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Hoffen auf Regen

Allein

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Nach meiner letzten Geschichte haben mich einige Leser gefragt, ob ich nicht als Nächstes eine Liebesgeschichte schreiben will. Es tut mir Leid euch enttäuschen zu müssen, aber ich befürchte, dass das einfach nicht mein Stil ist. Trotzdem kann ich euch versprechen: Liebe, in welcher Form auch immer, wird sicher ein wichtiger Bestandteil dieser Geschichte sein. Also lehnt euch zurück und viel Spaß beim Lesen. Ich freue mich wie immer auf euer ehrliches Feedback.

Patrick

Prolog

Du lebst in einer Wüste.

Einer Wüste aus Beton und Asphalt, in der riesige Wohnbunker den Himmel verfinstern und jeden Gedanken einsperren. Die gewaltigen Plattenbauten, die dich umgeben, wucherten während des kurzen aber heftigen Aufschwungs in den Achtzigern wie steinerne Krebsgeschwüre aus dem Boden. Damals brauchte man schnell viele Wohnungen und konnte keine Rücksicht auf unwichtige Details wie Qualität oder Ästhetik nehmen. Doch auf den heftigen Aufschwung folgte bald ein noch heftigerer Abschwung und viele der Wohnungen standen schon ein paar Jahre nach der Fertigstellung wieder leer, weil die Arbeiter weggezogen waren. Die wenigen, die dennoch hier blieben, waren die Hoffnungslosen. Es waren diejenigen, die begriffen hatten, dass es eigentlich egal war, ob sie nun hier oder woanders arbeitslos waren. Mittlerweile leben hier nur noch die, die sich bereits damit abgefunden haben, dass sie am falschen Ende der Gesellschaft angekommen sind, und die genau wissen, dass sie nur eine einzige Sozialhilfezahlung von der Straße entfernt sind.

Und hier, in dieser Wüste aus Beton und Anonymität, wächst du auf. Gemeinsam mit deiner Mutter wohnst du im neunten Stock eines 15-stöckigen, schmutzig-grünen Blocks, der nur noch von der hässlichen Farbe zusammengehalten wird. Eure kleine 65 qm, Zwei-Zimmer-Oase hat einen unverbaubaren Blick auf die gegenüberliegende Hauswand. Es ist nicht mal eine schlechte Wohnung. Im Sommer habt ihr sogar eine Sauna. Denn dann ist es heiß wie in der Hölle. Dazu bildet der Winter anschließend einen schönen Kontrast, da friert ihr nämlich erbärmlich, weil die Heizung nicht für den riesigen Bau ausgelegt ist und alle paar Wochen kaputt ist.

Ein paar Jahre lang seid ihr die einzigen, die im neunten Stock wohnen. Deine Mutter und du, ihr habt ein riesiges Stockwerk ganz für euch allein. Und irgendwie magst du das. Du streifst durch die verlassenen, staubigen Nachbarwohnungen, deren Türen längst aufgebrochen worden sind, und du versuchst dir vorzustellen, wer hier gewohnt haben mag und wo sie jetzt sind. Ob es ihnen jetzt besser ging, oder noch schlechter. Ob sie tot sind oder ihr Glück gefunden haben.

Deinen Vater hast du nie kennen gelernt. Er hat deine Mutter verlassen, noch bevor du geboren wurdest. Und in den letzten Jahren wurdest du mehr und mehr zum Mann im Haus. Du gehst einkaufen, sorgst dafür, dass die Rechungen rechtzeitig bezahlt werden, und du redest mit dem schmierigen Typen von der Sozialhilfe, der dich mit seinen wässrigen Glupschaugen jedes Mal förmlich verschlingt, wenn du vor ihm stehst. Du hältst die Dinge in eurer Familie am Laufen. Und natürlich hasst du es, diese Verantwortung zu haben!

Du bist schließlich fast noch ein Kind. Das alles wäre der Job deiner Mutter. Aber meistens ist sie einfach zu betrunken oder zu deprimiert, um die Wohnung zu verlassen. An schlechten Tagen zieht sie sich schon zum Frühstück eine halbe Flasche Korn und eine Schachtel Zigaretten rein. Früher oder später schläft sie dann auf der Couch ein. Darauf wartest du, denn du musst ihre Zigarette ausmachen, damit sie eure Wohnung nicht abfackelt. Du siehst, dass es mit eurer kleinen ‚Familie’ bergab geht, hoffst aber immer noch, dass es irgendwann besser werden wird. Doch dann, in dieser einen Augustnacht, ändert sich alles.

