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Der Neuanfang
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Informationen
- Story: Der Neuanfang
- Autor: Peter
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Coming Out, Lovestory
Vorwort
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Dieser Roman ist jetzt auch als Buch erhältlich! Wer ihn also gerne in gedruckter, hübsch gestalteter Form besitzen oder auch verschenken möchte, kann das gute Stück für 13,90 Euro käuflich erwerben.
Peter Conrad
Der Neuanfang
Engelsdorfer Verlag
ISBN 3-937290-97-4
Wer mir einen Gefallen tun will, bestellt direkt bei mir, dann gibt es für den gleichen Preis auf Wunsch auch gleich eine Widmung. Bestellungen sind ab sofort möglich. Bei amazon und im Buchhandel sollte das Buch im April/Mai 2004 auftauchen – die aktualisieren ihr Angebot nur einmal monatlich.
Und nun genug der Vorrede!
Life is what happens to you while you're busy making other plans.
John Lennon, Beautiful Boy
Peter Conrad
Der
Neuanfang
Jugendroman
»Danny, hilfst du uns am Samstag wieder auf dem Flohmarkt?«
Der das wissen wollte war Thomas, mein bester Freund, der zusammen mit seinem großen Bruder regelmäßig allen möglichen Krimskrams auf genanntem Flohmarkt verscherbelte. Und regelmäßig wurde ich zum Standaufbau und Verkauf mit eingespannt. Keine sonderlich angenehme Tätigkeit bei Minusgraden. Ich fror jetzt noch beim Gedanken an das vergangene Wochenende. Dieses Mal hatte ich allerdings einen guten Grund dankend abzulehnen.
»Tut mir leid, geht wirklich nicht. Meine Mutter und ihr Freund schleifen mich zu einem Schwimmwettkampf.«
»Und wer wettkämpft da? Doch nicht etwa so ein wasserscheues Exemplar der Gattung Mensch wie du?«
Vielen Dank auch. Was konnte ich denn dafür, daß ich damals, als alle anderen Schwimmunterricht hatten, mit Leukämie im Krankenhaus lag. Als ich das Schwimmenlernen später nachholen wollte, bin ich gleich beim ersten Gang ins Wasser beinahe abgesoffen, und seitdem habe ich ein etwas gespanntes Verhältnis zu dem Thema. Mittlerweile habe ich zwar gelernt, mich einigermaßen sicher über Wasser zu halten, trotzdem hielt ich mich lieber in Gefilden auf, in denen stehenderweise wenigstens noch mein Kopf über die Wasserkante guckte.
»Nö, soweit kommt das noch. Tim, das ist der Sohn von dem Typen, ist der große Schwimmer. Meine Mutter meint, so ein gemeinsam verbrachter Tag wäre die ideale Möglichkeit uns kennenzulernen.«
»Oh, oh, das hört sich ja an, als ob die es tatsächlich ernst meinen.«
»Sieht wirklich so aus. Die beiden verbringen beinahe jede freie Minute zusammen. Sollte mich nicht wundern, wenn in naher Zukunft Hochzeitsglocken läuten.«
»Und was hältst du davon?«
»Schwierige Frage. Also meine Mutter ist so glücklich wie seit Jahren nicht mehr, und Reinhardt scheint auch ganz okay zu sein.«
»Und dein Stiefbruder in spe?«
»Ha, erwischt, du hast mir nicht richtig zugehört.«
»Wieso?«
»Ich sagte doch, daß wir uns am Samstag erst kennenlernen sollen. Bisher habe ich nur ein Bild von ihm gesehen, und ein paar Worte mit ihm am Telefon gesprochen, als ich dort wegen eines Notfalls anrief und meine Mutter suchte.«
Keine Ahnung wieso, aber in der Zeit, die sich meine Mutter und ihr Reinhardt nun schon kannten, hatte sich tatsächlich noch nie die Gelegenheit ergeben, Tim zu treffen.
