Stories
Stories, Gedichte und mehr
An jenem Tag...
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.
Informationen
- Story: An jenem Tag...
- Autor: Oscar
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort der Redaktion
- Vorwort
- Anfänger
- Begegnung
- Leben
- Der Andere
- Wiedersehen
- Versuche
- Wie du mir
- Zurück zur Normalität
- Ein Versuch
- Rechtfertigungen
- Annäherung
- Trennung
- Reise in die Vergangenheit
- Déjà - vu
- Kleinstadt
- Schatten
Vorwort der Redaktion
Liebe Leser,
die folgende Geschichte befasst sich unter anderem mit der Thematik Suizid. Dies ist ein sensibles Thema, das Nickstories.de nicht unkommentiert lassen kann und will. Deshalb haben wir uns entschieden diese Geschichten generell mit einem Vorwort zu versehen.
Für uns ist dieses Thema in Stories kein Tabu, aber wir wollen deutlich machen, dass Selbstmord mit Sicherheit kein Weg ist, um ein Problem zu lösen. Jeder, der sich in einer scheinbar aussichtslosen Lage befindet, sollte wissen, dass er Hilfe finden kann.
Wenn du jemanden kennst, der über diesen Schritt nachdenkt oder ihn geäußert hat, solltest du das nicht auf die leichte Schulter nehmen und versuchen mit dieser Person zu reden. Erst dann wird deutlich, wie ernst die Lage wirklich ist.
Wenn du über Selbstmord nachdenkst, bitten wir dich, Kontakt mit einer Hilfseinrichtung aufzunehmen, bevor du etwas tust, das für deine Freunde und deine Familie ein unwiederbringlicher Verlust sein wird.
Informationen und Notrufnummern findest du z.B. unter: www.telefonseelsorge.de
Vorwort
"Moralisch ist alles, was uns selbst glücklich macht,
ohne andere unglücklich zu machen.
Doch leider trifft man immer wieder auf Menschen,
die nur dann glücklich sind,
wenn sie andere unglücklich machen können."
Anfänger
Er bewegte sich unsicher auf den hellen Fluren des Neuruppiner Klinikums. Im Rahmen des Studiums hatte er hier einen Teil seines Praktikums zu absolvieren. Noch wenige Minuten, dann ging es in die Visite. Er mochte den Arzt, der ihn betreute, nicht. Er stichelte immer, fragte ihn die schwersten Sachen. Nicht, dass er die Antworten nicht wusste, aber es machte ihn fertig. Er hatte Angst zu versagen. Schließlich war er die große Hoffnung seiner Eltern. Gerade er.
„So, Herr Franklin, beginnen wir doch mal mit Ihnen. Was sagen Sie zu diesem Patienten?“
Luke schaute zuerst in die Krankenakte, bevor er den Patienten begrüßte. Anlass genug für den Oberarzt, darauf sofort anzuspringen und weiter zu sticheln. „Vielleicht sollten Sie erst einmal den Patienten begrüßen, Herr Franklin“, tönte er siegessicher. Luke rollte kurz mit den Augen, merkte, wie die hellen Wände ihn fast erdrückten, versuchte, die sich anbahnende schlechte Laune zu unterdrücken. Er schaute zum Patienten, begrüßte ihn, sah, dass der leicht grinste und erwiderte, „Kein Problem“, als sich Luke eingehend entschuldigte. „Na, was sagen Sie denn nun?“, kam jetzt wieder aus dem Hintergrund.
„Gebrochenes Bein.“
„Geht das vielleicht auch etwas medizinischer?“, kam im schroffen Ton vom Oberhaupt. Luke schluckte den Ärger herunter, suchte nach den passenden Worten und hielt einen kurzen Vortrag zur Verletzung und der weiteren Vorgehensweise und Behandlung. Die anderen lauschten, auch der Häuptling, der dummerweise keinen Fehler in der Verteidigung fand. Als sie das Zimmer verließen, warf Luke dem Patienten nochmal einen dankbaren Blick zu. Der junge Mann schaute ebenfalls noch zu der Ärztegruppe und Luke direkt in die Augen, er lächelte. Der junge Mediziner wich dem Blick sofort wieder aus und schloss die Tür.
Begegnung
„Na, wieder wach?“, fragte eine wärmende Stimme, als Alec versuchte, die Augen zu öffnen. Verschwommen nahm er die sich über ihn beugende Person wahr. Wusste nicht, wo er war, wusste nicht, was passiert war. Er stammelte, versuchte zu fragen, was los sei. Die Stimme beruhigte ihn, alles verschwamm und er schlief wieder ein.
Erst Stunden später wachte er erneut auf und konnte dieses Mal seine Augen richtig öffnen, wieder klar sehen. Er fand sich im Bett liegend in einer fremden Wohnung wieder. Hohe Räume mit schneeweißen Wänden. Hell und klar. Beim Versuch aufzustehen, spürte er einen stechenden Schmerz in der Bauchgegend, wimmerte und legte sich sofort wieder hin. Das Wimmern bemerkte auch der Wohnungseigentümer, welcher sich in das kahle Zimmer begab. Wieder die wärmende Stimme: „Hey! Bleib liegen.“
„Wer zum Teufel bist du und wo bin ich, wie komme ich hier her?“
Alecs Kopf hämmerte, als er ihm die Worte entgegenbrachte. Er drehte ihn zur Seite, um dem Schmerz zu entgehen, vergrub seinen Kopf ins Kissen.
„Das sollte ich eher dich fragen. Also?“
Die Stimme kam näher. Jetzt sah Alec auch das Gesicht zur Stimme, ein mittelgroßer, junger Mann, braune Haare, haselnussbraune Augen, schlank und im Jogginganzug.
„Alec“, das zweite Mal sehr leise, kaum hörbar, „Alec“, jetzt die Person musternd.
„Alec, und wie weiter? Du musst Schmerzen haben. Das Schmerzmittel lässt nach.“
Die Gestalt blieb mit ausreichend Abstand stehen, reichte ihm zwei Tabletten: „Nimm die und es wird besser.“
„Wer bist du?“, wisperte Alec schlaftrunken.
„Luke.“
Er hielt ihm weiterhin die Tabletten und ein Glas Wasser entgegen.
„Kennen wir uns? Ich kann mich an nichts erinnern. Was ist passiert?“, fragte er verwundert.
„Wenn du mir das nicht sagen kannst, kann das keiner. Los, nimm schon.“
„Ich nehme keine Drogen“, beteuerte er ablehnend.
„Dann hättest du die letzte Nacht auch weglassen sollen. Das hier sind nur Schmerztabletten, es wird dir guttun.“
Alec setzte sich unter Schmerzen auf, schaute Luke in die Augen und nahm ihm schließlich die vermeintlichen Schmerztabletten ab. Er hielt sie in der Hand, Luke ihm das Glas entgegen.
„Was mache ich hier?“
„Ich habe dich letzte Nacht völlig zugedröhnt eine Straße weiter aufgegriffen. Du konntest mir nicht sagen, wer du bist, wo du warst und was los war, wer dich so zugerichtet hat. Kannst du es jetzt?“ Luke schaute ihn skeptisch an, er wusste, wie die Antwort lauten würde.
„Nein, ich weiß nichts“, seufzend und schlaftrunken antwortete der Andere.
„Welcher Tag ist heute?“
Murrend und einen Blick auf die nahe Uhr werfend, schwieg Alec, die Tabletten noch immer in der Hand. Luke blieb steif stehen.
„Welchen Tag haben wir?“
„Freitag und ich hätte zur Vorlesung gemusst. Was soll das? Ich muss los.“
Ihm war die Situation sichtlich peinlich. Was machte er hier bei einem fremden Mann im Bett, verletzt und völlig neben der Spur stehend. Was hatte er mit ihm angestellt?
„Du solltest heute im Bett bleiben. Die haben dir ganz schön auf den Kopf gehauen und so solltest du dich kaum draußen blicken lassen.“
Erst jetzt bemerkte Alec die Wunde an seinem Kopf. Tastete sein Gesicht ab und bemerkte die Schwellungen.
„Verdammt“, wisperte er.
„Du weißt wirklich nicht, was los war?“
„Ich hab keine Ahnung. Mann, ist das eine scheiß Situation. Warum hast du mich mitgenommen?“
Luke blieb die Antwort schuldig und starrte auf die Tabletten in Alecs Hand. Noch immer stand er wie angewurzelt einen Schritt vom Bett entfernt.
„Du solltest die nehmen und dann muss ich leider los. Entweder bleibst du hier, oder gehst.“
Er nahm die Tabletten, nahm das Wasserglas von seinem Gegenüber entgegen.
„Ich gehe nach Hause, für die Vorlesung ist es eh zu spät.“
Luke gab ihm wortlos seine Sachen und eines seiner T- Shirts.
„Zieh das an, deins ist zu schmutzig. Wo musst du hin, ich begleite dich“, bot er höflich an.
Alec beschrieb kurz den Weg und nahm nickend seine Sachen entgegen. Oh Gott, ausgezogen hatte er ihn auch noch bis auf die Unterwäsche, Alec hätte im Erdboden versinken wollen.
Luke nahm einen Umweg in Kauf und beschloss, ihn zu begleiten. Im Flur der Wohnung erschrak der Kranke, als er sein Spiegelbild sah.
„Morgen bist du grün und blau“, scherzte Luke sarkastisch. „Wer auch immer das war, meinte es nicht gut mit dir.“
Alec schaute Luke nur etwas verwirrt an, hatte kaum Chancen, etwas zu sagen. Ihm fiel auch so schnell gar nichts ein und er konnte ihn so schlecht einschätzen.
Kurz darauf begleitete Luke Alec bis vor die barocke Haustür auf den Hinterhof. Sie hatten zwischendurch kein Wort gesprochen. Alec fühlte sich beschämt, Luke in dieser Situation, welche er selbst nicht deuten konnte, begegnet zu sein. Luke leicht schüchtern, wusste nichts zu sagen. Er hätte so viele Fragen stellen wollen, bemerkte aber die Abwehrhaltung seines Gegenübers, der fast im Boden versank. Sie verabschiedeten sich höflich und waren im Begriff auseinanderzugehen.
Alec drehte sich noch kurz um, ein Funken Mut war da, was hatte er auch noch zu verlieren? Noch peinlicher konnte es ja kaum werden.
„Sehen wir uns wieder?“, wagte er zu fragen. Luke stoppte in seiner Bewegung.
„Klar! Dienstagabend? Gegen acht im Lykia, Sonntagsstraße?“
„Ja. Gern!“ Alec grinste in sich hinein und öffnete die Tür, während Luke verschwand. So kurios die Situation auch war, entwickelte sich daraus doch noch etwas.
Der Abend der Verabredung nahte. Luke hatte den ganzen Tag an nichts anderes denken können. Sein Arbeitskollege Henk fragte ihn während der Mittagspause schon, was ihn denn so beschäftige. Luke wand sich mit einer kleinen Lüge geschickt aus dieser Situation heraus und fieberte dem Feierabend entgegen. Glücklicherweise war es ein ruhiger Tag gewesen, so war er auch am Abend ausgeglichener und nicht so müde. Er hatte fast nur Papierkram erledigt.
Er war wieder viel zu pünktlich und stand wartend vor dem Lokal. Würde seine Verabredung überhaupt erscheinen? Oder hatte er ihn nur zum Narren gehalten, wie der letzte Typ? Tausend Gedanken schwirrten ihm im Kopf umher, bevor Alec schließlich aus dem Dunkel der Brücke am Bahnhof Ostkreuz auftauchte und sich auf das Lykia zubewegte. Luke fing ihn gleich draußen ab.
Die beiden unterhielten sich lange, bevor sie sich auf den Weg in eine andere kleine Bar machten. Am Ende des Abends, der weit in den Morgen hineinreichte, verabschiedeten sie sich schließlich brav vor Lukes Haustür. Verabredeten sich für den nächsten Samstag und gingen auseinander.
Dass diese nächste Verabredung nie stattfinden würde, hätten beide zu diesem Zeitpunkt nicht gedacht. Luke wartete an diesem Abend vergebens. Alec wollte ihn an seiner Wohnung abholen. Nach einer halben Stunde des Wartens versuchte er, Alec auf dem Handy zu erreichen. Nach zahllosen Versuchen beließ er es dabei und hakte die Begegnungen mit Alec ab. Wieder ein Kerl, der ihn nur verarscht hatte. Warum hatte er sich dann beim letzten Mal so ins Zeug gelegt bei dem Date?
Entsprechend launisch kam er auch am nächsten Morgen daher und ließ seine Arbeitskollegin Babette, die schon so lange versuchte, an ihn heranzukommen, sauber abblitzen. Leicht gekränkt ließ sie ihn dann für die nächsten Tage in Ruhe. Luke war unnahbar und kam seinen Kollegen gegenüber meistens sehr eingebildet rüber. Arrogant. Ein einfacher Schutzmechanismus, den er um sich herum aufbaute. Die meisten wollte er sich gern fernhalten. Vor allem viele der zahlreichen Damen, die ihn umschwärmten. Er war attraktiv, keine Frage, aber hatte null Interesse an den Frauen.
Leben
Völlig müde legte er sich nach seiner Schicht ins Bett und schlief, bis ihn sein Wecker aus dem festen Schlaf riss, bereit zur nächsten Schicht und sich Abhandlungen über Kopfverletzungen verinnerlichend. Sein Vater hatte gewollt, dass er Medizin studiert. Luke musste sich beugen, tat, was Vater wollte, und versuchte, das Beste daraus zu machen. Sein Vater, selbst Chirurg, die Mutter Allgemeinmedizinerin. Da hatte er keine andere Wahl. Er zog von Stuttgart nach Berlin, um dort an der Charité zu studieren. Weit weg von seinen Eltern, Hauptsache das Geld kommt pünktlich. Das tat es. Luke brauchte sich darüber nie Sorgen machen, er brauchte auch nicht nebenbei arbeiten zu gehen, um sein Studium zu finanzieren. Das wäre auch kaum möglich gewesen. Er kniete sich in sein Studium, ging selten mal abends weg. Wenn er es tat, nie wirklich lang, nur mal die Abende mit den Kollegen und Mitstudenten in irgendwelchen Bars. Andere Freunde blieben weitestgehend auf der Strecke.
Alec dagegen führte ein völlig anderes Leben. Er studierte eher gleichgültig Betriebswirtschaftslehre und Design. Seine Eltern meinten, diese brotlose Kunst nicht unterstützen zu müssen, da ihr Sohn lieber etwas Sinnvolles studieren sollte. Auch war es ihnen aufgrund der wirtschaftlichen Situation nicht möglich, ihrem Sohn zu helfen.
So war er auf staatliche Hilfen angewiesen und finanzierte den Rest, indem er als Callboy arbeitete. Seine Abende verbrachte er meistens in Clubs oder Bars. Das pulsierende Leben mitten in Berlin. Er war froh, als er vom Land in die Stadt konnte. Das lief nun seit wenigen Jahren problemlos so. Aber was in der Nacht, als ihn der Fremde aufsammelte, geschah, erschloss sich auch ihm nicht. Auch hatte er ihn irgendwo schon mal gesehen, konnte sich aber auch nicht erklären, wo.
Er ließ sein Studium etwas schleifen und ruhte sich einige Tage aus, da die Schmerzen nur langsam nachließen. Luke hatte ihm geraten, seinen Hausarzt aufzusuchen. Alec hasste Ärzte und nahm seinen Rat nicht an. Auch wusste er kaum, was er erzählen sollte, ohne dass die Sache ihm zu peinlich gewesen wäre. Sein Arzt würde ihn nur ausfragen und überhaupt, diese Götter in Weiß können ihm gestohlen bleiben. Verdienen eine Menge Kohle, haben keine Ahnung und machen ständig Urlaub. Alec hatte da so seine eigene Meinung und sein eigenes Berufsbild vor Augen.
Alec war nach kurzer Zeit wieder der alte, machte aber weiter wie zuvor. Er trank Alkohol nur kontrolliert, nahm keine Drogen. In dieser Hinsicht war er ein Lamm. Seinen Körper zu verkaufen machte ihm allerdings rein gar nichts aus. So auch an jenem Abend, als er als Callboy zu einer Wohnung in der letzten Ecke Berlin Mahrzahns gerufen wurde. Er suchte sich seine Kunden normalerweise aus, behielt sich vor, auch wieder zu gehen.
Er hatte einen kleinen Kundenstamm, den er regelmäßig bediente. Dies war ein neuer Herr, der sich da meldete.
Die Mengen von leeren Wohnblocks wirkten erdrückend. Er fand die Adresse auf Anhieb und wurde hereingebeten.
Empfangen wurde er von mehreren Männern. Als er sie erblickte, weigerte er sich und war im Begriff zu gehen. Einer sei in Ordnung gewesen, wie telefonisch besprochen. Ehe er sich versah, wurde die Tür verriegelt. Nun steckte er in der Klemme, stierte auf die abgeschlossene Tür und die Männer, die sich ihm näherten. Sie waren alle reichlich angetrunken und machten sich über Alec her, ohne dass dieser auch nur einen Hauch von einer Chance gehabt hätte. Er versuchte, sich zu wehren, schaffte es aber nicht und musste den Akt über sich ergehen lassen. Er war in Panik. Das erste Mal fühlte er sich in den Jahren, in welchen er das machte, schmutzig und benutzt. Sein Herz raste, die Angst verstärkte sich. Völliger Kontrollverlust. Einer der Männer fing an, ihn zu schlagen und schlug ihn letztendlich bewusstlos.
Mit stechenden Kopfschmerzen fand sich Alec später im Dunkeln angekettet und nackt in einem kalten Raum wieder. Sein Mund war verbunden, er konnte nicht schreien, so sehr er es versuchte. Seine Hände waren auf seinen Rücken gefesselt, seine Beine zusammengebunden. Es war stockduster, Alec allein und hilflos, verloren. Wieder machte sich Panik breit. Er versuchte, sich vergebens irgendwie zu befreien, und musste sich dann seinem Schicksal hingeben. Die Kräfte ließen nach und der Körper schmerzte unaufhörlich. Er lag auf der Seite, unfähig sich zu befreien.
Luke versuchte eine Beziehung zu Peter aufzubauen, ein Mitstudent, welcher sich nichts daraus machte, schwul zu sein, bzw. es nie zu verheimlichen bedacht war. Luke versuchte, diese Tatsache eher diskret zu halten und rasselte schon deshalb oft mit seinem Freund zusammen. Dazu kam seine Versetzung ins Unfallkrankenhaus Marzahn. So sahen sich beide zu selten, als das die Beziehung sich hätte festigen können. So lebten sie über ein Jahr nebenher, bevor es zur endgültigen Trennung kam. Peter legte in aller Öffentlichkeit eine Szene vom Feinsten hin. Luke versank im Erdboden, das ganze Restaurant hatte es mitbekommen. Er hoffte nur, dass in dieser Zeit niemand dort war, der ihn kannte. Es sollte ein schöner Abend werden, um die Beziehung zu retten. Beide hatten frei, beide sahen sich endlich wieder, beide waren ausgeschlafen. In den vorangegangenen Wochen sahen sich die beiden selten, wenn sie sich mal sahen, gab es hemmungslosen Sex, der keinen von beiden befriedigte, aber als notwendiges Übel hingenommen wurde. Sie trennten sich. Luke hämmerten ständig die Worte im Kopf umher, mit welchen Peter ihn abserviert hatte. Was für ein eingebildeter, unsozialer Mistkerl er doch sei. Dass er gefühlskalt sei, arrogant und alle anderen nur von oben herab behandeln würde. Luke fiel es schwer, sich anderen gegenüber zu öffnen. Bei Peter hatte er es versucht und wurde bitter enttäuscht.
Wieder näherten sich die Feiertage, Luke fuhr über Weihnachten nach Hause zu seiner Familie, sein Bruder und seine Eltern freuten sich, erkundigten sich nach seinem Job und hielten große Stücke auf ihren Sohn. Einziges Manko: Er brachte nie eine Freundin mit nach Hause. Mutter meinte, er hätte ja Zeit, sein Bruder war schon lange verheiratet und konnte somit den klugen Ratschlägen zur Partnersuche entgehen.
Zu Silvester kehrte Luke zurück nach Berlin, er hatte Dienst. Ausgerechnet in dieser Nacht geschah es, dass sich aufgrund des Glatteises mehrere LKW überschlugen und so eine Massenkarambolage verursachten. Er versank in Arbeit. Schlaftrunken fuhr er nach seiner Schicht nach etlichen Notbehandlungen nach Hause und fiel in sein Bett. In dieser Nacht träumte er von Alec. Er schlief unruhig und wachte müde am nächsten Morgen auf. Sich nicht mehr erinnernd, was er träumte, nur dass er von ihm geträumt hatte. Er stand vor dem Spiegel, schaute sich selbst in den Augen und schüttelte ungläubig den Kopf. Eigentlich hatte er die Geschichte mit Alec schon unter 'erledigt' abgelegt. Versetzen ließ er sich schließlich von niemanden, dazu war er zu stolz. Er hatte es auch schlicht und einfach nicht nötig, auf irgendwelche dahergelaufenen Kerle zu warten. Zu lange her waren die Begegnungen sowieso schon.
Der Andere
In fast jeder Nacht erfuhr Alec die bedrückenden Schmerzen. Diverse Männer machten sich über ihn her, quälten ihn, ließen ihre Wut an ihm aus, peitschten ihn aus, stopften ihn mit Drogen voll und vergewaltigten ihn Nacht für Nacht. Manchmal war er auch tagelang allein, hungerte. Er kam aus diesem Raum, in dem er sich nach der Nacht in Marzahn befand, nicht mehr raus. Ein Entkommen schien unmöglich. Seine Fesseln wurden nur selten gelöst, die Tür verschlossen. Den Wechsel von Tag und Nacht erkannte er nur aufgrund eines schmalen Schlitzes unter dem Dach. Dieser modrige Geruch in diesem Raum, diese Stille, die Dunkelheit. Alec war am Ende. Er tastete sich oft an den kalten, kahlen Wänden entlang auf der Suche nach einem Ausweg.
Er schrie sich die Seele aus dem Leib, wenn er seine Mundfesseln los war, aber niemand schien ihn zu hören. Seine Kraft lies es bald nicht mehr zu, sich weiter zu wehren. Als er sich weigerte zu essen, wurde er gezwungen. Schließlich brauchte man das Spielzeug noch. Der selbsternannte Eigentümer verdiente gut daran, ihn für einige Stunden an andere zu vermieten. Die Erniedrigungen ließ er irgendwann wortlos geschehen. Die Lebenskraft und der Wille waren verschwunden. Er funktionierte so, wie man es sich wünschte.
Aufgrund der Kälte in diesem Raum zog er sich zu seinen übrigen Verletzungen eine schwere Lungenentzündung zu. Der nächste Winter wurde lang und kalt. Einmal holten seine Peiniger ihn in einen beheizten Raum und legten ihn vor ein Feuer. Hatten sie plötzlich Mitleid? Das hielt allerdings nicht lange an. Sobald er so weit aufgewärmt war, das er wieder klar denken und nicht nur frieren konnte, sperrte man ihn wieder heraus in die Kälte. Eine Decke hatte man ihm großzügigerweise noch gegeben. Es gab Momente, in denen er Angst hatte zu erfrieren, andere, in denen er sich wünschte, endlich zu erfrieren oder auch nur irgendwie zu sterben. Oft genug hatte er sich aufgegeben, schaffte es aber nicht, sich in den Tod zu retten. Unzählige Versuche wurden verhindert.
Ein 'Kunde' meinte es schließlich zu 'gut' mit Alec und schleuderte seinen Kopf dermaßen gegen die Wand, dass er lange Zeit bewusstlos da lag, sein Atem schien angehalten. Voller Panik verließ der andere den Raum, ohne die Tür hinter sich zu schließen, ohne ihn wieder zu fesseln.
Er kam kurze Zeit später zu sich, bemerkte benebelt die offene Tür, zog sich so gut es ging seine Kleidung über und wankte in die Nacht hinaus. Nicht registrierend, wo er hinging, stolperte er über Wiesen und Äcker. Er konnte kaum laufen, die Schmerzen waren nicht auszuhalten. Er rappelte sich immer wieder hoch, wenn er zu Boden gefallen war. Keuchend erreichte er schließlich eine Straße, bemerkte den sich sehr langsam nahenden LKW zu spät und wurde über den Asphalt geschleudert. Fast wurde er durch die Wucht vor ein anderes Auto gestoßen. Dieses wich in letzter Sekunde aus und landete im Straßengraben. Nun gingen die Lichter endgültig aus. Alec lag auf der spiegelglatten Fahrbahn. Die quietschenden Reifen waren verstummt. Die Fahrzeuge waren über die Straße gerutscht, als hätten sie keine Bremsen. Stille am Unfallort. Bedrückende Stille.