Irgendetwas hat dich geweckt. Die Wohnung ist heiß und stickig. Du hast zwar das Fenster offen gelassen, aber das hat nicht viel gebracht, weil es draußen noch immer über 25 Grad hat. Tropische Nacht. Deine dünne Decke klebt schweißnass an deinem schmächtigen Oberkörper. Du riskierst einen verschlafenen Blick auf die Anzeige deines Weckers. 2:37 Uhr. Langsam schwingst du die Beine aus dem Bett und stehst auf. Du willst in die Küche und dir was zu Trinken holen. Als du in den engen Flur trittst, siehst du sie.

Deine Mutter steht über einen großen, schäbigen Lederkoffer gebeugt und murmelt irgendwas vor sich hin. Sie blickt auf und sieht dich erschrocken und schuldbewusst an. Ihre Augen sind rot und blutunterlaufen. Entweder kommt das vom Schnaps oder sie hat geweint. Wahrscheinlich trifft beides zu. Sie sieht aus wie ein Reh, das im Scheinwerferlicht eines heranrasenden Autos gefangen ist. Ihr steht euch in dem engen Flur gegenüber und schweigt euch viel zu laut an. Zwei Meter und eine Ewigkeit zwischen euch.

„Was machst du da?“, fragst du dann leise.

„Habe ich dich geweckt? Tut mir leid.“ Ihre Stimme zittert und bricht durch mindestens drei Tonlagen. Du wartest, ob noch etwas kommt, aber deine Mutter sieht dich nur verlegen an.

„Du gehst weg?“ Es soll eine Frage sein, aber irgendwie kommt es dir wie eine Feststellung vor.

“Ja. Ich...Ich muss für ein paar Tage weg.“ Sie senkt den Blick und nestelt wieder nervös an dem Verschluss des Koffers. Ihre schwarzen, ungewaschenen Haare fallen ihr strähnig ins Gesicht.

„Und wohin?“, bohrst du nach.

„Weg“, sagt sie, ohne dich anzuschauen.

„Wann kommst du wieder?“

Keine Antwort.

„Mutter?“

Entnervt sieht sie dich an. Ihre Augen haben einen feuchten Glanz angenommen.

„Ich muss einfach mal für ein paar Tage hier raus, okay? Das ist mir einfach zu viel. Ich bin bald wieder da.“ Die Lüge deiner Mutter hängt noch ein paar Sekunden lang in der stickigen Luft zwischen euch, wartet auf weitere Lügen und löst sich dann enttäuscht auf. Deine Mutter hebt den Koffer hoch und wendet sich zur Eingangstür.

„Und was wird aus mir?“, fragst du leise und hast Angst, dass du die Antwort schon kennst.

Sie zögert. Steht einfach nur da. Mit dem Rücken zu dir. Die Klinke in der Hand. Aber sie dreht sich nicht um.

„Verdammt noch mal, Jan! Du bist jetzt fast 17! Du wirst doch wohl ein paar Tage ohne mich zurecht kommen.“ Damit öffnet sie die Tür und tritt in das dunkle Treppenhaus. Die schemenhafte Silhouette einer Frau mittleren Alters mit einem schweren Koffer in der Hand, ist das letzte, das du von deiner Mutter siehst. Die Tür fällt ins Schloss und ein paar Minuten lang stehst du einfach nur bewegungslos im Flur. Du starrst auf die Eingangstür und versuchst dir einzureden, dass sie gleich wiederkommen wird. Oder dass sie vielleicht wirklich nur ein paar Tage wegfahren will.

Erfolglos. Du weißt genau, dass sie nicht wiederkommen wird. Trotz der Hitze fängst du an zu zittern.

Jetzt bist du allein.

Angst und Verzweiflung überrollen dich in Wellen.

Du fühlst dich, als würdest du mitten in der Wüste stehen und verzweifelt auf Regen hoffen.

Allein

Keine Ahnung, wie lange du im Flur stehst und die schäbige Tür anstarrst. Du hast kein Zeitgefühl mehr. Du bist wie betäubt.

Sie hat dich verlassen, sie ist weg.

Es liegt an dir. Das weißt du.

Es kann nur an dir liegen? Es ist ja sonst niemand hier.

