Dein Körper wird dich anflehen, zu fliehen, wie die Hand, die vor der heißen Herdplatte zurückschreckt. Aber dein Bewusstsein, dein Verstand kann dem Schmerz widerstehen und ihn besiegen. Ich will dir nichts vormachen. Ich bereite mich seit drei Jahren auf das Ritual vor, wenn auch aus anderen Gründen. Für mich ist es ein Versuch, über meine Ängste zu siegen und den Weg der Erleuchtung zu beschreiten. Für dich ist die Wiedergeburt nur eine Hürde, mit dessen Hilfe sich das Band zwischen dir und Constantin lösen lässt. Weswegen die Sache für dich doppelt schwer sein wird. Dir fehlen die Jahre der Vorbereitung und außerdem...«
Nicolas ließ den zweiten Grund unausgesprochen, weswegen ich es übernahm ihn zu formulieren.
»Fehlt mir die Spiritualität, der Glaube daran, dass das Ritual mehr ist, als eine schräge SM-Party. Ist es das? Es ist eine Prüfung des Glaubens? Wenn ich nicht glaube, dann wird...«
»...nicht mehr von dir übrig bleiben, als ein Haufen Asche, ja.«, Nicolas seufzte, »Das Ritual ist nicht einfach eine Reihe von Handlungen oder Beschwörungsformeln, die in einem festen Ablauf folgen und rezitiert werden müssen. Ohne Glauben ist der Ritus bedeutungslos und das Ergebnis... Nun ja, dann war es nett, dich kennengelernt zu haben.«
Mir lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Niemand hatte sich bisher bemüßigt gefühlt, darauf hinzuweisen, dass bei der ganzen Geschichte mein Leben auf dem Spiel stand. Diese Detailinformation erhöhte den Einsatz nicht unerheblich.
»Aber woran soll ich glauben?«
»Das ist die alles entscheidende Frage, die aber nur du beantworten kannst. Wenn du den Weg beschreitest, dann ist der Glaube das Einzige, was dich vor dem Nichts rettet. Er ist dein Anker, der Funke deiner Existenz, der das Vergangene mit der Zukunft verbindet.«
»Ich verstehe. Nein, ich verstehe nicht.« Mir schwirrte der Kopf. Standen Spiritualität und Rationalität wirklich im Widerspruch zueinander? Was hieß überhaupt Rationalität? War meine Existenz rational zu erklären? Vampire? Nosferatu? Hämophagen? Lebende Untote, die sich von menschlichem Blut ernähren, hätten jeden Wissenschafter im Lichte seiner reinen Vernunft in Lachkrämpfen ausbrechen lassen. Wissenschaftlich waren Vampire, und mehr noch die Nosferatu, nicht zu erklären. Und trotzdem existierten wir, existierte ich. Ja, ich war bereit, über Nicolas Brücke zu gehen und mich seiner Spiritualität zu öffnen. Was mir aber nicht wirklich weiter half. Ich wusste immer noch nicht, woran ich glauben sollte.
»Es gibt etwas, das ich dir sagen möchte und das dir vielleicht ein wenig hilft. Ich hatte es schon früher erwähnt. Du wirst den Weg nicht allein beschreiten müssen, denn ich werde dich begleiten.«
»Warum?«
»Warum nicht? Es gibt viele Gründe. Zum einen wird es Zeit, dass ich meinen Glauben prüfe, dann weil ich weiß, dass du jemanden brauchst, der dich führt und die Angst und den Schmerz mit dir teilt und zu guter Letzt weil ich von diesem Weg überzeugt bin.«
Da war noch etwas mehr. Ich konnte fühlen, dass mir Nicolas nicht alles gesagt hatte. Er hielt etwas zurück und ich beließ es dabei. Die Tageszeit forderte ihren Tribut. Über der Erdoberfläche, außerhalb der Nosferatuhöhle, stand die Sonne hoch am Himmel, die ich selbst durch gut fünfzig Meter Felsgestein noch spüren konnte. Ihre Wirkung war bei weitem nicht so stark, wie unter freiem Himmel oder in Christianos Auto, reichte aber aus, um mich gähnen zu lassen. Oder waren es die gut 30 Stunden, die ich inzwischen auf den Beinen war? Das letzte Mal, dass ich ein Bett gesehen hatte, war am vorigen Tag. Es folgte ein achtstündiger Arbeitstag bei Niederreuter, der unerwartete Besuch Tamirs bei meinem Vater, eine Nacht voller Geschichten und Enthüllungen, eine Autofahrt bis zum Morgengrauen und schließlich das Kloster der grauen Nebel. Während ich mich noch darüber wunderte, wie ich es geschafft hatte, so lange wach zu bleiben, entschieden sich mein Mund dazu, erneut zu gähnen und meine Augenlieder schwer zu werden.
»Komm, lass mich dich in deine Zelle bringen...«, bemerkte Nicolas meinen Zustand und wollte zur Tür eilen.
»Darf ich bei dir bleiben?«
Der Gedanke, diesen Tag allein in einem fremden Bett in einer ebenso fremden Umgebung schlafen zu müssen, gefiel mir überhaupt nicht. Dabei ging es mir nicht um Sex, zumal mir keine Informationen zu Nicolas sexueller Orientierung vorlagen. Davon abgesehen lebten, soweit ich mich richtig erinnerte, die Nosferatu zölibatär. Wenn ich bei Nicolas bleiben wollte, dann schwebte mir eine Matratze oder ein Feldbett vor. Meinem Gastgeber hingegen nicht, denn der deutete auf sein Bett.