»Naja, dann müßtest du ja zumindest wissen wie alt er ist.«
»Sechzehn.«
»Also noch richtig junges Gemüse.«
Wir lachten beide los, waren wir doch gerade mal ein Jahr älter. Um genau zu sein: ich hatte vor elf Wochen und drei Tagen meinen 17. Geburtstag gefeiert. Und just an diesem Tag hatte meine Mutter ihren Reinhardt kennengelernt, passenderweise genau als sie mich zur Feier des Tages ins Kino eingeladen hatte. Gerade hatte ich eine Maxiladung Popcorn käuflich erworben, als mir so ein vollbärtiger Riese um die vierzig einen Halbliterbecher Cola über die Hose schüttete. Weiße Jeans und schwarze Cola – das paßte nun wirklich nicht zusammen. Das Riesenbaby war offensichtlich noch mehr geschockt als ich, jedenfalls hatte es gerade erst den Anfang einer Entschuldigung gestammelt, als auch schon meine Mutter im Sturmschritt angerast kam und begann, ihn zur Minna zu machen.
Nun muß man wissen, daß meine Mutter nun wirklich nicht besonders groß ist, und der Anblick einer 1.65-Frau, die einen 1.95-Mann zur Schnecke macht, entbehrte nicht einer gewissen Komik. Diese Szene hatte sehr schnell die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Umstehenden auf sich gezogen, und nach kurzer Zeit war ich so ungefähr der letzte der lauthals loslachte – dafür aber bestimmt noch ein paar Dezibel lauter als der Rest der Anwesenden. Dies wiederum brachte meine Mutter zum Schweigen, und die beiden Hauptakteure schauten sich einen Moment lang wortlos an. Eine kleine, energie- und wutgeladene Frau und ein am Boden zerstörter Rambo-Doppelgänger. Ein Bild für die Götter. Dies wurde offensichtlich auch meiner Mutter klar, denn der wütende Ausdruck auf ihrem Gesicht machte einem breiten Grinsen Platz. Das wiederum verwirrte den armen Kerl vor ihr noch mehr, der wußte nun gar nicht mehr wie ihm geschah.
Langer Rede kurzer Sinn: Der sanfte Riese stellte sich als Reinhardt vor, fuhr uns drei zu uns nach Hause (an Kino war in den durchweichten Klamotten nicht mehr zu denken), und lud uns anschließend zum Abendessen und zum Besuch der Abendvorstellung ein. Tja, und während ich mir unter der Dusche die klebrigen Cola-Überreste vom Körper spülte, kamen sich meine Mutter und der Übeltäter offenbar ziemlich nahe. Als ich in frischen Klamotten im Wohnzimmer auftauchte, lachten und scherzten sie jedenfalls, als würden sie sich schon ewig lange kennen. Was sogar stimmte! Die beiden waren vor vielen Jahren gemeinsam zur Schule gegangen und hatten sich dann aus den Augen verloren. Und nun dieses überraschende Wiedersehen, noch dazu unter diesen Umständen. In den folgenden Wochen entwickelte sich aus ihrer wiederauflebenden Freundschaft offensichtliche Liebe, mit dem Ergebnis, daß wohl bald aus zwei Familien eine werden würde. Ha, da hatte wohl Cupid höchstpersönlich Reinhardt die Cola aus der Hand geschlagen!
Noch ein paar Hintergrundinfos zum Thema Familie. Mein Vater war vor ein paar Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, und ich vermißte ihn immer noch jeden einzelnen Tag. Meine Mutter hatte sich danach in die Arbeit gestürzt, nicht daß dies finanziell nötig gewesen wäre, aber es half ihr offensichtlich dabei, nicht ständig an ihren Mann und meinen Vater zu denken. Mir wiederum half das nicht besonders, gerade in einer Zeit, als ich sie ganz besonders brauchte, war sie kaum einmal vor Mitternacht zuhause. Zum Glück hielt das nur ein paar Wochen an bis wir beide merkten, daß es so nicht weiterging, und uns irgendwie zusammenrauften. Die letzten zwei, drei Jahre hatten wir eine gute Zeit zusammen, und wir schauten wieder einigermaßen optimistisch in die Zukunft. Einige Monate vor meinem letzten Geburtstag hatten wir sogar über das Thema »Mutter plus neuer Mann« gesprochen, und nach einigen langen Abenden und durchwachten Nächten hatte ich mich damit abgefunden, daß diese Situation wohl irgendwann mal eintreten würde. Dieser Reinhardt hatte wirklich Schwein gehabt: Hätte er diesen Stunt an meinem sechzehnten Geburtstag abgezogen, hätte ich ihm mit Sicherheit das Leben beim Versuch bei meiner Mutter zu landen zur Hölle gemacht.