Du hast etwas falsch gemacht und jetzt ist sie weg.

Du bist allein. Allein in der Wüste.

Wie verkorkst muss man sein, damit man von seiner eigenen Mutter mitten in der Nacht verlassen wird?

Solche und ähnliche Gedanken gehen dir durch den Kopf. Doch dann fallen dir ihre letzten Worte wieder ein.

Du wirst doch wohl ein paar Tage ohne mich zurecht kommen

‚Soll das ein Witz sein!’, denkst du während deine Verzweiflung langsam in Wut umschlägt.

‚Ich bin die letzten Jahre schon ohne dich zurecht gekommen!’

Und es stimmt. Du bist eigentlich ganz gut klar gekommen. Warum sollte es einen Unterschied machen, ob deine Mutter den ganzen Tag in der Wohnung ist und sich voll laufen lässt, oder ob sie gar nicht da ist? Vermissen würde sie, außer dir, sowieso keiner. Du holst dir ein Glas Wasser und trinkst es in einem Zug aus. Als du es wieder auf die fleckige Küchenanrichte stellen willst, bemerkst du erst, wie sehr deine Hand zittert. Dann gehst du zurück in dein Zimmer und legst dich auf das schweißnasse Bett. Aber an Schlaf ist nicht zu denken. Du starrst einfach nur die Decke an und überlegst, wie es jetzt weitergehen soll. Wenn jemand mitkriegt, dass du hier alleine wohnst, dann kommst du ins Heim.

Kommt man mit 16 noch ins Heim?

Du hast keine Ahnung, willst es aber auch nicht rausfinden. Aber im Grunde musst du die Dinge nur noch ein gutes Jahr am Laufen halten, denkst du. Dann bist du 18 und kannst tun und lassen, was du willst.

‚Das muss doch zu schaffen sein!’

Du rechnest kurz nach. Es sind nur 15 Monate. Du wirst einfach weiter machen wie bisher. Einen Tag nach dem anderen. Immer einen Fuß vor den anderen setzen. Wie groß kann diese Wüste schon sein?

Am Morgen machst du dir erstmal Frühstück und setzt dich an den kleinen Tisch in der Küche. Eigentlich ist es wie immer. Dein Frühstück hast du dir bisher auch meist selbst machen müssen, weil deine Mutter selten vor 10 Uhr aufgestanden ist. Außerdem besteht ein ausgewogenes Frühstück bei ihr aus einer Schachtel Zigaretten und einem Pott schwarzen Kaffee. Dennoch ist es ein seltsames Gefühl, dass sie nicht da ist. Zum Glück hast du keine Zeit, länger über dieses Gefühl nachzudenken, denn du musst zur Arbeit.

Ja, du hast Arbeit! Vor ein paar Monaten hast du eine Lehre als Schreiner begonnen. Dass du diese Stelle überhaupt bekommen hast, grenzt an ein Wunder. Aber der Meister war ziemlich beeindruckt von dir und deinem Abschlusszeugnis und so bist du einer der Wenigen in der Gegend, die eine Lehrstelle haben. Und es läuft auch noch ziemlich gut. Selbst die anderen Leute in der Schreinerei mochtest du fast auf Anhieb.

Die ersten Wochen verlaufen relativ normal. Du gehst morgens zur Arbeit und kommst gegen halb sechs nach Hause in eine leere Wohnung. Am Anfang hoffst du noch, dass deine Mutter wieder da ist, wenn du nach Hause kommst. Irgendwann hört das auf. Und dir wird klar, dass du sie eigentlich nicht wirklich vermisst. Du vermisst mehr die Mutter, die sie hätte sein sollen. Es ist schwer in Worte zu fassen. Aber mehr als einmal ertappst du dich bei dem Gedanken, dass es besser ist, dass sie weg ist. Auf einmal hast du jede Menge Zeit für andere Dinge. Du musst nicht ständig aufpassen, dass sie den Herd ausgemacht hat oder dass sie in der Badewanne einschläft und das Wasser laufen lässt. Und du musst nicht mitten in der Nacht an die Tankstelle laufen, weil deiner Mutter die Zigaretten oder der Schnaps ausgegangen sind. Und vor allem bringt sie keine notgeilen Typen mit nach Hause, die mehr an dir, als an ihr interessiert sind. Diese kranken Wichser, die in dein Zimmer kamen, während deine Mutter nebenan ihren Rausch ausschlief. Die sich bei dir das holten, was sie bei ihr nicht bekommen konnten. Du warst immer zu schwach. Hast es über dich ergehen lassen und gehofft, dass es schnell wieder vorbei ist. Hast dich dabei in dich selbst zurückgezogen und hättest dich fast verloren. Doch Eines hast du nie getan: Du hast nie geschrieen oder geweint. Das war wichtig: nie zu schreien! Denn das hätte bedeutet, dass diese Schweine mehr als deinen Körper hatten. Und jedes Mal nahmen diese Mistkerle einen Teil von dir mit.

