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Treibgut

Teil 1 - Die Hütte

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Es hatte gerade zu dämmern begonnen und es goss wie aus Eimern, als Tom die Hütte am See entdeckte. Eingerahmt von hohen Birken, lag der kleine Teich in einer Senke. Zäher, weißer Morgennebel hing über dem Wasser und verlieh dem Anblick fast etwas Mystisches. Dicke Regentropfen trommelten auf die Wasseroberfläche und es sah fast so aus, als würde der ganze See kochen. Es war ein fantastischer Anblick!

Allerdings war Tom die Schönheit der Natur gerade scheißegal. Er hatte höllische Schmerzen, war nass bis auf die Knochen und er fror erbärmlich.

Die ganze Nacht war er durch das dichte Unterholz des Waldes geirrt und hatte sich blutige Kratzer an den Händen und Unterarmen geholt. Unzählige Male war er im Dunkeln über irgendwelche Wurzeln gestolpert und sein weißes T-Shirt, dass mittlerweile wie eine zweite Haut an seinem dünnen Körper klebte, war zerrissen und unglaublich dreckig. Aber wenigstens hatte die Wunde an seinem Oberschenkel endlich aufgehört zu bluten. Kurz blickte er zu dem Stück Stoff hinunter, das er aus seinem T-Shirt herausgerissen und mit dem er einen provisorischen Druckverband gebastelt hatte. Das Blut hatte den Stoff dunkelrot gefärbt. Sein rechtes Hosenbein sah aus, als wäre er in einen Bottich mit roter Farbe gestiegen. Die stechenden Schmerzen, die bei jedem Schritt sein Bein hochschossen, waren unmenschlich. Aber Schmerzen war er gewohnt. Sie waren schon lange ein Teil seines Lebens und er vermutete, dass sie es auch noch lange Zeit sein würden. Und immerhin: Solange er Schmerzen hatte, lebte er noch.

Erschöpft lehnte er sich gegen den Stamm einer großen Birke am Ufer des Sees und strich sich mit zitternder Hand die nassen Haare aus der Stirn. Er war mit seinen Kräften fast am Ende. Das war ihm klar. Was er jetzt brauchte, war ein trockenes Plätzchen und etwas Ruhe. Deshalb beobachte er aufmerksam die Hütte am gegenüberliegenden Ufer. Es war eine einfache Konstruktion aus dunklen Holzbrettern, vielleicht 7 auf 8 Meter im Grundriss. An der Vorderseite streckte sich eine schmale, windschiefe Veranda dem See entgegen. Die Holztür hing etwas schief in den Angeln und das Fenster direkt daneben war trübe wie Milchglas. Aber das Dach, aus dem ein kleiner Metall-Schornstein ragte, sah relativ neu aus und er vermutete, dass es drinnen trocken sein würde. Nach ein paar Minuten kam er zu einer Entscheidung und humpelte langsam am sandigen Ufer des Sees entlang zu der Hütte.

Nur mit Mühe schaffte er die drei Stufen zur Veranda hinauf. Als er dann vor der alten Holztür stand, zögerte er zwar kurz, aber schließlich klopfte er doch an. Mit angehaltenem Atem, jeden Muskel in seinem geschundenen Körper angespannt, horchte er auf irgendein Geräusch von drinnen. Seine rechte Hand lag auf dem Griff des langen Jagdmessers, das er hinten an seinem Gürtel trug.

Kein Laut. Nichts.

Er hörte nur das gleichmäßige Prasseln der schweren Regentropfen auf das Dach. Er klopfte noch mal. Dann zwang er sich etwas zu warten. Er zählte langsam bis 10 und sah sich das Schloss genauer an. Es war ein uraltes Ding und mit dem richtigen Werkzeug hätte er es in weniger als einer halben Minute geöffnet. Aber ohne Werkzeug und mit seinen vor Kälte zitternden Fingern waren weniger subtile Methoden gefragt. Er rammte seine Schulter gegen die Tür und tatsächlich gab es ein lautes Splittern. Die Tür hatte ein kleines Stück nachgegeben. Noch einmal rammte er seine Schulter gegen das Holz. Stärker diesmal.

Es gab ein lautes Knacken, als das Schloss aus dem Türrahmen brach und die Tür fast ohne Gegenwehr nach innen schwang. Unbeholfen stolperte er in die Hütte. Als er dabei mit seinem verletzten Bein auftrat, durchfuhr ihn ein greller Schmerz und ihm wurde schwarz vor Augen. Mit geschlossenen Augen, die Lippen fest aufeinander gepresst, stand er ein paar Sekunden einfach nur da und wartete darauf, dass der Schmerz nachließ. Nach einer kleinen Ewigkeit wurde das Pochen in seinem Bein etwas erträglicher und er konnte sich umsehen. Langsam ließ er seinen Blick durch das Innere der Hütte gleiten. Rechts neben der Tür befand sich eine kleine, selbstgezimmerte Einbauküche. Na ja, wenn man zwei Gas-Kochfeldern auf einer fleckigen Sperrholzplatte und eine verkratzte Spüle eine Küche nennen konnte. In der rechten hinteren Ecke stand ein alter, gusseiserner Kanonenofen, der eigentlich schon in ein Museum gehörte. Der Tür gegenüber stand eine große Dreisitzer-Couch, die mit braunem Cordstoff überzogen war. Davor standen ein kleiner Tisch aus dunklem Holz und ein recht bequem aussehender Sessel, dessen dunkel-grüner Bezug nicht mal annähernd zu dem der Couch passte. Links neben der Tür türmte sich ein großer und massiver Holzschrank auf und daneben quollen unzählige Bücher aus einem hoffnungslos überlasteten Regal. Im hinteren Teil der Hütte führten zwei Türen in die anderen Zimmer. Vorsichtig humpelte Tom zu der rechten Tür. Dahinter versteckte sich die Toilette, die zu seiner Überraschung erstaunlich sauber war. Aber er wollte lieber nicht wissen, wo der Abfluss hinführte. Hinter der linken Tür entdeckte er das Schlafzimmer, das von einem großen Doppelbett aus massiver Eiche dominiert wurde. Die Matratze war nicht bezogen und es lag auch keine Bettdecke darauf. Neugierig öffnete er den Kleiderschrank, der an der rechten Wand stand. Im unteren Bereich fand er Bettzeug und kurz spielte er mit dem Gedanken, sich einfach in die Bettdecke zu kuscheln und zu schlafen. Aber das musste noch warten. In dem Schrank lagen auch noch jede Menge alter Klamotten. Er nahm sich eine Jeans, die zwei Nummern zu groß war, ein verblichenes T-Shirt und ein Handtuch heraus. So beladen, humpelte er zurück ins Wohnzimmer und überlegte kurz. Er brauchte unbedingt Verbandszeug und Desinfektionsmittel. Nach einigem Suchen fand er einen alten Auto-Verbandskasten im Wohnzimmerschrank. Aber weit und breit kein Desinfektionsmittel in Sicht. Widerwillig schleppte er sich zu der kleinen Einbauküche. Unter der Arbeitsplatte standen mehrere Flaschen. Da gab es Essig, diverse Reiniger, Rohrfrei und drei Flaschen ohne Etikett. Neugierig schraubte er eine davon auf und roch daran.