Der schockierte LKW-Fahrer kam nach einigen Minuten wieder zu sich, er war in seiner Fahrerkabine eingeklemmt. Der LKW war durch die plötzliche Bremsung ebenfalls von der Straße abgekommen und kam auf dem angrenzenden Acker zum Stehen. Glück für Alec, sonst wäre er über ihn hinweggerollt.
Der Fahrer schaffte es noch geistesgegenwärtig, den Rettungsdienst zu rufen. Sein Notruf war nicht eindeutig, wurde aber verstanden. Die Leitstelle zog sich aus dem Kauderwelsch die wichtigsten Informationen heraus und schickte alles Notwendige auf den Weg. Die Polizei traf zuerst ein und sicherte die Unfallstelle ab. Alec lag leblos einige Meter vom LKW entfernt. Sie nahmen ihn erst nicht wahr, sahen ihn gar nicht. Erst die Aussagen des Fahrers verleiteten sie dazu, noch nach einem Verletzten zu suchen. Irgendetwas sei ihm davor gerannt, er wusste nicht was. Dachte an Wild, oder andere Tiere. So schnell hatte er es nicht erkennen können.
Die kalte Winterluft war unerbittlich und nun begann es noch zu schneien. Einer der Polizisten fand Alec schnell am Straßenrand, als auch gleich die Rettungskräfte nahten und sich um die Verletzten kümmerten.
Wiedersehen
Luke, welcher noch immer müde und dadurch sehr mürrisch war, schlich durchs Krankenhaus. Dachte dabei über die letzte vergangene Liebschaft nach, bevor die Rettungskräfte mit den Verletzten nahten. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Er übernahm sofort eines der Opfer, nicht realisierend, wer das war. Alecs Verletzungen waren schwerwiegend, dazu kam die drastische Unterkühlung. Chancen wurden kaum ausgemalt. Die Ärzte schafften es jedoch, ihn am Leben zu erhalten, panisch schlug Alec plötzlich seine Augen auf, vor Schmerzen schreiend schnappte er nach Luft und schien erneut zu kollabieren. Kurz die Geräte und Personen um sich herum realisierend, verfiel er in totale Panik, bevor die Ärzte es schafften, ihn ruhigzustellen und weiter zu versorgen. Luke stand plötzlich wie angewurzelt im OP und starrte auf die grünen, jetzt ausdruckslosen Augen. Er flüsterte vor sich hin, „Alec?“, seine Umgebung nicht wahrnehmend, bis eine Schwester ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte.
„Was haben Sie gesagt?“
„Nichts, er heißt Alec“, bemerkte er beiläufig. Der Chefarzt warf Luke einen verwunderten Blick zu, welcher ihn fragte, von welcher Wichtigkeit diese Feststellung in diesem Augenblick war. Nachdem er mitbekam, dass er seinen Patienten kannte und damit in seinem jungen Berufsleben noch überfordert war, schickte er ihn raus, orderte einen anderen Arzt, und sie versuchten, Alecs Leben zu retten.
Wie ein Angehöriger wartend, nicht fähig, sich weiter zu konzentrieren, tigerte Luke vor der Tür entlang. Die Situation war so unglaubwürdig. Der Typ ließ sich nie wieder blicken und auf einmal liegt er vor ihm auf dem OP-Tisch. Vermutlich inzwischen tot.
Nach langer Zeit kam sein Vorgesetzter auf ihn zu.
„Sie kennen ihn? Er hatte nichts bei sich. Die Polizei wird die Angehörigen informieren. Wissen Sie etwas: Nachname, Adresse? Falls er denn Angehörige hat. Der Zustand war ja mehr als bedenklich und sehr verwahrlost. Unterernährt, misshandelt.“
Die Angehörigen informieren, die Worte hallten in Lukes Kopf. Er stand regungslos da. Sich sicher, dass sein Chef meinte, er hätte es nicht geschafft, wollte Luke fragen, was los sei, wurde aber sofort unterbrochen. „Er ist im künstlichen Koma. Es sieht nicht gut aus, er wird wohl die nächsten Tage nicht überstehen. Aber wir können hoffen. Er hat Verletzungen, welche nicht von dem Unfall herrühren. Ganz seltsam, das muss ich mit Ihnen nachher nochmal besprechen. Sagen Sie Becky erst mal, wer das ist“, meinte der Oberarzt und zog Luke Richtung Aufnahme.
Er wusste ja nicht viel mehr, als dass er Alec hieß und wo er wohnte. Gewohnt hatte, die letzte Begegnung war ja nun schon etwas länger her. Er war schließlich wenig später nach dem Vorfall damals nochmals an seiner Wohnung vorbeigegangen. Erfolglos, niemand war da. Er konnte sich an den Nachnamen nicht mehr erinnern. Er schilderte Becky die Adresse und den Vornamen. Kurze Nachforschungen der Polizei gaben Auskunft und sie wussten, wer er war. Alec Wiek, 24 Jahre alt, vor etwa einem Jahr von seinen Eltern als vermisst gemeldet. Die Eltern wurden verständigt. Wo ist er in der Zwischenzeit gewesen?
Luke fand sich kurze Zeit später auf der Intensivstation wieder, vor Alec stehend und ihn betrachtend. Erschrocken wurde er von einer Hand auf seiner Schulter, Dr. Milikan, der Oberarzt, stand hinter ihm. „Trauen Sie sich zu, ihn weiterzubehandeln, ich bin ab morgen im Urlaub, ansonsten übergeben wir ihn an Pjerre. Wissen Sie, ich wollte Sie vorhin nicht überfordern und habe Sie deshalb rausgeschickt. Sie müssen erst noch lernen, mit solchen Situationen umzugehen.“ Kurz nachdenkend, antwortete Luke schließlich: „Nein, das ist okay, ich mache das. Ich schaffe das schon. Ich kenne ihn ja nur ganz flüchtig.“
„Ich wollte mich nur vergewissern. Woher denn eigentlich?“
„Ach vom Studium“, bemerkte Luke schnell beiläufig, weiter auf Alec starrend, welcher umgeben von den notwendigen Geräten leblos dalag. Seine Haut war bleich, er war stark abgemagert, wirkte fast schon tot. Die Vitalwerte waren eher schlecht. Grenzwertig.
Dr. Milikan klopfte ihm auf die Schulter, erklärte ihm die Einzelheiten, übergab ihm die eben gefertigte Akte und verließ den Raum.
Als der nächste Notfall nahte, wurde Luke abgelenkt und verfiel schließlich in seine Arbeit. Zwei Stunden später, inzwischen war es vier Uhr am Morgen, trafen Alecs Eltern ein. Völlig aufgelöst, aber froh, dass ihr Sohn am Leben war. Luke übernahm das Gespräch und führte die Eltern zu ihm.
„Ich weiß nicht, ob Sie ihn so wirklich sehen wollen“, gab Luke zu Bedenken, schließlich wirkten die Maschinen, an denen er hing, erdrückend, Angst einflößend auf die Angehörigen.
„Natürlich wollen wir das!“, entgegnete seine Mutter sofort, sich nicht im Klarem, was sie erwartete. Sie hätte nicht erwartet, jemals wieder etwas von ihrem Sohn zu hören. Da sei es ihr egal, wie schlimm er aussehen würde.
Während sie vor ihm standen, erklärte Luke nochmals die Situation, die Verletzungen der Halswirbelsäule. Er versuchte sachte, klarzumachen, dass sie nicht wissen, ob er sich je wieder problemlos bewegen könne, wie sein schwerwiegender Schädelbasisbruch verheilen würde und wie lange das dauern würde. Von den beinahe Lappalien der zahlreichen Knochenbrüche, Bänderabrisse, Blessuren, Rupturen und des gebrochenen Beckens abgesehen. Sie wussten nicht, ob er je wieder aufwachen würde und falls ja, ob er nicht ein Pflegefall bleiben würde. Die schockierten Eltern standen vor ihrem Sohn, verbrachten lange Zeit bei ihm. Luke versuchte, die Situation zu überwachen, musste inzwischen aber zum nächsten Patienten und verließ sie.
Er konnte mit der Situation kaum umgehen, versuchte aber, stark zu bleiben. So zogen die Tage ins Land, nach einigen Wochen beschlossen die Ärzte, Alec aus dem Koma zu holen und setzten nach und nach einen Teil der Medikamente ab. Sie starteten den Versuch. Wenn es jetzt nicht klappen würde, ist die Hoffnung verloren. Glücklicherweise begann Alec recht schnell, auf Worte zu reagieren, konnte auch seine Gliedmaßen vorsichtig bewegen.
„Na, Kumpel“, seufzte Luke und schaute sich Alecs Augen an. Er dachte, er würde seine Worte nicht wahrnehmen.
„Kannst du meinem Finger folgen?“ Er reagierte nicht auf alles, war noch immer wie in Trance, aber wach. Seine Körperfunktionen kamen nach und nach wieder in Gang, alles andere verheilte. Mehr Glück hätte er nicht haben können. Allerdings hatte er seit seinem Erwachen nicht mehr gesprochen. Er starrte immer nur Richtung Wand. Seine Eltern kamen ihn oft besuchen, auch mit ihnen redete er nicht. Berührungen jeglicher Art ließen ihn zusammenzucken und in Angstzustände versetzen. Reaktion auf Stimme zeigte er nicht sofort.
Sein Körper befand sich auf dem Wege der Besserung, aber seine Seele schien zerstört. Er verstand offensichtlich alles, antwortete aber nie.
Luke wurde selbst krank, während er Alec behandelte. Ein anderer Patient hatte ihm den Arm gebrochen, als er versuchte, ihn zu beruhigen und zu behandeln. Das verschaffte ihm endlich etwas mehr Ruhe. Der ewige Schlafmangel hatte ihn fertiggemacht. Nun hatte er zu viel Ruhe und nutzte seine eigentliche Bettruhe, um nachzusehen, wie es Alec ging. Er war erstaunlich oft bei ihm, versuchte aber immer wieder, die Besuche so zu legen, dass seine Kollegen nichts bemerken würden. Was hatte ihm dieser Typ angetan? Warum ging er ihm seit damals nicht mehr aus dem Kopf? Und was wollte er jetzt von ihm? Vermutlich würde er zum Krüppel werden ...
Luke stand in Alecs Zimmer am Fenster und starrte auf den Innenhof. Er wusste selbst nicht, warum er sich so ausgiebig um ihn kümmerte. Schließlich fühlte er sich noch immer gekränkt, dass Alec ihn sitzengelassen hatte.
„Weißt du, Alec. Sie könnten dich nach Hause schicken. Deine Physiotherapie hat angeschlagen, du musst nur noch Muskeln aufbauen. Sie haben allerdings Bedenken. Wir wissen, dass du sprechen kannst. Jedenfalls organisch sind alle Voraussetzungen gegeben. Du bist auf dem Weg der Besserung.“
Er starrte weiter auf das Geschehen im Innenhof und beobachtete die herannahenden Rettungsfahrzeuge.
„Kann ich“, wisperte Alec heiser. Luke schnellte herum, er hatte nicht damit gerechnet, ein Wort von ihm zu hören. Zu schnell, er verspürte einen stechenden Schmerz im Arm und zuckte zusammen.
„Alec? Weißt du, wer ich bin?“ Luke fragte zögernd, aber sichtlich aufgeregt.
Vorsichtig und leise lachend: „Mein Arzt. Ich weiß schon, du bist der Student. Ich kann mich erinnern. Wir hatten eine sehr schöne Verabredung, nur die zweite fand nicht mehr statt. Das tut mir sehr leid. Ich war etwas verhindert ...“ Er schaute in seine Richtung. „Wie ist das mit deinem Arm passiert?“
„Ein Patient hat ihn mir gebrochen, leider nicht ganz unkompliziert. Ich versuchte, ihn zu behandeln, und er drehte durch.“ Luke versuchte, nur präzise zu antworten, nichts Falsches zu sagen, wollte verhindern, dass sein Gegenüber sich wieder ins Schweigen vergrub.
„Das muss wehgetan haben.“
„Ja, aber im Gegensatz zu deinen Verletzungen ist das eine Lappalie. Sie werden dich fragen, was passiert ist. Jetzt, wo du wieder mit uns sprichst.“
„Wer?“
„Deine Eltern, die Psychologen, die Polizei.“
„Ich möchte das nicht. Ich möchte nicht mit ihnen sprechen.“
„Warum sprichst du mit mir?“ Luke tastete sich in Richtung Bett. Die Tür ging auf und Dr. Milikan stand im Raum. Er zerstörte die fast vertraute Situation. Luke errötete, hoffte, dass sein Chef die Situation nicht falsch verstand und ärgerte sich, jetzt unterbrochen zu werden.
„Ohne Arbeit können Sie nicht, oder? Sie sollten sich ausruhen nach der OP. Das sollten sie besser wissen als jeder andere. Wir kümmern uns schon um ihren Patienten“, auf Alec deutend mit einer Schärfe in der Stimme.
„Ich weiß, ich wollte mich nur vergewissern, dass die Behandlungen anschlagen“, log er schnell, gar nicht erst aufschauend und grinste ganz leicht.
„Das haben Sie ja nun, also zurück ins Bett. Sobald möglich schicken wir Sie nach Hause und dann möchte ich Sie hier erst einmal nicht mehr sehen. Ruhen Sie sich aus und erholen Sie sich. Sie wissen, der Arm ist einer Ihrer wichtigsten Arbeitsmittel“, tadelte er, wie ein alter Lehrer.
Luke schlich an seinem Oberarzt vorbei, einen letzten flüchtigen Blick auf den wieder schweigenden Alec werfend. Er wurde sehr bald nach Hause geschickt, um sich auszukurieren, sehr zu seinem Ärger. So konnte er nicht mehr nach Alec schauen, hatte keine Kontrolle mehr. Ihm fiel es nicht leicht, zu Hause alles einarmig zu machen, so fuhr er schließlich für kurze Zeit seine Eltern besuchen. Sehr zur Freude seiner Mutter, die ihn gern umsorgte.
Wieder zurück in Berlin und nach vollständiger Genesung kehrte er an seinen Arbeitsplatz zurück. Wen er dort nicht mehr fand, war Alec. Er fragte Dr. Milikan nach dem Verbleib seines einstigen Patienten. Man habe ihn in die Obhut seiner Eltern übergeben, die restliche Behandlung würden Ärzte in seiner näheren Umgebung übernehmen. Luke versuchte, die Situation zu akzeptieren, schaute ein letztes Mal in die Krankenakte und starrte auf die Adresse von Alecs Eltern. Er schüttelte den Kopf, warf seine abwegigen Gedanken sofort über den Haufen und legte die Akte schweigend bei Seite.
Versuche
Er versank wieder in seine Arbeit, versuchte, seinen Arm wieder richtig fit zu bekommen. Sein freies Wochenende nutzte er, um aufs Land zu fahren. Nicht irgendwohin, sondern an den Ort, wo Alec jetzt leben würde. Er wusste nicht wieso, würde ihn eh nicht sehen können.
So steuerte er in die Ostprignitz, Richtung Neuruppin. Den Weg kannte er noch aus seiner Studienzeit. In dem Krankenhaus vor Ort hatte er schon gearbeitet. Die leeren Felder zogen an ihm vorbei und er näherte sich der Autobahnabfahrt mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Neuruppin. Der junge Patient damals, die Unterschenkelfraktur. Jetzt machte es Klick, schon damals hatten die beiden sich getroffen.
Die Adresse hatte sich in sein Hirn gebrannt, er fand nach etwas Suchen besagte Straße und hielt vor dem Haus. Es stand umgeben von großen Bäumen in der Nähe des Sees und wirkte alt, traurig und verlassen. Die Farbe blätterte ab, an einigen Stellen schien der Putz sich zu lösen. Das Grundstück außen herum war gepflegt, aber sehr schlicht gehalten. Nach wenigen Minuten des Anstarrens parkte er sein Auto unweit und lief am Haus vorbei in Richtung See. Dort angekommen setzte er sich, seine Knie zwischen den verschränkten Armen, ans Ufer und schaute aufs ruhige Wasser. Der Herbstwind blies ihm Blätter vor die Füße. Plötzlich sprang er auf und hechtete zum Auto. Was sollte dieser Blödsinn, warum war er hergefahren? Alec ist unnahbar für ihn. Was sollte er denn tun, bei seinen Eltern klingeln? Seltsam, warum sollte der behandelnde Arzt aus dem Krankenhaus bei ihm vorbeischauen. Sie würden doch seine Absichten bemerken. Er fuhr zurück nach Berlin. Zu Hause dachte er an ihn, vergrub sich wieder in seine Arbeit und überstand so die weiteren Wochen.
Das nächste freie Wochenende nahte. Es vollzog sich die gleiche Prozedur. Er fuhr an den Neuruppiner See, parkte ganz in der Nähe des vermeintlichen Hauses. Dieses Spiel wiederholte sich einige Male. Jedes Mal fragte er sich selbst, warum er so handelte. Dann genoss er aber die Stille am See und fand etwas Entspannung.
Die letzten Herbsttage nahten, bald würde es wieder Winter werden. Luke saß am Wasser, lies sich wieder die Blätter um die Füße wehen, schloss die Augen und genoss die letzten Sonnenstrahlen.
„Hallo, Herr Doktor. Mir war nicht bewusst, dass Chirurgen auch Hausbesuche machen.” Luke erschrak, als er die Stimme hörte. Diese Stimme gehörte zu Alec, der sich langsam neben ihn setzte und ihm in die Augen schaute. Mit einem leichten Stöhnen setzte er sich. Durch die Ironie in seiner Stimme wich Luke dem Blick schnell aus, starrte aufs Wasser.
“Was willst du hier?“, setzte Alec nach.
„Ich weiß nicht. Ich ruhe mich nur aus. Ich werde besser gehen.“ Luke war so verlegen, dass er gar nicht hochschauen konnte. Er wusste ja nicht einmal, ob Alec überhaupt bereit war, sich erneut mit ihm einzulassen. Als er den Versuch startete aufzustehen, hielt Alec ihn kurz an der Schulter fest.
„Warte. So, so, du ruhst dich nur aus, und das ausgerechnet hier und parkst fast vor meiner Haustür.“ Alec starrte jetzt ebenfalls aufs Wasser und schwieg kurz, bevor er fortfuhr: „Ich habe dich letztens schon gesehen.“ Wieder umhüllte die beiden ein Schweigen.
„Wie geht es dir denn?“, fragte der junge Arzt routiniert, jetzt seinen ehemaligen Patienten musternd. Sein Aussehen war zur Normalität zurückgekehrt, lediglich die Narben der Wunden am Kopf waren leicht zu sehen. Er schien aber nicht mehr so abgemagert zu sein. Er trug einen weiten Kapuzenpullover und Jeans. Die Spitzen seiner schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht, die grünen Augen suchten kurz den Blick. Er verzog den Mund zu einem kurzen Lächeln.
„Es ist ok. Es ist sehr ruhig hier. Ich kann wieder normal laufen, kann mich bewegen. Wenn ich die Medikamente nehme, geht es mir recht gut“, log er.
„Du hast wirklich Glück gehabt. Wir hatten nicht viel Hoffnung, damals.“
„Mmh.“ Alec seufzte. „Das schon, aber sie stellen alle Fragen. Ich spreche nicht darüber.“
„Du kannst dich aber erinnern?“ Luke konnte erahnen, was passiert war. Die Art der Verletzungen sprach eine eindeutige Sprache.
„Teilweise“, antwortete Alec schnell, Luke nickte, weiter auf das Wasser schauend. Von Weitem hörte man die besorgte Stimme seiner Mutter, welche ihn rief und nach ihm Ausschau hielt.
„Ich muss gehen“, sagte er schnell und fasste Luke beim Aufstehen nochmal kurz mit seiner Hand auf die Schulter, bevor er sich zurückzog. Luke erstarrte, verweilte weiter, schaute aufs Wasser und versuchte, sich zu verinnerlichen, was da eben passiert ist.
Er blieb allein, ging Stunden später zu seinem Auto und kehrte nach Berlin zurück.
Ihm war die Tatsache, erwischt zu werden, so peinlich, dass er nicht wieder dorthin fuhr. Alec hatte offensichtlich kein Interesse, dämmerte es ihm und er versuchte, es dabei zu belassen. Er redete es sich ein und eigentlich wollte er auch niemanden an seiner Seite haben. Man war als Single doch viel freier, und Zeit hatte er ja sowieso nicht. Aber irgendwas faszinierte ihn an diesem Jungen, aber nein. Er braucht niemanden. Er hatte ja wirklich keine Zeit und mit sich selbst genug zu tun.
„Mum, ich kann doch wieder für mich allein sorgen. Mach dir keinen Kopf.“
„Aber was willst du denn wieder in Berlin. Es ist gefährlich dort. Das weißt du doch. Hier gehst du nicht mal allein einkaufen. Die weiteste Strecke, die du gehst, ist bis zum See und zurück und dann willst du jetzt auf einmal nach Berlin fahren?“
Alecs Mutter wollte ihren Sohn gar nicht mehr aus den Augen lassen, seitdem er aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen war.
Zu sehr von der mütterlichen Fürsorge erdrückt, weshalb die beiden in den letzten Tagen oft zusammenrasselten, verließ Alec sein Elternhaus und brach vom nächstgelegenen Bahnhof auf: Richtung Berlin. Er brauchte eine Auszeit. Es fiel ihm sehr schwer, sich wieder unter fremde Menschen zu begeben. Geräusche machten ihn nervös. Plötzliche Bewegungen anderer ließen ihn zusammenzucken. Etwas argwöhnisch betrachtete er die Menschen um ihn herum. Jeder von ihnen könnte ihm etwas tun. Wirklich jeder. Nur warum sollten sie? Warum taten die das damals? Warum war er das Opfer? Er war ja selbst schuld, warum hatte er den Job auch angenommen.
Wie du mir
Sein Erinnerungsvermögen war fast vollständig zurückgekehrt. Die schlimmsten Dinge versuchte er zu verdrängen. Bisher gelang es ihm nur mäßig. Nach außen hin wirkte er fast normal. Er stiefelte durch Berlin Marzahn direkt ins Unfallkrankenhaus, stand im weihnachtlich geschmückten Vorraum und schaute sich um. Eine ältere Dame fragte ihn, ob sie ihm helfen könne. Er fragte nach seinem Doktor, von dem er sich leider den Nachnamen nicht gemerkt hatte. Eine Beschreibung schuf Abhilfe. Die Schwester schaute ihn fragend an. „Ich denke, Sie meinen Dr. Franklin. Ich schaue mal, wo er ist.“ Sie verschwand zum Telefon und sprach mit anderen Kollegen auf der Suche nach ihm. Das dritte Telefonat brachte Aufschluss. „Ist gut, sage ich ihm.“
Sie kehrte zu Alec zurück, der mutterseelenallein im Vorraum stand. „Er ist gerade beschäftigt, das dauert noch. Kann jemand anderes Ihnen weiterhelfen?“
„Nein. Ich würde warten, wenn das geht?“
„Ja, aber das dauert wirklich lang.“
„Das ist mir egal.“
„Gut“, sagte sie schulterzuckend und begab sich hinter ihren Empfangstresen, um in der Station darüber zu informieren, dass hier jemand wartete. Alec setzte sich auf einen der Stühle, welche an der nahen Wand auf Patienten und Besucher warteten. Es war ein ständiges Kommen und Gehen der verschiedensten Leute. Alecs Gedanken kamen hoch, er konnte nicht mehr im Krankenhaus sitzen und warten, zu schlimm waren die Erinnerungen. Er bewegte sich schnell nach draußen. Vor der Tür angekommen atmete er tief durch und sprach zu sich selbst, 'Gott Alec, was hast du dir dabei nur gedacht'. Er setzte sich draußen auf die Bank, begann sehr bald zu frieren, da es inzwischen Mitte Dezember war. Ein Jahr nach seiner Einlieferung. Es war auf den Tag genau, wenn er den Erzählungen Glauben schenkte. Nach etwa zwei Stunden gelang es Dr. Franklin, im Vorraum des Krankenhauses aufzutauchen. Er schaute die Schwester fragend an: „Wer wartet?“
Sie schaute verwundert im Raum umher „Ach so, ja, er ist bereits gegangen. Vielleicht ist er noch draußen. Ein junger Mann.“
„Draußen? Bei Minusgraden? Ich werde mal nachschauen. Wie war der Name?“
„Ich habe nicht gefragt, entschuldigen Sie, Dr.“ Luke rollte mit den Augen und schlenderte genervt hinaus. Dort erblickte er Alec, verfroren auf der Bank, sein Blick erstarrte kurz, seine Schritte wurden langsamer, bevor er sich die ersten Worte zurechtlegte: „Sieh mal einer an.“ Die warme Stimme kroch in Alecs Ohren, der sich jetzt umdrehte.