Wenigstens ist das jetzt vorbei!

Zuerst weißt du noch nichts mit deiner neu gewonnenen Freizeit anzufangen. Du hast keine Freunde. Du versuchst dich von Menschen fernzuhalten. Die meisten machen dir Angst. Irgendwann fängst du an durch die Straßen zu streifen. Du gehst nur nachts. In der Wüste ist es wichtig, dass man nur nachts geht.

Zwischen den riesigen Häusern bewegst du dich meist im Schatten, wo die Dunkelheit noch etwas schwärzer ist. Du schleichst über von Müll übersäte Hinterhöfe und betrittst verfallene Spielplätze, die mit ihren rostigen Klettergerüsten wie Friedhöfe einer vergangenen Welt aussehen. Du bewegst dich wie ein Geist zwischen den Metallskeletten. Durchsichtig und leichter als Luft. Nur ein Schatten unter vielen, verschwunden wenn es hell wird.

Auf einem deiner Streifzüge findest du dann deinen Platz.

Einer der letzten Blöcke in deiner Straße steht schon ein paar Jahre lang komplett leer. Im blassen Licht des Vollmonds kannst du die Farbe nicht richtig erkennen, aber du weißt, dass es ein widerliches braun ist.

‚Welcher Wahnsinnige würde so ein riesiges Haus komplett braun streichen?!’, denkst du kopfschüttelnd, als du davor stehst.

Es wirkt erschöpft. Du kannst es nicht besser beschreiben. Das Haus macht einen erschöpften Eindruck auf dich. Wie eine große, alte Frau mit eingefallenen Wangen und einer Haut wie dunkles Leder, die alleine auf einer Bank sitzt und sich ausruht. Die dich mit trüben Augen argwöhnisch mustert, während du vor ihr stehst. Vom Leben ausgezehrt und von der Zeit betrogen.

Natürlich weisen viele Schilder darauf hin, dass das Betreten streng verboten und gefährlich ist. Aber in dieser Gegend ist so ein Schild das gleiche wie eine ‚Willkommen-Fußmatte’ in den besseren Bezirken und du scherst dich schon lange nicht mehr um solche Schilder. Sämtliche Fenster, die man mit einem Steinwurf erreichen kann, sind kaputt. Erst ab dem dritten Stock gibt es einige intakte Scheiben. Du wunderst dich nicht, dass die große Eingangstür aus Stahl und Glas längst aufgebrochen ist. Vorsichtig steigst du durch die zerbrochene Glastür in den Flur und lauschst ins Dunkel. Dieses Haus ist sicher ein beliebter Treffpunkt für Drogensüchtige und Freaks aller Art. Eine volle Minute stehst du da mit geschlossenen Augen und horchst angestrengt in die muffige Dunkelheit.

Nichts.

Gut.

Du öffnest die Augen und gehst auf die Treppe zu. Du willst nach oben. Es ist ein breites Treppenhaus, aber an einigen Stellen ist es so finster, dass du nur langsam vorankommst und immer wieder über irgendwelche sperrigen Dinge steigen musst, die dir im Weg liegen. Bei einigen bist du verdammt froh, dass es so dunkel ist und du sie nicht genauer erkennen kannst. Es riecht nach menschlichen Exkrementen, saurem Schweiß und Urin. Du versuchst so flach wie möglich zu atmen. Mehrmals spielst du mit dem Gedanken einfach wieder umzukehren, aber irgendwas treibt dich weiter. Du musst da rauf. So einfach ist das.