Reinhardt selbst war geschieden, seine Frau mit einem Latin Lover durchgebrannt, ohne einen weiteren Gedanken an Ehemann und Sohn zu verschwenden. Das war nun auch schon eine ganze Weile her, und seitdem spielte Reinhardt den alleinerziehenden Vater. Wie gesagt, wir kamen gut miteinander aus, und wenn meine Mutter sich schon zu einem neuen Mann hingezogen fühlte, dann war einer wie Reinhardt bestimmt keine schlechte Wahl. Er drängte sich nicht in mein Leben rein, versuchte nicht sich anzubiedern, war aber andererseits stets bereit mir zuzuhören, und zwar ohne mich dabei von oben herab zu behandeln. Aber Schluß jetzt, ich springe lieber mal zurück zum aktuellen Geschehen. Wo war ich doch gleich? Ach ja, Thomas wollte mich zwangsrekrutieren und hatte sich wohl zum ersten Mal dabei eine Abfuhr eingehandelt.
»Tut mir wirklich leid, Thomas, aber ihr werdet ohne mich auskommen müssen.«
»Den Teufel tut es dir. Aber naja, da brauchen wir dir wenigstens nichts von den Einnahmen abzugeben.«
»Damit werde ich leben müssen, auch wenn ich noch nicht weiß, wie ich das schaffen soll.«
»Sprach Rockefeller jr. Naja, egal. Weißt du schon, wie lange die Familienzusammenführung dauern wird? Schaffst du es zu Katjas Party?«
»Sch…rott, die habe ich ganz vergessen! Verdammt, ich habe keine Ahnung ob ich das hinbekomme. Wer weiß, vielleicht haben meine Mutter und Reinhardt auch für den Abend irgendwelche gemeinsamen Unternehmungen geplant.«
»Komm schon, du mußt einfach kommen. Du bist der einzige, der ihre Musikanlage so zum Laufen bringt, daß sie für das ganze Haus ausreicht.«
»Ach, deshalb willst du mich unbedingt dort haben?«
»Naja, auch. Aber denk doch auch mal an die tolle Stimmung bei Katjas Partys. Jürgen managed den Grill, Lisa besorgt Getränke. Es werden garantiert mindestens fünfzig Leute dasein. Ach, und da sind bestimmt auch ein paar hübsche Jungs dabei.«
Ich mußte grinsen. Jetzt hatte er mich.
»Okay, okay, ich werd mir Mühe geben.«
»Wußt ichs doch. Oh, verflixt, schon so spät? Tschüß, ich muß los, meine kleine Schwester vom Kindergarten abholen. Also bis morgen!«
Und weg war er, noch bevor ich irgendeine Antwort herausbringen konnte. Zur Sache mit den hübschen Jungs: Tja, also ich bin schwul. Und ich bin ziemlich out. (Ist schon mal jemandem aufgefallen, wie blöd es klingen kann, deutsche und englische Worte miteinander zu vermischen?) Es war nicht so, daß die ganze Schule über mich Bescheid wußte, aber von meinen Freunden wußten es eigentlich alle. Völlig glatt war das nicht abgelaufen, aber mit der Hilfe von Thomas und drei oder vier anderen hatte ich es durchgestanden. Ein paar frühere »Freunde« hatten sich etwas von mir abgewandt, aber zumindest waren sie bereit gewesen, ihre Klappe zu halten. Ich war also mittlerweile mit mir im Reinen und im großen und ganzen mit meinem Leben zufrieden. Jetzt fehlte mir nur noch ein passender Boyfriend. (Ha, eben meckere ich noch über englische Spracheinflüsse, und jetzt verwende ich selbst ein solches Wort. Aber was solls, hat schon wer bemerkt, daß es für diesen Begriff keine wirklich passende deutsche Übersetzung gibt? Ich meine, wenn wer auf Englisch sagt »That's my boyfriend«, dann weiß jeder sofort was gemeint ist, im Gegensatz zu »That's my friend«. Aber auf deutsch? »Das ist mein Freund« sagt alles und gleichzeitig gar nichts – ich meine, Thomas ist mein Freund, aber er ist nicht mein »Freund«. Welches Wort soll man zum Zwecke der eindeutigen Identifizierung also benutzen? Geliebter? Verlobter? Ehemann? Lebenspartner? Nichts will so richtig passen. Wenn also jemand eine Idee hat dann her damit. Ansonsten lasse ich den Boyfriend jetzt einfach mal so stehen.)