„Hallo, Herr Dr.“ Luke blieb wie angewurzelt stehen, wusste nicht recht, was er sagen sollte und schaute auf Alec herunter.
„Dir muss kalt sein. Willst du nicht reinkommen? Was ist los? Was machst du hier?“
„Ich halte es da drinnen nicht aus, ich kann diese Krankenhausluft nicht ab ...“ Seine Stimme wurde leiser.
„Wie lange wartest du schon?“, eine Spur Sicherheit legte sich auf seine Stimme.
„Zwei Stunden? Ich weiß, dass du sehr beschäftigt bist. Ich war ja auch nicht angemeldet. Es ist jetzt genau ein Jahr her.“
„Ich habe auch nicht damit gerechnet, dich hier wiederzusehen. Wie kann ich dir helfen? Oder sollten wir beim 'Sie' bleiben, wenn du mich so förmlich mit Herr Dr. ansprichst?“
Alec lachte kurz: „Nein, das war ein Scherz. Du hast mich doch schon während der Behandlung geduzt, außer wenn dein Chef daneben stand. Ich habe es doch mitbekommen.“
„Ich weiß. Wir hatten dich relativ gut eingestellt, so dass du viel mitbekommen hast, aber keine Schmerzen hattest. Nun, was ist der Grund deines Besuchs?“ Luke fühlte sich fast sicher in seinem Kittel und stand vor dem Krankenhaus, als sei es seine Höhle, in die er sofort zurück konnte.
„Ich weiß nicht. Es ist ein Jahr her, dass mir hier das Leben gerettet wurde. Was war der Grund deiner Besuche in Neuruppin?“
Der Dr. errötete, seine Knie wurden weich. „Dich zu sehen“, sagte er fast lautlos, die Worte verschluckend.
„Dann ist wohl genau das auch mein Anlass.“
Alec schaute zu ihm, Luke versuchte, auf seine eigenen Füße zu schauen, welche unruhig auf dem Pflaster scharrten.
„Nun, wie weiter?“ Die Frage stand im Raum, gestellt von Alec, welcher noch immer den ausweichenden Blick des Doktors suchte.
Aufgeregt kam eine Schwester zur Tür herausgerannt, um den jungen Arzt wieder in die Realität zurückzuholen. „Wir brauchen Sie, schwerer Verkehrsunfall und Dr. Milikan ist nicht zu finden. Warum reagieren Sie nicht auf den Pieper?“
Luke murmelte „Shit. Entschuldige ich muss.“ Und er verschwand in der Klinik.
Alec saß draußen auf der Bank, verlassen, allein. Nach einigen Minuten ging er. Machte sich auf den Weg nach Hause.
Es zogen wieder Wochen ins Land. Die Feiertage verbrachten beide bei ihren Familien. Seit der letzten Begegnung hatten sie nichts mehr voneinander gehört. Luke wusste nicht weiter. Er hatte niemandem, mit dem er über sein Problem sprechen konnte. Seinem Bruder brauchte er so was nicht erzählen und seine Eltern durften sowieso von nichts wissen. Auch als er wieder in Berlin war, traute er sich nicht so recht, nach Neuruppin zu fahren. Er wollte Alec sehen, aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Er dachte ständig an ihn, wie er vor dem Krankenhaus auf ihn wartete, wie er aufgrund seiner Arbeit gleich wieder weg musste und ihn sitzen ließ. Er hätte doch gar keine Zeit, sich mit ihm zu beschäftigen, keine Zeit, eine Beziehung aufzubauen. Er würde ihn viel zu sehr vernachlässigen, das hätte er auch nicht verdient.
Zurück zur Normalität
Alecs Leben ging weiter. Seine Eltern hüteten ihn und wollten ihn nicht wieder nach Berlin lassen. So kam es, dass er einen Job in einer nahegelegenen Gemeindeverwaltung annahm. Dort hatte er gelernt, bevor er nach Berlin gegangen war, um zu studieren. Man kannte ihn dort. Ihm war nicht ganz wohl, da sich in so kleinen Städten die Dinge zu schnell rumsprachen. Als er damals in die Stadt ging, versuchte er genau dem zu entfliehen. Anonym leben, machen, was er wollte, seine Vorlieben ausleben, ohne dass man als Schwuchtel bezeichnet werden würde.
Hier wusste Gott sei Dank niemand, dass er schwul war. Er hatte es geschafft geheimzuhalten. Er war für alle nur der, der mal verschwunden war. Keiner wusste wieso, aber die Neugier der Leute war groß und die Gerüchteküche brodelte. Alec wich allen Fragen geschickt aus, er könne sich an nichts erinnern, war seine Ausrede. In Wahrheit erinnerte er sich, versuchte auch, alles zu unterdrücken. Manches Mal wachte er nachts schweißgebadet zitternd auf. Er erzählte niemandem davon. Sein Leben schlängelte sich in fast normale Bahnen. Er ging pünktlich zur Arbeit, versuchte alles so gut wie möglich zu erledigen und verbrachte seine Nachmittage und Abende allein zu Hause. Natürlich stets umsorgt von seiner besorgten Mutter und immer den Schein wahrend.
Alec kümmerte sich in der Verwaltung um alles und nichts. Er war Mädchen für alles und versuchte, sich durch sein Fachgebiet zu wursteln, immer etwas argwöhnisch von seinem Vorgesetzten beäugt. Seine Kollegen versuchten, ihn normal zu behandeln. Auch wenn die ungestillte Neugier sie beherrschte.
Die Monotonie seines Lebens machte ihm immer mehr zu schaffen, seine Alpträume wurden schlimmer. Er hoffte stets, dass er im Schlaf nicht schreien würde, um nicht die Aufmerksamkeit seiner Eltern auf sich zu ziehen. Sie würden wieder versuchen, ihn zum Besuch einer Therapie zu überreden. Er verließ das Haus nur zum Arbeiten oder um am Wasser zu verweilen, pflegte keine weiteren sozialen Kontakte und zog sich zurück.
In einer Woche ging es ihm so schlimm, dass er in keiner Nacht schlafen konnte. Aus Angst vor den Träumen versuchte er, sich wach zu halten. Das nächste Wochenende rückte näher. Zeit zum Ausruhen, so merkten wenigstens seine Kollegen nichts von seiner Schlaflosigkeit. Es zog sich über zwei Wochen, bis man ihn schließlich nach Hause schickte. Er sollte sich erst mal ein paar Tage frei nehmen. Er verbrachte die meiste Zeit am Strand, in der Regel schlaftrunken, übermüdet durch den mangelnden Schlaf. Zwischendurch aber auch immer wieder an seinen Doktor denkend. Warum sollte er nicht noch mal zu ihm fahren? Warum hatte Luke sich nicht mehr gemeldet? Alec saß am Strand mit dem Rücken an einem großen Eichenbaum gelehnt und genoss die Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Der Frühling kam, die ersten Wildgänse zogen über dem See entlang, die ersten Vögel zwitscherten. Er schnappte sich ein heruntergefallenes Blatt und zerriss es sachte. Die Bilder von Luke, seine Fürsorge, die vielen sanften Worte, welche er ihm entgegengebracht hatte während der Zeit im Krankenhaus, schwirrten in seinem Kopf. Er hatte ihn doch aufgesucht, er hatte ihm doch gesagt, er wolle ihn sehen. Aber warum begegneten sie sich nach dem letzten Mal nicht wieder? Es war inzwischen 19 Uhr, Alec ging nach Hause, packte seine Sachen. Er war fest entschlossen nach Berlin zu fahren. Nur übers Wochenende, vielleicht auch nur einen Tag, er wollte seinen Doktor suchen. Noch nie war ihm jemand so im Kopf geblieben wie diese Person. Seine Mutter war von der Idee, nach Berlin zu fahren, natürlich nicht sehr beeindruckt, lies ihn aber widerwillig gehen. Alec war von seiner eigenen Spontanität überrascht, als er die Haustür hinter sich schloss und in Richtung Bahnhof ging.
Ein Versuch
Kurze Zeit später saß er im Zug und blickte auf die vorbeiziehende Landschaft. Der Regionalexpress schlängelte sich durch die Ortschaften. Seine Augenlider wurden immer schwerer, aber er wollte nicht schlafen. Er würde träumen, wenn er schliefe. Alec fischte sein Handy aus der Hosentasche, tippte eine Nummer ein. Diese Nummer hatte er verinnerlicht, er hatte sie so oft angestarrt, dass er sie blind tippen konnte. 030... es war die Nummer des Marzahner Unfallkrankenhauses. Er verwarf schnell die Idee anzurufen und steckte sein Handy wieder in die Tasche. Auf dem Berliner Hauptbahnhof machte er sich auf den Weg zu den S-Bahn-Gleisen, um Richtung Marzahn zu fahren. Ein bisschen beängstigten ihn die vielen Menschen überall. Er blieb stark, dachte nur an sein Ziel. Nie wieder die Kontrolle verlieren, denn das würde ihn in Gefahr bringen. In der Bahn sitzend fingerte er ein weiteres Mal sein Handy aus der Tasche, gab die Nummer erneut ein, es vergingen einige Sekunden, bis er sich überwinden konnte, die Nummer zu bestätigen. Es klingelte und sehr bald nahm jemand ab. Alec fragte nach Dr. Franklin. Die Stimme am anderen Ende überlegte kurz, wollte ihn dann aber holen. Sekunden vergingen, die Bahn schlängelte sich die Trasse entlang. Hielt dann plötzlich und stand eine Weile auf freier Strecke. Am anderen Ende meldete sich die warme, vertraute Stimme. „Hier ist Dr. Franklin. Wie kann ich Ihnen helfen?“ Alec, unfähig zu antworten, nahm sein Handy vom Ohr und starrte es an. „Hallo?“, kam vom anderen Ende fragend, Alec legte auf.
Schließlich erreichte die Bahn ihr Ziel und er stieg fast allein aus. Sich an den Schildern orientierend machte er sich auf dem Weg zum Klinikum. Er kannte den Weg ja schon, aber die Schilder gaben ihm die notwendige Sicherheit, auch wirklich in die richtige Richtung zu laufen. Seine Knie wurden weich. Er betrat den Vorraum, traute sich kaum zu fragen.
Die junge, blonde Frau grinste ihn freundlich an. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ich bin auf der Suche nach Dr. Franklin.“
„Dr. Franklin. Mmh“, sie hielt kurz inne. „Ich glaube, der ist heute gar nicht mehr im Hause. Aber ich frage mal auf der Station.“
„Danke“, Alec fühlte sich, als würde er jeden Moment im Erdboden versinken und schaute nervös in die verschiedenen Richtungen. Er lauschte dem Telefonat und vernahm der Stimme, dass er wohl zu spät gekommen sei. Die junge Dame legte auf, schaute ihn an.
„Er ist vor einer viertel Stunde los. Könnte Ihnen denn jemand anderes helfen? Sollen wir etwas ausrichten?“
„Nein, nein. Dankeschön!“ Alec drehte sich um und ging vor die Tür. Tiefes Durchatmen. Was nun? Er wusste ja, wo sein Dr. wohnte, wenn er denn noch dort wohnte. Sollte er zu ihm nach Hause gehen? Sollte er sich das wirklich wagen? Vielleicht hatte er ja gar kein Interesse mehr an ihm, schließlich hatte er sich nie wieder gemeldet. Er stand etwas verwirrt vor der verglasten Gebäudefront und schaute auf die Bank, auf der er einst saß. Die Angst stieg in ihm auf. Er hatte ja kaum eine andere Wahl, so spät fährt ja gar kein Zug mehr zurück. Was hatte er sich überhaupt gedacht, hierher zu fahren und zu erwarten, dass der Dr. da wäre und ihn freudig empfängt. Vielleicht würde er ihn zu Hause mit seinem Lover antreffen? Oder mit Frau und Kindern?
Er wandelte zurück zum S-Bahnhof und überwand sich, in die Richtung von Lukes Wohnung zu fahren. Die Adresse wusste er noch. Er brauchte eine Weile, um die Straße und das Haus zu finden, tigerte durch die Stadt. Ein wenig Angst stieg wieder in ihm auf, einige Straßen wimmelten nur so von Passanten, in anderen herrschte eine bedrückende Leere.
Er stand dann schließlich vor der Haustür, las die Namen am Klingelschild durch und fand schnell den Richtigen. Es dauerte wenigstens fünf Minuten bis sich sein Finger Richtung Klingelknopf bewegen wollte, als plötzlich die Haustür aufsprang. Ein anderer Hausbewohner stürmte an Alec vorbei. Dieser nutzte die Chance und schlängelte sich durch den Türschlitz ins Treppenhaus. Er erklomm die Stufen, je höher er stieg, desto höher stieg auch sein Herzschlag. Stufe für Stufe. Seine Hand klammerte sich am Geländer fest. Schließlich stand er vor der richtigen Haustür.
'Was solls', dachte er sich, 'was habe ich zu verlieren', und klingelte.
Hinter der Tür nahm er ein lautes Gemurmel wahr: „Gnade wem auch immer Gott, wenn's nicht wichtig ist.“ Die Tür wurde lieblos aufgerissen.
Ein zorniger junger Mann mit braunen Augen, kurzen zerzausten, braunen Haaren, in T-Shirt und Boxershorts stand im Türrahmen. Aus der Wohnung drang ein Lichtschein, welcher den jungen Mann auf der anderen Seite nur mäßig beleuchtete. Das Flurlicht war inzwischen ausgegangen, zu lang hatte Alec vor der Tür gestanden, bevor er sich entschlossen hatte zu klingeln.
Jedoch reichte der Lichtschein aus, dass der Arzt erkennen konnte, wer vor seiner Tür stand. Der Zorn wich, ein überraschter Gesichtsausdruck machte sich breit. Er sagte kein Wort.
„Ich gehe besser.“ Alec war im Begriff, sich umzudrehen.
„Nein, nein! Du bist doch gerade erst gekommen.“ Der sonst so sichere Arzt wurde plötzlich wieder schüchtern, fast aufgeregt.
„Du warst sehr zornig eben, ich habe es durch die geschlossene Tür gehört“, erwiderte er eingeschüchtert.
„Ach das. Versteh mich nicht falsch. Ich war gerade ins Bett gegangen und habe eine lange Schicht hinter mir. Ich wusste ja nicht, wer kommt. Hätte ich gewusst ...“ Er sprach nicht weiter.
„Was denn?“
„Hätte ich gewusst, dass du es bist.“
„Was dann?“ Alec traute sich nicht, ihm in die Augen zu schauen. Einer verlegener als der andere wanden sie sich um die Worte. Luke fand seine Fassung wieder.
„Ich freue mich, dass du hier bist. Komm bitte rein.“
„Ich wusste nicht, ob es richtig war zu kommen. Schließlich hatten wir uns nicht wieder gesehen“, während er sprach, trat er in die Wohnung, vorbei an seinem Arzt, der ihn ausgiebig beäugte. Das Thema wurde totgeschwiegen, Luke wechselte es. Er wusste schließlich auch nicht, warum ihn der Mut verlassen hatte, erneut nach Neuruppin zu fahren.
„Deine Jacke kannst du hier anhängen.“ Alec wartete die Worte kaum ab, hatte sich schon Schuhe und Jacke ausgezogen. Er nahm die Wohnung erst jetzt bewusster war als vorher. Sie gingen in das große, spärlich beleuchtete Wohnzimmer. Spartanisch, aber edel eingerichtet. Viel Glas, dunkles Parkett, auf dem man wohl jedes Staubkörnchen sehen würde, einige große Grünpflanzen, eine beigefarbene Couch, die zum Verweilen einlud. Luke musterte seinen Gast eindringlich. Gut sah er aus, müde, aber ansonsten einfach gut. Sein Körper hatte wieder Form, schlank, aber nicht mehr mager. Lange, schlaksige Arme, das schmale Becken, die dunklen Haare.
„Setz dich doch irgendwo hin“, unterbrach Luke die Gedanken und wurde wieder verlegen, setzte sich seinem Angebeteten gegenüber, immer gebührenden Abstand haltend. Jetzt sah er ihn im richtigen Licht.
„Du siehst sehr müde aus, was ist denn los?“
Alec winkte ab.
„Nichts, ich kann nur in letzter Zeit etwas schlecht schlafen. Ich wollte dich wirklich nicht stören, du musst müde sein, nach so einer Schicht. Soll ich nicht doch besser gehen, dass du in Ruhe schlafen kannst?“
„Untersteh dich“, murmelte Luke, „jetzt, wo du schon mal hier bist und wir uns endlich wiedersehen. Und ich habe morgen mal frei. Du kannst gern hier bleiben.“ Er wurde verlegen, errötete fast. Alec hatte ihn nicht angeschaut, schaute nun aber hoch, direkt in die braunen Augen. „Ich würde gern bleiben.“ Sein Handy klingelte, er seufzte. „Oh Mann, meine Mutter.“ Er drückte das Gespräch weg.
„Sie kümmert sich sehr um dich, oder?“ Alec lachte kurz und antwortete: „Ja, ein bisschen zu viel manchmal.“ Wieder klingelte es. „Dieses Mal muss ich aber rangehen“, murmelte er und nahm ab. Ein kurzer Wortwechsel „Ja, mir geht es gut, ich komme morgen Abend wieder ... ich bin bei einem Freund. Ja, alles Bestens. Bis morgen.“
Er steckte sein Handy wieder in die Hosentasche, entschuldigte sich nochmal und grinste kurz zu Luke herüber. Der war im Begriff aufzustehen und fragte seinen Gast, ob er etwas trinken wolle. Er lehnte ab. „Ich bin gleich zurück.“ Luke verschwand im Badezimmer. Schaute in den Spiegel und fragte sich selbst, warum es ihm so schwerfällt. Schließlich ist das nicht der erste Mann, der Interesse an ihm hat. Aber zwischen beiden herrschte diese ungeheure Vertrautheit, obwohl sie sich kaum kannten. Trotzdem hatte er Angst, ihm näher zu kommen. Er dachte über Alecs Anblick nach, er sah so müde aus, so geschafft. Der Dr. wusste, dass etwas nicht stimmte. Er wusch sich das Gesicht und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Luke betrat den Raum und fand Alec dabei, wie er sich in aller Ruhe die vielen Fachbücher und die DVD-Sammlung anschaute, seinen Rücken Luke zugewandt. Er kam ihm näher.
„Na, was gefunden?“ Alec erschrak und fuhr herum, sie standen näher aneinander als erwartet.
„Du hast mich erschrocken“, wispelte der. Den Doktor packte der Mut, seine Hand bewegte sich Richtung des Verwaltungsfachangestellten, landete an seiner Wange, die er einmal zart streichelte. Alec, etwas versteinert, nahm den Kuss des Arztes auf seiner Stirn hin.
„Geht's dir wirklich gut?“, fragte der.
„Ja, nur müde.“ Alec war sehr unsicher und schaute starr zum Boden. „Darf ich hier übernachten?“, fragte er zögernd.
„Ich bitte dich darum“, antwortete Luke schnell.
Sekunden vergingen, die Hand noch immer an der Wange des anderen, merkte Luke schnell, dass die plötzliche Berührung zu viel war.
„Möchtest du drüben allein schlafen?“
Alec schaute immer noch schüchtern weg, bevor er eine Antwort zu Stande brachte. „Das, das wäre mir ganz lieb.“
„Okay“, er wandte sich ab, um das Bett vorzubereiten. Alec stand nachdenklich im Raum, schaute ihm nach, suchte plötzlich das nächste Fenster, atmete tief durch und schaute in die dunkle Nacht, bis er aus seinen Gedanken gerissen wurde.
„Ich habe dir die Wohnung noch gar nicht gezeigt. Dein Bett ist fertig.“ Luke war nach kurzer Zeit zurück. „Komm schon.“ Alec folgte ihm, ließ sich Badezimmer und Küche zeigen, schließlich standen beide in der Tür des Gästezimmers.
„Schlaf schön.“ Luke fasste ihm mit dem rechten Arm ein wenig an die Hüfte und zog ihn an sich. Alec, etwas steif, ließ ihn machen und schaute zu Boden. Plötzlich war da Ablehnung zwischen beiden. Es wurde nochmals gute Nacht gewünscht, beide verschwanden in ihren Zimmern.
Luke, sichtlich verwirrt und wissend, dass er das nicht hätte tun sollen. Aber wollte er genau das denn nicht? Was wollte er hier auf einmal? Auch Luke war die plötzliche Nähe auf einmal zu viel geworden. Er wollte sich nicht bloßstellen, keine Gefühle zeigen. Das hatte er in der letzten Beziehung getan. Er musste sein Schutzschild erhalten. Die Müdigkeit holte ihn schnell ein, keine Zeit mehr zum Nachdenken.
Er wurde nachts durch die Hilfeschreie seines Gastes geweckt. War sofort hellwach und stürmte in den Raum. Alec bewegte sich hektisch im Schlaf, schrie und war schweißgebadet. Luke stand hilflos daneben. Was sollte er tun? Er ging schließlich näher heran, fasste Alec an die Schultern, versuchte, ihn zu wecken und zu beruhigen. Er schaffte es und Alec sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Nicht wissend, wo er war, nicht registrierend, wer da war, lag er erst zitternd da. Dann sprang er auf, knickte um, fiel gegen die Wand und rollte sich dort zitternd zusammen. Luke versuchte weiterhin, auf ihn einzureden und ihn ins Jetzt zurückzuholen. Wo auch immer er in Gedanken gerade war. Luke war wie gerädert, wusste nicht mit den Gefühlsregungen umzugehen und machte zögernd weiter.
„Hey, hey, hey ... ganz ruhig, mein Junge“, versuchte Luke ihn mit gebührenden Abstand wieder zu beruhigen. Schließlich beschloss er, sich zu überwinden und Alec näher zu kommen, eine weitere Berührung des Arztes ließ ihn jedoch zusammenzucken. Nach kurzer Zeit fand er sich im Hier und Jetzt wieder und schaute auf. Rot unterlaufene Augen, durchgeschwitztes Haar.
„Heeyy, wieder hier? Keine Angst, es passiert nichts. Du bist in Sicherheit.“
Alec hatte weit aufgerissene Augen, atmete nun schwer, wirkte fast erstarrt. Luke überwand sich, setzte sich neben ihn auf den Boden und nahm ihn in den Arm. Er ließ es zu, zuerst etwas steif, fasste dann Vertrauen und weinte in Lukes Armen. Dieser versuchte, ihn zu beruhigen, legte seinen Kopf gegen den von Alec, welcher an seiner Brust ruhte.
„Schhschh, es ist alles gut, du bist in Sicherheit“, wiederholte er sanft. Alec schluchzte, begann, sich an Lukes T-Shirt festzukrallen. Dieser streichelte ihm behutsam über den Rücken. Er fühlte sich nicht wohl in dieser Situation. Er konnte doch nicht so gut mit den Gefühlen anderer umgehen. Normalerweise bewahrte er immer genügend Abstand zu seinen Patienten. Auch bei seinen Ex-Freunden fiel es ihm schwer, plötzliche Gefühlsausbrüche angemessen zu behandeln. Behandeln schien dafür der richtige Ausdruck zu sein. Das Verhalten war fast mechanisch, korrekt, nach medizinischen Leitlinien. Umso überraschender, dass es auch anders ging, auch wenn ihm nicht ganz wohl dabei war. Ihm fiel es selbst schwer, andere zu umarmen. In seiner Familie gab es so etwas nicht, das hat es nie gegeben. Nie wurde er von seinen Eltern in den Arm genommen. Eher getadelt.
„Das machst du schon die letzten Nächte durch, mmh?“, fragte er, bevor er in seine Gedankenwelt abrutschte.
„Wochen“, seufzte der Jüngere. Luke drückte ihn fester an sich und schluckte.
Nach einer halben Stunde lösten sie sich aus der Umarmung. Luke stand auf und reichte Alec die Hand. „Komm.“ Dieser stand leicht humpelnd auf.
„Alles ok?“
„Mein Fuß, ich bin umgeknickt.“ Er führte ihn in sein Schlafzimmer.
„Du bleibst bei mir. Nicht, dass du dir allein da drüben noch wehtust. Ich komme gleich wieder.“ Er holte eine Kompresse, um das leicht anschwellende Fußgelenk zu kühlen.