"Heilige Scheiße!" fluchte er leise, als ihm der beißende Alkoholgeruch in die Nase stieg. Da versuchte sich wohl jemand als Schnapsbrenner. Trinken würde er das Zeug auf keinen Fall, aber es hatte sicher über 60% und eignete sich zum Desinfizieren. Zufrieden humpelte er zur Couch hinüber und ließ sich in die Polster fallen.

Gott, tat das gut!

Mühsam schälte er sich aus seinem nassen T-Shirt und trocknete seinen Oberkörper ab. Dabei versuchte er, so gut es ging, jede schmerzende Stelle zu vermeiden. Was gar nicht so einfach war, denn irgendwie tat ihm alles weh. Tom seufzte leise. Was für ein Leben!

Behutsam löste er den provisorischen Verband von seinem Oberschenkel, öffnete seine durchweichte Jeans und schob sie vorsichtig nach unten. Mehrmals musste er stoppen, weil die Schmerzen einfach zu stark waren. Nachdem er es endlich geschafft hatte, war er schweißgebadet und vor seinen Augen tanzten kleine, schwarze Punkte. Sein Oberschenkel fühlte sich an, als würde ein sadistischer Schmied ein glühendes Stück Eisen hineinhämmern. Nach ein paar Minuten war das wütende Hämmern zu einem unangenehmen Pochen abgeklungen und er konnte weitermachen. Er nahm das Handtuch, tränkte eine Ecke mit dem selbstgebrannten Schnaps und begann die Wunde zu säubern. Nach den Schmerzen von vorhin nahm er das Brennen des Alkohols praktisch nicht mehr war. Es schien ein sauberer Durchschuss zu sein. Die Kugel war von hinten nach vorne durch seinen Oberschenkel gegangen. Das Austrittsloch hatte etwa 2 Zentimeter Durchmesser und die Wundränder waren leicht ausgefranst. Das Eintrittsloch an der Unterseite konnte er zwar nicht sehen, aber er vermutete, dass es etwas kleiner sein würde. Er hatte unglaubliches Glück gehabt, auch wenn es sich im Augenblick nicht so anfühlte. Ein Zentimeter weiter links und die Kugel hätte den Knochen zertrümmert und wäre vermutlich steckengeblieben. Und noch ein bisschen weiter links und sie hätte seine Femoral-Arterie durchschlagen und er wäre innerhalb von Minuten verblutet.

Er goss etwas von dem Schnaps über die Wunde und sog scharf die Luft ein. Diesmal brannte es wie die Hölle. Kurz überlegte er, ob er die Wunde zunähen sollte, entschied sich dann aber vorerst dagegen. Wenn sie sich entzündete - womit er rechnen musste - war es vermutlich besser, die Bakterien nicht in der Wunde einzuschließen. Aus dem Verbandskasten nahm er eine sterile Wundauflage und riss die Verpackung mit den Zähnen auf. Mit geübten Griffen legte er sich einen ziemlich engen Verband an, der hoffentlich die Wunde stark genug zusammenpressen würde. Mit dem Handtuch reinigte er anschließend noch die Kratzer an seinen Händen und Unterarmen.

Als er den Verbandskasten gerade schließen wollte, sah er unter den Mullbinden eine Medikamentenpackung hervorblitzen. Anscheinend war heute wirklich sein Glückstag. Das Penicillin war zwar schon seit einem Jahr abgelaufen, aber es war besser als nichts. Er schluckte zwei der großen Pillen trocken hinunter und lehnte sich zurück. Endlich Ruhe!

Jetzt, da das Adrenalin langsam aus seinem Blut verschwand, schlug die Erschöpfung erbarmungslos zu und er konnte seine Augen kaum mehr offen halten. Er löste das Jagdmesser vom Gürtel seiner Jeans und versteckte es in Griffweite zwischen den Polstern der Couch. Dann zog er seine nasse Unterhose aus und legte sich hin. Er kuschelte sich in die dunkelrote Tagesdecke, die auf der Couch lag, und schlief fast sofort ein.

Kapitel I

Er rannte. Rannte, als ob der Teufel persönlich hinter ihm her wäre.