Wo war ich. Ach ja, hübsche Jungs auf Partys. Tja, ich hielt meine Augen wirklich offen, und gerade auf Katjas berühmten Partys gab es immer reichlich Auswahl an Typen, die ich durchaus in mein Leben lassen würde. Allerdings war es bisher immer nur beim Gucken geblieben, denn üblicherweise tauchte zu jedem niedlichen Kerl alsbald ein dazugehöriges weibliches Wesen auf, und alle meine Hoffnungen gingen den Bach runter. Noch hatte ich mich davon nicht allzusehr deprimieren lassen, aber insgeheim hoffte ich doch, daß ich irgendwann so eine Party nicht alleine verlassen würde. Ich meine, es durfte doch einfach nicht sein, daß alle hübschen Jungs entweder hetero oder schon vergeben waren, oder? Jedenfalls nahm ich mir auf dem Heimweg vor, auf keinen Fall die anstehende Feierlichkeit zu versäumen. Irgendwie würde ich mich schon von den familiären Verpflichtungen loseisen können.
Samstag morgen. Oder besser gesagt Samstag nacht. Also Nacht von Freitag auf Samstag. Wie auch immer. Auf jeden Fall zu äußerst unchristlicher Stunde.
»Danny, raus aus den Federn! Denk dran, wir haben heute was vor.«
Ich liebe meine Mutter, ehrlich, aber es gab Zeiten, da wünschte ich sie mir weit, weit weg. Zum Beispiel just in diesem Moment. Noch nicht mal 8 Uhr dreißig, und mein gemütlicher Schlummer wurde unsanft beendet. Und das am Wochenende! Was solls, nochmal auf die andere Seite drehen schadete bestimmt nichts. Ach war das Kissen schön weich …
»Daniel, steh endlich auf, oder muß ich erst einen Eimer kaltes Wasser holen?«
Grummel. Daniel, das sagte schon alles. Wenn ich jetzt nicht reagierte, hatte sie die Sache mit dem kalten Wasser tatsächlich drauf. Wäre nicht das erste Mal. Ach ja, noch ganz nebenbei, falls jemand diesen Text laut vorlesen sollte: Danny spricht sich so wie man es schreibt, also nicht etwa Dänny. Und wehe ich bekomme mit, daß mich jemand doch so nennt!
Mir blieb also nichts anderes übrig, als mich murrend aus den warmen Federn zu winden. Brrr, was für eine Kälte! Gerade mal Anfang Dezember, und schon heftiger Frost. Ich würde wohl entweder das Fenster über Nacht schließen oder mir doch mal einen dicken Winterschlafanzug raussuchen müssen. Mit ein paar schnellen Schritten war ich beim Fenster, und während ich mit der rechten Hand selbiges zudrückte, drehte ich mit der linken Hand die Heizung auf volle Pulle. Danach flüchtete ich mich in mein gut geheiztes Privatbadezimmer, wo ich den üblichen morgendlichen Verrichtungen nachging.