„Musst du noch irgendwelche Medikamente nehmen?“
„Ja, sie sind in meiner Tasche. Aber ich hatte sie genommen.“
„Ja, ich will nur schauen, was ich dir geben darf und was nicht. Also zum Schlafen.“
„Ich brauche nichts anderes! Keine weiteren Medikamente, ich komme mir ja schon vor wie ein Junkie.“
„Doch, du musst mal vernünftig schlafen, zur Ruhe kommen ...“
Luke wühlte in Alecs Tasche, fand schnell die Medikamente und inspizierte sie. Er nahm sie mit ins Schlafzimmer, wo Alec auf dem Bett saß.
„Wer hat dir die hier verschrieben?“, und hielt eine Packung hin.
„Mein Hausarzt. Dr. Krüger.“
„Idiot“, murmelte Luke. „Da gibt es andere, die mehr bringen als diese hier. Egal. Ich hole dir erst mal was, dass du endlich schlafen kannst.“
Er reichte ihm zwei Schlaftabletten und ein Glas Wasser. Gleiche Situation, wie damals. Luke fühlte das Déjà-vu und sah sich einige Jahre zurückversetzt, als er Alec das erste Mal im Bett seines Gästezimmers liegen hatte, da stand und ihm Tabletten und ein Wasserglas reichte.
Dieses Mal nahm Alec sie ihm sofort ab, schluckte sie.
„Bleib ja liegen, die wirken sehr schnell.“ Er legte ihm die Kompresse um den Knöchel, den er noch kurz abtastete, und deckte Alec zu. Ein letzter Gang zum Lichtschalter und Luke legte sich neben ihn, der schon, von den Medikamenten beeinflusst, wegdämmerte und das nicht mehr registrierte.
Er starrte ihn im Dunkeln an, versuchte sich möglichst weit von ihm fernzuhalten, er sollte doch keine Angst bekommen. Er genoss trotzdem die Nähe des anderen in seinem Bett.
Luke lag mit einem Arm über der Bettkante hängend nur noch halb zugedeckt, als gegen sechs Uhr plötzlich sein Telefon schrillte. „Oh Mann“, murmelte er und nahm ab. „Ja?“, völlig verschlafen. Ganz aufgeregt meldete sich eine der Krankenhausschwestern und stammelte zusammen, dass er sofort kommen müsse. Da wäre ein so schlimmer Unfall mit mehreren Bussen passiert und nicht genug Ärzte da. Sie wisse ja, dass er frei hätte, aber sie brauchen ihn jetzt unbedingt. Luke sagte zu, legte auf und wischte sich mit seiner Hand übers Gesicht. Er saß kurz auf dem Bett, schaute zu Alec, der noch seelenruhig schlief. Endlich konnte er mal schlafen. Luke entschloss sich, noch schnell einen Zettel zu hinterlassen, wer weiß schon, wann er wieder kommen würde. Er fasste sich kurz, und schrieb mit einer auffällig schönen Handschrift: – Musste weg, Notfall. Bis nachher! -
In der Klinik bekam Luke ein Bild des Schreckens zu sehen. Zu viele Verletzte, man verteilte schon auf die anderen Krankenhäuser. Ein LKW war in mehrere Reisebusse gerast und hatte sie zusammengeschoben.
Er vertiefte sich in seine Arbeit. Bei ihm zu Hause erwachte inzwischen Alec aus seinem Tiefschlaf. Es war nun auch schon 15 Uhr, so sehr hatten ihn die Tabletten umgehauen. Er drehte sich auf den Rücken, sah sich im Licht durchfluteten Raum um. Registrierte, wo er war.
„Luke?“, rief er in den Raum. Es kam keine Antwort. Nun schweifte sein Blick auf die andere Seite des Bettes und er sah den kleinen Zettel, las ihn und war ein wenig traurig. Aber nun hatte er Ruhe, sah sich die Wohnung etwas genauer an, hatte Zeit zum Duschen. Die Wohnung war schick, stilvoll eingerichtet, aufgeräumt. Nirgends lag etwas herum. Die Einrichtung wirkte sehr teuer, die Zusammenstellung war nicht etwa zufällig. Hier passte irgendwie alles zueinander, Moderne und Antike ergänzten sich. Alec war etwas verwirrt, ob er gehen oder bleiben sollte. Er blieb und machte es sich vor dem Fernseher bequem.
Luke kehrte gegen 18 Uhr zurück. Begrüßte seinen Gast, der etwas schüchtern schaute, zu peinlich war ihm die letzte Nacht gewesen, und ließ sich erst mal in den Sessel fallen.
„So viel zum freien Tag. Wie geht es dir heute? Es ist schön, dass du geblieben bist. Tut mir wirklich leid, dass ich weg musste.“
„Sehr gut. Die Tabletten haben geholfen.“
„Das freut mich“, Luke war müde. „Hast du denn etwas gegessen?“
„Nein, ich wusste nicht, ob ich darf.“
„Natürlich darfst du. Ich musste nur leider sehr früh los.“
„Wann denn?“
„Gegen sechs. Ich wünschte, ich wäre nicht rangegangen.“ Luke schaute an die Decke „Komm, lass uns essen gehen“, sagte er fast beiläufig, nun wieder zu Alec schauend. Der war leicht verwundert, kam aber gern mit.
Sie gingen wieder ins Lykia, wo es auch exzellentes Essen gab. Dort endete bereits die letzte Verabredung der beiden, die inzwischen so lange Zeit her gewesen war. Alec merkte, wie müde sein Gegenüber war, der stocherte ein wenig in seinem Essen rum und schwieg.
„Du siehst heute aber auch nicht sonderlich gut aus?“, traute sich Alec zu sagen.
„Ach, ja, es ist nur, wir konnten nicht so viele Menschen retten, wie wir gern gewollt hätten. Und ich bin müde. Keine Angst, sonst ist alles gut. Mir geht es gut.“
„Das tut mir sehr leid“, Alec stocherte genauso in den Salatblättern, an der Seite des Tellers. Luke versuchte, sich aufzuraffen, um das Schweigen zu brechen.
„Was machst du jetzt eigentlich zu Hause, oder studierst du wieder?“
„Nein, ich arbeite in einer Gemeindeverwaltung. Da hatte ich gelernt, bevor ich studieren ging.“
„Hört sich ja auch sehr begeistert an?!“
„Es ist ok. Die Kollegen lassen mich relativ in Ruhe, klar sind sie neugierig, aber es geht.“
„Ja, das kann ich mir denken. Es ist schön da, wo du wohnst.“ Luke schaute zu Alec, der noch immer nach unten schaute und auf dem Teller rumstocherte. Ohne aufzublicken antwortete er.
„Na ja, schön zum Urlaub machen, aber nicht zum Leben. Da ist nichts los und jeder weiß alles über jeden. Zumindest versuchen sie alles herauszufinden und denken, alles zu wissen.“
„Ja, Kleinstadt halt.“ Luke wollte gern mehr reden, wurde aber schläfrig.
„Lass uns nach Hause gehen.“
Nach Hause, die Worte hallten in Alecs Kopf. Es war Lukes zu Hause, nicht seins. Aber er fühlte sich dort auch schon recht wohl.
Luke winkte die Kellnerin heran, bezahlte das Essen. Alec wollte ihm seinen Anteil wiedergeben und kramte in seiner Hosentasche.
„Lass das, du bist mein Gast. Lass uns gehen.“
Sie schlenderten nebeneinander her und gingen wieder in seine Wohnung.
„Tut mir wirklich leid“, meinte Luke plötzlich zu Alec, der ihn nun verwundert anschaute. Was tat ihm leid? Wollte er ihn jetzt nach Hause schicken?
„Was denn?“, wurde vorsichtig und unsicher nachgefragt.
„Na, dass ich schon wieder weg musste. Ich hätte den Tag gern mit dir verbracht.“
„Dafür kannst du doch nichts. Es ist ok. Du hast dich doch eben schon entschuldigt“, antwortete Alec erleichtert.
„Schlimmer war es, dass du wegen mir mitten in der Nacht aufstehen musstest.”
„Ach quatsch, mach dir da bitte keine Gedanken drüber. Ich hatte ganz vergessen zu fragen, deinem Knöchel geht es gut?“
„Ja, da ist alles ok. Dank deiner sofortigen Versorgung ist alles Bestens!“, lächelte er zurück.
„Zeig her.“ Luke untersuchte den Knöchel, drückte ihn fachmännisch an den betreffenden Stellen ab.
„Mh, ok, aber schone dich bitte noch. Nicht so viel laufen und weiter kühlen.“
„Ja das habe ich heute gemacht.“
„Hast du alles gefunden?“
„Na ja, viel brauchte ich ja nicht. Kompressen habe ich im Kühlschrank gefunden und ansonsten hab ich nur Fernsehen geschaut, hatte also jede Menge Ruhe.“
„Das ist gut. Hast du die Schmerztabletten genommen?“
„Ich nehme doch täglich welche, wegen meiner Wirbelsäule.“
„Ach ja. Das reicht dann.“ Luke fielen fast die Augen zu, seine Stimme wurde immer leiser, beide saßen sich noch gegenüber.
Kurze Zeit später landeten die beiden nebeneinander im Bett. Alec ließ es zu, dass Luke sich an seinen Rücken schmiegte, Luke hatte seinen Arm über Alec gelegt, seine Hand ruhte auf des anderen Brust. So schliefen sie ein. Mitten in der Nacht ereignete sich das Gleiche wie zuvor. Noch im Schlaf bekam Luke nur mit, dass sich sein Partner bewegte, zog seinen Arm zurück und drehte sich um.
Alec begann zu träumen, sah immer wieder vor sich, wie er in diesem dunklen Verschlag, mitten im Nirgendwo, eingesperrt war. Dieses Mal erinnerte er sich an die Nacht, als er mit einer Holzlatte verprügelt wurde und der Prügelnde sich damit befriedigte, ihm Schmerzen zuzufügen. Er wälzte sich unruhig in Lukes Bett umher, schlug um sich. Als er dabei Luke traf, wurde dieser wach. Er bemerkte sofort, was los war. Versuchte wieder Alec zu beruhigen, es wurde aber schlimmer anstatt besser. Er bekam ihn nicht unter Kontrolle, bis er ihn aufs Bett drückte und anschrie. Völlig außer Atem schrie Alec zurück „Lass mich los!“ und versuchte ihn wegzustoßen. Luke ließ ihn ohne ein Wort sofort los, selbst überwältigt von seiner Brutalität, Alec einfach so runterzudrücken.
Alec atmete schwer, fasste sich mit einer Hand auf die Stirn. „Es tut mir leid. Ich wollte das nicht. Ich gehe besser sofort.“
„Es ist nichts passiert. Du bist sicher hier und ich werde dich nicht mitten in der Nacht gehen lassen“, antwortete der Doktor und versuchte, Alec zur Beruhigung seine Hand auf die Schulter zu legen. Der zuckte zusammen, begann zu zittern. Er zog die Hand sofort zurück.
„Ich hätte dir eine von den Schlaftabletten geben sollen. Ich habe es wirklich vergessen.“
Alec sagte nichts mehr und rollte sich in seiner Decke zusammen. Luke stand auf, holte ihm eine Tablette. Die würde Abhilfe schaffen und ihn ruhig schlafen lassen. Alec nahm ihm die Tablette zögernd ab, er sagte kein Wort mehr und schlief ein. Luke starrte ihn wieder regungslos an, atmete tief ein und versuchte schließlich zu schlafen.
Der nächste Morgen wurde besser, kein klingelndes Telefon, niemand musste aufstehen. Die beiden Schlafenden konnten sich ausruhen. Irgendwann am Nachmittag wurde Luke wach. Friedlich neben ihm schlief noch immer Alec, den er jetzt aufmerksam beobachtete. Was hatte ihm dieser hagere, nicht mal sonderlich hübsche Kerl nur angetan, dass er ihn so mochte. Wahrscheinlich blieben die grünen Augen zu sehr im Gedächtnis. Luke lachte in sich hinein, was für ein Quatsch. Ganz langsam erwachte auch der Dürre neben ihm und schaute Luke schlaftrunken an.
„Guten Morgen“, wisperte dieser.
„Du bist ja noch hier“, sagte er leicht und leise lachend.
„Ja, kein Notfall, oder genug andere Ärzte da. Wir haben Zeit.“
„Das ist schön.“
Luke streichelte Alecs Wange. „Ist alles in Ordnung, nach letzter Nacht?“
Alec schaute leicht weg „Ja, ach, ich, das“, er stammelte, „ich kann nichts dagegen tun. Es tut mir leid.“
„Doch kannst du. Du musst darüber reden. Das Geschehene aufarbeiten und verarbeiten.“
„Ach Mann, fang bitte nicht an wie meine Mutter. Ich weiß das, aber ich will nicht. Was soll ich mit irgendeinem Psychoonkel reden? Ich werde nie vergessen, was mir widerfahren ist.“ Er wurde leicht zornig und kalt.
„Musst du nicht. Spreche mit jemandem, dem du vertraust.“ Luke wusste, dass Alec genau das jetzt nicht hören wollte, er blieb vorsichtig und wechselte schnell das Thema. „Frühstück?“, fragte er. Der Zorn in Alecs Gesicht wich mit seiner Antwort: „Gern.“
Am frühen Abend klingelte Alecs Handy. Wie sollte es auch anders sein, seine Mutter, die wissen wollte, wann ihr Sohn endlich nach Hause käme und ob auch wirklich alles in Ordnung sei. Alec bejahte brav und meinte, er würde bald heimfahren, sie solle sich doch keine Sorgen machen.
„Du musst nach Hause?“, fragte Luke Alec betrachtend, der noch immer sein Handy in der Hand hielt.
„Ja, ich werde wohl langsam los müssen. Sie macht sich wieder Sorgen und ich muss morgen arbeiten. Der letzte Zug fährt auch bald.“
„Du weißt, dass du deinen Knöchel schonen musst? Soll ich dich krankschreiben?“
„Ist das so einfach?“
„Machbar.“
„Ach was, ich sitze doch meistens nur am Schreibtisch. Da kann nicht so viel passieren“, er grinste.
„Alles klar.“ Ein Lächeln kam zurück „Ich fahre dich nach Hause.“
„Du musst dir keine Umstände machen.“
„Na meinst du, ich lasse dich laufen? Komm schon.“ Sie zogen ihre Jacken an und machten sich auf den Weg in Richtung Auto. Während der Fahrt blieb Alec sehr ruhig, sehr nachdenklich. Luke vernahm das Schweigen und hakte nach: „Du bist so still?“
„Ja, ich denke nach.“
„Worüber denn?“
„Ach, nichts Besonderes. Musst du morgen auch wieder arbeiten?“, lenkte er vom Thema ab.
„Nein, ich muss schon heute Nacht wieder los. Verkorkste Arbeitszeiten.“
„Du hättest Allgemeinmediziner werden sollen. Wenn ich mir meinen Arzt zu Hause ansehe, der hat ja ständig frei und Urlaub.“ Beide lachten.
„Ja, ja, hätte ich.“
„Warum wolltest du Arzt werden?“
„Mh, das wollte ich nicht. Das wollten meine Eltern. Sie sind selbst Ärzte und dann muss Sohnemann da mitziehen. Aber inzwischen ist es ok. Es ist schön, wenn man helfen kann. Und zeitweise macht es sogar Spaß.“
Sie bogen in die Seestraße Alecs Heimatortes ein. Luke wusste genau, wohin er musste. Oft genug war er diese Strecke gefahren. „Sehen wir uns wieder?“, fragte der Fahrer.
„Das möchte ich hoffen.“ Alec stieg schnell aus, es musste ja niemand bemerken, mit wem er da war und wer ihn nach Hause fuhr. Man war hier schließlich auf dem Land und die Leute machen aus allem ein Gerücht. Während er sich noch in Richtung Haus begab, fuhr Luke zurück Richtung Berlin. Alec war im Gedanken, warum ein Arzt? Wo er die so gut leiden konnte. Und nun lässt er sich noch mit so einem Quacksalber ein.
Rechtfertigungen
Natürlich blieb nichts unbemerkt. Alecs Mutter hatte schon hinter der Gardine sehnsüchtig auf ihren Schützling gewartet und begrüßte ihn gleich an der Haustür. Etwas schief guckend. „Wer war das denn?“
„Ein Freund.“
„Was für ein Freund?“
Alec rollte mit den Augen. „Mama. Ich bin hier, ich bin wohl auf, mir geht es gut und er hat mich nur nach Hause gefahren.“
„Warst du das Wochenende bei ihm?“ Die Neugier und Sorge nahm kein Ende.
„Ja, war ich. Wo ist Papa?“
„Noch arbeiten, nun lenke nicht vom Thema ab. Wer ist denn das?“
„Ein Freund, wie gesagt. Ich kann auf mich aufpassen. Mach dir keinen Kopf. Bitte.“
Sie resignierte für heute. „Gehst du morgen arbeiten? Kannst du Dana etwas mitnehmen? Ihre Mutter hatte mich danach gefragt.“
Dana war eine der Auszubildenden der Verwaltung und seine Mutter war bemüht, ihren Sohn mit ihr näher vertraut zu machen. Schließlich ist sie so ein nettes Mädchen und die Tatsache, das er denkt, er sei schwul, ist wahrscheinlich nur vorübergehend. Meinte sie.
„Mache ich, leg‘s mir auf meine Jacke.“
„Komm, in der Küche ist Essen für dich. Dein Vater kommt spät, da brauchen wir nicht warten.“
Nach dem Essen ging Alec in sein Zimmer, setzte sich vor den Fernseher und schaute, während er die letzten beiden Tage Resümee passieren ließ, beiläufig das Sonntagabendprogramm. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er nicht mal Lukes Handynummer hatte. Was bin ich nur für ein Idiot, dachte er sich und nahm sich vor, am nächsten Tag im Krankenhaus anzurufen. In der Hoffnung, seinen Freund dort zu erwischen. Seine nächste Nacht verlief ruhig, er schaffte es, ohne Alpträume durchzuschlafen, und wachte am nächsten Morgen sehr erholt auf. Das Wochenende hatte ihm gut getan. Mit einem Lächeln auf den Lippen machte er sich auf den Weg zur Arbeit. Seine Arbeit blieb in seinen freien Tagen natürlich liegen, so hatte er in dieser Woche besonders viel zu tun. Während des Mittags saß er mit seinen Kollegen am Tisch.
Seine Kollegen, in seiner Abteilung fünf an der Zahl, allesamt im Durchschnittsalter von etwa 50 Jahren, gestandene Hausfrauen, die weiter keine Sorgen hatten, als die jungen Mitarbeiter zu verkuppeln oder neugierig auszufragen. Die zwei Männer in dieser Runde hielten sich dagegen eher zurück und dachten sich ihren Teil. Grinsten ab und an.
„Du siehst aber erholt aus Alec. Wie war dein Wochenende?“, fragte Ramona.
„Sehr schön.“
„Warst du weg?“
„Ich war in Berlin. Bei einem Kumpel.“
„Ach Mensch, bei einem Kumpel? Junge, such dir doch mal eine Freundin. Wie wär‘s denn mit unserer Dana? Sie hat doch auch niemanden“, warf Uta ein. Alec nahm diese Spielchen hin und versuchte mitzuspielen. Er wollte ja nicht auffallen.
„Ach nein.“
„Aber du hast ihr doch vorhin etwas gegeben. Meinst du nicht, sie hat Interesse?“
„Ich habe ihr nur eine Packung Eier gegeben, die ich ihr mitbringen sollte. Vielleicht hat sie Interesse, ich aber nicht an ihr.“ Gestört wurde das nervende Gespräch durch das Klingeln des Telefons. Mindestens eine der Frauen war beschäftigt, die anderen suchten sich ein neues Thema. In diesem Augenblick fiel auch Alec wieder ein, dass er ja vergessen hatte, Luke anzurufen.
Wieder zurück in seinem Büro wurde er von zig anderen Telefonaten und einigen Leuten abgelenkt und vergaß es wieder. Er hatte außerdem noch stapelweise Rechnungen zu liegen, welche gebucht werden mussten. Kaum hatte er das Programm aufgerufen, klingelte wieder dieses verdammte Telefon. Er schaute gar nicht auf die Nummernanzeige, rollte mit den Augen, sich ärgernd, stellte sich vor und lauschte aufmerksam.
„Sehr förmlich.“
Alec erkannte die warme Stimme sofort, es war Luke.
„Auch ich kann mal in ein Telefonbuch schauen. Du hast mir deine Handynummer nicht hinterlassen. Oder wolltest du nichts mehr von mir wissen?“
Alec war völlig von der Rolle, fand aber seine Fassung wieder.
„Doch, mir fiel das auch ein, ich wollte dich schon anrufen!“
„Nun, dann war ich schneller. Also? Ich muss leider gleich wieder.“
Alec gab ihm bereitwillig seine Handynummer und schon stand eine Kollegin mit einem Stapel Zettel in der Hand in seiner Bürotür. Alec völlig verlegen, fast rot werdend, versuchte sich nichts anmerken zu lassen und lenkte das Gespräch auf ein Ende zu.
„Ja, ich kümmere mich drum. Vielen Dank für den Hinweis. Tschüss!“ Luke am anderen Ende verwundert, aber froh, die Nummer erhalten zu haben, dachte sich, dass sein Gesprächspartner gestört wurde, und legte mit den Worten „Ich melde mich.“ auf.
„Was Wichtiges?“, fragte die Kollegin ihn argwöhnisch betrachtend. „Nein, nein, nur ein Hinweis. Ich muss nur was raussuchen und dann zurückrufen. Sie nahm die Antwort, bemerkte nur kurz, dass er ja seine Nummer rausgegeben hatte, hin und belegte ihn mit ihren Zetteln und Arbeiten, wegen denen sie gekommen war.
Alec fand sich etwas geschafft nach fünf am Wasser wieder und ging spazieren, um den Kopf freizubekommen. Zur gleichen Zeit war dort auch Dana unterwegs, die es wirklich auf ihn abgesehen hatte. Sie hatte ihn gesehen und steuerte drauf zu, er konnte nicht mehr weg.
„Hallo Alec? Na, auch spazieren? Kann ich dich begleiten?“
„Ja, warum nicht.“ Er war stets bemüht, nett und freundlich zu sein. Während des sehr wortkargen Spaziergangs klingelte sein Handy. Eine ihm unbekannte Nummer, er entschuldigte sich kurz bei Dana und ging ran.
„Ich bin‘s.“ Die Stimme des Doktors vernehmend schwieg Alec kurz.
„Ich kann gerade nicht, können wir später sprechen? Danke.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er auf. Er konnte nicht riskieren, dass jemand etwas bemerkte. Aber wer sollte etwas bemerken, es hätte ja jeder sein können, der anrief.
Dieses Mal war es Dana, die ihn betrachtete. Insgeheim ärgerte er sich natürlich, dass in diesem Augenblick das blonde junge Mädchen an seiner Seite stand. Viel kleiner als er, auch einige Jahre jünger, noch in der Ausbildung. Ein hübsches Mädchen, aber er fand nichts an ihr. Warum sollte er auch? Er hatte jetzt schließlich seinen Doktor. Er versuchte nun den Spaziergang recht kurz zu halten, als beide vor seinem Wohnhaus ankamen, meinte er nur zu Dana
„Bis morgen.“ und ging Richtung Eingangstür. Sie hatte sich da natürlich mehr erhofft, machte sich traurig in die Gegenrichtung auf.
Alec fischte schnell sein Handy aus der Tasche und versuchte, Luke zu erreichen. Leider hatte er nur die Mailbox dran und ärgerte sich. Er beschloss, eine SMS zu schreiben und es dabei zu belassen. Vielleicht schläft Luke ja schon, vielleicht arbeitet er.
Zu Hause lies Alec wieder die mütterliche Fürsorge über sich ergehen. Natürlich hatte sie auch gesehen, dass er mit Dana bis zum Haus gekommen war und horchte ihn aus. Er, im Gedanken ganz woanders, antwortete brav, um weitere Diskussionen zu vermeiden.
Seine nächsten Nächte verliefen etwas schlaflos, einmal aufgrund seiner Träume und der andere Grund war, dass sich Luke nicht meldete. Alec machte sich Gedanken, hatte Angst, dass er ihn nicht mehr mochte oder irgendetwas passiert sei.
Freitagmittag klingelte schließlich Alecs Handy, auf dem Display sah er den Namen Luke, schaute verwundert und nahm ab.
„Luke!“
„Alec! Es tut mir leid. Ich habe es nicht geschafft, dich anzurufen. Kommst du am Wochenende?“
Alec war furchtbar erleichtert und bejahte die Frage, ohne nachzudenken. „Wenn du denn da bist?“
„Ja, ich habe Samstag früh nur eine kurze Schicht, da schläfst du dann sicher noch. Wie geht es dir? Soll ich dich abholen?“
„Gern! Sag mir nur, wann?“
„Ich muss noch bis sechs arbeiten, dann fahre ich los. So gegen sieben, halb acht bin ich bei dir.“
„Ich werde draußen warten!“
Alecs Mutter war von seinen Plänen, das Wochenende wieder in Berlin zu verbringen, natürlich nicht begeistert.