»Natürlich darfst du bei mir bleiben. Hast du es schon vergessen, dass ich es dir vorhin angeboten habe?«
»Ähm...«, Nicolas hatte recht. Wie peinlich, wie konnte ich solch ein Detail vergessen. »Echt?«
Nicolas antwortete auf seine Weise. Er stand auf, kam zu mir herüber, schnappte sich meine Hand, zog mich vom Stuhl und zu sich heran. Ich ließ es überrumpelt geschehen und starrte stattdessen direkt in das Totenschädelgesicht meines Zellenpartners, der – Überraschung, Überraschung – gar nicht mehr so abstoßend wirkte. Ganz im Gegenteil verströmte Nicolas eine sehr subtil wirkende Anziehungskraft. Die Luft schien plötzlich statisch geladen zu sein. Es hätte mich nicht gewundert, es knistern zu hören. Doch so weit kam es nicht. Nicolas wurde unsicher, als wenn ihn sein ungestümes Auftreten selbst überrascht hatte.
»Ähm...«, stammelte er und ließ mich schnell wieder los. Konsterniert wich er meinem Blick aus und begann linkisch an seiner Kutte herum zu fingern. »Wir sollten uns dann...«
Wir sollten uns dann zur Nachtruhe, genau genommen zur Tagruhe begeben. Das Zu-Bett-Geh-Ritual eines Vampirs unterscheidet sich nicht sonderlich von dem eines Menschen. Die Mönchszellen verfügten über kein Bad, geschweige denn ein Klo, stattdessen gab es Gemeinschaftsduschen für jeweils acht Zellen. Nicolas musste über meinen Besuch rechtzeitig informiert worden sein, denn er reichte mir einen Satz Hygieneartikel, vom Nassrasierer, Rasierschaum, über Deodorant und Duschgel, bis hin zu Zahnbürste und Zahncreme. Die letztgenannten beiden Artikel waren sehr wichtig. Eine der ersten Lektionen in Vampirkunde, die mir Christiano erteilte, beschäftigte sich mit Zahnhygiene. Wenn wir uns als Vampire von Menschen ernähren wollten, ohne ihnen zu schaden, durften wir uns nicht damit begnügen, die Blutmenge auf einen viertel Liter zu begrenzen. Wir sollten auch dafür sorgen, dass sie später nicht an Infektionen erkrankten. Im Prinzip desinfizierte zwar unser Speichelsekret die Bissstelle, aber wer wollte schon von einem Blutsauger mit Mundgeruch gebissen werden? Außerdem konnte Karies für unsereins durchaus zum Thema werden.
Die Waschräume waren sehenswert. Ich könnte auch sagen spektakulär. Beides trifft es nicht wirklich. Sie waren einzigartig. Sicher, es gab Duschen. Vier Duschköpfe entlang einer Wand. Aber damit endeten bereits die Ähnlichkeiten mit üblichen Gemeinschaftsduschräumen, wie ich sie etwa von Niederreuter kannte. Die Wand war nicht etwa mit öden, blassblauen Karoeinfachfliesen bedeckt. Sie war überhaupt nicht bedeckt, sondern war eine offene, raue Felswand, in die jemand kleine Nischen gehauen hatte. Die Mönche duschten quasi gemeinsam, aber doch gleichzeitig auch jeder für sich. Dass der gesamte Bereich in das seidige Licht unzähliger Karbidlampen getaucht wurde, braucht wohl nicht weiter erwähnt zu werden.
Aber eigentlich waren die Duschen überflüssig, so dachte ich zumindest, denn es gab etwas viel besseres, wozu ich aber die Räumlichkeiten genauer beschreiben muss.
Die Waschräume begannen mit einem Umkleideraum: Edle Holzbänke luden zum Niederlassen ein. In regelmäßigen Abständen waren Kleiderhaken über den Bänken angebracht. Eine Seite des Umkleideraums zierte eine lange Granitplatte mit Waschbecken hinter welchen sich jeweils ein Spiegel befand. Zwischen den Spiegeln waren Lampenreihen angebracht, die Gesicht und Oberkörper ausreichend hell beleuchteten. In einer Nische stand ein Stapel voller frischer, flauschiger Badehandtücher bereit, von dem ich mir sofort eins schnappte. Die Luft war warm und roch nach Kräutern, die ein paar glimmende Räucherstäbchen in einer Sandschale verbreiteten. Sandelholz, aber auch andere, mir nicht bekannte Gerüche, schmeichelten meiner Nase.
Als Handwerker, der regelmäßig schwer körperlich arbeitete und dabei auch ins Schwitzen kam, dass er zum Abend unangenehm müffelte, waren mir Gemeinschaftsduschen nicht fremd und seit ein paar Wochen, genaugenommen nach meiner denkwürdigen Begegnung mit Constantin, war mir auch die entsprechende Entkleidungsprozedur nicht mehr unangenehm. Schneller als Nicolas gucken konnte, war ich nackt, hatte mir das Badetuch über die Schulter geschmissen und hielt in einer Hand das Duschgel.