Schließlich hast du es geschafft. Du schwitzt zwar wie ein Schwein auf dem Grill, aber du stehst endlich vor der rostigen Metalltür zum Dach. Die braucht etwas Überzeugungskraft und einen ordentlichen Tritt, bevor sie quietschend nachgibt, aber dann stehst du auf dem rissigen, unebenen Betondach und gehst langsam auf den Rand zu. Ein angenehmer Wind weht dir deine braunen Haare aus der Stirn und trocknet deinen Schweiß. Am Horizont kannst du die Lichter der Stadt erkennen.

‚Wenn man hier oben steht und nur ihre Lichter sieht, kann einem diese Stadt fast gefallen’, denkst du fasziniert.

Hier siehst du nicht die Gewalt und den Schmutz in ihren Straßen. Hier riechst du nicht ihren Gestank und fühlst nicht ihren Hass.

Du blickst nach oben. Es ist eine klare Nacht und du siehst tausende von funkelnden Sternen über dir. Es ist fantastisch! Es ist ein Gefühl von Freiheit, das dir unten, eingesperrt zwischen den Plattenbauten, immer gefehlt hat.

Jetzt stehst du am Rand. Eine etwa 1m hohe und 60cm breite Brüstung aus Beton umgibt das Dach. Du bist dir nicht sicher, wozu das gut sein soll. Sicherer fühlst du dich durch diese kleine Mauer nicht. Vorsichtig setzt du dich auf die breite Brüstung und lässt die Beine über den Rand baumeln. Der Beton ist noch angenehm warm von der Hitze des Tages. Aber der laue Sommerwind, der mittlerweile etwas aufgefrischt hat, bringt genau die Abkühlung, die du brauchst. Du merkst, wie du ganz ruhig wirst. Hier oben bist du mit dir im Reinen. So als hättest du alle deine Sorgen und Probleme einfach unten gelassen. Und in diesem Moment weißt du, dass du deinen Platz gefunden hast.

In den folgenden Wochen kommst du oft hierher, sitzt auf der Mauer und starrst hinaus auf die Lichter der Stadt. Oder du liegst auf dem Rücken, blickst in die Sterne und hoffst auf Regen. Und hier stehst du auch wieder in dieser einen verdammten Nacht.

Du weiß nicht mehr genau, wie du heute hierher gekommen bist. Deine Erinnerung an die letzten Stunden ist trübe. Milchglas-Gedanken. Unscharfe und verschwommene Bilder treiben durch deinen pochenden Kopf.

Seit ein paar Minuten starrst du unkonzentriert auf deine blutigen Füße. Du versuchst dich zu erinnern, ob du deine Schuhe unterwegs verloren hast. Hattest Du überhaupt Schuhe an? Und wo ist dein T-Shirt? Du weißt es nicht mehr. Es ist nicht wichtig. Nichts ist jetzt noch wichtig. Dein Blick gleitet nach vorne, nach unten. Die Straßenlaternen unter dir sehen aus wie auf einer Modelleisenbahn.

Ein Schritt. Ein einziger Schritt nach vorn. Seit einer kleinen Ewigkeit versuchst du den Mut für diesen einen Schritt aufzubringen.

Eigentlich bist du schon tot. Bist gestorben in deiner Wohnung.

Nur dein Körper weiß es noch nicht.

drei Stunden früher...

Es ist Freitagabend. Eine anstrengende Woche ist endlich zu Ende gegangen.

Im staubigen Dämmerlicht deines Treppenhauses beginnst den mühsamen Aufstieg in den neunten Stock. Der Lift ist schon seit Monaten kaputt und ein paar Leute haben ihn mittlerweile als Toilette missbraucht. Die Chancen stehen schlecht, dass er jemals wieder repariert werden wird. In eurem Stock angekommen bist du völlig außer Atem. Tief in Gedanken gehst du den dunklen Flur entlang, ein Lächeln auf deinem Gesicht. Das erste Lächeln seit einer Ewigkeit. Du biegst um die Ecke und stößt hart mit jemandem zusammen. Ein schwerer, großer Kerl. Du machst einen Schritt zurück, um dein Gleichgewicht wieder zu finden.

„Tut mir leid“, murmelst du dann und gehst an dem Schatten vorbei. Er riecht nach kaltem Rauch und einem schweren, holzigen Aftershave. Dieser Geruch...irgendwas ist an diesem Geruch.

Fünf Meter trennen dich noch von eurer Wohnungstür.

„Hallo Jan. Lange nicht gesehen.“

Oh Gott! Diese Stimme kennst du. Weich und melodisch, und darunter Kälte. Wie Samt auf Stahl. Du erstarrst mitten in der Bewegung.