Dunkle Asche lag zentimeterdick auf der Straße und wirbelte bei jedem seiner Schritte hoch. Es regnete und die dicken Tropfen, die auf die verbrannte Erde fielen, waren genauso grau und tot, wie die Welt um ihn herum. Der Geruch von verbranntem Holz lag in der schwül-heißen Luft und die Asche brannte in seinen Lungen. Doch er lief schneller. Lief vorbei an ausgebrannten Ruinen und halbzerstörten Häusern ohne Fensterscheiben. Um ihn herum eine Geisterstadt, die ihn mit leeren Augen voller Hass anstarrte.

Sie waren dicht hinter ihnen. Das wusste er. Konnte es förmlich spüren. Er drehte sich zu Daniel um, der hinter ihm lief. Daniel war fast am Ende. Er sah es in seinem schmerzverzerrten Gesicht. Sah es in seinen Augen. Seine stahlblauen Augen waren gerötet und blutunterlaufen. Die Asche hatte sein Gesicht und seine blonden Haare dunkelgrau gefärbt. Er keuchte und hustete laut. Entschlossen griff Tom nach seiner Hand und zerrte ihn mit sich, aber Daniel hing wie ein nasser Sack an seiner Hand. Sie waren viel zu langsam. So würden sie ihnen nie entkommen.

Rechts voraus stand eine alte Kirche, die im Vergleich zu den anderen Häusern noch recht gut aussah. Es war eine einfache Kirche, mit einem langen, geraden Hauptschiff und einem großen, rechteckigen Turm, der direkt über dem Eingang aufragte. Die Zeiger der Turmuhr zeigten kurz nach zwölf. Mit Daniel im Schlepptau lief er auf den Eingang der Kirche zu. Der Weg dorthin dehnte sich wie Kaugummi und es fühlte sich an, als würde er unter Wasser laufen. Jede Bewegung lief wie in Zeitlupe ab. Doch schließlich rannten sie die Stufen zum Eingang hinauf und stürmten durch die angelehnte Holztür in den Eingangsbereich. Drinnen sah sich Tom verzweifelt um. Überall lagen Schutt und Glassplitter auf dem teuren Marmorboden. Das Weihwasserbecken aus Stein war umgeworfen worden und lag zu seinen Füßen. Die Holzbänke, auf denen die Menschen in einer längst vergessenen Zeit um Erlösung gebetet hatten, waren in der Mitte des Hauptschiffes aufgehäuft und angezündet worden. Wie ein riesiger Scheiterhaufen türmten sich die verkohlten Überreste der Bänke über zwei Meter hoch. Die Wände und die Decke waren mit einer dicken Rußschicht überzogen und glänzten tiefschwarz. Von den farbigen Bleiglasfenstern steckten nur noch einzelne Splitter in den Fassungen und der Wind blies durch die großen Fenster.

"Komm' weiter!" flüsterte er und wollte Daniel mit sich in den hinteren Teil des Hauptschiffes ziehen. Doch Daniel war nicht mehr da.

"Daniel?"

Verzweifelt sah sich Tom in der Kirche um. Panik schnürte ihm die Kehle zu. Daniel war nirgends mehr zu sehen. Da hörte er ein leises Weinen hinter sich. Er fuhr herum.

In Schatten des hölzernen Beichtstuhls, saß eine Frau in einem langen, hellblauen Kleid auf dem Boden. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und ihre Schultern bebten leicht. Sie hielt etwas in ihren Armen, aber Tom konnte nicht erkennen, was es war.

Er machte ein paar zaghafte Schritte auf sie zu und fragte leise:

"Hallo?"

Sie reagierte nicht und Tom ging noch näher heran. Noch immer schien sie ihn nicht zu bemerken und so trat Tom langsam um sie herum.

"Shit!" fluchte er und wich ein paar Schritte zurück, als hätte man ihn geschlagen. In den Armen der Frau lag ein verkohltes Bündel. Unter den geschwärzten Lagen Stoff konnte man noch den Kopf eines Säuglings erahnen. Jetzt blickte die Frau zu ihm auf. Hellblaue Augen in einem schmutzig, rußigen Gesicht starrten ihn verzweifelt an. Ihre Tränen hatten helle Spuren in den Dreck auf ihren Wangen gefressen.

"Willst du mein Baby mal halten?" fragte sie und lächelte ein hysterisches Lächeln.

Tom schüttelte den Kopf. Wollte nur weg von hier. Aber seine Beine wollten ihm nicht gehorchen. Sie streckte ihm das Bündel entgegen und sagte mit zitternder Stimme.

"Keine Angst. Es ist ganz brav ... jetzt."

Mit einem kaum unterdrückten Schrei auf den Lippen wachte Tom auf. Völlig verschwitzt lag er auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit über sich. Draußen schien ein Sturm aufgezogen zu sein. Er hörte, wie der Wind an der Hütte zerrte und rüttelte. Irgendwo im hinteren Teil schlug ein Zweig mit einem rhythmischen Tock-Tock-Tock auf das Dach. Sein Herz pochte fast im selben Takt in seiner Brust und sein Magen hatte sich zu einem riesigen, schwarzen Klumpen verkrampft. Eine einzelne Träne löste sich aus seinem Augenwinkel und lief träge seine Wange hinunter.

"Es tut mir leid", flehte er verzweifelt in das Halbdunkel der Hütte. "Es tut mir so leid."

"Schlecht geträumt?" Kam es aus der Dunkelheit zurück. Tom fuhr hoch.

Mein Gott! Sie hatten ihn gefunden!

Blitzschnell griff er zwischen die Polster, wo er sein Jagdmesser versteckt hatte. Doch seine Hand griff ins Leere.

"Es ist nicht mehr da", beantwortete eine raue, männliche Stimme die ungestellte Frage in seinem Kopf. Tom versuchte ruhig zu bleiben, obwohl sein Herz wie verrückt in seiner Brust hämmerte.