Eine Viertelstunde später wanderte ich wieder zurück in mein Zimmer, welches mittlerweile eine einigermaßen angemessene Temperatur erreicht hatte. Ein Blick aufs Außenthermometer: 8 Grad minus. Prima. Also wieder so ein Tag, an welchem ich all der warmen Klamotten wegen doppelt so umfangreich aussehen würde wie im Normaloutfit. Das hat man nun davon, wenn man eine Frostbeule ist.
»Danny, bist du bald soweit? Frühstück steht auf dem Tisch. Und zieh dich warm an, es ist bitterkalt!«
Da hatte wohl jemand meine Gedanken gelesen. Diese Fähigkeit liegt übrigens in der Familie, auch ich bin ganz gut darin. Wie? Beweise? Okay. Ich werde mal versuchen, die aktuellen Gedanken des geschätzten Lesers zu ergründen. Konzentration. Noch ein kleines bißchen. Gleich hab ichs. Genau, da ist es. Wie bitte?!? Das darf doch wohl nicht wahr sein, der Leser denkt gerade: »Der Typ scheint mit seinen siebzehn Jahren ja noch ein ziemliches Muttersöhnchen zu sein.« Vielen Dank auch, aber da steh ich doch drüber! Wenn ein Muttersöhnchen dadurch definiert wird, daß man gut mit seiner Frau Mama auskommt und sich gegenseitig respektiert und anhört statt sich ständig anzuschreien und anzuöden, tja, dann war ich wohl ein Muttersöhnchen. Vielleicht war dieser frisch abgezapfte Gedanke des Lesers ja auch nur ein Ausdruck von Neid. Genau, das wird es sein.
Ach, übrigens, ich merke gerade, daß ich zwar schon viele Worte zu meiner Familie, nicht jedoch zu mir selbst verschwendet habe. Zumindest was Äußerlichkeiten angeht. Also, das Alter ist ja schon bekannt, ich bin 1.81 groß (oder klein, das ist wohl Ansichtssache), dunkelblond mit hellen Strähnchen, braune Augen. Nicht dick, nicht dünn, kein Kraftprotz, aber auch kein Schlappschwanz. Am besten wohl mit dem Wort »durchschnittlich« beschrieben. Was auch für meine Leistungen in der Schule gilt. Wobei mir die Lehrer immer wieder sagen, daß ich viel mehr erreichen könnte wenn ich doch nur wollte. Ha, das fehlte mir gerade noch, dann auch noch als Streber dazustehen! Einigermaßen sportlich bin ich auch, lerne Karate und bin wohl schon ganz gut darin. Im Sommer fahre ich elendig lange Strecken mit dem Fahrrad. Musikalische Vorlieben: N'Sync, B3, Phil Collins und Mike Oldfield – zumindest die ersten beiden Truppen sind ja wohl Pflicht für einen schwulen Teenager, oder? Tja, und das wars dann wohl auch schon, was man so über mich wissen muß.
Wo war ich stehengeblieben bevor ich mich wieder einmal habe ablenken lassen? Ah ja, der Ruf zur Fütterung. Vorher noch schnell den Schlafanzug aus- und die ersten Tagesklamotten anziehen. »Zieh dich warm an«, hatte meine Mutter gesagt. Das hieß in diesem Haus, daß unter Fleeceshirt und Thermojeans noch ein Sweatshirt und – wer jetzt lacht oder wieder das »Muttersöhnchen« rauskramt bekommt meine Karate-Kenntnisse zu spüren – eine Strickstrumpfhose gehörten. Auf letzteres bestand meine Mutter schon immer, all meine Versuche in früheren Jahren, sie davon abzubringen, waren kläglich gescheitert. Mittlerweile hatte ich mich mit ihrem diesbezüglichen Starrsinn und mit den Hänseleien meiner Mitschüler und Bekannten abgefunden und brachte um des lieben Friedens willen das Thema nicht mehr zur Sprache. Mal davon abgesehen, daß die Dinger ganz praktisch sind und mir alles was mich irgendwie warmhielt im Grunde meines Herzens höchst willkommen war. Also griff ich nach einem weißen Sweatshirt und einer dunkelblauen Strumpfhose, zog mir beides an und wanderte in diesem Aufzug zum Frühstückstisch in der Küche. Bei uns war immer gut geheizt, und jetzt schon die nächste Schale mit anzulegen wäre Blödsinn gewesen.