‚Bitte nicht!’, denkst du verzweifelt.

Bilder von dem letzten Mal, als du diese Stimme gehört hast, drängen sich brutal in deinen Kopf. Du kannst dich noch genau erinnern, wie er in der Tür zu deinem Zimmer gestanden ist. Wie er, lässig am Türrahmen lehnend, langsam eine Zigarette raucht und dich beobachtet. Nur eine schwarze Silhouette. Gesichtslos. Dann drückt er die rotglühende Zigarette an der Wand aus, tritt in dein Zimmer und schließt leise die Tür hinter sich.

Du beginnst zu zittern.

„Meine Mutter ist nicht da“, sagst du leise und kraftlos ohne dich umzudrehen.

„Ich weiß“, erwidert der andere entspannt. „Es hätte mich auch gewundert, wenn sie hier gewesen wäre. Bei dem, was sie mir schuldet, ist es wahrscheinlich auch besser für sie, dass sie nicht hier ist.“ Er kommt näher. Du bleibst einfach nur stehen. Bist wie gelähmt.

„Mich wundert allerdings, dass sie dich hier gelassen hat. Das hätte ich ihr wirklich nicht zugetraut. Sie musste doch wissen, dass ich kommen würde.“

Er steht jetzt dicht hinter dir und legt eine kräftige Hand auf deine Schulter. Du kannst seinen Atem in deinem Nacken spüren. Der Geruch nach totem Fastfood hüllt dich ein.

„Lass uns reingehen“, flüstert er heiser.

Und als du die Tür mit zitternden Fingern aufschließt, weißt du, dass heute ein weiterer Teil von dir dort drinnen sterben wird. Ein weiterer Teil wird aus dir heraus gebrannt werden und der Junge, der dich voller Angst aus dem trüben Spiegel im Flur anstarrt, wird diese Wohnung nie wieder verlassen.

Der Fremde

Jetzt stehst du hier auf dem Dach. Stehst am Rand und versuchst den Mut für den letzten Schritt aufzubringen.

Dein Blick gleitet nach vorn. Am Horizont über den Dächern der Stadt türmen sich riesige, kompakte Wolkenhaufen auf. Das letzte Glühen der Sonne taucht die Unterseite der Wolken in ein dunkelrotes Licht. Es ist fast schon kitschig. Ein tiefes, lang gezogenes Grollen erfüllt die Luft. Du fühlst den Donner mehr, als du ihn hörst. Fühlst ihn tief in deinem Bauch. Kurz schließt du die Augen und atmest tief ein.

Als du die Augen wieder öffnest zucken erste Blitze nervös zwischen den gewaltigen Wolkentürmen. Gerade als du denkst, dass du den Mut für den letzten Schritt aufgebracht hast, hörst du, wie hinter dir die Tür zum Dach geöffnet wird.

Eine seltsame Mischung aus Wut und Dankbarkeit überflutet dich. Vielleicht warst du doch noch nicht bereit.

Du hörst auf die fremden Schritte, die knirschend näher kommen. Schwere, selbstsichere Schritte. Ein kurzes Zögern. Er hat dich bemerkt und überlegt, ob er wieder gehen soll.

Doch dann geht er weiter. Er ist jetzt nur noch ein paar Meter hinter dir. Du widerstehst dem Drang dich umzudrehen.

Der Fremde setzt sich einen guten Meter links von dir auf die Brüstung und sieht dich mit unverhohlener Neugier an. Du drehst dich zu ihm und musterst ihn kurz im fahlen Licht der Dämmerung. Er ist wahrscheinlich Mitte Zwanzig. Selbst im Sitzen erkennst du, dass er sehr groß sein muss, sicher über zwei Meter, und er hat einen kräftigen Oberkörper. Dunkle, kurzgeschorene Haare, Drei-Tage-Bart und ein kantiges, männliches Kinn. Seine Nase ist recht klein und etwas schief. Er trägt verwaschene und zerrissene Jeans und ein einfaches, weißes T-Shirt.

Du versuchst dir vorzustellen, wie er dich sieht. Ein junger Mann, fast noch ein Kind, der auf dem Dach eines verlassenen Gebäudes steht. Nicht besonders groß, etwa 1,70m, blasser, dünner Oberkörper, viel zu lange, braune Haare, die ihm immer wieder ins Gesicht fallen. Unauffällig.