"Okay. Und jetzt?", fragte er in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Statt einer Antwort riss der Fremde ein Streichholz an und entzündete eine kleine Gaslampe, die auf den Couchtisch stand. Dann lehnte er sich ruhig in dem Sessel zurück, der vor der Couch stand. In seinem Schoss hielt er locker eine Pistole. Neugierig musterte Tom sein Gegenüber im flackernden Licht der Gasflamme. Er war vielleicht Anfang dreißig, hatte sehr kurze, dunkle Haare und einen 5-Tage Bart, wodurch er etwas älter wirkte. Braune Augen erwiderten Tom's Blick ohne irgendeine Gefühlsregung preiszugeben. Tom fiel auf, dass seine Nase recht kurz und etwas schief war. Wahrscheinlich war sie schon mal gebrochen gewesen. Er trug eine schwarze Jack-Wolfskin-Weste über einem grauen T-Shirt und olivfarbene Cargo-Hosen. Abgesehen von der Waffe - vermutlich war es eine Glock - sah er nicht wirklich bedrohlich aus, wie er so in seinem Sessel saß. Also entspannte sich Tom ein kleines bisschen und versuchte sich vorzustellen, wie er selbst wohl auf den Fremden wirken musste. Er sah einen Jungen auf dem Weg zum Mann vor sich, der aber durch sein hartes, unrasiertes Gesicht älter aussah, als er wirklich war. Die etwas zu langen, braunen Haaren fielen ihm strähnig ins Gesicht, das von gestern noch dreckig und verschwitzt sein würde. Die Decke war etwas heruntergerutscht und man konnte seinen dünnen, mit Narben und Blutergüssen übersäten Oberkörper sehen.

"Was machst du in meiner Hütte?", fragte sein Gegenüber mit ruhiger Stimme.

"Ich musste mich aufwärmen", erwiderte Tom.

"Du hast die Tür aufgebrochen." Eine Feststellung, keine Frage.

"Ja."

Er legte den Kopf etwas schief, als müsse er die Antwort abwägen und fragte dann:

"Wie heißt du?"

"Tom."

Er nahm die Waffe hoch und richtete sie auf Tom's Brust.

"Okay, Tom. Es war schön dich kennenzulernen. Und jetzt raus hier!" Seine Stimme war leise und ließ keinen Widerspruch zu.

Tom zögerte dennoch kurz und sah seinem Gastgeber tief in die Augen. Der Sturm heulte um die Hütte und das leichte Trommeln des Zweiges auf das Dach war zu einem wütenden Klopfen angeschwollen. Der Fremde hielt seinem Blick stand. Seine Augen waren hart und Tom war sich sehr sicher, dass er es ernst meinte. Also seufzte er ergeben und griff nach seiner Unterhose, die er zum trocknen über die Lehne der Couch gelegt hatte. Ohne lange zu überlegen, schlug er die Decke zurück. Es war ihm egal, dass er nackt war. Langsam zog er seine Unterhose an und versucht sich dann richtig hinzusetzen. Bei seinem verletzten Bein musste er beide Hände zu Hilfe nehmen, um es vorsichtig auf den Boden zu stellen. Das unerträgliche Pochen in seinem Oberschenkel war wieder voll da. Aber darunter lag auch noch ein anderer, neuer Schmerz. Ein scharfes Ziehen, das ihm gar nicht gefiel. Der Verband hatte sich rosa gefärbt, während er geschlafen hatte. Wahrscheinlich hatte sich die Wunde bereits entzündet.

"Ich muss den Verband wechseln", sagte Tom und sah den Fremden direkt an. Noch immer hatte er keine Ahnung, was hinter dessen braunen Augen wirklich vorging. Er hatte ein Pokerface wie aus Stein. Nach ein paar Sekunden glitt sein Blick zu dem Verband und er schien zu überlegen. Dann nickte er kurz. Die Waffe ließ er die ganze Zeit auf Tom's Oberkörper gerichtet. Tom griff nach dem Verbandskasten auf dem Couchtisch und wollte ihn öffnen, als er ein sehr vertrautes Klicken hörte.

Der Fremde hatte den Hahn der Pistole gespannt. Tom war mitten in der Bewegung erstarrt und sah sein Gegenüber fragend an. Der schüttelte den Kopf, beugte sich vor und drehte den Verbandskasten zu sich um. Ohne Tom dabei aus den Augen zu lassen, öffnete er den Deckel. Dann blickte er kurz hinein, nickte zufrieden und drehte ihn wieder um.

Während Tom wortlos den alten Verband von seinem Bein löste, fragte er sich, wie es wohl weitergehen würde und ob er noch eine Nacht im Wald überstehen würde.

Wahrscheinlich schon, entschied er. Er musste nur aufpassen, dass er keine Lungenentzündung bekam. Als er den alten Verband abgewickelt hatte, entfernte er die vollgesogene Wundauflage, die eine ungesunde, gelblich-hellrote Farbe angenommen hatte.

"Scheiße.", murmelte Tom leise.

Sein Oberschenkel war bereits angeschwollen und die Haut hatte sich um den Wundrand dunkelrot verfärbt. Das sah nicht gut aus.

"Du bist angeschossen worden?", fragte der Fremde, als er die Wunde sah. Tom blickte auf und glaubte einen Anflug von Überraschung in seinen Augen zu sehen.

"Ja."

"Wer war das?"

Tom zuckte mit den Schultern.

"Keine Ahnung. Ich hab nicht nach ihren Namen gefragt", log er ohne nachzudenken.

"Und wieso haben sie auf dich geschossen?"

Tom zögerte kurz.

"Spielt das eine Rolle?" Es folgten ein paar Sekunden angespannter Stille, die wie etwas Lebendiges in der muffigen Luft zwischen ihnen hing.