„Stellst du ihn mir wenigstens vor?“
„Mama, ich bin keine 13 mehr.“
„Ich will doch nur, dass dir nichts passiert.“
Alec atmete tief durch.
„Mir ist auch das letzte Mal nichts passiert. Wenn es ihm nichts ausmacht, tue ich das, ja.“ Er wollte endlich Ruhe und resignierte. Seinen Ex-Freund hätte er niemals so vorgestellt, mit Luke war das anders.
Luke kam pünktlich, Alec war innerlich so erfreut, dass er sich schwer zurückhalten konnte, ihm nicht um den Hals zu springen, er ging zum Auto, fragte ihn, er bejahte und stieg aus. „Du meinst, das ist eine gute Idee?“
„Nein. Das ist nur, dass meine Mutter weiß, dass ich in guten Händen bin und wieder ruhig schlafen kann.“
„Du meinst, du wärst das bei mir?“ Er grinste. „Sie weiß es?“ Luke betonte das 'es', Alec wusste sofort, was er meinte.
„Ja, kein Problem. Sie mag es nicht, aber akzeptiert es.“
Nun begaben sich beide auf den schmalen, gepflasterten Weg Richtung Haus. Er schloss die Tür auf, bat Luke herein und rief seine Mutter, welche aus der Küche kam.
Sehr verwundert starrte sie Luke an und meinte schüchtern: „Oh. Na, wir kennen uns doch.“
„Ja. Hallo, Frau Wiek“, antwortete er und reichte ihr förmlich die Hand.
„Hätte ich gewusst, dass er sich nur mit Ihnen trifft. Wissen Sie, ich mache mir nur Sorgen.“
„Kein Problem.“ Plötzlich blitzte in Luke wieder der Doktor hervor, förmlich, höflich, korrekt. Alecs Mutter ging kurz in sich und sah die Szene im Krankenhaus, wie er ihnen damals erklärte, wie es um ihren Sohn steht. In diesem Augenblick kam Alecs Vater herein, überrascht von dieser Situation. Er erkannte den Doktor ebenfalls, lange genug hatten sie damals mit ihm zu tun. Ein Schweigen erfüllte den Flur, Alecs Mutter schließlich brach es. Stellte unnötigerweise einander vor. Der Vater hatte noch immer nicht begriffen, warum der Arzt im Flur seines Hauses stand und schaute verwirrt seine Frau an. Diese entging der Situation gekonnt.
„Ihr wollt sicher los. Fahren Sie vorsichtig.“
Alle verabschiedeten sich brav, die beiden jungen Leute verließen das Haus. Zurück blieb das Ehepaar Wiek, der Vater, der jetzt erstaunt seine Frau anschaute.
„Ich glaube, ich verstehe gerade nicht, was hier vor sich geht. Warum war dieser Arzt hier und wo will Alec mit ihm hin?“
Sie schaute ihn an: „Das ist der Mann, bei dem Alec das letzte Wochenende verbrachte und zu dem er dieses wieder fährt.“
Der Vater, sichtlich erstaunt, brachte nur ein kurzes 'Oh' heraus. Jetzt hatte es klick gemacht.
„Wäre es unsere Tochter, die einen Arzt anschleppt, hätte ich gesagt, gute Partie! Du weißt, dass ich seine Neigung nicht unterstütze, aber ich muss es ja akzeptieren. Aber mit dem Arzt? Ich hätte nicht gedacht, dass der schwul ist. So ein hübscher, junger Mann. Und dann mit Alec. Nee, also das ist mir zu viel heute, du findest mich vorm Fernseher.“ Er drehte sich um, murmelte noch etwas und setzte sich in den Sessel ins Wohnzimmer. Sie zuckte mit den Achseln, stand noch im Flur und sprach zu sich selbst „Ja, gute Partie. Na ja, wenigstens ist er gut umsorgt.“
Annäherung
Als die beiden in Lukes Wohnung ankamen, konnte sie nichts mehr zurückhalten, sich endlich zu umarmen. Alec drückte Luke an sich, als hätten sie sich wochenlang nicht gesehen, mochte ihn kaum wieder loslassen.
„Ich habe dich vermisst“, wispelte er, den Kopf gegen Lukes Brust gedrückt.
„Ich dich auch. Entschuldige, dass ich mich nicht früher gemeldet habe.“
Er streichelte ihm über den Rücken. Sie küssten sich innig. Der erste richtige Kuss zwischen beiden. Lukes Hand kroch langsam unter Alecs T-Shirt.
Dieser stand plötzlich wie angewurzelt da, starrte Luke an, der verwundert zurückschaute. Er stieß ihn weg und schrie ihn an. „Lass mich los. Fass mich nicht an!“ Er begann zu zittern und flüchtete in eine Ecke des Wohnzimmers.
Luke ging ihm nach, versuchte ihn zu erreichen. Als er ihm die Hand auf die Schulter legte, schlug Alec sie weg und begann, bitterlich zu weinen. Er verkroch sich regelrecht in der Ecke und rollte sich zusammen.
„Alec. Ich tue dir doch nichts. Bleib ganz ruhig. Tut mir wirklich leid!“ Wieder versuchte er sich ihm zu nähern, schaffte es dann auch, den wieder um sich schlagenden, zitternden Alec in seine Arme zu nehmen und festzuhalten.
„Schhh Schhh, ist doch alles gut. Komm zurück.“ Die beiden sackten zu Boden. Alec hielt still, lag nun ganz ruhig weinend in seinen Armen. Der Doktor streichelte ihn sanft, er ließ es jetzt zu, entspannte sich langsam. Luke strich ihm die Haarsträhnen aus dem Gesicht und beobachtete ihn behutsam.
„Dir passiert nichts bei mir.“
Auch für ihn war diese Situation ganz neu. Er wusste Alecs Verhalten schlecht einzuordnen, kannte keine genauen Hintergründe.
„Ich weiß“, wimmerte Alec. „Aber ich habe eben nicht dich gesehen. Es tut mir leid. Schon wieder ... scheiße.“
„Du brauchst dich nicht immer zu entschuldigen.“
Luke starrte die Wand an, Alec weiter sanft berührend.
„Es tut mir so leid“, wiederholte er und schluchzte wieder mehr.
„Es ist ok. Weißt du, ich muss auch erst lernen, mit sowas umzugehen. Das ist nicht so einfach für mich“, wurde er beruhigt. Die beiden saßen bis spät in die Nacht da und schliefen ein.
Aus dem Schlaf holte sie Lukes Handy. Brubbelnd nahm er ab: „Dr., wir brauchen Sie unbedingt hier!“ Es war wieder eine der Schwestern aus dem Krankenhaus. Luke rollte mit den Augen. „Wie? Schon wieder? Ich habe frei. Schon mal was davon gehört?“
„Ja, aber wir haben keinen Arzt mehr hier.“
„Was ist denn mit Dr. Milikan? Oder wer hat denn heute noch Schicht?“
„Der ist selbst verletzt!“
„Verdammt. Ich komme hin.“
Luke schleuderte sein Handy über den dunklen Parkettfußboden. Alec war wach geworden.
„Was ist?“
„Ich muss arbeiten. Irgendwas scheint sich verschworen zu haben, als dass wir mal eine Nacht in Ruhe zusammen verbringen könnten.“
„Haben die keine anderen Ärzte, dass du immer ran musst?“
„Zurzeit alle krank und weg und keine Ahnung wo. Tut mir leid.“ Beide lösten ihre Verschlingung und standen auf.
„Kommst du klar allein?“
„Ich denke doch“, antwortete Alec total verschlafen.
Die beiden trafen sich oft, natürlich nur bei Luke zu Hause. Es zogen einige Wochen ins Land. Alec hatte immer wieder seine Nervenzusammenbrüche, ließ sich aber nicht überreden, darüber zu reden oder wirklich Hilfe in Anspruch zu nehmen. Er versuchte, alles zu vertuschen. Luke half ihm einige Male mit Schlaftabletten, das sollte jedoch keine Dauerlösung sein. Er hoffte, dass er irgendwann mal von allein zu erzählen beginnt. Leider hatten die beiden wenig Zeit miteinander, nutzten aber die Zeit, die sie hatten, aus. Alec vertraute Luke. Jedoch nicht so weit, dass zwischen ihnen mehr als eine Umarmung oder ein Kuss zu verzeichnen war. Luke fühlte sich mit den Nervenzusammenbrüchen leicht überfordert, raufte sich aber immer wieder zusammen.
Als Luke weg war, versuchte Alec weiterzuschlafen. Wurde allerdings ständig schweißgebadet wach und zitterte am ganzen Leib. Gleiches wie in den letzten Nächten. Alec fand sich plötzlich in diesem dunklen Schuppen wieder. Wandelte in Trance durch Lukes Wohnung, rannte gegen Möbel und Wände, bis er in der Küche ankam. Er wusste nicht, was er tat.
Luke kam wenig später wieder nach Hause, dachte Alec würde schlafen und ging leise ins Schlafzimmer.
Doch dort war kein Alec, auch nicht im Gästezimmer, auch nicht im Wohnzimmer.
„Alec?!“
Er machte etwas mehr Licht an, in der Hoffnung, mehr zu sehen, und begann die Wohnung abzusuchen.
In der Küche bot sich dann ein Bild des Schreckens. Nun musste der Arzt in Luke her. Alec lag in der Blutlache seines Armes, sehr schwach, fast bewusstlos.
“Was machst du denn für einen Scheiß”, wispelte Luke und versorgte schnell die Wunde, rief einen Rettungswagen. Er hatte ja nichts da, um ihn weiter zu versorgen. Er musste dringend in die Klinik. Nach der Erstversorgung nahm er Alecs Kopf zwischen seine Hände und sprach auf ihn ein.
„Du musst hier bleiben, hörst du? Alec!“
Alec, fast weggetreten, schaute ihn nun leer an, bevor sein Blick wieder nach unten sank. Der Kopf lag schwer in Lukes Händen. Die Hilfe kam bald. Nur der Rettungswagen, noch nicht der Notarzt. Aber Luke war da und übernahm den Part. Er wurde in ein naheliegendes Krankenhaus gebracht und wachte nach einer gewissen Zeit wieder auf, als er schließlich stabilisiert war. Luke unterhielt sich mit einem Berufskollegen über irgendetwas anderes Medizinisches, während Alec schwach seine Augen öffnete.
„Hey, wieder da?“
Alec antwortete nicht, konnte kaum die Augen offen halten, griff schläfrig nach Lukes Hand, der seine kurz festhielt und dann schnell wegzog, bevor der Kollege etwas merkte.
„Wie lange wollt ihr ihn hierbehalten?“, Luke wandte sich wieder dem anderen Arzt zu.
„Da wir von einem Suizid ausgehen müssen, wird wohl eine psychologische Behandlung nicht ausbleiben.“
Luke verzog die Stirn.
„Das wird nichts bringen. Es war nur ein Unfall.“
„Doktor, Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass es keiner war.“
„Ich muss ihnen dazu mehr erzählen.“
Der andere Arzt schaute nochmal nach Alec und ging dann mit Luke heraus.
Luke schilderte ihm Alecs Fall. Mindestens eine Woche sollte er vorerst noch bleiben. Luke verabschiedete sich von dem Arzt und von seinem Freund, denn er musste zur Arbeit in sein Krankenhaus. Langsam fühlte er sich, als würde er sein Leben nur noch in Krankenhäusern verbringen ... selbst in seiner Freizeit.
Nach seiner Schicht besuchte er wieder Alec, der nun wacher und ausgeruhter war.
„Mensch, was hast du getan, Alec?“
„Ich wollte das nicht, ich mache dir nur Ärger.“
Er konnte nicht zu Luke schauen, während er das sagte und war den Tränen nahe. Er fühlte sich schäbig und hilfsbedürftig.
„Du musst wirklich an dem Problem arbeiten und wenn du auch nicht mit mir sprichst, musst du es mit jemand anderem versuchen. Es ist zu gefährlich, du hast dich fast umgebracht und die Ader Gott sei Dank knapp verfehlt. Hattest aber trotzdem genug Blut verloren, dass es schon arg gefährlich wurde. Mann, sowas kannst du nicht bringen, Alec. Ich traue mich ja in Zukunft kaum, dich noch allein zu lassen.“
„Aber du warst ja da.“
„Ja, aber ich bin nicht immer da und wäre ich später gekommen, hätte es zu spät sein können. Ich habe Angst um dich!“
„Mh.“ Alec schaute noch immer weg.
„Was erzähle ich jetzt deinen Eltern? Die lassen dich ja nie wieder weg.“
„Gar nichts. Ich rufe morgen an, dass ich ein paar Tage länger bleibe und rufe auf Arbeit an, dass ich einige Tage frei brauche. Sie müssen das nicht wissen.“
„Nein, man sieht es deinem Arm ja auch nicht an. Aber gut“, warf Luke voller Ironie ein. Er war so aufgebracht und musste sich wirklich zusammenreißen, um Alec nicht anzuschreien.
„Nein, ich ziehe einen Pullover an und gut ist.“ Luke hasste es, wenn Alec den Problemen auswich. Bisher ging das gut, aber die Frage ist, wie lange das noch so bleibt.
Luke blieb noch eine Weile, bevor er nach Hause ging und ins Bett fiel. Er träumte diese Nacht von Alec, vermisste ihn neben sich. Hatte Angst um ihn. In der nächsten Woche besuchte er ihn ab und an. Nicht zu oft, es durfte ja nicht auffallen. Alecs behandelnder Arzt schickte eine Psychologin in die Spur, die versuchen sollte, mit ihm zu sprechen. Außer in Schweigen endeten diese Gespräche ergebnislos. Alecs Bereitschaft war nicht da. Die wäre die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung gewesen.
Trennung
Auf Lukes anraten ließen sie Alec nach einer Woche wieder heraus. Er holte ihn ab und brachte ihn nach Hause zu seinen Eltern. Auf dem Weg stellte sich Schweigen ein.
„Du bist so kalt zu mir, Alec. Was ist los, was geht in deinem Kopf vor?“
Alec schaute nach draußen, starrte in die vorbeiziehende Landschaft.
„Wir sollten uns trennen.“
Luke, völlig fassungslos von der Endgültigkeit dieser Worte, blieb erst mal wortlos. „Nein“, das Wort fast verschluckend.
„Lass mich bitte hier raus, ich laufe die letzten Meter.“
„Alec, sei vernünftig.“
„Halt sofort an!“ Er schrie ihn an und öffnete gleichzeitig die Tür, woraufhin Luke sofort abbremste.
„Hör auf zu spinnen, Alec!“
Luke hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, da war Alec schon ausgestiegen und lief davon. Er hielt seinen schmerzenden Arm mit der gesunden Hand fest und eilte davon.
Fassungslos schaute Luke ihm nach und flüsterte sich zu: „Das wird dir nicht helfen, Alec, dich zurückzuziehen.“ Er konnte seine Enttäuschung kaum zurückhalten, drehte aber um und fuhr zurück, er lief ihm nicht nach. Zu Hause überkamen ihn die Einsamkeit und der Gedanke an Alec. Luke weinte sich in den Schlaf. Warum konnte er ihm nicht helfen? War er dazu nicht in der Lage, wo er doch sonst so unfehlbar war?
Alec hielt die Fassung, wechselte mit seinen Eltern höflich die nötigsten Worte und ging in sein Zimmer, schloss sich ein und brach völlig zusammen. Er hatte alles andere gewollt, als Luke den Laufpass zu geben. Er wollte bei ihm sein, brauchte ihn, vertraute ihm. Jeder Blick auf seine Schmerztabletten erinnerte ihn an Luke.
Aber er wollte ihm nicht zur Last fallen, hatte Angst, ihm Arbeit zu machen. Er wollte nicht, dass er unter ihm leidet, das hatte er nicht verdient. Er hatte so schon zu wenig Schlaf und dann sollte er sich in seiner Freizeit noch um so einen Krüppel wie Alec widmen? Nein, das wollte er nicht mehr.
Alec ging am Montag zur Arbeit, als wäre nichts gewesen. Sah sich die liegengebliebene Arbeit an und begann, die Aktenberge abzuarbeiten. Darauf fand er auch einen Einsatzplan, wann die Azubis in welcher Abteilung sein würden. „Oh nein“, murmelte er, als er sah, dass Dana ab morgen bei ihm sein würde.
Seine Vermutungen bewahrheiteten sich und Dana versuchte zusehends, seine Aufmerksamkeit zu ergattern. Er versuchte, so ekelig wie möglich zu sein und sie mit Arbeit vollzustopfen, um Ruhe vor ihr zu haben. Die Gespräche mit den Kollegen während der Pausen füllte Alec brav mit Lügen, um nur nicht aufzufallen. Er kniete sich ansonsten in seine Arbeit und versuchte, Danas Annäherungsversuche zu ignorieren und das Verlangen nach Luke zu unterdrücken.
An den Abenden und in den Nächten kam jedoch immer wieder der Gedanke an Luke zurück, zwei Wochen hatte er ihn nicht gesehen und nichts von ihm gehört. Er sehnte sich so sehr. Wie es seinem Doktor wohl gehen würde? Er hatte nicht einmal versucht, ihn zu erreichen.
Luke war bei seiner Arbeit nicht ganz bei der Sache, versuchte sich jedoch immer zu konzentrieren, in seiner Wohnung hielt er es kaum aus, ihm fehlte Alec so sehr. Er wollte ihn aber nicht bedrängen und wusste nicht weiter, wie er sich ihm am besten näherte. Er könnte seine Kollegin im Krankenhaus fragen, schließlich war sie Psychologin, aber er traute sich nicht, sich völlig zu entblößen. Es vergingen noch ein paar Tage, bis er versuchte, Alec anzurufen. Der ging natürlich nicht ans Handy. Es fiel Alec sehr schwer, die Anrufe zu ignorieren, zu gern würde er wieder diese warme, sanfte Stimme hören, wieder in den Armen seines Ex-Freundes liegen.
Reise in die Vergangenheit
Luke bekam eines Abends einen Anruf, ob er zum Klassentreffen kommen würde. Ob er denn die Einladung bekommen hätte. Das hatte er aus unerfindlichen Gründen nicht, oder sie ist in der Post einfach untergegangen. Lust hatte er eigentlich keine, aber er hatte sowieso diese zwei Tage frei und beschloss zu fahren. Dann würde er auch seine Eltern endlich mal wiedersehen. Vielleicht käme er dann auf andere Gedanken.
Seine Mutter freute sich natürlich über den Anruf ihres Sohnes, dass er mal zwei Tage nach Stuttgart kommt. Normalerweise war er nicht der Typ für solche Anlässe, die meisten aus seiner ehemaligen Klasse mochte er eh nicht wiedersehen. Aber auch, um seine Eltern ein wenig zu erfreuen, fuhr er schließlich.
Sie freuten sich natürlich, ihren Sohn mal wiederzusehen und überlegten noch, bevor er zum Klassentreffen ging, welches Mädel aus seiner ehemaligen Klasse wohl die Richtige gewesen wäre. „Mein Sohn, wie wäre es denn mit Rebecca? Die mochtest du doch damals!“, stocherte seine Mutter.
„Mutter, das ist zehn Jahre her, die sind sicher alle verheiratet.“
„Richtig, außer du. Wird mal Zeit. Sieh dir deinen Bruder an. Ich meine, der hat zwar sonst nichts im Leben geschafft, aber ist verheiratet.“ Sie richtete ihm den Hemdkragen.
„Nun fange doch nicht damit an.“
„Wie lange bleibst du denn? Du musst unbedingt Georg besuchen. Er und Katharina freuen sich bestimmt, dich zu sehen.“ Sie schaute ihrem jüngeren Sohn in die Augen.
„Ganz sicher wird sie sich freuen.“ Er verdrehte die Augen, sich im Gedanken schon diese Zicke ausmalend.
„Ich gehe nachher hin, kurz vor dem Klassentreffen. Ich habe schon mit Georg gesprochen.“
„Das ist gut, aber du weißt ja, dass du unser Bester bist. Bringst du deine Sachen hoch und kommst dann etwas essen?“ Nun ließ sie endlich von ihm ab und ging in Richtung Küche.
„Klar.“ Luke stand in der großen Diele und ging dann die Treppe hinauf in sein ehemaliges Kinderzimmer. Seine Mutter hatte daraus inzwischen ein Blumenzimmer gemacht. Die Blütenpracht wirkte erdrückend auf Luke, das war nicht zu vergleichen mit seinen fünf Blumentöpfen, die er zu Hause hatte. Der Duft des Hibiskus ließ ihn tief durchatmen.
Er stellte sich ans Fenster und schaute auf den Hinterhof, der lag still, perfekt gemäht, da. Er dachte an seinen Bruder Georg. Seit Luke geboren war, war er das Lieblingskind seiner Eltern. Luke machte alles besser als sein älterer Bruder. Luke war schlauer, Luke war hübscher. Seit er sein Studium erfolgreich abgeschlossen hatte, redeten die Eltern bei keinem Familientreffen über etwas anderes, wie toll er doch sei, wie erfolgreich, was für eine gute Position er als Arzt jetzt doch hätte, welche Weiterbildungen er machte. Einzige Sorge seiner Eltern war, dass ihr Kronsohn noch immer keine Freundin hatte und keine Familie gründete. Das hatte jedoch sein Bruder geschafft.
Georg hatte begonnen, Medizin zu studieren und hielt das genau ein Semester durch. Kurz danach lernte er Katharina kennen. Sie ist die Tochter eines großen Unternehmers der Gegend. Er führt eine Firma mit langer Tradition und gab seinem Schwiegersohn, den auch er für einen Versager hielt, dort eine Stelle im Büro. Katharina selbst brauchte nicht arbeiten, sie hatte ja Papas Geld, wenn das ihres Ehemannes nicht reichte.
„Luke, wo bleibst du denn?“, schallte es von unten herauf. Er schüttelte kurz seinen Kopf, um wieder in die Gegenwart zu kommen und antwortete.
Sein Vater war inzwischen gekommen und begrüßte ihn. Am Kaffeetisch fingen sie an, über medizinische Sachen zu sprechen. Luke fand es nervig, beteiligte sich aber immer höflich daran.
Er trank seinen Kaffee aus und machte sich dann auf den Weg zu seinem Bruder. Die wenigen Tage, die er in Stuttgart verbrachte, musste er nutzen, um seine Familie mal zu sehen.
Sein Bruder begrüßte ihn freundlich, Katharina, mit aufgesetztem Lächeln, tat es ihm nach. Georg und Luke verstanden sich relativ gut, sie sprachen nie darüber, dass Luke von den Eltern immer so hervorgehoben wurde. Man setzte sich zusammen ins Wohnzimmer, trank wieder Kaffee und aß Kekse. Selbstgebacken von Katharina. Wirklich gebacken konnte man es nicht nennen, denn das konnte sie nicht. Sie hatte vielmehr eine Fertigmischung in den Ofen getan und gewartet, bis die vermeintlichen Kekse fertig waren. Na ja, Luke war da selbst nicht besser, kochen und backen standen nicht auf seinem Plan. Man konnte die Ergebnisse niemandem zumuten.
Die Brüder kamen ins Gespräch. Ein Gespräch über die Standarddinge Arbeit, Familie, Wetter. Die blonde Schönheit am anderen Ende des Tisches beäugte Luke mit einem Gesichtsausdruck des Wartens, der Langeweile. Sie hasste ihn. Er konnte sich nie erklären, warum, nahm das notwendige Übel am anderen Ende des Tisches aber hin, tat ihr gleich und hasste sie ebenfalls.
Plötzlich sprang sie auf und kam kurz darauf mit einem Handstaubsauger wieder. Die Männer schauten sie verwundert an, während sie begann, um Georg und Luke herum die nicht sichtbaren Krümel wegzusaugen.
„Schatz, willst du das nicht später machen?“, meinte Georg ruhig, während Luke kaum wusste, in welche Ecke der Couch er rutschen sollte, um nicht Opfer des Saugmonsters zu werden. Er stand auf und meinte, er müsste jetzt eh langsam los zum Klassentreffen. Die Brüder verabschiedeten sich, Luke ging: Richtung Elternhaus.
Er lief durch die Stadt, der Weg war nicht weit gewesen, nur circa 20 Minuten. Während des Laufens kamen Gedanken an Alec auf. Was würden nur seine Eltern sagen, wenn sie wüssten, dass ihr über alles geliebter, hoch gelobter Sohn auf Männer steht und keinerlei Interesse hat, eine Familie zu gründen. Seine Eltern waren sehr konservativ, sie würden dafür kein Verständnis haben und ihn wahrscheinlich zu einer Gehirnwäsche schicken wollen, wenn sie es erfuhren. Er hielt es für die bessere Wahl, das erst mal für sich zu behalten. Gott sei Dank wohnte er ja weit weg und konnte dort seine Freiräume ausnutzen.