Mein Duschpartner zeigte sich ein wenig genierlicher und entblätterte sich nur sehr zögerlich. Dabei hatte er wirklich nichts zu verstecken. Der Mann war ein muskulöses Kerlchen, was aber unter der Kutte sonst nicht zu sehen war. Seine Brustmuskeln formten einen knackigen Oberkörper, während der Bauch ein nettes Sixpack zierte. Aber auch Narben. Narben?
Es waren keine überwältigenden anatomischen Kenntnisse notwendig, um zu erkennen, dass diese Narben von allem anderen als harmlosen Verletzungen stammten. Wie Operationsnarben sahen sie auch nicht aus. Form und Lage ließen eher an... Ich wusste nicht, woran sie mich erinnerten. Sie sahen auf jeden Fall heftig aus.
»So, und jetzt ein heißes Bad! Nichts ist besser, als ein heißes Bad vor dem Schlafen gehen.«
Statt mich aber zu einer Badewanne zu führen, präsentierte mir Nicolas die bereits erwähnten Duschen, wo er sich quasi als Aufforderung es ihm gleich zu tun kräftig einseifte und abschrubbte. Die Bitte, ihm den Rücken zu waschen, durfte natürlich ebenfalls nicht fehlen. Genauso wenig, wie mein eigenwilliges Geschlechtsteil, das sich, ganz im Gegensatz zu meinen Wünschen, mit Blut füllte, während ich den Rücken meines Duschnischennachbars mit Duschgel versorgte. Die partielle Versteifung meines Fortpflanzungsorgans blieb natürlich nicht unbemerkt, aber zu meiner Erleichterung unkommentiert, soweit ich von Nicolas amüsiertem Grinsen absah. Fünf Minuten später waren wir quietschsauber und ich auf dem Weg zum Umkleideraum.
»Wo willst du denn hin?«, hielt mich mein Gastgeber auf, schnappte mich am Handgelenk und steuerte einen zweiten Ausgang an, der zur Umkleide direkt gegenüber lag, »Wir wollten doch baden.«
Baden? Wäre ich nicht eh sehr schweigsam gewesen, hätte mir der nächste Raum die Sprache verschlagen. Hinter dem Durchgang eröffnete sich eine Art Grotte. Ihre Grundfläche entsprach der eines Halbkreises, entlang des Umfangs an der Wand waren Holzliegen mit wasserfesten Kopfrollen aufgestellt. Die Zwischenräume nahmen mannshohe Kandelaber ein, deren abgebrannte Kerzen ein Mönch gerade am auswechseln war. Der ganze Raum wirkte sehr feierlich und erhaben.
»Bruder Theodor. So spät noch auf?«, begrüßte Nicolas den Mönch leise.
»Ah, Nicolas, mein Freund.«, lachte der Kerzenwechsler, bei dem es sich um einen älteren Nosferatu mit erstaunlich sympathischen Gesichtszügen handelte, »Ich konnte nicht schlafen. Warum also untätig in der Zelle hocken, wenn sich etwas nützliches tun lässt? Aber wen bringst du uns da mit? Ein sehr junger Vampir, keine zwei Wochen alt, wie ich sehe? Hallo, junger Freund, wie ist Euer Name. Ich bin Bruder Theodor.«
»Florian, ich bin Florian und tatsächlich keine zwei Wochen alt. Es freut mich, Euch kennenzulernen, Bruder Theodor.«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Aber sagt, was treibt Euch zu uns?«
»Ich...«, ich wusste nicht, wie ich es beschreiben sollte und stammelte stattdessen vor mich hin, »äh...«
»Florian wird sich dem Servius-Novatin unterziehen.«
»Oh, ich verstehe.«, bemerkte Theodor knapp. Seine Körpersprache verriet aber weit mehr. Er hatte seine grauen Augenbrauen hochgezogen, seine Stirn kräuselte sich und seine Lippen erinnerten an jemanden, der unerwartet auf etwas bitteres biss. Alles zusammengenommen zeigte er eine Mischung aus Erstaunen, Respekt und Mitgefühl und machte mich nervös. »Nun, ich muss weiter. Da sind noch eine Menge Kerzen zu ersetzen.«
Theodor nickte Nicolas zu, entbat mir einen Gruß und zog von dannen, um mich mit einem unguten Gefühl zurückzulassen. Als Ablenkung wandte ich mich wieder der Grotte zu. Während die Bänke den Umfang des Halbkreises beschrieben, wurde ein innerer Halbkreis von einem riesigen Wasserbecken eingenommen in das sich ein Wasserfall ergoss, der die gesamte Stirnwand einnahm. Die Anlage war fantastisch. Obwohl mir Nicolas hoch und heilig versprach, dass im ganzen Kloster kein elektrisches Licht verwendet wurde, waren das Bassin und der Wasserfall erleuchtet. Die Wellen brachen dieses Licht und zauberten wild umherwandernde Lichtflecken an die Kuppeldecke.
»Komm!«, forderte mich Nicolas leise auf, ihm zu folgen. Wir deponierten unsere Handtücher auf einer der Holzbänke und gingen zum Becken. Dessen umlaufender Rand war an drei Stellen unterbrochen und besaß stattdessen Stufen, die einen leichten Einstig erlaubten.
»Nur zu!«, forderte mich mein Begleiter auf, »Es ist warm.«
Das war es wirklich. Während ich den ersten Schritt noch vorsichtig tastend in das Wasser setzte, folgte der zweite voller Entschlossenheit, als ich spürte, dass das Bad in der Tat angenehm warm war. Und so ließ ich mich in die Fluten gleiten, dicht gefolgt von Nicolas. Das Becken war nicht tief. Wir konnten bequem darin stehen, denn das Wasser reichte nur bis zur Brust. Aber die Grotte wollte auch gar keine Schwimmhalle, sondern ein reines Entspannungsbad sein, wozu auch der mineralische Geruch des Wassers zählte.