"Damit solltest du zum Arzt gehen", brach der Fremde schließlich das Schweigen.

"Ja, sollte ich. Aber die stellen mir zu viele Fragen", antwortete Tom. "Kann ich ein Paar von den Penicillin haben?"

"Okay. Aber die sind schon abgelaufen."

Tom nahm zwei von den Tabletten und schluckte sie trocken hinunter. Dann griff er nach der Flasche mit dem selbstgebrannten Schnaps und goss etwas davon über die Wunde. Der Alkohol brannte sich wütend in sein Fleisch und, obwohl er fest entschlossen war, sich nichts anmerken zu lassen, verzog er das Gesicht vor Schmerz.

"Vorsichtig mit dem Zeug", meinte der Fremde.

"Wieso? Trinkst du den Fusel etwa?"

"Natürlich nicht, aber es könnte sich durch die Couch fressen." Der Fremde hatte anscheinend einen sehr trockenen Sinn für Humor, was Tom etwas überraschte. Behutsam legte er sich einen neuen Verband an.

Obwohl es recht kühl in der Hütte war, hatte er durch die Schmerzen und die Anstrengung zu schwitzen angefangen. Vielleicht hatte er auch schon leichtes Fieber. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er in Watte gehüllt und sämtliche Geräusche schienen von sehr weit weg zu kommen. Es dauerte ewig, bis er seine Jeans angezogen hatte, weil er sie kaum mehr über seinen geschwollenen und bandagierten Oberschenkel bekam. Unter den wachsamen Augen des Fremden streifte er sich schließlich sein dreckiges T-Shirt über und zog seine Turnschuhe an, die vor der Couch lagen. Dann stand er mühsam auf. Alles drehte sich und sein Blut pochte in seinen Schläfen. Obwohl er versuchte, sein verletztes Bein so wenig wie möglich zu belasten, hämmerten sich die Schmerzen brutal in seinem Oberschenkel. Fragend sah er den Mann mit der Pistole an.

"Kann ich mein Messer wiederhaben?"

Sein 'Gastgeber' überlegte ein paar Sekunden. Versuchte wohl die Situation einzuschätzen. Dann zog er das Jagdmesser hinter seinem Rücken hervor und warf es ihm zu. Tom fing es auf und nickte ihm zu. Mit schmerzverzerrtem Gesicht humpelte er zur Tür und öffnete sie. Er drehte sich noch einmal zu dem Fremden um und sagte ernst:

"Das mit dem Schloss tut mir leid." Wieder zeigte sich keinerlei Gefühlsregung in dessen Gesicht. Wie versteinert saß er in seinem Sessel, die Pistole noch immer auf Tom gerichtet.

Tom schleppte sich auf die Veranda und schloss die Tür hinter sich. Erschöpft hielt er sich am Geländer fest. Er musste sich kurz ausruhen, bevor er weiterging. Müde blickte er auf den See, dessen Oberfläche durch den Sturm aufgepeitscht wurde und sah kleine Wellen ans Ufer heranrollen. Es war eine dieser Nächte, in denen es nicht richtig dunkel wurde. Dünne Wolkenfetzen zogen mit beachtlicher Geschwindigkeit vor einem tiefstehenden Mond vorbei. Die hohen Birken neben der Hütte bogen sich im Sturm und Tom hielt trotzig sein Gesicht in den Wind. Die Nachtluft roch nach Wald und Moos und war noch feucht vom Regen der letzten Tage.

'Es ist wunderschön hier', dachte er unzusammenhängend. Dann versank die Welt um ihn in Dunkelheit und er brach zusammen.

Kapitel II

Eine dicke, orange Kerze auf dem Fußboden war die einzige Lichtquelle in dem fensterlosen Kellerraum. Die Flamme flackerte unruhig und erfüllte die Schatten um sie herum mit gespenstischem Leben.

"Wir müssen bald weiter, oder?", fragte Daniel leise. Seine Stimme klang traurig und hallte leicht von den kahlen Wänden wider.

"Ja", antwortete Tom. "Wir sind schon zu lange hier."

"Können wir nicht noch ein paar Tage bleiben?" Hoffnung und Verzweiflung schwangen zu gleichen Teilen in seiner Frage mit.

Tom, der diese Frage schon befürchtet hatte, seufzte leicht. Manchmal musste er sich selbst daran erinnern, dass Daniel jünger war als er selbst.

"Es ist gefährlich, zu lange an einem Ort zu bleiben. Das weißt du doch", erklärte er ruhig. Daniel nickte widerwillig, aber seine Augen wurden feucht.