Luke nahm sein Handy aus der Tasche, versuchte ein weiteres Mal, Alec anzurufen. Keine Reaktion, auch wenn er von anderen Telefonnummern aus anrief, reagierte Alec nicht. Letztens hatte er sogar versucht, ihn auf Arbeit anzurufen, leider hatte er nur die Auszubildende dran, Alec war gerade nicht im Büro, somit hatte sich das Gespräch erledigt. Er könnte ihm eine SMS schreiben, verwarf den Gedanken aber schnell, da er nicht die richtigen Worte fand. Dann bog er in die nächste Querstraße ein und wurde von einer älteren Dame angesprochen. Verdutzt blieb er stehen, widmete sich der Frau. „Na, wen haben wir denn da? Was für eine Überraschung. Luke Franklin. Schau dich an, was aus dir geworden ist. Wie geht es dir denn, was machst du denn beruflich?“
Es war eine seiner ehemaligen Lehrerinnen, die ihn da erkannt hatte. Auch sie würde heute Abend zum Klassentreffen kommen, löcherte ihn aber jetzt schon mit Fragen. Losreißen konnte er sich nur mit einem Blick auf seine Armbanduhr. Es war schon spät und er musste noch zu seinen Eltern, sich umziehen, auch sie musste sich langsam fürs Treffen vorbereiten.
Er kam sich in dieser Gegend etwas fremd vor, obwohl er vor dem vertrauten Schulgebäude stand und es anblickte. Kurzes Durchatmen, dann ging er rein. Etwas neugierig war er doch schon geworden, wie sich alle entwickelt haben. Bei einigen konnte er es sich vorstellen, bei anderen nicht wirklich. Er war etwas spät dran, fast alle waren schon da und saßen an dem großen Tisch. Er schmiss ein schnelles 'Hallo' in die Runde und suchte sich einen freien Platz, völlig verlegen, weil ihn alle anstarrten. Was war aus dem schmalen, hochgewachsenen geworden. Die meisten schauten verwundert den jungen Mann an, der mit seiner stattlichen Körpergröße von 1,90 Meter viele der anderen überragte. Die Organisatorin des Klassentreffens, es war Rebecca gewesen, begrüßte ihn und sprach dann zu allen. Kündigte die Vorstellungsrunde an und begrüßte alle zusammen nochmal im Raum. Rebecca war wie damals, völlig aufgedreht mit schriller Stimme und langen klimpernden Wimpern, gestylt bis unters Zahnfleisch mit einem Rock, der kürzer kaum sein könnte. Damals hatte sie noch lange Haare, heute trägt sie einen Kurzhaarschnitt, der sie jünger und irgendwie noch aufgedrehter wirken ließ.
Luke lauschte aufmerksam den sich Vorstellenden. Bei einigen, die schon damals nicht die Weisheit mit Löffeln gefressen hatten, war ihm klar, wie weit sie gekommen waren. Seine Befürchtungen waren erfüllt. Bauarbeiter, Arbeitsloser, das waren Aussichten. Natürlich waren auch einige dabei, wo er sehr überrascht hinnahm, was aus ihnen geworden war. Die damals Klassenbeste, neben Luke, Linda, war dreifache Mutter und kümmerte sich zu Hause nur um die Kinder und den Haushalt. Luke erinnerte sich, wie sie damals noch von einer Karriere träumte, sie wollte auch mal studieren und Ärztin werden. Nun war David dran, der sich im schroffen Ton vorstellte. Genauso unansehnlich wie damals, nur wurde sein Aussehen jetzt noch durch einen Bierbauch und einen Vollbart ergänzt. Der damalige Klassenclown, der Luke damals immer hänselte, hatte es weit gebracht. Er war arbeitsloser Single im Ruhrgebiet geworden. Luke grinste leicht, als er das hörte, die Schadenfreude war groß. Noch zwei andere stellten sich vor, nun war er an der Reihe. Er fasste sich kurz, erzählte nur, dass er nach dem Abi ein Medizinstudium gemacht hatte und nun am Unfallkrankenhaus in Berlin arbeitet. Neider taten sich auf und starrten ihn an. Einige erstaunte Gesichter machten sich breit. David warf von weitem ein: „Na ja, Streber warst du ja schon immer!“ ein. Luke erwiderte nichts, übergab das Wort nur an seine Platznachbarin.
Im Laufe des Abends kam man ins Gespräch. Als der Abend dem Ende entgegenging, setzte sich Linda zu ihm.
„Na Luke!“
„Linda.“
„Ich wusste, dass aus dir richtig was wird. Wir beide als Klassenbeste damals hätten eigentlich was werden sollen.“
„Glaub mir, ein Zuckerschlecken war es nicht. Warum hat es bei dir nicht geklappt mit dem Studium?“
„Na ja, ich hatte Wartesemester, dann fand ich die große Liebe, zog nach Dortmund in den Ruhrpott und wurde schwanger. Aus der Traum von der großen Karriere. Und was zog dich nach Berlin? Frau, Kinder?“
Luke lachte. „Nein, nein. Gar nichts. Ich wollte einfach hier weg und hatte in Berlin studiert.“
„Und die große Liebe?“
„Da habe ich bisher nicht richtig Zeit für gehabt.“
Warum mussten alle immer davon sprechen? War der Stellenwert dieses Themas so hoch angesetzt?
Ihr Gespräch weitete sich aus, sie wussten gar nicht mehr, warum der Kontakt damals verlorenging. Sie verließen abends zusammen die Party, nachdem sie beschlossen hatten, genug mit den anderen geredet zu haben. Und Luke für sich beschlossen hatte, sich von den damaligen Klassenidioten genug angehört haben zu müssen. Denen sprach doch nur der Neid aus dem Gesicht.
Linda und Luke verabredeten sich noch für den nächsten Tag zu einem Spaziergang durch den Park. Luke musste erst abends wieder zurück, so dass er zur Frühschicht in Berlin war.
Er holte Linda am Haus ihrer Eltern ab. Im Park setzten sie sich auf die Bank und genossen den Sonnenschein. Luke beobachtete das Schattenspiel der Blätter.
Linda mit ihrem siebten Sinn für Katastrophen beobachtete ihn und fragte schließlich, was ihr schon seit gestern auf der Zunge brannte:
„Was ist los mit dir? Du bist doch nicht glücklich. Du warst gestern schon so still. In deiner derzeitigen Situation hättest du David für die dummen Bemerkungen doch sonst kontra gegeben. Schließlich bist du der, der was geleistet hat.“
Luke lachte kurz. „Das stimmt, aber ich hatte überlegt, wollte jedoch keine miese Stimmung verbreiten.“
„Ich merke doch, dass du was auf dem Herzen hast.“
Plötzlich war die Vertrautheit wieder da, die beide schon durch die Schulzeit begleitet hatte. Sie hatten sich damals alles erzählt, waren die dicksten Kumpels. Linda erkannte genau, wenn Luke etwas auf dem Herzen hatte.
„Mh“, begann Luke. „Ich denke, ich kann dir vertrauen.“
„Sicher. Das konntest du damals immer und das kannst du auch heute noch. Alles, was du erzählst, bleibt unter uns. Und außerdem wohne ich eh ganz woanders, da würde ich hier im Ort nichts rumerzählen!“
„Da ist jemand in meinem Leben, den ich liebe. Glaube ich zumindest.“
„Oh! Und warum dann so traurig? Wie heißt sie denn?“
„Sie heißt Alec.“
Ein kurzes Schweigen von beiden Seiten. Linda schaute zu Luke.
„Okkaayyy. Ich wusste nicht, dass du ... du weißt schon.“
„Ich wollte das auch lange Zeit nicht wahrhaben.“
„Aber, es ist okay. Ich habe da kein Problem mit, nicht dass du das denkst. Erzähl doch mal von ihm, wie alt ist er, wie sieht er aus? Hast du ein Foto?“
„Foto? Ja, habe ich auf meinem Handy. Aber kein Gutes.“
„Das macht doch nichts, zeig her. Wie hast du ihn denn kennengelernt?“
„Das ist eine etwas längere Geschichte.“ Luke suchte ein Foto von Alec auf seinem Handy und zeigte es Linda.
„Er sieht nett aus, aber so traurig.“
„Ja. Er hat mich verlassen. Ich möchte ihn zurück. Er ist echt süß, wenn auch schwierig.“
Die beiden saßen noch lange zusammen und erzählten. Luke genoss es, sich endlich Probleme von der Seele reden zu können. Und Linda, die mochte die Abwechslung und freute sich, ihren ehemaligen Schulkumpel wieder als besten Freund begrüßen zu dürfen. Am Abend trennten sich ihre Wege leider wieder, beide fuhren nach Hause. Luke kam etwas spät in Berlin an, hatte dadurch zu wenig Schlaf und wirkte während seiner Schicht sehr müde.
Déjà - vu
Eines Tages bekam Alec Besuch von der Polizei. Etwas erstaunt schaute er auf die Männer in Uniform, die sich vorstellten. Sie bräuchten seine Hilfe, meinten sie. Ein ähnlicher Fall wie seiner hätte sich ereignet. Ein junger Mann wird vermisst und das schon seit einem Monat. Man könnte Parallelen ziehen, zuletzt hatte man ihn in Marzahn gesehen, danach nie wieder. Die Herren leiteten das Gespräch und fragten Alec um Hilfe, ob er sich denn nicht erinnern könnte.
Natürlich konnte er, wollte es aber nicht. Er verblieb mit den Worten, dass er sich morgen melden werde, er müsse nachdenken. Alecs Mutter war von dem Besuch der Polizei und ihrer Bitte an ihren Sohn nicht begeistert.
Er selbst verbrachte die Nacht sehr unruhig, konnte kaum schlafen, immer an den Unbekannten, welcher verschwunden war, denkend. Der würde wahrscheinlich das Gleiche wie er durchmachen.
Noch in der Nacht, es war zwei Uhr, rief er bei der Polizei an und meinte, er würde ihnen jetzt etwas zeigen wollen, den Fall betreffend. Die Beamten verloren keine Zeit und holten ihn mitten in der Nacht ab.
„Wo sollen wir denn hin?“, fragte der eine.
„Es ist in der Nähe von Marzahn, ich wurde damals dort ins Krankenhaus gebracht.“ Nun fiel ihm Luke ein. Er verdrängte den Gedanken, versuchte klar zu bleiben, sich zusammenzureißen.
Die Polizisten wussten, an welcher Straße er gefunden wurde, sie hatten seine Akte vorher ausgiebig studiert.
„Wir fahren da lang.“
Sie fuhren die Straße entlang, in Alecs Kopf blitzten die Erinnerungen auf, bis er sie anhalten ließ. Er führte sie wie in Trance querfeldein über einen Acker, über eine Wiese. Da lag der alte Hof. Linksseitig stand er, dieser Schuppen, das Haus des Schreckens.
„Hier. Schauen Sie rein!“, sagte Alec schnell und drehte sich tief durchatmend weg. Ihm wurde alles zu viel, er versuchte weiter stark zu bleiben. Die Tür war verschlossen, sie wurde von den Polizisten kurzerhand aufgebrochen. Sich in eine Ecke kauernd, fand man den Vermissten, völlig verängstigt. Alec stand im Hintergrund und starrte auf die Szene. Einer der Polizisten orderte sofort einen Rettungswagen, der andere kümmerte sich um den Verletzten. Alec stand allein. Die Szene brannte sich in sein Gehirn, ihm wurde wieder bewusst, dass er ebenso in dieser Situation gewesen war. Aber ihm hatte niemand geholfen, niemand. Er war damals allein, schleppte sich zur Straße. Warum hatte ihm keiner geholfen? Hatte ihn niemand vermisst? Sein Herz schlug höher, die Aufregung stieg, er hatte kalten Schweiß auf der Stirn, weiche Knie und nahm die Stimmen der anderen nur noch dumpf wahr. Atemnot. Er wollte einfach weglaufen, doch war wie gelähmt.
Dann brach er zusammen, fast lautlos sackte er in sich und lag einfach nur da. Von den Polizisten natürlich sofort bemerkt, versuchten sie sich auch um ihn zu kümmern. Er war völlig weggetreten, reagierte nicht mehr und schnappte nach Luft. Nach einer Weile kam auch der Rettungswagen, kurze Zeit später der Notarzt. Die Sanitäter hatten sich sofort um den Verletzten innerhalb des Schuppens gekümmert, noch bevor der Notarzt hinzukam. Sie hatten die Situation unter Kontrolle, so konnte er sich dem fast Bewusstlosen widmen. Besagter Notarzt traute seinen Augen nicht, schaffte es schnell, ihn wieder zurückzuholen. Alec schlug seine grünen Augen auf und schaute direkt in Lukes braune. Sie schauten sich kurz fassungslos an. Schweigen.
„Wir sind so weit. Können wir?“ Die Sanitäter waren auf dem Sprung, hatten gesehen, dass Alec wieder bei Bewusstsein war und ruhig atmete. „Du kommst mit mir mit, Alec.“ Luke atmete tief durch und hielt ihn an der Schulter fest.
Alec sagte nichts, war apathisch, ließ sich aufhelfen und von Luke in den Notarztwagen ziehen. Der klärte vorher noch etwas mit den Sanitätern ab und widmete sich dann ihm. Luke wusste, dass er ihn so nicht mitnehmen durfte, ließ sich aber schnell Ausreden einfallen, um die Ausnahmesituation auszunutzen.
Alec saß im Auto neben ihm, den Kopf nach rechts gewandt, an der linken Gesichtshälfte seine Hand ausgebreitet, seinen Kopf festhaltend. Luke brach das Schweigen, er merkte die innere Anspannung Alecs.
„Hast du dir sonst wehgetan?“ Keine Antwort, Luke seufzte.
Wieder im Krankenhaus fädelte Luke alles ein, um Feierabend machen zu dürfen, was ihm auch gelang. Alec parkte er am hinteren Eingang ab, hoffend, dass er dort bleiben würde. Es dauerte nicht lange, da kam er zu ihm zurück. Alec war völlig verwirrt, ließ sich von Luke hinterherziehen. Er dachte sich, was passieren würde, und wollte nur schnell nach Hause. Auf dem Mitarbeiterparkplatz, schützend hinter einer Hecke versteckt, blieb Alec plötzlich stehen. Luke drehte sich zu ihm um, schaute ihn an.
Er war blass wie eine Leiche und brach in Tränen aus, seinen Freund mit den Armen suchend. Luke umarmte ihn sofort und versuchte, ihn zu beruhigen. Alec ließ sich in seine Arme fallen, sank zu Boden, bitterlich weinend.
„Oh nein, nein. Bitte nicht hier. Komm mit, wenigstens bis zum Auto. Lass uns schnell nach Hause fahren.“
Er verfrachtete Alec auf die Rückbank, hatte Angst, dass die Kollegen etwas merken oder sehen könnten, und fuhr schnell zur Wohnung. Oben angekommen, legte er ihn sanft ins Bett.
„Sprichst du wieder mit mir?“, fragte Luke unsicher, er hatte seinen Freund im Arm.
„Luke. Ich ... ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich vermisse dich seit Wochen, seitdem ich damals ...“
„Ich dich auch! Du bist nie an dein Telefon gegangen. Ich wünschte, du wärst rangegangen.“
„Ich wünschte, du wärst heute schon früher in meiner Nähe gewesen.“
„Du hättest jederzeit zu mir kommen können.“ Luke vergrub sein Kinn in Alecs Haaren, drückte seinen Kopf auf den anderen.
„Du hättest das nicht machen sollen. Was für selten dämliche Polizisten waren das denn auch? Die hätten das nicht von dir verlangen dürfen! Möchtest du darüber reden? Wir haben Zeit, nur wir zwei allein.“
„Mh.“ Stille. „Gestern Abend kamen die Polizisten zu mir und erzählten von einem ähnlichen Fall. Sie baten um Hilfe, sie haben es nicht verlangt. Ich wollte eigentlich nicht, aber die letzte Nacht war so schrecklich. Ich hatte immer wieder die Bilder vor mir und dachte daran, dass der Andere eventuell das Gleiche durchmacht wie ich. Ich wollte helfen.“ Während Alec sprach, streichelte Luke ihn sanft und hörte aufmerksam zu.
„Ich rief da dann mitten in der Nacht an und wollte denen diesen Schuppen zeigen.“
„Da ist es damals passiert?“
„Ich war eingesperrt und gefesselt. Es war stockduster, nur ein kleiner Lichtschein unterm Dach verriet, ob es Tag oder Nacht war. Fast jede Nacht bekam ich Besuch von schmierigen Typen, die meisten gewalttätig. Zu Anfang versuchte ich mich noch zu wehren, versuchte zu schreien. Aber es schien aussichtslos. Manches Mal waren es mehr als einer, sie fielen dann wie eine wilde Meute über mich her. Und es war immer so schrecklich kalt. Ich hatte solche Angst. Ich war ein Stück Dreck.“ Alec drückte seinen Kopf stärker gegen Lukes Brust, weinte.
„Ich wusste keinen Ausweg, ich kam da nicht mehr raus. Ich konnte mich bald nicht mehr wehren. Irgendwie war dann auch alles egal, ob ich lebe oder sterbe. Und eines Tages muss ich bewusstlos geworden sein, der eine hatte mich gegen die Wand geschmissen. Das war ja nichts Neues, aber er muss Angst bekommen haben, ist abgehauen und ließ die Tür offen. Als ich wieder zu mir kam, nutzte ich die Chance. Ich habe das selbst kaum mitbekommen, aber so erinnere ich mich jetzt daran.“
„Und dann bist du auf die Straße gelaufen? Dieser Schuppen stand ein ganzes Stück von der Straße entfernt.“
„Ja. Luke ich wollte das doch nicht. Ich habe Hilfe gesucht, ich wollte da nur weg. Ich bin einfach gelaufen und gelaufen. Wusste nicht, wohin.“
„Es ist doch ok. Was solltest du auch machen? Du warst panisch, du hattest Angst.“
„Aber, was ist mit den Autofahrern, die da waren?“
„Ja, das kannst du nicht wissen. Mach dir keine Gedanken darüber.“
„Nein, aber?“
„Laut Aussage des LKW-Fahrers hat er dich erwischt. Glücklicherweise recht langsam, da an diesem Tag Glatteis war. Du wurdest über die Straße geschleudert. Eine entgegenkommende Frau konnte noch ausweichen, landete im Graben.“
„Oh nein.“
„Nur Blechschaden und ein Schock, denen ist nichts passiert. Für dich sah es dort schon weit schlimmer aus. Der Notarzt, der damals raus kam, hätte nicht gedacht, dass du das schaffst. Du hattest sehr schwere Verletzungen und dann die Kälte. Und so viel Metall, wie du jetzt im Körper hast ... Und deinen Physiotherapeuten hattest du es dann ja auch nicht so leicht gemacht, dich wieder auf die Beine zu bringen.“
„Wer war das damals?“
„Der Arzt? Peter, du hattest ihn in der Klinik sicher gesehen.“
„Du hast schon mal von ihm erzählt.“
„Ja, er ist ein guter Kumpel.“
„Bist du jetzt zufrieden? Nun weißt du, was mir damals geschehen ist und vielleicht verstehst du jetzt auch, warum ich so bin, wie ich bin.“
„Ich verstehe das schon, ich konnte es mir aufgrund deiner Vorverletzungen ja denken. Aber für mich ist diese Situation auch nicht so einfach. Du bist manchmal so sprunghaft. Ich weiß nie, woran ich bin.“
Stille kehrte ein. Luke war irgendwie erleichtert, seine Befürchtung bestätigt zu wissen. Alec innerlich aufgebracht, aber doch glücklich, sich etwas von der Seele geredet zu haben.
„Darf ich etwas fragen, oder möchtest du das nicht?“ Luke wurde vorsichtig.
„Frag.“
„Wie bist du in diese Situation gekommen? Wer hat dich dort eingesperrt?“
„Ein Typ.“
„Und wie bist du an den geraten?“
Alec hatte Angst, dass Luke ihn hassen würde, wenn er daran dachte, ihm zu erzählen, er wäre Callboy gewesen. Er löste sich aus der Umarmung, setzte sich gegen die Rückwand des Bettes, die Knie angewinkelt und die Arme drum herum geschlungen. Luke wartete geduldig, ließ ihn aus der Umarmung heraus.
„Du wirst mich hassen, wenn ich dir das erzähle.“
„Nein, warum sollte ich das tun“, antwortete er sehr ruhig und gefasst.
„Weil ich nicht so ein korrektes Leben geführt habe, wie du das tust.“
„Hör schon auf, erzähl es einfach. Bei mir ist es auch alles andere als perfekt. Ich werde dich deshalb nicht hassen. Jeder macht mal Fehler.“
„Also gut. Ich bin nach der Lehre nach Berlin gezogen und wollte studieren. Design und BWL. Meine Eltern unterstützten die Idee nicht, auch das Studium nicht, sie konnten bei ihrem Verdienst ja auch kaum. Um an Geld zu kommen, habe ich mich dann halt“, er machte eine kurze Pause und sprach dann bedächtig weiter, „als Callboy angeboten. Und ich war ein absoluter Partygänger, immer gut gelaunt.“ Seine Stimme zitterte. „Zurück zum Thema, gutes Geld für wenig Arbeit gab‘s dabei. Die Verführung war groß und es ist vorher nie etwas passiert. Und dann war da eines Tages dieser Anruf aus Marzahn, dem ich folgte. Dort angekommen, ließen sie mich nicht mehr weg.“
Luke war fassungslos, hatte sich sowas aber nach ihrer ersten Begegnung damals fast gedacht. „Das war kurz nachdem ich dich hier hatte? Deshalb kamst du nicht zur Verabredung?“
„Ja, da siehst du, wie lernfähig ich bin. Da passiert schon sowas und ich mache trotzdem weiter. Ich sollte gehen, ich sollte dich nicht damit belasten.“
„Untersteh dich, du bleibst hier.“
„Ich bin nur ein scheiß Stricher, du hast was Besseres verdient.“
„Alec. Ich liebe dich und das bleibt auch so, egal, was du getan hast.“ Luke sagte die Worte, hatte gleichzeitig aber einen Kloß im Hals und empfand Ablehnung. „Ich brauche dich doch.“
Kurze Pause.
„Du würdest den Polizisten helfen, wenn du die Wohnung dieses Typen finden würdest.“
„Ich weiß nicht, ob ich das kann“, antwortete Alec zitternd.
„Musst du erst mal nicht, nur wenn es geht. Komm her.“ Er nahm ihn wieder in den Arm. Die beiden schliefen ein, lagen seelenruhig nebeneinander. Luke wurde durch Alecs Wimmern am frühen Morgen geweckt.
„Was ist los?“, fragte er besorgt.
„Mir tut mein Rücken so weh, ich habe meine Tabletten doch nicht genommen. Die sind zu Hause. Ich habe sie vergessen. Das war alles so überstürzt.“
„Prima. Weißt du, was du alles nehmen musst? Wie die heißen?“
„Ich habe keine Ahnung. Ich nehme die zwar, kann aber mit Namen und Inhaltsstoffen sowieso nichts anfangen.“
„Sag mir den Namen deines Arztes. Ich frage nach. Dann besorge ich dir alles. Wird aber ein wenig dauern.“
„Ich weiß“, seufzte er.
„Oder soll ich dich nach Hause bringen?“
„Nein, ich möchte hier bleiben.“
„Bleib ruhig liegen, bewege dich nicht.“
„Ich kann mich ja auch kaum bewegen“, wimmerte Alec zurück.
Luke stand auf, ging ins Wohnzimmer und telefonierte. Das Gespräch wurde lauter, Luke etwas ungehalten. Alec hörte nicht zu, bekam nur die Tonlage mit. Luke stand ziemlich bald wieder in der Tür des Schlafzimmers: „Ich muss schnell nach Marzahn, deinen Arzt vom Diensttelefon aus überreden, mir alles zu verraten und die Medikamente holen. Brauchst du noch irgendwas? Trinken?“
„Nein, alles ok, geh nur.“
Als Luke zurückkam, fand er Alec auf dem Fußboden an der Tür zum Schlafzimmer wieder. Er hatte, verursacht durch die Schmerzen, kalten Schweiß auf der Stirn, lag ganz still auf der Seite, Tränen in den Augen, völlig bleich.
„Was machst du denn, du solltest dich nicht bewegen!“ Er hockte sich zu Alec.