»Der Wasserfall wird direkt von zwei Quellen gespeist. Einer sehr heißen, der kühles Grundwasser zugemischt wird.«, erklärte Nicolas, »Komm, lass uns an den Rand gehen.«
Dort befanden sich Stufen und Bänke unterhalb der Wasserlinie, auf denen wir uns niederlassen und gleichzeitig entspannen konnten. Meine Muskeln und Knochen konnten es gut gebrauchen. Das warme Wasser verdeutlichte mir erst, wie verspannt ich war. Ohne ihn dazu aufgefordert zu haben, robbte Nicolas heran und begann mich zu massieren.
»Du siehst wirklich müde aus.«
Mit diesen Worten begann mein Badepartner, mir die müden Knochen und verspannten Bänder zu massieren. Ich schloss meine Augen und gab mich den talentierten Händen hin, die über meine Schultern, den Rücken und dieHüften wanderten. Als sich Nicolas meinen Nacken vornahm, entwich mir ein leichtes Stöhnen und Seufzen.
»Junge, bist du verspannt. Dein Kreuz ist voller Verhärtungen. Was treibst du nur?«
War mein Job wirklich so belastend? Wahrscheinlich. Ich hatte da noch nie so genau drüber nachgedacht, aber jetzt, da mein Masseur es erwähnte, fielen mir reihenweise Situationen ein, in denen ich in verkrampfter Haltung und über Kopf oder komplett verdreht in irgendwelchen Nischen, Ecken oder Deckenlöchern steckte und vor mich hin werkelte. War das der Grund, warum so viele ältere Kollegen in gesundheitsbedingten Vorruhestand gingen?
»Ich bin Tischer.«, eigentlich war die Bezeichnung nicht hundertprozentig korrekt, da ich formal Zimmermann und Bautischler gelernt hatte, das Wissen über Tischler- und Schreinerei hatte ich mir nebenbei erworben. Im Endeffekt lief es auf folgendes hinaus: Gab man mir irgendein Stück Holz, egal ob Bohle, Brett oder mitteldichte Faserplatte, entstand daraus wahlweise ein Dachstuhl, Regal oder Schreibtisch.
»Tischler?«, wiederholte Nicolas verwundert und packte an einer besonders neuralgischen Stelle kräftig zu, dass es mich aufjapsen ließ und mir Tränen in die Augen trieb, »Da wundert mich nichts mehr. Ich habe selten einen jungen Kerl so verspannt wie dich gesehen. Selbst Falk war geschmeidiger.«
»Falk?«, fragte ich leise. Irgendwie widerstrebte es mir, in dieser Badegrotte meine Stimme zu erheben. Ich hatte das Gefühl, sonst einen heiligen Ort zu entweihen.
»Er war mein Freund.«, in Nicolas Stimme mischte sich Wehmut, »Aber ich will dich nicht mit meiner Geschichte langweilen.«
»Du langweilst mich nicht. Wenn du sie erzählen willst, höre ich gerne zu.«
»Eigentlich gibt es nicht viel zu erzählen. Wir waren zusammen, Falk und ich. Er war ein halbes Jahr älter. Ich weiß nicht, ob es wirklich die große Liebe war oder einfach nur jugendliche Verliebtheit. Auf jeden Fall war eine Menge Sex im Spiel. Experimentierfreudiger Sex, wenn du verstehst, was ich meine. Eigentlich kannten wir uns vom Sehen her bereits seit der siebten Klasse. Bis zur Oberstufe war Falk in einer Parallelklasse. Aber selbst später in der elften teilten wir nur zwei Kurse miteinander, was mehr war, als die Worte, die wir miteinander wechselten. Und dann kam Marens Party. Ich hatte keinen Bock mehr auf Tanzen und mir eine Flasche Bier geholt. Bis auf ein Sofa gab es nirgends einen Ort, wo ich mich niederlassen konnte, also fläzte ich mich auf die freie Seite. Auf der anderen hockte Falk. Er meinte, Hey, und ich grüßte mit Hey zurück. Und, was geht ab? Ich glaube, ich hatte vorher noch nie vier zusammenhängende Worte von ihm gehört. Naja, es kam, wie es auf Partys eben so kommt. Wir kamen ins Quatschen. Nach fünf Minuten hatten wir den Rest um uns vergessen. Eine viertel Stunde später fand ich den Typ megageil. Warum war mir vorher nie aufgefallen, wie gut er eigentlich aussah? Ich habe bis heute nicht den blassesten Schimmer, wie wir dann zu ihm gekommen sind und zusammen im Bett landeten. Ich weiß nur, dass wir danach sehr oft dort waren.«
»War er dein erster?«, seit wann stellte ich so indiskrete Fragen?