»Da bist du ja endlich.«
»Was drängelst du denn so? Ist doch noch jede Menge Zeit, und wir fahren höchstens zehn Minuten bis zur Schwimmhalle.«
»Wir fahren nicht mit dem Auto, wir gehen zu Fuß. Nach dem Wettkampf fährt Reinhardt uns nach Hause, oder wir unternehmen noch was gemeinsam. Da müssen wir noch alle vier drüber sprechen.«
»Katja schmeißt heute abend eine Party, dort sollte ich spätestens um sechs auftauchen.« Eigentlich erst um sieben, aber ein kleines Notpolster konnte sicher nicht schaden.
»Mußt du denn da wirklich gerade heute hin?«
»Ich habe es ihr versprochen schon lange bevor du mir von euren heutigen Plänen erzählt hast.« Na gut, das war nicht die ganze Wahrheit, aber das muß schon mal erlaubt sein.
»Ist Katja eigentlich immer noch in dich verknallt?«
Die Ärmste war mir tatsächlich seit der vierten Klasse praktisch pausenlos hinterhergelaufen.
»Ich glaube nicht, nachdem ich ihr gesagt habe, warum sie bei mir nie eine Chance haben wird, hat sie sich anderweitig umgesehen. Soviel ich weiß hat sie seit ein paar Wochen auch einen Freund.«
»Puh, Gott sei Dank. Ich meine, sie ist zwar ein nettes Mädel, aber nicht unbedingt das was ich mir für meinen Sohn so vorstelle. Dermaßen oberflächlich und immer hinter der neuesten Mode her. Versprich mir, daß du nie auf eine männliche Katja reinfallen wirst.«
Meine Mutter war die erste gewesen, der ich von meinem Anderssein berichtet hatte. Die Zeit danach war alles andere als einfach, es dauerte viele Wochen bis sie es akzeptiert hatte. Als es dann aber endlich soweit war, hatte sie eine komplette Kehrtwendung hingelegt und stand jetzt völlig hinter mir. Was manchmal ganz schön nerven konnte, zum Beispiel, wenn wir im Sommer im Eiscafé saßen und sie mich alle paar Löffel auf Jungs aufmerksam machte. »Schau mal, Danny, der sieht doch gut aus, oder?« Hmpf, peinlich. »Wäre das da nicht genau dein Typ, Danny?« Und man konnte auch nicht behaupten, daß sie dies im Flüsterton von sich gab oder sich auch nur irgendwie bemühte, es einigermaßen unter uns zu halten.
»Keine Bange, selbst wenn ich auf Mädels stehen würde, wäre Katja garantiert nie in die engere Wahl gekommen.«
»Da bin ich ja beruhigt.«
Während dieser Unterhaltung hatte ich nach und nach drei frische Bäckerbrötchen in mich hineingestopft und zwei große Tassen Tee geleert. Erfreulicherweise brauchte ich mir um meine Figur keine Sorgen zu machen, ich konnte essen was ich wollte, ich wurde nicht dick. Was vielleicht auch daran lag, daß ich ständig darauf achtete meine tägliche Bewegung zu bekommen.
Als ich mich im Stuhl zurücklehnte, schaute meine Mutter von ihrem Kreuzworträtsel auf.
»Na, endlich satt? Ich fürchte, noch so einen Esser wie dich könnte ich mir nicht leisten, zwei von deiner Sorte würden mir glatt die Haare vom Kopf fressen.«
Da sprach der pure Neid darüber, daß sie schon vom bloßen Ansehen eines Kuchenstückes ein halbes Pfund zunahm.