„Du hast die Zimmertür zugemacht“, schluchzte er. Luke war völlig verwirrt. Ja, hatte er, das hatte er immer gemacht. Nichts Neues.
„Ja, und?“, hakte er verwundert nach.
„Ich hatte Angst, du hast mich eingesperrt, das darfst du nicht. Die Tür darf nicht zu sein“, erwiderte er weinerlich.
„Beruhige dich. Nimm erst mal deine Tabletten, dann geht’s dir bald wieder besser.“
Luke half seinem Freund, sich hinzusetzen und die Tabletten zu nehmen. Darunter jetzt auch ein Schlafmittel, um ihn wieder zur Ruhe kommen zu lassen. Luke wurde relativ schnell klar, was los war. Alecs Erinnerungen kehrten immer stärker zurück. Er war damals eingesperrt und hatte Angst, wieder eingesperrt zu werden. Es war in der Zeit, die sie bisher miteinander verbracht haben, nie ein Problem, dass eine Tür geschlossen war. Auch enge Räume akzeptierte Alec. Es entwickelte sich eine weitere Neurose.
Alec wurde müde „Das waren nicht nur meine Tabletten. Was hast du darunter gemischt?“, er merkte, dass er schläfrig wurde, der Schmerz im Rücken betäubt wurde.
„Ein Schlaf- und Schmerzmittel, dass du zur Ruhe kommst.“
Alec grinste ihn noch leicht an. „Mistkerl.“
„Ich weiß.“ Luke grinste zurück. „Ich will nur, dass es dir gut geht.“
Alec bekam den letzten Satz nicht mehr mit, war schon weggedämmert. Luke legte ihn sachte ins Bett und bemerkte jetzt wieder, was für ein Fliegengewicht er war, er hatte wieder stark abgenommen. Ein Blick unter seinen Pullover verriet Luke, was er sich gedacht hatte. Man konnte die Rippen zählen.
„Oh Mann, was hast du nur gemacht, Alec.“
Er war erstaunt, dass er so abgemagert war, wo sich seine Mutter doch immer rührend um ihn bemühte und er sich damals gut erholt hatte. Der ständige Stress seiner Erinnerungen schien ihm schwer zu schaffen zu machen.
Luke beschloss, während sein Freund schlief, mit Linda zu telefonieren. Er hatte nach dem Klassentreffen ab und an mit ihr gesprochen. Es beruhigte ihn ungemein, endlich jemanden zum Reden zu haben. Und sie war zu Hause, sie hatte Zeit.
An der Telefonnummer erkannte sie gleich, wer dran war und begrüßte ihn freudig.
„Luke! Wie geht es dir denn?“
„Na, rate mal?“
„Denkst du noch immer so viel an Alec, hat er sich nicht gemeldet?“
„Nein, hat er nicht. Aber er liegt in meinem Bett und schläft.“ Am anderen Ende wurde es still.
„Wie, jetzt?“
Luke erzählte ihr die Geschichte, sprach bestimmt eine Stunde mit Linda. Sie hatte noch immer diese Art an sich, ihren Gesprächspartnern Sicherheit zu geben. Man fühlte sich geborgen, wenn man mit ihr sprach. Und das selbst am Telefon.
Nachdem er das Gespräch beendet hatte, machte er sich daran, seine Wohnung ein wenig auf Vordermann zu bringen. Alles natürlich möglichst leise, um Alec nicht zu wecken. Luke dachte dabei nach, wusste nicht wirklich weiter. Er wollte seinem Freund irgendwie helfen, fand aber keine Lösung. Dann klingelte sein Handy. Er sah die Nummer und verdrehte die Augen. Das Krankenhaus, was wollten die schon wieder? Er ging ran und hatte am anderen Ende Marie. Eine der Schwestern seiner Station.
„Emm Luke, hier sind zwei Polizisten. Die wollen gern wissen, wo dein Patient von gestern ist.“
„Bei euch im Krankenhaus?“ Luke wusste nicht, auf was sie hinauswollte und dachte an den anderen Verletzten.
„Nein, nein, den meine ich nicht. Die Polizisten meinen, da war ein zweiter Patient? Ich habe aber auch keine Akte hier und keine Papiere von gestern.“ Sie sprach sehr vorsichtig und unsicher.
Ihm fiel ein, dass sie nur Alec meinen konnte, er fing an zu stammeln, wusste keine Worte.
„Achso, der ja ...“
„Ja?“, fragte sie zurück.
„Emm“, er entschloss sich, einfach die Wahrheit zu sagen, zumindest fast „Der ist bei mir zu Hause, es ist ein Freund von mir, ich kenne ihn. Er musste nicht behandelt werden, war nicht verletzt.“
„Äh gut. Ich sage den Herren Bescheid.“
Sie legte auf, Luke schluckte. Würde es Ärger geben? Es dauerte nicht sehr lange, bis es an seiner Tür klingelte. Vor ihm standen die Polizisten letzter Nacht.
„Dr. Franklin?“
„Ja?“ Luke wurde unsicher.
Einer der Polizisten begann zu sprechen, zu Lukes Verwunderung selbst sehr unsicher.
„Wir haben uns ja letzte Nacht schon kennengelernt. Wissen Sie, Alec Wiek, er ist bei Ihnen?“
„Ist er.“ Während er das sagte, ließ er die Polizisten rein und führte sie ins Wohnzimmer, bat sie, sich zu setzen. Der Polizist fuhr fort „Ich spreche mal offen zu Ihnen, wir haben von unserem Vorgesetzten eine ordentliche Standpauke bekommen, weil er plötzlich weg war. Es ging dann alles so schnell und im Krankenhaus war er auch nicht und seine Eltern hatten sich bereits gemeldet, dass er auch nicht zu Hause wäre. Nun wussten wir nicht, wo er sein könnte, und fragten nochmal im Krankenhaus, die gaben uns Ihre Adresse. Wir dachten, wir hätten ihn verloren.“ Der Polizist wirkte nun etwas erleichtert, der andere sagte nichts, schien die Situation nur zu überwachen.
„Nein, er ist hier. Es geht ihm gut. Ich hatte ihn mitgenommen, da er ein Freund von mir ist. Er brauchte nur jemanden zum Reden nach der Sache.“ Luke schien das 'ein' teilweise besonders zu betonen, es sollte sich ja vom 'mein' unterscheiden.
„Hat er etwas über den Fall erzählt?“
„Nicht viel, nur, was er damals erlebt hatte.“
„Wir wissen ja nichts davon, er hatte nie erzählt, stand in der Akte. Man hatte nur Vermutungen und Untersuchungsergebnisse. Sie würden uns weiterhelfen, wenn sie uns erzählen, was er gesagt hat.“
„Ich weiß nicht, ob er das möchte. Er muss das schon allein machen. Welche Vermutungen gab es denn? Ich kann Ihnen nur sagen, ob die stimmen oder nicht.“
„Misshandlungen, Vergewaltigung und dass er halt eingesperrt wurde, aber keiner wusste, wo.“
„Na den Ort wissen sie ja nun, er hat es gestern gezeigt. Der Rest stimmt auch.“
„Aber wir müssen wissen, wer ihm das angetan hat. Nicht, dass noch mehr in diese Situation geraten, so wie das Opfer von gestern. Hat er sich dazu geäußert?“
„Na ja, nicht direkt. Er wurde von jemanden in Marzahn weggefangen.“ Die Polizisten wurden hellhörig. „Aber er konnte dazu nicht mehr sagen, er wusste nur, dass derjenige in einer Neubauwohnung wohnte. Und davon gibt es in Marzahn ja mehr als genug.“
„Würde er ihn finden, würde er den erkennen?“
„Das weiß ich nicht. Ich denke auch, die Zeit ist nicht reif, ihn damit zu konfrontieren. Er ist ...“ Luke machte eine Pause „Er ist sehr labil.“
„Es wäre sehr wichtig für die Ermittlungen.“ Die beiden bohrten nach.
„Er hat dazu wirklich nicht mehr sagen können. Und ihre Aktion gestern wirft ihn um Meilen zurück. Ihm geht es wirklich schlecht.“
„Na ja, wir müssen ihn jetzt jedenfalls nach Hause bringen. Wir würden auf Sie zurückkommen, falls Ihnen dazu noch etwas einfällt. Kennen Sie Herr Wiek schon lange?“
„Ja, kenne ich. Eine Weile jedenfalls. Ich würde ihn nachher auch nach Hause bringen.“
„Nein, das übernehmen wir, wo ist er?“
„Schläft. Ich werde ihn holen.“ Luke erhob sich und ging Richtung Schlafzimmer, die Beamten schauten ihm nach.
„Alec?“, er versuchte, ihn mit leiser Stimme zu wecken, ging dann zu ihm.
„Alec? Wach auf.“ Er fasste ihm auf die Schulter und hockte sich hin. „Hier sind zwei Polizisten, die dich abholen wollen. Sie sollen dich nach Hause bringen.“
„Was? Oh Mann, ich dachte du.“
„Hast du deinen Eltern nicht gesagt, wo du bist?“
„Nein, hatte ich nicht, ich bin ja mitten in der Nacht weg.“
„Du hättest vorhin etwas sagen sollen, dann hätte ich sie angerufen. Sie haben sich Sorgen gemacht, weil du einfach weg warst. Komm, steh auf.“ Luke gab Alec seine Sachen, er zog sich an. Schaute nochmal zu Luke.
„Hast du Ärger bekommen?“
Alec versuchte, sich auf den Beinen zu halten, die Tabletten wirkten noch, er war schläfrig und wankte ein wenig.
„Nein, es ist okay. Die wollen dich nur schnell nach Hause bringen. Na dein Kreislauf kommt noch nicht so richtig in Gang, sei vorsichtig.“ Er gab ihm noch einige der Schmerztabletten mit und ging dann mit ihm ins Wohnzimmer, wo die Polizisten warteten. Einer von ihnen telefonierte, wandte sich den beiden dann aber sofort zu.
„Gut, dann kann‘s ja losgehen“, meinte der andere. Alle verabschiedeten sich, Alec ging zwischen den beiden die Treppe herunter, Luke blieb an seiner Wohnungstür zurück. Schaute ihnen nach.
Als Alec wohlbehalten zu Hause ankam, freuten sich seine Eltern, alle waren erleichtert. Auch die beiden Polizisten waren erleichtert, dass sie ihn so schnell wieder gefunden hatten. Ihnen war die Situation sehr peinlich und ihr Vorgesetzter hatte sie wirklich rund gemacht. Sowas durfte halt nicht passieren. Erst ein völlig labiles Opfer zur Tätersuche mitnehmen und ihn dann auch noch verlieren. Alecs Mutter umsorgte ihren Sohn gleich wieder wie ein Huhn ihr Küken. Sie umarmte ihn sofort, was er etwas steif hinnahm.
„Alec, geht’s dir gut? Wo warst du denn? Du musst uns doch Bescheid sagen. Wir haben uns solche Sorgen gemacht.“
„Es geht mir bestens. Luke hatte mich mitgenommen.“
„Der Arzt?“
„Ja, genau der.“
„Aber warum bist du nicht nach Hause gekommen? Die Polizisten hätten dich doch gebracht.“
„Mama. Das war gut so, wie es war.“ Genervt antwortete er.
„Aber du hattest deine Tabletten doch gar nicht.“
„Ich habe welche bekommen, du kannst dich beruhigen, alles bestens.“ Alec fühlte sich wieder ein bisschen erdrückt von dieser wahnsinnigen Fürsorge. Er mochte es, wenn jemand für ihn sorgte, aber nicht zu viel, und seine Mutter sorgte sich zu sehr. Sie hatte ihn nicht mal als Kind so sehr umsorgt, wie sie es jetzt tat. Teilweise war es ihm auch einfach peinlich, er wollte nicht wie ein Kleinkind behütet werden.
„Ich bin müde, ich gehe ins Bett“, sagte Alec dann nüchtern.
„Gehst du denn morgen arbeiten? Die würden dir ansonsten sicher einen Tag frei geben.“
„Nein, das ist okay, ich gehe hin. Hatte schon genug frei. Gute Nacht!“
In seinem Zimmer angekommen nahm Alec sein Handy zur Hand und schrieb eine SMS an seinen Doktor. Nicht sehr lang, aber lang genug, um alles zu sagen. „Danke. Ich vermisse dich.“ Er schickte sie ab und legte sich ins Bett, schlief auch sofort ein, die Müdigkeit hatte ihn eingeholt.
Luke las die Nachricht nicht sofort, er war inzwischen auch schon eingeschlafen und hatte sein Handy in der Küche liegen lassen. Erst am nächsten Morgen, als er sich auf seine Schicht vorbereitete und Frühstück machte, las er die Nachricht. Sie zauberte ihm ein Lächeln auf sein Gesicht. Er antwortete aber nicht und beließ es dabei. Es war Dienstag, Luke kam heute mit einer relativ kurzen Schicht davon. Er erkundigte sich nach dem Gesundheitszustand des Jungen, der Gleiches wie Alec durchgemacht hatte. Ihm ging es besser. Seine Verletzungen waren nicht so schwerwiegend und er nahm psychologische Hilfe schon frühzeitig an. Er konnte sich allerdings nicht an alles erinnern. Wusste nicht mehr, wie er in diese Situation gekommen war.
Nach seiner Schicht beschloss Luke, in Richtung Neuruppin zu fahren, um Alec zu überraschen. Er hielt vor dem Gebäude der Gemeindeverwaltung, in der Alec arbeitete, orientierte sich am sogenannten Wegweiser, der unten im Flur hing und versuchte daraufhin, das richtige Büro ausfindig zu machen. Schon wurde er von einer Mitarbeiterin angesprochen. „Kann ich Ihnen helfen?“ Etwas überrascht fragte er nach Alec.
Sie erklärte ihm den Weg zum Büro und verabschiedete sich freundlich. Die Tür zu Alecs Büro stand einen Spalt offen. Er klopfte an und wartete, gab sich nicht zu erkennen.
„Ja, bitte.“ Alec antwortete dem Klopfen.
Luke trat ein, gab sich zu erkennen. Alecs Blick schnellte sofort hoch, er drückte den Kugelschreiber auf das Blatt, welches er vor sich liegen hatte. Beäugt wurde die Szene von der Kollegin, welche ihr Büro gegenüber hatte. Luke schloss die Tür hinter sich, Alec starrte ihn an, ein wenig Entsetzen und ein wenig Freude auf dem Gesicht. Bloß gut, dass er sein eigenes Büro hatte.
„Was machst du denn hier?“ Er wurde nervös.
„Ich wollte auch mal schauen, wo du so arbeitest, und dachte, ich hole dich ab. Meinen Arbeitsplatz kennst du ja zu Genüge.“
„Oh ja und ich hasse ihn.“ Er wurde verlegen.
„Das weiß ich.“ Luke grinste.
„Du kannst hier nicht einfach auftauchen, wenn das einer merkt.“ Er wurde immer nervöser.
„Reg dich ab, Kleiner, es weiß doch keiner, wer ich bin und weshalb ich hier bin.“
Nun klingelte fast rettend das Telefon, Alec nahm ab.
„Ich kümmere mich darum ... nein, das ist alles gebucht ... ja, suche ich morgen raus ... schönen Feierabend.“ Er legte auf, schaute wieder seinen Doktor an.
„Du hast ja recht. Was hast du denn mit mir vor? Ich muss noch 'ne halbe Stunde.“
„Kein Problem, ich mache so lange den Ort mit einem Spaziergang unsicher. Ich wollte dich gern abholen, magst du bei mir übernachten?“
„Ich ... äh, schon, aber ich muss morgen arbeiten.“
„Dann fährst du halt morgen früh wieder her.“
„Ja. Ich muss vorher nach Hause. Bescheid sagen und meine Medikamente holen.“
„Gut. Du findest mich am See, wenn du fertig bist.“
Luke stand auf und ging, ließ die Tür angelehnt. Grüßte noch freundlich Alecs Kollegin gegenüber, die ihn gierig anstarrte und zurücknickte.
Kurze Zeit später ging sie gleich zu Alec: „Wer war denn das, den habe ich hier ja noch nie gesehen, eigentlich kennt man ja fast alle Leute hier.“ Alec musste sich schnell etwas ausdenken.
„Emm, der wollte nur ein paar Auskünfte für Pensionen und Unterkünfte und sowas.“
„Ach so.“ Sie nahm die Antwort hin, hatte bemerkt, wie rot ihr Gegenüber geworden war, und wechselte schnell das Thema. Alec machte pünktlich Feierabend und ging schnell nach Hause. Seine Mutter war wie immer nicht sehr begeistert über seine Pläne, die Nacht in Berlin zu verbringen. Beruhigt wurde sie nur durch den Gedanken daran, dass er bei Luke war. Dem könne man wohl vertrauen, meinte die Mutter, schließlich war er Arzt und wirkte sehr vernünftig.
Alec ging Richtung See und fand Luke am Wasser stehend, die Segelboote anschauend. Er ging auf ihn zu, blieb kurz hinter ihm stehen.
„Ich bin so weit.“ Luke drehte sich zu ihm.
„Das ist toll. Lass uns gehen. Du hast sicher Hunger, lass uns Essen gehen.“ Alec schaute ein wenig verdutzt. „Ja“, kam von ihm nur zurück. Die beiden machten sich wortlos auf in Richtung Auto und fuhren nach Berlin.
Luke hatte ein nettes kleines Restaurant ausgesucht, Alec folgte ihm willig, freute sich, mit ihm zusammen sein zu dürfen. Nachdem sie sich durch die Karte gelesen und Essen bestellt hatten, suchte Luke behutsam das Gespräch.
„Wie geht es dir heute? War deine Mutter sehr böse?“
„Mir geht es ganz gut, besser als gestern. Dank dir! Nein, böse war sie nicht, sie hat sich nur wieder Sorgen gemacht.“
„Sie hat dich aber trotzdem gehen lassen, heute?“
„Ja, sie vertraut dir. Sie denkt, ich bin in Sicherheit, wenn ich bei dir bin.“
„Fühlst du dich in meiner Gegenwart denn sicher?“
Diese Frage traf Alec.
„Ja, das tue ich.“ Die Worte standen im Raum. Luke freute sich sichtlich darüber, wurde aber wieder ernster.
„Du verlässt mich nicht nochmal so plötzlich? Du hast mir Angst gemacht.“
„Nein, das werde ich nicht, hoffe ich.“ Alec starrte auf den Tisch, stach mit der Gabel auf dem Tischtuch herum.
„Das wollte ich auch gar nicht. Aber mir war das irgendwie zu viel, ich will nicht, dass du mehr Sorgen und Arbeit durch mich hast.“
„Ich habe mehr Sorgen, wenn du weg bist, wenn ich nicht weiß, wie es dir geht, wenn du meine Anrufe nicht annimmst, wenn ich nicht weiß, wo du bist.“ Luke schaute auf Alec, der noch immer auf dem Tischtuch rumpiekte. Wartete auf eine Reaktion. Er schaute auf, lächelte ihn an.
„Ich danke dir.“
Unterbrochen wurde das Gespräch, als die Kellnerin mit dem Essen kam. Die beiden aßen und schwiegen sich an.
Danach fuhren sie in Lukes Wohnung, Alec fühlte sich allmählich heimisch dort. Kaum hatten sie die Flurtür geschlossen, wurde Luke von seinem Freund innig umarmt und geküsst. Er konnte es kaum so schnell erwidern und war überrascht. Alec arbeite sich an Lukes Körper entlang, zog ihm die Jacke aus. Luke tat Gleiches.
Alec knöpfte wortlos das Hemd seines Gegenübers auf, begann seine Brust zu küssen. Luke genoss die seltene Zuwendung, stand mit dem Rücken an der Wand. Nun zog er Alec das Shirt aus und liebkoste ihn. Als sich Alecs Körper versteifte, wusste Luke, dass es Zeit war aufzuhören, er hatte seine Arme um Alecs Hüfte gelegt.
„Ist es okay?“ Alec nickte und vergrub seinen Kopf in Lukes Brust. Der legte seinen Kopf auf den seines Freundes. So standen beide da und verweilten einen Augenblick, bevor sie ihre Umarmung lösten. Sie gingen ins Bett und verbrachten die Nacht aneinandergekuschelt, bevor der schrille Wecker beide am Morgen aus den Schlaf riss.
Luke begleitete Alec zum Bahnhof, bevor er sich selbst auf den Weg zur Arbeit machte.
„Wann sehen wir uns wieder?“
„Wie sieht es bei dir denn am Wochenende aus? Du weißt, ich habe immer frei.“ Alec schaute in Lukes nachdenkliches Gesicht.
„Ich bin in der Nacht von Samstag zu Sonntag arbeiten, aber tagsüber da. Reicht dir das?“
„Natürlich. Hauptsache ich sehe dich!“
So trennten sich ihre Wege für die nächsten Tage.
Kleinstadt
Alec hatte in dieser Woche ein wenig mehr Freiraum auf Arbeit, Dana war nicht da, also niemand, der versuchte, ihm schöne Augen zu machen. Aber seine Kollegen ließen es sich nicht nehmen, ihn öfter mal auf die Schippe zu nehmen und belehren zu wollen, was er als Mann so zu tun und zu lassen hat. Er konnte bei ihren Gesprächen nicht mithalten, ihn interessierte nicht, wie man Autos repariert, welches Modell neu am Markt ist und wie welche Fußballmannschaft gespielt hatte.
Alecs Nacht wurde wieder sehr unruhig. Er hatte die Zimmertür offen gelassen, da die Angst, eingesperrt zu sein, in ihm hochkam. Er konnte keine Nacht durchschlafen, ohne Schlaftabletten zu nehmen. Das Wochenende rückte näher und er erhoffte sich, bei Luke mehr Ruhe zu finden. Er hatte den Rest der Woche nicht mit ihm gesprochen, rief ihn jedoch Freitag auf Arbeit an und fragte, wann er kommen dürfte. Luke war sehr in Eile, Alec hörte nur die Aufregung am anderen Ende. Er würde ihn abholen, er meldet sich, wenn er losfährt.
Alec wartete zu Hause, ging zwischendurch nur kurz am Ufer des Sees entlang, er war so müde, traute sich jedoch nicht zu schlafen, er wollte nicht wieder diese Träume haben. Gegen 17 Uhr rief Luke endlich an.
„Ich fahre jetzt los, es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat“, stammelte er schnell.
„Kein Problem. Meine Mutter möchte, dass du zum Essen bleibst.“ Es wurde still am anderen Ende.
„Wirklich? Emm, na ja, ich denke, das lässt sich nicht verhindern, oder?“, stotterte er dann.
„Nein, lässt es sich nicht. Wenn sie sich sowas in den Kopf setzt, zieht sie es durch. Ob du willst oder nicht. Sie würde dich wohl gar nicht vorher gehen lassen.“
„Okay, ich versuche, mich zu benehmen.“ Luke lachte.
„Das solltest du, aber ich habe dich noch nie unvernünftig erlebt.“
„Bis nachher, mein Lieber!“
„Bis dann.“
Alec ging allmählich nach Hause, wo seine Mutter schon fleißig in der Küche wirtschaftete und ihn sofort abfing, als er das Haus betrat.
„Hast du ihn denn eingeladen?“
„Ja, das habe ich. Muss das denn wirklich sein?“
„Ich will ihn doch nur kennenlernen.“
„Du kennst ihn doch.“
„Ja, aber nicht gut genug.“
„Fang bitte nicht an, ihm dumme Fragen zu stellen.“
„Was ich frage, ist mir überlassen. Du kannst dich mal nützlich machen und den Tisch decken.“ Sie hielt ihm die Teller schon hin. Er seufzte und nahm sie entgegen. Ihm waren jetzt schon die Fragen seiner Mutter an Luke peinlich. Überhaupt diese Situation, wenn er daran dachte.
„Noch was? Ich muss meine Sachen noch packen.“
„Nein, geh ruhig. Vergiss nichts und komm Sonntag pünktlich zurück.“
„Ja, Mama und ich komme Montag zurück.“
„Aber musst du denn nicht arbeiten?“
„Muss ich, aber der Zug fährt früh genug.“
„Ich mag es nicht, wenn du so lange weg bist.“
Alec ließ sich von den Worten nicht beeindrucken und bemerkte, dass Luke gekommen war. Er öffnete ihm die Tür, lächelte ihn kurz an, wusste, dass sich im Hintergrund schon seine Mutter positionieren würde. Luke lächelte schnell zurück und ging dann zur wartenden Frau im Hintergrund.
„Guten Tag, Frau Wiek.“ Er streckte ihr die Hand entgegen, sie erwiderte den Gruß. Nun erhob sich auch Alecs Vater aus seinem Fernsehsessel und gesellte sich in den Flur.