Vor drei Tagen hatten sie das runtergekommene Landhaus am Waldrand entdeckt. Tom hielt es für eine überdimensionale Jagdhütte von irgendeinem reichen Kerl. Zuerst wollte er weitergehen, weil er es für zu gefährlich hielt. Aber schließlich konnte Daniel ihn davon überzeugen, sich das Haus näher anzusehen. Hauptsächlich hatte er ihm zugestimmt, weil sie, außer ein paar alten Keksen, nichts mehr zu essen hatten. Außerdem war der Gedanke verlockend, ein paar Nächte nicht unter freiem Himmel verbringen zu müssen. Also hatten sie das Haus beobachtet. Den ganzen Nachmittag saßen sie gut versteckt hinter ein paar Büschen am Waldrand und ließen es nicht aus den Augen. Es lag absolut ruhig da. Nichts deutete darauf hin, dass das Haus noch bewohnt sein könnte. Nur im ersten Stock bewegte sich ein Fensterladen leicht im Wind. Schließlich schlichen sie gemeinsam zur Eingangstür. Tom hatte seine Waffe gezogen und hielt die Heckler&Koch im Anschlag, als er die Klinke nach unten drückte. Mit einem lauten Quietschen schwang die Tür nach innen und gab den Blick auf den schmutzigen Flur frei. Auf dem Boden lagen jede Menge Schuhe und Mäntel verstreut und die Wände waren mit obszönem Graffiti vollgeschmiert. Vorsichtig durchsuchten sie das große Haus, fanden aber wenig, was sie gebrauchen konnten. Anscheinend waren sie nicht die Ersten, die hier nach etwas gesucht hatten. Praktisch jeder Raum war verwüstet. Die Möbel waren umgeworfen und zertrümmert, die Polster aufgeschlitzt und die Fenster eingeschlagen. Sie standen gerade in der kleinen Küche und wollten schon wieder gehen, als eine Holzdiele unter Tom's Füßen laut knarrte. Beide starrten auf den staubigen Boden und sahen sich fragend an. Doch dann breitete sich ein wissendes Lächeln auf ihren Gesichtern aus. Sie knieten sich hin und fanden bald das Loch, wo früher irgendeine Art von Griff an der Falltür befestigt war. Daniel sah sich in der Küche um und fand bald einen Schöpflöffel aus Metall, dessen Ende wie ein Haken gebogen war. Damit öffnete er die Falltür, während Tom mit der Pistole auf die Öffnung zielte. Kurz horchten sie gemeinsam in die dunkle Stille zu ihren Füßen. Dann holte Daniel seine Taschenlampe aus dem Rucksack und gab sie Tom. Mit vorgehaltener Waffe stieg er vorsichtig die knarrenden Holzstufen hinunter. Es war ein kleiner Keller der aus zwei Räumen bestand. Der erste enthielt nur ein paar leere Farbeimer und verschiedene Werkzeuge, aber der zweite war anscheinend der Vorratsraum des Hauses. Zwei mannshohe Regale waren vollgestopft mit Konserven und getrockneten Lebensmitteln. Es war wie Weihnachten und Ostern zusammen. Seit Tagen ernährten sie sich fast ausschließlich von trockenen Keksen und altem Brot. Tom konnte sich nicht mal mehr an eine Zeit erinnern, als er nicht hungrig war, und jetzt das!

Sie veranstalteten ein Festessen in dem unwirtlichen Kellerraum und beschlossen die Nacht dort zu verbringen. Aus dieser Nacht wurden zwei und mittlerweile waren sie schon den dritten Tag hier und Tom wurde zunehmend unruhig. Dieses Haus konnte nur allzu leicht das Interesse anderer Leute wecken, so wie es Daniel's geweckt hatte. Deshalb hatte er auch darauf bestanden, dass sie ihr Quartier im Keller aufschlugen und nicht in einem der oberen Räume. Hier unten war es zwar ungemütlicher als oben, aber wenigstens konnten sie Licht machen, ohne dass es von außen gesehen wurde. Außerdem war die Falltür in der Küche der einzige Zugang und die war schwer zu entdecken, wenn sie geschlossen war.

Jetzt lagen sie in ihrem großen Doppel-Schlafsack auf dem kühlen Kellerboden und schwiegen sich an. Tom drehte den Kopf und sah Daniel im Schein der Kerze lange an. Wieder einmal fragte er sich, ob er nicht zu ungeduldig und zu streng mit dem Kleinen war. Für ihn musste es viel schwerer sein, mit der neuen Situation fertig zu werden. Im Gegensatz zu Tom hatte Daniel ein richtiges Leben gehabt. Mit einer intakten Familie, die immer für ihn da war und Freunden, auf die man sich verlassen konnte. Doch ein Autounfall in einer regnerischen Nacht im November hatte ihm das alles genommen. Und als wäre das noch nicht schlimm genug, kam er auch noch in das Jugendheim von Hannes. Alles andere wäre besser gewesen. Tom war zu der Zeit schon zwei Jahre dort und kümmerte sich von Anfang an um Daniel. Irgendwie hatte er den Kleinen sofort gemocht. Aber er konnte sich nicht wirklich vorstellen, wie schwer es für Daniel gewesen sein musste. Denn so schlimm es in diesem verdammten Heim auch war, viel gab es nicht, was er selbst aus seinem früheren Leben vermisste. Sicher nicht seine Pflegeeltern, für die Prügel noch immer das Mittel der Wahl war. Und schon gar nicht seine richtigen Eltern. Sein Vater war verschwunden, als er fünf war und seine Mutter hatte sich den goldenen Schuss gesetzt, als er sieben war. Und Freunde?! Freunde waren das, was alle anderen hatten. Nur er nicht. Für ihn gab es immer nur Fremde. Ein paar von ihnen waren stärker als er und ein paar waren schwächer. Den Ersteren ging man am besten aus dem Weg und an den Letzteren konnte man seine Wut ablassen. So schwierig sein jetziges Leben auch sein mochte, sein altes Leben vermisste er kein Stück.

"Es ist nur … Ich bin einfach müde", fing Daniel an und schüttelte den Kopf. "Ich bin so verdammt müde."

"Wie meinst du das?"

Daniel sagte ein paar Sekunden lang nichts und Tom wollte gerade noch mal nachfragen, als er antwortete:

"Ich bin es einfach leid. Verstehst du? Ich will nicht mehr weglaufen. Ich will einfach nur ein paar Tage irgendwo bleiben. Ich will in einem richtigen Bett schlafen, morgens von der Sonne geweckt werden, mir ein riesiges Frühstück reinziehen und auf der Terrasse meinen Kaffee genießen. Dann mit ein paar Freunden in die Stadt fahren, mir ein Eis kaufen und die Leute beobachten. Ich will mein Leben zurück!"

"Denkst du, das möchte ich nicht? Denkst du, mir fehlt das nicht alles?", log Tom ihm ins Gesicht.

"Ich weiß nicht. Du redest ja nie über dein altes Leben."