Nur ein Geist. Durchsichtig und leichter als Luft.

„Harten Tag gehabt?“ Es sind die ersten Worte, die der Fremde sagt. Seine Stimme ist ruhig und angenehm tief.

„Hartes Leben“, erwiderst du erschöpft, während du wieder auf die Stadt hinausstarrst. Das Gewitter hat mittlerweile an Kraft gewonnen und bietet ein beeindruckendes Schauspiel. Erste Blitze schlagen am Boden ein und erhellen die gespenstische Szene. Dann setzt der Wind ein und bläst dir wütend ins Gesicht, so als wolle er dich mit aller Macht vertreiben.

„Vor ein paar Jahren ist hier einer runter gesprungen.“ Du drehst dich zu ihm. Der Fremde hat sich nach vorn gebeugt und sieht in die Tiefe. Dann fährt er fort.

„Er war etwa in deinem Alter. Hat sich einfach auf die Brüstung gestellt, die Augen geschlossen und einen Kopfsprung gemacht.“ Du weißt nicht, was du sagen sollst, also hältst du die Klappe.

„Was glaubst du, warum er das getan hat?“ Gute Frage. Du zuckst mit den Schultern, möchtest dieses Gespräch eigentlich nicht führen.

„Keine Ahnung. Vielleicht dachte er, dass alles besser ist, als das hier“, antwortest du schließlich. Und nach einer kurzen Pause fügst du leise hinzu: „Vielleicht ist ihm endlich klar geworden, dass es keinen Regen geben wird.“

„Was?“

„Ich glaube dieser Jungen hat erkannt, dass er mitten in der Wüste steht und dass es keinen Regen geben wird. Egal, wie sehr er auch darauf hofft.“

Ein paar Sekunden lang sieht dich der Riese nur an, dann steht er langsam auf und stellt sich auf die plötzlich sehr schmale Brüstung.

„Weißt du, was ich glaube?“, fragt er dich mit seiner ruhigen Stimme. „Ich glaube, dass er nur gesprungen ist, weil ihn niemand daran gehindert hat. Weil niemand da war, der ihn aufhalten hätte können.“

„Vielleicht wollte er auch gar nicht aufgehalten werden. Vielleicht war er sowieso schon tot und es war besser so für ihn.“

„Alles ist besser, als tot zu sein.“

„Du hast ja keine Ahnung.“

Der Fremde lacht ein dunkles, hartes Lachen.

„Hab ich nicht? Wenn du meinst...“

Fasziniert beobachtest du, wie er die Arme ausbreitet.

„Wie heißt du eigentlich?“ Seine Stimme hat jetzt einen völlig unangebrachten Plauderton angenommen. Sein mächtiger Körper schwankt leicht im Wind.

„Jan.“ Dein Name bleibt dir fast in der Kehle stecken. Du schluckst hart. „Mein Name ist Jan.“

„Hallo Jan. Schön dich kennen zu lernen.“ Ein heller Blitz schlägt in den Blitzableiter eines der Plattenbauten vor euch ein. In dem gleißenden Licht siehst du, dass der Riese lächelt. Sekundenbruchteile später zerreißt der Donner die Dunkelheit und du machst dir fast in die Hosen.

„Komm. Ich möchte dir etwas zeigen.“ Der Fremde streckt dir seine große Hand entgegen. Du starrst sie an, als hätte sie sieben Finger.

„Vertrau mir.“ Nach einem kurzen Zögern nimmst du seine Hand und er hilft dir auf die Brüstung. Der Wind zerrt an deinem dünnen Körper und versucht dich aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber der Riese hält deine Hand. Du siehst ihn an und glaubst zu erkennen, dass er lächelt. Dann legt er den Kopf in den Nacken und stößt einen tiefen und lauten Schrei aus, der dich zusammenzucken lässt, wie einen kleinen Jungen. Es ist ein Schrei, wie du ihn noch nie zuvor gehört hast. So voller Kraft und Leidenschaft. So voller ungezähmter Lebenslust. Tausende Jahre der Zivilisation sind wie ausgelöscht, als hätte es sie nie gegeben und der Fremde, erhellt durch das gleißende Licht der Blitze, ist reduziert auf das, was er wirklich ist: ein Tier. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Vor deinem geistigen Auge siehst du fellbehangene Jäger, die sich mit langen Speeren auf ein Mammut stürzen und dabei genau so einen Schrei ausstoßen. Wütend rollt der Donner über euch hinweg, als wäre er herausgefordert worden. Langsam senkt der Fremde den Kopf, die Augen geschlossen und die Arme ausgebreitet. Dann dreht er den Kopf zu dir und sieht dich direkt an. Ein Blitz zuckt über den pechschwarzen Himmel und du siehst, dass er dich erwartungsvoll anlächelt.