»Ja, wenn man von ein wenig belanglosem Fummeln und gemeinsamem Wichsen mit 'nem Kumpel absieht. Falk war mein erster und einziger. Drei Jahre später wurde bei mir dann die Leukämie festgestellt und die ganze Scheiße mit Chemo und der Suche nach kompatiblem Spendermark ging los. Mir gings da nicht wirklich gut, zumal sich viele Freunde absetzten. Ich kann es ihnen nicht verübeln. Wer hockt schon gerne bei einem kotzenden Typen auf der onkologischen Station rum, wenn er mit seiner Freundin ins Kino gehen oder poppen kann? Falk war allerdings immer da. Selbst als ich meinte, er müsse mir nicht wirklich beim Krepieren zusehen, nachdem klar war, dass ich es nicht schaffen würde, hielt er zu mir. Er meinte nur, dass das seine Entscheidung sei, bei wem er seine Zeit verbrachte. Zwei Tage vor meinem Tod sah ich ihn das letzte Mal. Keine Ahnung, ob ihm die Ärzte etwas gesagt hatten, aber dieser Besuch war ein Abschied. Shit, mir kommen heute noch die Tränen, wenn ich daran denke. Danach ging es eigentlich recht schnell. Ich wurde immer müder, weil diese verfickten Leukozyten meinten, auch noch die letzten roten Blutkörperchen verdrängen zu müssen, und schlief dann eigentlich ganz friedlich endgültig ein.«
Ich war sprachlos, wie abgeklärt Nicolas über all das sprach. Ob er schon immer so abgebrüht war, oder hatte ihn die Krankheit dazu gebracht?
»Und dann kam Markus?«, fand ich ein Stück meiner Sprache wieder.
»Oh ja. Totenfratze Markus, der alte Blutsauger. Ich erwachte und durfte als erstes seine wundervolle Monstervisage bewundern. Erwachte ist übrigens ein netter Witz. Unser lieber Herr Abt vergaß nämlich zu erwähnen, dass ich amtlich tot war. Darüber wurde ich erst auf dem Weg in diesen Karnickelbau informiert. Nicht dass ich mich beschwert hätte. Lieber ein Nosferatu und untot als in irgendeiner Holzkiste vermodern.«
»Und Falk?«
»Hat sich bei meiner Beerdigung die Seele aus dem Leib geheult. Der Typ hat mich wirklich geliebt, und ich ihn auch. Das ist etwas, das an meiner neuen Existenzform echt beschissen ist. Natürlich musste ich Falk aufgeben. Der Mann ist schließlich nicht nekrophil und hat etwas besseres verdient. Sex mit Untoten ist wirklich nicht jedermanns Sache und wir Nosferatu fallen vom ästhetischen Standpunkt gesehen eher ins Avantgardistische. Okay, machen wir uns nichts vor, wir sehen echt kacke aus. Allerdings habe ich mich auf meine Weise bei ihm verabschiedet. Zwei Wochen nach meiner Beerdigung – weiß der Teufel, wer da in meinem Sarg liegt – besuchte ich Falk während er schlief. Ich flog zum Fenster hinein und setzte meinen Vampirruf ein, um ihn in einen schlafwandlerischen Zustand zu versetzen. Irgendwo zwischen Wachen und Schlafen gab ich ihm den mentalen Befehl, loszulassen. Er solle mich zwar nicht vergessen, aber auch nicht mehr um mich trauern, sondern leben und einen netten Jungen suchen.«
»Und?«, hakte ich nach, da mir ein feines sinnliches Grinsen bei meinem Badepartner nicht entgangen war.
»Was wohl? Ich habe ihn gebissen, von ihm getrunken und eine ordentliche Portion Stärkungsserum zurückgelassen. Mein lieber Falk dürfte die Tage danach nicht gewusst haben, wo er mit all seiner Energie hin sollte. Zwei Jahre später hat er auf die Uni tatsächlich jemanden kennengelernt, der mehr zu bieten hatte, als 'n hübsches Gesicht und 'nen geilen Schwanz. Ich geb es zu, ich habe ab und zu gespickt. Aber Vincent, sein neuer, ist wirklich nett. Die beiden passen zusammen. Meinen Segen haben sie.«
»Ähm, ich... Also...«, stammelte ich. Nicolas hatte inzwischen mit massieren aufgehört und sich mir zugewandt. Die Narben auf seiner Brust und seinem Bauch waren deutlich zu sehen, trotzdem strich ich vorsichtig mit einem Finger über eine, die quer über seine linke Brust verlief. »Sind das Operationsnarben? Ich dachte, Leukämie sei...«
Nicolas ergriff meine Hand und hielt sie fest, dabei fixierte er mich mit seinen Augen und schaute tief in die meinigen.
»Nein, nein. Die sind vom Schwertkampf.«
»Schwertkampf?«, hatte ich Schwertkampf gehört?