"Weil es dadurch auch nicht besser wird", fuhr Tom ihn an und fügte etwas leiser hinzu. "Es hat keinen Sinn, darüber zu reden, was war. Das Alles ist vorbei und kommt auch nicht wieder. Wir müssen jetzt versuchen, das Beste aus dieser beschissenen Situation zu machen. Mehr können wir nicht tun."

Daniel schüttelte den Kopf und starrte an die fleckige Betondecke.

"Weißt du noch, als wir aus dem Heim abgehauen sind. Damals hast du gesagt, wie viel Glück wir haben, überhaupt noch am Leben zu sein."

"Ja, und?", fragte Tom irritiert.

"Vielleicht waren wir gar nicht die, die Glück hatten."

Als Tom erwachte, war es schon wieder dunkel. Er lag in einem recht bequemen Bett unter einer dicken Decke und schwitzte wie ein Schwein. Gleichzeitig war ihm aber eiskalt. Das Fieber hatte seinen Körper bereits voll im Griff. Die Frage, wie er in dieses Bett gekommen war, stellte er sich gar nicht. Für den Augenblick war er voll zufrieden damit, dass er es weich und bequem hatte und bald schlief er wieder ein. So bekam er auch nicht mit, wie ein paar Minuten später der Besitzer der Hütte ins Schlafzimmer kam und neben das Bett trat. Nachdenklich betrachtete er den Jungen, der sich im Traum unruhig hin und her wälzte und irgendetwas murmelte. Dann legte er kurz den Handrücken auf Tom's schweißnasse Stirn und fühlte seine Temperatur. Der Junge glühte fast. Besorgt schüttelte er den Kopf und ging wieder ins Wohnzimmer.

Die nächsten Tage durchlebte Tom wie in Trance. Er schlief fast die gesamte Zeit und in den kurzen Momenten, in denen er wach war, nahm er alles wie durch einen dicken Nebel hindurch wahr. Er war sich dunkel bewusst, dass sich jemand um ihn kümmerte. Ihm etwas zu trinken und zu essen gab. Ihn auf die Toilette brachte und das durchgeschwitzte Bettzeug wechselte. Aber er nahm das alles hin ohne sich darüber Gedanken zu machen. Dafür war er einfach zu schwach. In diesem Dämmerzustand irgendwo zwischen Leben und Tod verbrachte er über eine Woche, bis es ihm langsam besser ging. An Aufstehen war freilich noch nicht zu denken, aber allmählich konnte er zumindest wieder einen klaren Gedanken fassen und tatsächlich zu Ende denken.

"Wieso hast du das getan?", fragte er den Fremden eines Abends, als er gerade in der Tür zum Schlafzimmer stand und ihn nachdenklich beobachtete. Er hatte wohl gedacht, Tom würde schlafen.

"Was meinst du?", gab sein Gastgeber zurück. Tom konnte sein Gesicht leider nicht genau sehen, weil es in der Hütte noch zu dunkel war. Er war nur ein Schatten unter vielen.

"Warum hast du dich um mich gekümmert?"

Der Schatten legte seinen Kopf etwas schief; schien sich die Antwort gut zu überlegen. Dann zuckte er mit den Schultern.

"Keine Ahnung. Vielleicht wollte ich nur nicht, dass du auf meiner Veranda verreckst."

"Dir wäre es also lieber gewesen, wenn ich in deinem Bett draufgehe?"

Der Fremde antwortete nicht darauf, sondern drehte sich um und wollte gehen.

"Danke", sagte Tom leise. Für dieses Wort hatte er in den letzten Jahren nicht allzu viel Verwendung gehabt und es fühlte sich seltsam an, als er es aussprach. Wie ein Wort in einer Sprache, die er nicht mehr richtig beherrschte.

"Schon gut. Versuch nur nicht, in meinem Bett draufzugehen. Die Laken sind recht neu."

"Wie heißt du eigentlich?", fragte Tom.

Der Fremde stand immer noch mit dem Rücken zu Tom als er antwortete.

"Martin."

Zwei Tage später fühlte Tom sich allmählich stark genug um aufzustehen. Vorsichtig richtete er sich im Bett auf und schwang seine Beine über die Kante. Sein Kopf und sein lädierter Oberschenkel pochten im Rhythmus seines Herzschlags. Aber die Schmerzen hielten sich in Grenzen. Langsam stand er auf und humpelte in Richtung Wohnzimmer. Sein Gastgeber war nicht da. Auf dem Tisch vor der Couch lag sein Messer. Von draußen hörte er, wie jemand Holz hackte. Nach einem kurzen Zögern öffnete er die Vordertür und trat auf die Veranda. Ein kühler Wind blies ihm ins Gesicht und er blickte verschlafen in einen bleigrauen, wolkenverhangenen Himmel. Er schätzte, dass es später Vormittag sein musste, aber ohne die Sonne zu sehen, war das schwer zu sagen. Noch leicht unsicher auf den Beinen, humpelte er die Veranda entlang und riskierte einen Blick um die Ecke der Hütte. Sein Gastgeber - Martin, korrigierte er sich - ließ gerade eine lange Axt auf ein Holzscheit niederfahren. Die Axt fuhr fast ohne Widerstand in das Holz und spaltete das große Scheit. Martin trug eine ausgeblichene Jeans und arbeitete mit freiem Oberkörper. Fasziniert beobachtete Tom das Spiel seiner gut definierten Muskeln. Sie bewegten sich unter der nass-glänzenden Haut, als besäßen sie ein Eigenleben. Tom wollte gerade zu ihm hinübergehen, als er die Männer sah, die aus dem Halbdunkel des Waldes auftauchten. Sie waren zu dritt und Tom erkannte sie sofort.

Sie hatten ihn also doch gefunden!