„Los! Versuch es.“

Du siehst ihn unsicher an. Dann legst du den Kopf zurück, holst tief Luft und schreist deine ganze Verzweiflung in die Nacht hinaus. Du packst deine ganze Wut, deinen Hass und deine Angst in diesen einen, gewaltigen Schrei und schmetterst ihn mit aller Kraft gegen den tosenden Sturm. Brüllst deinen Schmerz hinaus in die Wüste deines Lebens und weißt es:

Noch bist du nicht am Ende!

Plötzlich atmest du wieder etwas freier und deine Zukunft wirkt ein wenig freundlicher. Ohne ein Wort zu sagen steigt ihr von der Brüstung. Jetzt steht der Riese vor dir. Er ist gute dreißig Zentimeter größer als du und du musst zu ihm aufschauen. Er hält noch immer deine Hand.

„Danke!“, sagst du leise.

Langsam macht er einen kleinen Schritt auf dich zu, so dass ihr euch fast berührt. Dann umarmt er dich. Dein Kopf ist an seine Brust gedrückt und sein Geruch steigt dir in die Nase. Er riecht nach frischem Duschgel, Kaffee und oft getragenen Lieblingsklamotten. Irgendwie musst du dabei an Sonntagmorgen denken. An frisch gewaschene Bettlaken, langes Ausschlafen und Frühstück im Bett. Ein unglaublich angenehmer Geruch.

Nach ein paar Sekunden passiert dann etwas. Irgendwas macht klick in dir und deine Selbstbeherrschung fällt zusammen. Du fängst an zu weinen. Nur ein paar verschämte Tränen zuerst, aber bald heulst du los wie ein kleines Kind. Der Damm bricht und alles, was sich in dir aufgestaut hat, sprudelt hervor. Du hattest keine Ahnung, dass du so viel Wut und Verzweiflung in dir hast. Der fremde Riese umarmt dich noch etwas fester und du schlingst deine Arme um seine Hüften. Hältst dich an ihm fest, wie ein Ertrinkender sich an ein Stück Treibgut klammert. Da stehst du nun, mitten in einem Gewitter auf dem Dach eines abbruchreifen Hauses, klammerst dich an einen Unbekannten und weinst.

Und dann endlich kommt der Regen, auf den du so lange gehofft hast.

Dicke Tropfen fallen aus den tiefhängenden Wolken und klatschen träge auf euch herab. Und bald schon legt sich ein undurchdringlicher Vorhang aus Wasser wie eine feuchte Decke um euch. Jetzt gibt es nur noch euch und den Regen, und hinter dem Regen gibt es nichts mehr. Der Wind hat noch einmal zugelegt und die Blitze zucken im Sekundentakt über den Himmel. Ihr steht mitten im Weltuntergang und noch immer weinst du.

Schließlich, nach einer kleinen Ewigkeit, hörst du auf. Fast genauso schnell, wie sie gekommen sind, versiegen deine Tränen wieder. Nur der Regen bleibt. Die Tropfen trommeln unaufhörlich ihr Stakkato auf eure verschlungenen Körper. Sie scheinen dabei tief in deine Haut einzudringen. Dein ganzer Körper ist ein einziger trockener Schwamm, der gierig jeden Tropfen in sich aufnimmt. Aber das Gewitter verliert jetzt langsam an Kraft. Die Abstände zwischen den Blitzen werden länger und der Wind ist deutlich schwächer. Nur der Regen, der Regen bleibt. Er hat viel nachzuholen.

Nach ein paar Minuten und viel zu früh löst der Riese die Umarmung und hält dich sanft an den Schultern fest. Ein paar Sekunden lang steht ihr euch gegenüber und seht euch an. Es ist, als wolle er sicher gehen, dass es dir gut geht.

„Komm lass uns verschwinden“, sagt er dann sanft und fügt dann hinzu: „Sonst holen wir uns noch den Tod.“

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