»Schwertkampf! Schließlich bin ich ein Nosferatu. Wir werden alle in Kampfkünsten geschult. Markus ist ein Schwertkampfmeister der höchsten Stufe.«, erläuterte mein Bademeister und führte meine Hand über die Narben, dass ich sie deutlich fühlen konnte, »Wir lernen mit scharfen Waffen. Die Narbe«, meine Finger wanderten über seine Brust, »stammt von meinem ersten Kampf. Markus meinte, die Ernsthaftigkeit des Trainings verdeutlichen zu müssen und durchbohrte den linken Lungenflügel. Scheiße hat das weh getan. Ich hätte am liebsten die halbe Höhle zusammen gebrüllt, aber mit blutgefüllten Bronchien ist das etwas schwierig. Als Nosferatu mag dir vielleicht ein neuer Lungenflügel nachwachsen, auch ein abgeschlagener Arm stellt kein Problem dar, aber das ändert rein gar nichts daran, dass es einfach höllisch weh tut, wenn Markus dir wegen eines dummen Fehlers, einem Moment der Unachtsamkeit, sein Breitschwert bis zum Heft in den Bauch rammt und deine Leber aufspießt. Jetzt weiß ich, wie sich die Fleischstückchen am Schaschlikspieß fühlen müssen. Auf der anderen Seite bist du beim nächsten Mal ziemlich motiviert, diese Erfahrung nicht zu wiederholen.«
»Kann ich mir vorstellen.«, meinte Hand ruhte immer noch auf seinem Bauch und ich hegte auch nicht die Absicht, daran etwas zu ändern, ganz im Gegenteil lechzte ich danach, den Körperkontakt noch zu intensivieren. »Ich nehme an, dass du auch nicht von Narben übersät herumlaufen willst.«
»Oh, keine Panik, die sind nach unserem Wiedergeburtsritual Geschichte, schließlich bekommen wir neue Körper.«
Die Tür
Die Luft zwischen Nicolas und mir knisterte nicht, dafür war es im Bad viel zu feucht, aber irgendetwas passierte mit uns. Nachdem mein Ritualbegleiter mir seine Geschichte erzählt hatte, glitten wir von den Unterwasserbänken und schwammen zum Wasserfall. Eine Dusche mit ihren abzählbar vielen Strahlen ist eine Sache, aber einen kräftigen, breiten, nicht enden wollenden Schwall warmen Tiefengrundwassers auf der eigenen Haut zu spüren, Muskeln, Sehnen und Knochen von ihm massieren zu lassen, ist etwas völlig anderes. Die würzige mineralgeschwängerte Luft drang in meine Lungen ein, füllte meine Bronchien, weckte meine Kräfte und belebte meinen Körper. Die Müdigkeit, die mich noch vor einer halben Stunde gähnen ließ, war so gut wie verschwunden, aber eben nur so gut wie.
»Ich glaube, dass es für heute reicht. Wenn wir noch etwas Schlaf bekommen wollen, sollten wir jetzt gehen.«
Auf dem Weg zur Umkleide erklärte mir Nicolas, was es mit diesem Gemeinschaftsduschraum auf sich hatte. Über allem stand eine jahrtausende alte, heiße Quelle. Sie hatte die Höhle erschaffen, die später zum Kloster der grauen Nebel wurde. Sie war die Lebensader dieses für die Nosferatu heiligen Ortes. In den Jahrhunderten des Ausbaus der Anlage gelang es, ihr Wasser zu bändigen und nutzbar zu machen. Alle Bäder waren ähnlich aufgebaut wie das, das wir gerade besuchten. Jedes verfügte über einen Umkleideraum, eine Dusche und ein Bassin mit Wasserfall. Die Dusche spielte dabei eine besondere Rolle. Da den Nosferatu das Quellwasser heilig war und nicht verunreinigt werden durfte, mussten sich jeder vorher in den Dusche reinigen. Es war eine Form von Respekt, die der Quelle durch dieses Ritual entgegengebracht wurde, ähnlich der Zurückhaltung, in der sich jeder im eigentlichen Bad übte.
Es gab keine expliziten Regeln, wie sich die Besucher der Bäder zu verhalten hatten, kein Sprechverbot oder dergleichen. Das einzige was erwartet wurde, war die Besonderheit des Ortes zu respektieren. Wer die Badegrotten aufsuchte, suchte nach Entspannung und Ruhe, was ein entsprechendes Verhalten vorausetzte. Mir dämmerte, dass ich noch sehr viel über die Nosferatu zu lernen hatte. Ihre Gesellschaft zeigte sich von Sekunde zu Sekunde komplexer und elementar anders als das der Vampire. Und ich stand genau dazwischen. Mir war Christianos sehnsüchtiger Blick nicht entgangen, als ihm Tamir anbot, uns zu begleiten. Plötzlich wurde mir klar, dass ich privilegiert war. Wie vielen Vampiren wird sich wohl jemals die Möglichkeit eröffnen, ein Bad wie das der grauen Nebel besuchen zu dürfen?
Mit diesen Überlegungen im Kopf erreichten wir Nicolas Unterkunft, wofür ich wirklich dankbar war. Das Baden hatte meine Müdigkeit kurzzeitig vertrieben, wofür sie jetzt doppelt so stark zuschlug. Ich konnte kaum noch die Augen offen halten und sah nur schemenhaft, wie uns Nicolas das Bett bereitete. Um nicht im Stehen einzuschlafen, entledigte ich mich meiner Kleidung. Sie war frisch. Im Umkleideraum lagen immer frische Kutten und Unterkleidung bereit, da von den Besuchern des Bades erwartet wurde, ihre alten Kleidungsstücke zurückzulassen. Schließlich bestand der Sinn eines Bades darin, sich zu reinigen, und da die grauen Nebel kein persönliches Eigentum im eigentlichen Sinn kannten, bestand keine Notwendigkeit, die benutzten Klamotten mitzunehmen. Stattdessen wurden sie eingesammelt und in die Großwaschküche gebracht. Ich vermutete, dass dort meine Sachen aussortiert wurden.