Langsam glitt er zur Seite, um aus ihrem Sichtfeld zu kommen. Sein Herz pochte wie ein Presslufthammer in seiner Brust und er fühlte sich, als hätte jemand einen ganzen Eimer mit Adrenalin in seinem Blut ausgeschüttet. Abschätzend blickte er über die Veranda auf den See hinaus. Auf dieser Seite der Hütte fing der Wald erst nach guten 500 Metern an und war auch nicht besonders dicht.

Er würde es nicht rechtzeitig schaffen. Schon gar nicht mit seinem lädierten Bein. Vorsichtig schlich er zurück in die Hütte und griff nach seinem Messer. Dann ging er nach hinten ins Schlafzimmer und drückte sich flach gegen die Wand neben dem Fenster. Behutsam schob er den alten, löchrigen Vorhang ein paar Zentimeter zur Seite und spähte hinaus. Er sah Martin, der die Männer jetzt auch bemerkt hatte. Die Axt hielt er locker in der Hand, aber Tom erkannte an seiner Körperhaltung, wie angespannt er war.

"Hallo." Die Männer waren ein paar Meter vor Martin stehengeblieben und Hannes hatte sofort das Wort ergriffen. Er war Ende dreißig, ein paar Zentimeter kleiner als Martin und stämmig. Das schüttere schwarze Haar hatte er kurz geschoren und seine harten, grauen Augen musterten Martin abschätzend. Tom bemerkte die lange Narbe auf seiner linken Wange. Zumindest würde Hannes ihre letzte Begegnung nicht so schnell vergessen.

"Hallo", antwortete Martin einsilbig.

"Ich bin Hannes und das sind Lukas und Peter. Wir kommen von dem Jugendheim "Zuflucht" und sind auf der Suche nach einem unserer Jungs. Er ist verletzt und wir machen uns große Sorgen. Du hast ihn nicht zufällig gesehen?" Das klang unglaublich einstudiert.

'Jetzt ist es aus', dachte Tom resigniert. Hier würde seine Flucht enden.

"Nein. Hier ist schon lange Keiner mehr gewesen", antwortete Martin mit ruhiger Stimme und hielt Hannes Blick stand. Ein paar Sekunden lang sagte Keiner der beiden ein Wort. Sie sahen sich nur in die Augen, wie zwei Pokerspieler, die den Bluff des Anderen durchschauen wollen.

"Bist du sicher? Wir wären untröstlich, wenn ihm etwas zustoßen würde."

Martin ließ sich mit seiner Antwort ein paar Sekunden lang Zeit und wiederholte dann mit bewundernswerter Gelassenheit:

"Wie gesagt, hier ist schon lange Keiner mehr gewesen."

"Okay. Dann müssen wir wohl weitersuchen." Hannes hatte seiner Stimme einen Hauch von Enttäuschung verliehen und wenn man ihn nicht kannte, dann glaubte man ihm dieses Theater. Aber Tom wusste, dass er Blut geleckt hatte. Er würde in der Nähe bleiben. Gerade als er sich umdrehte, fragte Martin unvermittelt:

"Ist er abgehauen?"

"Was?" Hannes war stehengeblieben und sah über seine Schulter.

"Der Junge den ihr sucht. Ist er abgehauen?"

Hannes zögerte und drehte sich langsam zu Martin um.

"Ja, das ist er."

"Dann solltet ihr vielleicht lieber die Polizei einschalten."

Hannes sah ihn an und lächelte ein nettes, harmloses Lächeln, das Tom einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte.

"Wir regeln das lieber in der Familie. Die Polizei macht doch nur Ärger."

"Das verstehe ich", stimmte Martin zu. "Aber seid vorsichtig. Hier im Wald kann es gefährlich werden."

"Ja, das kann es." Hannes legte den Kopf ein wenig schief. "Ich freue mich schon auf unser nächstes Treffen."

"Ich mich auch", gab Martin mit einem schmalen Lächeln zurück.

Langsam gingen die Drei an der Hütte vorbei und verschwanden schließlich zwischen den Bäumen.

Tom vermutete, dass sie die Hütte noch eine Weile beobachten würden, also ging er noch nicht nach draußen, sondern setzte sich auf den Rand des Bettes und legte den Kopf in die Hände. Nach ein paar Minuten hatte sich sein Herzschlag wieder normalisiert und er konnte nachdenken.

Eigentlich war es klar gewesen, dass sie ihn finden würden. Hannes würde die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Das konnte er nicht. Schon gar nicht nach dem was Tom mit seiner Wange angestellt hatte. Bei dem Gedanken schlich sich ein zufriedenes Lächeln auf Tom's Gesicht. Aber sofort folgte ein Stich in sein Herz, als er an Daniel dachte. Er würde es jetzt ausbaden müssen. Tom fühlte sich schuldig, denn es war seine Idee gewesen, abzuhauen. Am Anfang sah es auch ganz gut aus. Drei Wochen lang hielten sie Hannes und die Anderen auf Abstand. Für Tom waren es die schönsten drei Wochen seines jungen Lebens. Daniel und er froren und sie hatten ständig Hunger und dennoch war er in dieser Zeit so glücklich wie nie zuvor gewesen. Sie waren frei gewesen. Zum ersten mal seit Jahren, waren sie frei. Aber schließlich holte sie die Realität wieder ein. In jener Nacht, als Hannes sie fand, konnte Tom gerade noch entkommen. Aber Daniel hatte es nicht geschafft. Und jetzt fragte er sich ständig, wie es dem Kleinen wohl gerade ging. Er musste sicher einiges aushalten. Hannes konnte unglaublich einfallsreich sein, wenn es darum ging, andere zu quälen und zu demütigen. Und Daniel war nicht stark. Er war Schmerzen nicht gewohnt.

Tom musste ihn da rausholen.

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