„Nun ziehen sie sich erst mal die Jacke aus und kommen sie rein, Dr. Franklin.“ Er reichte ihm seine Hand.
„Danke“, erwiderte der, durch seine Größe alle überragend, freundlich.
„Ich bin noch nicht ganz fertig“, gestand Agnes und ging in die Küche. Alecs Vater ging wieder ins Wohnzimmer zurück. Luke stand da, folgte Alec zu seiner Mutter in die Küche. Noch bevor er Luke einen Sitzplatz anbieten konnte, fing sie ihn ab:
„Alec, mein Junge, kannst du bitte nochmal nach draußen gehen und die Eier aus dem Hühnerstall holen.“
„Jetzt noch? Du weißt, dass ich dieses Federvieh nicht mag.“
Sie warf ihm nur einen scharfen Blick zu und er ging wortlos. Luke stand angespannt mitten in der Küche.
„Nun“, begann sie, „er scheint Sie sehr zu mögen. Geht es ihm gut, wenn er bei Ihnen ist?“
Luke suchte nach Worten „Das denke ich, also ich hoffe es.“
„Ich weiß, dass er nachts oft nicht schlafen kann. Ist es in Ihrer Gegenwart genauso? Er verheimlicht das ja immer und denkt, wir merken es nicht. Wissen Sie, das tut so weh, das mitzubekommen und ihm nicht helfen zu können.“
„Ja, ist es. Aber nicht ständig.“
„Er ist alles, was wir haben, ich bin sehr glücklich, dass er wieder da ist. Wir dachten er wäre schon längst ... Na egal, ich möchte, dass Sie auf ihn aufpassen“, sagte sie und rührte weiter in ihrem Soßentopf. Luke stand wie verloren und schaute auf ihren Rücken.
„Das werde ich, so gut ich es kann.“
Luke hoffte, dass diese Situation bald vorbei sein wird. Der sonst so sichere bodenständige Arzt wurde plötzlich schwach und weich, fühlte sich fehl am Platz und hatte Angst, etwas Falsches zu sagen. Glücklicherweise kam Alec zur Tür herein und legte seiner Mutter die Ausbeute vor. Er wusste, was diese Aktion sollte, er wusste, dass sie versuchte, Luke allein abzugreifen, und war darüber nicht sehr erfreut.
„So fertig.“ Sie trug die letzte Schüssel ins Wohnzimmer. Alec schaute Luke an, bemerkte die Unsicherheit, die er bei ihm noch nie gesehen hatte.
„Geh schon“, flüsterte er ihm zu und legte kurz seine Hand auf dessen Rücken, als er sich umdrehte.
Es dauerte nicht lange, bis die Stille am Tisch durch Agnes gebrochen wurde. Sie war ja neugierig, wollte viel wissen und viel über Luke erfahren.
„Nun, Dr. Franklin, leben Sie schon immer in Berlin?“
„Nein, ich komme eigentlich aus Stuttgart. Ich bin dann zum Studium nach Berlin gegangen und dort hängen geblieben.“
„Mit der Schwabenschwemme?“, fragte sie scherzhaft. „Gefällt es Ihnen?“
„Ja, ich mag Berlin. Ich bin gerne dort. Auch wenn meine Eltern lieber sehen würden, dass ich zurück nach Stuttgart komme und dort arbeite.“
Luke antwortete brav, Alec schien die Situation leicht angespannt zu beobachten. Sein Vater blieb unbeeindruckt über die Fragen seiner Frau, hielt sich vollkommen raus.
„Warum wollten Sie denn Medizin studieren?“
„Meine Eltern sind Ärzte, mir blieb kaum etwas anderes übrig.“ Er lachte verhalten, sie lächelte zurück.
„Ihre Eltern sind sicher stolz auf Sie.“
„Ja, das sind sie.“
„Haben Sie Geschwister?“
„Ja, ich habe einen älteren Bruder.“
Eine präzise Antwort jagte die nächste. Luke war stets bemüht sachlich zu antworten und keinen Spielraum für tiefere Fragen zu lassen.
„Ach, das ist ja schön. Was macht der denn beruflich?“
„Er arbeitet in der Firma seines Schwiegervaters im Büro.“
„Er ist kein Arzt?“
„Nein, er wollte das nicht.“
„Er ist verheiratet, das ist aber schön. Hat er denn Kinder?“
„Nein, bisher noch nicht.“
Luke meisterte den Fragenmarathon. Es wurde erneut still am Tisch. Bis sie die Stille wieder brach:
„Wie lange hält die Phase denn schon bei Ihnen an?“ Sie schaute Luke an. Er schaute fragend zurück: „Welche Phase?“
„Na, dass Sie Männer lieben. Sowas ist doch nur vorübergehend. Und Sie sind so ein ansehnlicher, junger Mann. Hatten Sie vorher eine Freundin?“
Luke blieb das Essen fast im Hals stecken, Alec schaute entgeistert zu seiner Mutter, „Mama!”, und wandte sich dann an seinen Freund: “Luke, du musst nicht antworten. Meine Mutter ist der Meinung, das sei nur eine Phase.“ Er stierte zu seiner Mutter, sie schaute böse zurück. Jetzt schaute auch der Vater hoch, sagte aber nichts und verzog nur die Augenbrauen. Nun war Luke noch unsicherer als vorher, er erkannte sich selbst kaum wieder. Nie war er unsicher, immer souverän, auch in stressigen Situationen. Schließlich musste er das in der Notfallmedizin sein. Er fasste sich und versuchte, eine Antwort zu geben, ohne die Situation entgleisen zu lassen.
„Hatte ich, ja. Aber das ist lange her, da habe ich noch Abitur gemacht. Ich hatte sie so lange, bis ich gemerkt hatte, dass ich an Männern mehr Interesse habe.“ Während er das sagte, umklammerte er die Gabel so fest, dass seine Hand fast weiß wurde.
„Na ja, Alec hatte ja vorher nicht mal eine Freundin“, antwortete sie.
„Mutti!“, er meldete sich erneut entrüstet zu Wort. „Kannst du das bitte lassen?“ Er war dabei, im Boden zu versinken, und schaute Luke gar nicht mehr an.
„Außerdem stimmt das nicht.“
„Achso?“ Sie wurde hellhörig. „Wer war‘s denn?“
Alec kriegte die Zähne kaum auseinander. „Britta Voigt, zehnte Klasse, du erinnerst dich? Können wir das Thema jetzt abschließen?“
Es kehrte Ruhe ein. Die hielt eine Weile an, bis der Vater sich entschuldigte und meinte, er müsse zur Spätschicht, er arbeite im Wachschutz und seine Schicht begann bald. Alle waren fertig mit dem Essen. Luke lobte schnell das gute Essen und schaute auf Alec.
„Ich muss noch meinen Rucksack holen, kommst du schnell mit hoch, dann kannst du dir mein Zimmer mal ansehen.“
Es gab nichts zu sehen in Alecs Zimmer, aber er wollte Luke nicht wieder mit seiner Mutter allein lassen, viel zu peinlich waren die bisher schon gestellten Fragen. Die stand auf und räumte den Tisch ab. Die beiden Jungs gingen die Treppe hoch. Alec schloss seine Zimmertür, nachdem beide den Raum betreten hatten.
„Es tut mir schrecklich leid.“ Er drehte sich gar nicht zu Luke um.
„Was denn?“
„Das weißt du doch, dass sie dich so ausgefragt hat und so dämliche Fragen gestellt hat.“
„Da kannst du doch nichts für, das ist ok. Sie ist halt neugierig, aber doch ganz lieb.“
„Ich habe gemerkt, wie angespannt du warst.“
„Ich weiß. Ich hatte solche Situationen noch nicht oft. Noch nie eigentlich ...“ Luke schaute sich in Alecs Zimmer um, wechselte etwas unglücklich das Thema. „Das ist also dein Zimmer.“
„Ja.“
Er hatte ein großes Zimmer, Dachschrägen zu beiden Seiten, etwas spärlich, aber ausreichend eingerichtet. Die Wände waren mit irgendwelchen Kunstwerken geschmückt, ein vollgekramter Schreibtisch rundete das Ensemble ab. Irgendwie passte es zu Alec, leicht chaotisch, aber doch in sich ordentlich.
„Schöne Bilder“, bemerkte Luke, von dem die Anspannung nun wieder abfiel.
„Danke. Ist lange her, dass ich die gezeichnet habe.“
„Ach, die sind von dir? Die sind toll! Respekt!“
„Ja. Aber das ist, wie gesagt, lange her. Komm lass und gehen.“
Luke folgte, verabschiedete sich wieder höflich und verließ zusammen mit Alec das Haus. Noch bevor sie das Auto erreichten, kam ihnen eine junge Frau entgegen, die Alec anschaute.
„Hallo Alec.“
„Hallo Dana“, antwortete der. Sie wünschten sich im Vorbeigehen ein schönes Wochenende. Die Männer stiegen ein, Luke fuhr los. Jetzt wirkte Alec schüchtern „Oh Mann. Die hat mir noch gefehlt.“
„Wer war das?“
„Unsere Auszubildende in der Verwaltung, die will was von mir und meine lieben Kollegen bestärken das immer noch.“
„Ach so? Na, nicht dass du mir noch fremdgehst“, witzelte Luke.
„Ja“, er seufzte. „Und meine Kollegen meinen dann immer noch, wir würden ja so toll zusammenpassen, blabla, du weißt schon.“
„Na werde mir mal nicht untreu“, scherzte Luke weiter. „Die wissen nicht, dass du schwul bist?“
„Um Gottes Willen, nein. Was meinst du, was dann hier los wäre? Die sind alle völlig intolerant. Lästern ab und an darüber, wie ekelig Liebe zwischen Männern wäre. Die würden mich lynchen hier!“
„Das könnten ja meine Eltern sein. Die wären da genauso.“
„Ja und meine Mutter denkt ja immer, das wäre eine Phase, hält das aber brav geheim, dass ihr Sohn diese angebliche Phase durchlebt.“
„Oh Mann. Ich wusste vorhin echt kaum, was ich sagen sollte.“
„Das habe ich gemerkt. Mach dir nichts draus, sie ist halt so.“
„Ja, das habe ich gemerkt. Mir hat es da so ein bisschen den Boden unter den Füßen weggezogen.“
In Lukes Wohnung angekommen setzten sich beide vor den Fernseher. Luke nahm Alec in den Arm.
„Jetzt sind wir endlich allein. Du bist sehr müde, oder?“
„Ja, ich konnte die letzten Nächte nicht so gut schlafen.“
Luke küsste ihn auf die Stirn. Zusammengekuschelt lagen sie vor dem Fernseher, Alec schlief sehr bald in Lukes Armen ein. Dieser beobachte ihn. Ein schöner ruhiger Abend. Wie gern hätten sie mehr davon gehabt. Luke weckte ihn später wieder auf, um ins Schlafzimmer zu wechseln.
Als Luke aus dem Badezimmer kam, schlief Alec schon fast wieder. Er legte sich zu ihm, schlang seinen Arm um Alecs Oberkörper, der das mit einem leisen Stöhnen hinnahm. Luke küsste ihn noch in den Nacken und schloss dann seine Augen.
Schatten
Luke wurde wach, bevor Alec überhaupt ein Auge öffnete und bereitete das Frühstück vor. Während er in der Küche beschäftigt war, tauchte sein Freund auf.
„Guten Morgen.“
„Hey, hast du gut geschlafen? Trinkst du Kaffee?“
„Ja, habe ich. Über Tee würde ich mich eher freuen.“
„Okay. Wie der Herr wünscht.“
Alec kam näher, umarmte Luke von hinten, legte seinen Kopf an seinen Rücken. Er grinste in sich hinein. Luke drehte sich in dieser Umarmung um, schaute in Alecs Augen. Er küsste ihn auf die Stirn, arbeite sich vor bis zum Mund. Alec nahm an, löste sich aber recht bald wieder aus der Umarmung. Sie wandten sich dann dem Essen zu.
„Ich muss nachher noch einkaufen, kommst du mit?“
„Klar. Wann musst du zur Arbeit?“
„Ich habe Nachtschicht. Gegen zwanzig Uhr muss ich los. Bin dann gegen sechs zurück. Du musst die Nacht also allein verbringen.“
Am späten Nachmittag machten sich die beiden auf dem Weg zum Einkaufen. Alec trottete immer neben Luke her, der die Richtung bestimmte. Er war da, er konnte sich sicher fühlen. Luke wirkte bei seiner Größe in seinem schwarzen Trenchcoat so edel, dagegen sah Alec in seiner normalen Jacke fast klein und unauffällig aus. Er hatte neben ihm immer ein wenig das Gefühl nur als Beiwerk nebenher zu laufen. Unscheinbar, klein, dünn. Er konnte sich nicht so souverän durch die Welt bewegen. Nicht mehr.
Während Luke im Supermarkt alles Notwendige zusammensuchte, schaute Alec die Gänge hinunter, keine Notiz nehmend, was Luke in dem Moment tat. Plötzlich schaute ihm ein kleinerer, älterer Herr von Weitem ins Gesicht. Der verschwand schnell in die nächste Regalreihe, als er Alec erblickte. Dieser stand wie angewurzelt da.
„Willst du irgendwas Bestimmtes?“ Lukes Stimme kam von hinten an ihn heran „Alec? Ich spreche mit dir. Hallo?“ Er reagierte nicht, bis Luke um ihn herumging und in sein Gesicht schaute. Es war völlig bleich, als hätte er einen Geist gesehen.
„Ist alles okay?“ Alec reagierte, winkte kurz ab und bestätigte.
„Was hast du gesagt?“
Luke schaute ihm ins Gesicht. „Was ist los? Ich habe nur gefragt, ob du irgendwas Bestimmtes brauchst? Du siehst ja aus, als hättest du einen Geist gesehen.“
„Nein, ich habe alles danke. Es ist nichts, alles ok. Lass uns weiter gehen.“
„Willst du nicht irgendwas Bestimmtes? Essen oder so?“
„Mmmh.“
„Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“
„Was sagtest du?“
Luke rollte mit den Augen und ging weiter mit Alec im Schatten.
Den Rest des Nachmittags verbrachten sie zu Hause vor dem Fernseher, Luke war leicht müde und auch zu nichts anderem mehr zu aktivieren, er musste ja bald los. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm dann auch, dass es so weit war. Er verabschiedete sich von seinem Freund, den er allein in seiner Wohnung zurückließ.
Alec war seit dem Blickkontakt, den er und der Fremde führten, nicht mehr ganz bei der Sache, beschloss dann aber, nachdem ihm das Fernsehprogramm langweilte, das Bett aufzusuchen.
Gegen ein Uhr nachts klingelte Lukes Handy. Er hatte es im Aufenthaltsraum gelassen. Die Notaufnahme war heute voller denn je und er hatte keine Zeit, sich um andere Sachen zu kümmern. So klingelte es ins Leere, bis es wieder verstummte. Erst zum Feierabend fand er den unbeantworteten Anruf und sah, dass Alec mitten in der Nacht versucht hatte, ihn zu erreichen. Er zog sich schnell um, machte sich auf dem Heimweg und versuchte währenddessen, Alec zu erreichen. Keine Reaktion am anderen Ende.
Als er die Treppe zu seiner Wohnung hochging, bemerkte er sofort die offen stehende Tür und hetzte die letzten Stufen hoch. Vorsichtig betrat er seinen Flur und fand ein Chaos in der ganzen Wohnung vor. Allerdings nur das Chaos und keinen Alec. Sein Handy lag mitten im Wohnzimmer auf dem Fußboden. Luke wurde nervös, rief seinen Freund in der Wohnung, suchte jeden Raum ab. Es war niemand da. Er stand mitten im Raum und wusste nicht, was er tun sollte. Was war hier passiert? Sollte er die Polizei rufen? Sollte er bei Alecs Eltern nachfragen, ob er dort ist? Diese Blöße wollte er sich nicht geben. War Alec nur kurz rausgegangen? Aber warum dann dieses Chaos in der Wohnung? Er stand völlig ratlos einfach nur da. Das hatte ihm jetzt noch gefehlt. Er war so müde und hatte so eine schlechte Nacht gehabt.
Plötzlich fing er wie in Trance an, die Wohnung aufzuräumen, bis Alecs Handy klingelte. Er wurde hellhörig, ging vorsichtig ran. Am anderen Ende war Alecs Stimme zu hören, völlig erschöpft klingend.
„Luke?“
„Alec! Wo bist du, was ist los?“
„Ich...ich weiß nicht. Irgendwo. Du musst mich abholen.“ Ein Zittern lag in der Stimme.
„Gib mir einen Anhaltspunkt! Wo bist du?“ Luke war ebenfalls aufgeregt, wünschte, er könnte ihm durchs Telefon helfen, könnte sehen, wo er sich befindet, was passiert war.
„Ich weiß nicht. Luke ...“ Alec am anderen Ende weinte, plötzlich war der Kontakt unterbrochen.
Luke versuchte Fassung zu behalten. Rief die Telekom an, fragte, wo die Telefonzelle steht, die zu der gesandten Nummer gehörte. So viele davon gab es ja schließlich nicht mehr. Nachdem man ihn zig mal weiter verbunden hatte, er schon halb verzweifelt am Telefon hing, bekam er endlich einen Standort. Berlin Grunewald. Einmal quer durch die Stadt. Er machte sich sofort auf den Weg und fuhr wie ein Lebensmüder durch Berlin.
Als er die besagte Telefonzelle im Grunewald erreichte, war da keine Spur von Alec. Er suchte im strömenden Regen zwei Stunden lang die Umgebung ab. Er war am Verzweifeln, kurz davor, die Polizei zu rufen, bis er jemanden am Waldrand liegen sah. Er rannte hin und erkannte seinen Freund sofort. Er lag auf der Seite, hatte die Augen geschlossen. Der leichte Regen wandelte sich in einen Platzregen. Binnen Sekunden war man durchgeweicht.
Luke war völlig aus der Puste, hockte sich hin, und murmelte: „Nicht du auch noch heute.“
Dann sah er, dass sein Freund atmete und versuchte ihn an der Schulter wachzurütteln. Er öffnete benommen seine Augen, hob ganz leicht den Kopf und legte ihn aufgrund der Schmerzen gleich wieder ab.
„Luke! Endlich“, wisperte er, kaum verständlich.
„Was ist passiert? Bist du verletzt? Was machst du denn, Junge! Oh Mann, es tut mir so leid, dass es so lange gedauert hat.“ Während er das fragte, untersuchte er ihn schnell auf offensichtliche Verletzungen.
„Ich kann nicht mehr, ich kann mich nicht bewegen.“
„Schhh, bleib ruhig liegen.“
Als Luke leicht gegen Alecs Rücken drückte, fand er sofort die Ursache.
„Bleib ganz ruhig, ja? Ich komme gleich wieder und hole dich. Okay? Schau mich an Alec.“ Der nickte ganz sachte, die Augen fast wieder zu. Pure Erschöpfung.
Luke rannte los und holte das Auto, was er einige Straßen weiter abgestellt hatte. Kramte noch schnell in seiner Tasche herum, fischte eine Spritze und eine Ampulle raus, nahm eine Decke mit und ging zu Alec. Er sprach ihn sofort an, legte die Decke über ihn, Alec rührte sich wenig, machte nur die Augen auf und wimmerte vor Schmerzen. Der Regen nahm nicht ab. Binnen kürzester Zeit standen die Straßen unter Wasser. Die Wassertropfen aus Lukes Haar tropften in Alecs Gesicht, als er sich über ihn beugte „Kannst du dich ein bisschen anders hinlegen, ich muss an deinen Arm?“
„Das tut so weh.“ Alec winselte, als Luke versuchte, ihn vorsichtig zu drehen.
„Hör auf, du tust mir weh!“ Die Tränen schossen in Alecs Gesicht, der jäh aufschrie und anfing zu zappeln.
„Ich weiß, das hört gleich auf. Halt still. Tut mir leid. Ist ja gut“, sagte Luke und drehte vorsichtig Alecs Körper, so dass er besser an seinen Arm herankam. Er legte die Manschette um, punktierte routiniert eine der Venen und spritzte ihm das Schmerzmittel. Er hatte es vorsorglich eingepackt, als wisse er, was ihn erwartete. Alec zuckte nur ganz kurz zusammen, als er den Stich spürte.
„Ist schon vorbei“, meinte Luke, der vorsichtig die Spritze rauszog und die Manschette löste. Er strich über Alecs Stirn, der nun die Augen schloss. Der völlig verspannte Körper entspannte sich langsam.
“Wird gleich besser”, wisperte Luke. Er lud seinen völlig durchnässten Freund ins Auto und machte sich auf den Heimweg.
Luke hatte auf dem Rückweg Probleme, die Augen noch offenzuhalten und nun kam er genau in den Berliner Berufsverkehr. Stau und Warten bestimmten das Tempo. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, bis er die Wohnung erreichte. Seinen Freund legte er ins Bett, nachdem er ihm die durchweichten Klamotten ausgezogen hatte. Luke selbst ging duschen und schlüpfte in trockene Kleidung, bis er sich auf den Sessel in der Ecke seines Schlafzimmers setzte und auf Alec schaute. Ihm schossen diverse Gedanken durch den Kopf, aber er konnte sich keinen Reim machen, was Alec passiert war. Er war nur froh, dass er keine weiteren Verletzungen hatte. Kopfmäßig schien alles klar zu sein, er hatte angerufen, er hatte Luke sofort erkannt. Offensichtliche Verletzungen waren keine da, alle Vitalfunktionen den Umständen entsprechend in Ordnung.
Luke schaffte es nicht lang, darüber nachzudenken, der Schlaf holte ihn bald ein. Eigentlich konnte er niemanden gebrauchen, um den er sich Sorgen machen musste. Er hatte für sowas keine Zeit, er musste sich auf seine Ausbildung konzentrieren. Während seines Studiums hatte er nur kurze, unkomplizierte Beziehungen. Warum nimmt er sich nun so einer Last wie Alec an? Er konnte sich selbst die Frage nicht beantworten, konnte sich aber auch nicht mehr vorstellen, ohne ihn zu sein. So ein Gefühl hatte er bei keiner seiner vergangenen Partnerschaften gehabt. Und das, wo Alec ein wirklicher Problemfall war. Seine Belastungsstörungen machten ihn unkontrollierbar, unkoordinierbar und eigentlich gefährlich.
Luke wachte gegen 18 Uhr wieder auf, schaute sofort auf Alec, der noch immer seelenruhig schlief. Er wollte ihn nicht wecken, musste aber wieder zur Arbeit und wusste, dass Alec am Montag früh wieder nach Hause musste.
Er machte sich erst auf ins Badezimmer, hoffend, dass Alec von allein wach werden würde. Das wurde er nicht und so weckte er ihn wenig später doch noch.
„Na, mein Lieber.“ Luke schaute in Alecs verschlafene Augen. „Kannst du mir sagen, wo du bist?“
„Bei dir zu Hause. Du brauchst mich das nicht fragen, ich weiß, wie ich heiße, ich weiß, wie alt ich bin. Aber ich weiß nicht, wie spät es ist.“
„Dann bin ich beruhigt. Es ist Sonntag 18.30 Uhr. Geht’s dir besser?“
„Ich fühle nichts. Wie viel von dem Zeug hast du mir gespritzt?“ Alec war noch immer völlig schläfrig.
„Die Hälfte der normalen Dosis. Die Wirkung wird bald nachlassen. Nimm nachher deine anderen Medikamente.“
Luke hielt ihm die bunte Tablettenmischung entgegen und kam dabei sehr reserviert rüber. „Ich muss dich leider allein lassen. Ruf mich bitte sofort an, wenn etwas ist. Ich bin gegen sieben zurück. Wann musst du los?“
„Du gehst doch nicht ran.“
„Das werde ich dieses Mal. Wann musst du los?“
„Sechs Uhr vierzig fährt der Zug vom Hauptbahnhof.“
„Du solltest vielleicht lieber im Bett bleiben.“
„Nein, mir geht’s gut.“
„Das war auch nur ein gut gemeinter Rat. Ich versuche, früher zu kommen.“
Luke küsste Alec auf die Stirn und ging wortlos. Alec nahm seine üblichen Tabletten und schlief weiter, bis ihn der Wecker, den Luke ihm vorsorglich gestellt hatte, aus dem Schlaf holte. Leicht wackelig auf den Beinen stand er auf und spürte den Muskelkater, der seinen Körper durchzog.
Luke schaffte es wieder nicht, pünktlich Feierabend zu machen, Alec machte sich allein auf den Weg zum Bahnhof und fuhr Richtung Neuruppin. Er ging nur ganz kurz zu Hause vorbei, bevor er sich auf den Weg zur Arbeit machte. Neue Woche, neues Glück. Dana war wieder da.
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.