Nackt und müde schlüpfte ich in Nicolas kuscheliges, weiches Bett, während dieser die Lichter seiner Zelle bis auf eins löschte. Es war ein spezielles Nachtlicht, eine Kerze in einem Leuchter, bei der der direkte Blick auf die Flamme verdeckt war und das Licht nur an den Seiten austrat, die zudem aus dunkelblauem Glas bestanden. So verbreitete sich in der Zelle ein schwacher Lichtschimmer, der einerseits nicht beim Schlafen störte, aber gleichzeitig eine Orientierung ermöglichte. Schließlich befanden wir uns tief unter der Erde. Ohne das Licht einer Lampe oder Kerze war es hier so dunkel wie in einem Walfischbauch.
Ich kann mich nur vage darin erinnern, dass Nicolas zu mir ins Bett kroch. Vielleicht schlief ich schon, vielleicht war ich kurz davor. Ich weiß nur, dass ich sehr schnell in einen tiefen, erholsamen Schlaf fiel. Ich weiß noch, dass ich träumte, aber bis auf einzelne Gedankenfetzen ist mir nichts in Erinnerung geblieben. Da waren Bilder von Constantin, Laurentius, Simon und Christiano. Aber auch Mario und Nicolas schienen eine Rolle zu spielen. Sie unterhielten sich miteinander. Ein Nosferatu und ein Mensch? Tasmanir Musferatu stand in einem Kreis aus Tischen hinter denen aristokatisch wirkende Vampire saßen. War das der Hohe Rat? Und warum saß ich hinter einem der Tische, verhüllt unter einer Kapuze, die mein Gesicht verdeckte? Plötzlich brach eine hitzige Diskussion aus. Jemand beschuldigte Constantin eines Verbrechens. Ein alberner Traum, und doch... Tamir ergreift das Wort. Er hält eine Krone in der Hand und proklamierte...
»Guten Abend, mein Freund. Hast du gut geschlafen?«
In fremden Betten zu erwachen, war jedes Mal etwas irritierend. Ich brauche immer ein paar Augenblicke, um zu begreifen, wo ich mich befand und wer der Typ gegenüber im Bett eigentlich war. Dieser hörte konkret auf den Namen Nicolas und lächelte mich freundlich an.
»Wie ein Murmeltier. Das Bad gestern... Ich habe geschlafen wie ein Stein und... Oh, ich habe doch hoffentlich nicht geschnarcht?«
»Nein, hast du nicht. Du hast geträumt und etwas vor dich hin gemurmelt. Bis auf den Namen Constantin habe ich aber nichts verstanden. Du liebst ihn wirklich, das kann man deutlich sehen. Oh, das wird so cool. Ich möchte zu gerne die entsetzten Gesichter der anderen Stammväter der so überaus noblen Häuser sehen, wenn ihr zwei euch zueinander bekennt.«
»Du hast einen ziemlich morbiden Humor.«
»Hallo, schon vergessen? Ich bin ein Nosferatu. Wir sind der Inbegriff der Morbidität.«, erwiderte Nicolas mit einem zufriedenen Grinsen auf den Lippen, bei dem sich plötzlich seine Saugzähne zeigten und gleichzeitig sein Magen grummelte. Beides zusammen ließ sich als untrügliches Zeichen für einen hungrigen Nosferatu werten.
»Oops, entschuldige bitte!«
»Nicht doch.«, jetzt musste ich grinsen, mein Bettgenosse sah fast niedlich aus, wie er verlegen guckte. Der Vollständigkeit halber sollte erwähnt werden, dass Nicolas sich neben mir ebenfalls im Bett befand. Das Schlafmöbel mochte zwar nicht das größte sein, bot aber genügend Platz, um bequem nebeneinander schlafen zu können. Damit dürfte auch klar geworden sein, dass wir nicht... Nun ja... Wobei ich zugeben muss, gerne gekuschelt zu haben. Ja, Nicolas Erscheinung war gewöhnungsbedürftig, aber auch nicht wirklich hässlich. Die Nosferatu waren eben eine Klasse für sich. Aber es kam nicht zum kuscheln. Nicolas war züchtig auf seiner Bettseite geblieben und ich sowieso unmittelbar nach Lakenkontakt eingeschlafen.
»Und, was machen wir jetzt?«, wollte ich wissen.
»Frühstücken und dann weitersehen.«, erwiderte Nicolas vage und kletterte aus dem Bett, um sich in seiner ganzen Pracht zu präsentieren. Kokettierte er mit seiner Nacktheit?
Die Nosferatu kultivierten definitiv einen Reinigungskult. Vor dem Frühstück stand erneut ein Besuch des Gemeinschaftswaschraums an. Die Grotte blieb allerdings dieses Mal außen vor. Wir beschränkten uns auf die Duschen. In eine für mich ungewohnte Kutte gehüllt, begaben wir uns in den Speisesaal, der zu dieser Zeit gut frequentiert war. Obwohl im Saal schätzungsweise hundert Kuttenträger der Nahrungsaufnahme nachgingen, herrschte eine kontemplative Ruhe, die ansteckte. Es war nicht still. Die Mönche schwiegen nicht und sprachen miteinander, aber eben nicht lautstark, sondern mit gesenkter Stimme. Auch wir holten uns unsere Schalen mit frisch gekräutertem Blut, suchten uns einen freien Platz auf den Bänken und tranken unser flüssiges Frühstück.
»Dieser Ort ist beeindruckend.«, gestand ich offen, »Sind dies alles deine Mitbrüder der grauen Nebel?«
»Nein, nein. Die meisten sind Gäste. Du könntest sie auch Pilger nennen, oder Suchende. Viele Nosferatu sind Suchende. So wie du.«
»Wie ich?«, wie kam Nicolas darauf, dass ich etwas suchte? Oder...?
»Oh ja, so wie du. Du suchst nach deiner Bestimmung. Nach deiner Aufgabe im Leben als Vampir.«
»Hat Christiano mit dir gesprochen?«, fragte ich säuerlich. Ich hätte nicht gedacht, dass mein Freund eine Plaudertasche war.
»Dann stimmt es also?«, fragte Nicolas mit einem selbstzufriedenen Nicken, »Nein, Christiano hat mir nichts erzählt. Ich kenne ihn gar nicht. Du hast es erzählt. Deine ganze Körpersprache, unsere Unterhaltungen, alles an dir stellt immer wieder dieselbe Frage: Wer bin ich? Also, Florian Margaux, wer bist du?«
Die Frage kam so unerwartet wie ein Gewitter aus heiterem Himmel und schlug dementsprechend tief ein. Ich saß da auf einer Holzbank im Speisesaal des Klosters der grauen Nebel, meine Unterkiefer war heruntergeklappt und meine Zähne ausgefahren. Blut klebte an meinen Lippen und bedeckte meine Zunge, an dem ich mich fast verschluckt hätte.
»Ich weiß es nicht.«, meine Stimme war nur ein Flüstern.
»Gut, ein Anfang.«, Nicolas taxierte mich einen Moment, dann nickte er so, als ob er eine Entscheidung getroffen hatte, »Lass uns austrinken und dann gehen. Ich weiß jetzt, wie ich dir helfen kann.«
Das Kloster war das reinste Labyrinth. Ohne die vielen Farben und unterschiedlichen Muster der allgegenwärtigen Wandteppiche und Banner, wären selbst Ortskundige die meiste Zeit mit der Suche nach dem richtigen Ort beschäftigt. An meinem zweiten Tag, das heißt in meiner ersten Nacht, zeigte sich mein Begleitmönch weniger zugeknöpft was die Ortscodes betraf und erklärte mir tatsächlich die Bedeutung der Muster und Farben. Beides hatte, wie ich später erfuhr, etwas mit der Mythologie der Nosferatu zu tun. So korrespondierten Tätigkeiten mit einem Muster. So repräsentierten drei Wellenlinien Duschräume, während vier ineinander verwobene Rechtecke für Unterkünfte standen. Nicolas meinte noch sichtlich stolz, dass die Muster den gleichen Bildsymbolen entsprangen, aus der sich auch die Keilschrift entwickelt hat. Die Kultur der Nosferatu war wirklich alt.
Nach unserem Frühstück führte uns Nicolas immer tiefer in den Kaninchenbau. Hier unten wirkte die Einrichtung deutlicher älter, dunkler, sogar antik. Die Farben der Stoffbanner waren aber nicht nur wegen ihres Alters dunkler. Selbst von der Patina unzähliger Jahrhunderte befreit, hätten wir zwar kräftige, aber trotzdem sehr dunkle Farben gesehen. So dominierte im Gang, den wir gerade durchschritten, ein Bordeauxrot, das im Schatten schwarz, aber im Schein des Kerzenlichts zu glühen schien. Doch nicht nur die Farben änderten sich, auch die Muster waren hier anders, weitaus komplexer und von einer leichten Patina überzogen. Ich war so fasziniert, dass mir fast entgangen wäre, dass sich die Gänge selbst verändert hatten. In den oberen Ebenen waren die Wände verputzt. Hier unten bestanden sie aus rotem Backstein, den ebenfalls eine ordentliche Patina zierte. Dieser Teil des Klosters verströmte eine ganz andere Aura, als die darüber liegenden Stockwerke. Es lag nahe anzunehmen, dass die oberen Ebenen mehr den profanen Zwecken dienten und Speisesäle, Schlafräume, Werkstätten oder auch Gemeinschaftsduschen beinhalteten. Hier unten ging es um etwas anderes. Hatte ich den dickflorigen Teppich erwähnt, der die Geräusche unserer Schritte ämpften?
»Du hast recht.«
Nicolas sprach diese Worte nicht einfach aus, er zelebrierte sie. Jedes Wort, jede Silbe war bewusst intoniert. Dass er mich dabei auch noch direkt ansah und ein seltsamer Glanz in seinen Augen lag, ließ mich ein wenig frösteln. Was passierte hier? Wohin brachte er mich?
»Hier, in den unteren und untersten Ebenen unseres Klosters, wirst du deine Antworten finden.«
Unverständlicher konnte eine Antwort wohl kaum ausfallen. Aber Nicolas machte keine Anstalten, meine Verwirrung zu lichten. Stattdessen führte er mich weiter und noch tiefer bis zum Herz des Klosters. Am Ende hatten wir einen Bereich erreicht, dessen Stoffbahnen nur noch aus schwarzen und weißen Flächen bestanden. Alle Muster waren verschwunden. Es gab nur einen Gang, einen Tunnel, in dem sich eine weiße mit einer schwarzen Stoffbahn abwechselte und vor einer schweren, knorrigen Holztür endete.
»Wir sind da.«, verkündete Nicolas, machte aber keine Anstalten, die Tür zu öffnen, »Du musst jetzt eintreten.«
»Was ist hinter der Tür?«
»Nur das, was du mitbringst.«
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