»He, ich bin ein Teenager im Wachstum, ich brauche das!«
»Schon gut, schon gut. Ich räume das jetzt schnell weg, du ziehst dich fertig an, und dann machen wir los. Abmarsch!«
Ich trollte mich in mein Zimmer und komplettierte dort meine Ausstattung mit einer blauen Latzjeans und einem weißen Fleeceshirt. Ein schneller Blick in den Spiegel am Kleiderschrank – yep, so konnte ich mich sehen lassen. Mit kühnem Schwung landeten Ausweis, Schlüssel und Portemonnaie in den dafür vorgesehen Taschen, und schon war ich abmarschbereit. Ich begab mich wieder nach unten, wo meine Mutter bereits im Hausflur stand und sich in ihren Mantel zwängte. Da hatte es aber jemand wirklich eilig. Ich schlüpfte in meine gut gepolsterten Schuhe und zog mir dann meine Lieblings-Winterjacke über. Diese hatte ich in einem Katalog für Militärklamotten entdeckt, angeblich war es die original Polarjacke der US NAVY. Herrlich warm war sie jedenfalls, und mit der fellbesetzten Kapuze konnte ich sogar auf eine zusätzliche Mütze verzichten. Allerdings brauchte ich dann beinahe einen Blindenhund, da diese Kapuze ziemlich weit über die Augen rutschte. Jetzt noch Handschuhe an und ich war einigermaßen bereit, mich den Elementen zu stellen.
»Können wir?«
Meine Mutter war offenbar auch soweit, sie öffnete die Haustür und schob mich durch dieselbige. Also die acht Grad minus waren geschmeichelt, es wehte ein eisiger Wind, und die gefühlte Temperatur war mit Sicherheit tief im zweistelligen Minusbereich angesiedelt. Dazu leichter Schneefall. Ich zog mir schnell die Kapuze über den Kopf und war damit so gut es eben ging von der unwirtlichen Außenwelt isoliert.
Auf dem Weg zur Schwimmhalle legte meine Mutter ein beachtliches Tempo vor, was besonders verwunderlich war, weil sie mich normalerweise bei gemeinsamen Gängen immer bremsen mußte, da sie mit ihren kürzeren Beinen sonst nicht mitkam. Mir war das in Anbetracht der Witterung natürlich ganz recht. Knapp zwanzig Minuten später erreichten wir den Wettkampfort, wo wir bereits von Reinhardt erwartet wurden. Nach einer kurzen Begrüßung vor der Tür begaben wir uns nach drinnen, wo wir als erstes unsere warmen Jacken an der Garderobe abgaben. Reinhardt schaute mich an.
»Du bist es also wirklich, Danny. Bei deiner Vermummung war ich mir da nicht so sicher.«
Ich schenkte ihm ein gequältes Lächeln. Meine Mutter umarmte ihren zukünftigen Ehemann.
»Laß ihn doch, er ist von je her kein Freund von Minusgraden. Übrigens, wo ist denn dein Sohn?«
»Der ist schon mit seiner Mannschaft in den Kabinen, er hat gleich zu Anfang ein Halbfinalrennen und wird dann später zu uns stoßen. Ich habe ein paar gute Plätze reserviert, wollen wir auf die Tribüne gehen?«
Wir wanderten also zu unseren Plätzen in der angenehm temperierten Halle, und allmählich begann ich mich wieder wohlzufühlen. Was vielleicht auch daran lag, daß rings um das Becken lauter Jungs in knapper Schwimmbekleidung zu sehen waren, darunter einige, die mit Fug und Recht die Bezeichnung Augenweide verdienten. Reinhardts Stimme riß mich aus meinen angenehmen Betrachtungen.
»Danny, Tims Trainer hat mich gebeten, die Rennen seiner Mannschaft auf Video aufzunehmen. Dadurch kann ich nun dummerweise keine Fotos mit unserer eigenen Kamera machen. Würdest du das für mich übernehmen?«
Fotografieren? Warum nicht, das gehörte eh zu meinen Hobbys. Ich hatte zuhause eine eigene kleine Dunkelkammer, und ich hatte sogar schon einige kleine Preise bei Fotowettbewerben ergattert.
»Klar. Du mußt mir nur die Kamera erklären.«
»Kein Problem, damit kommst du bestimmt klar. Schau, das Gerät ist digital, du brauchst also keinen Film.«
Wow, mit so einem Teil liebäugelte ich schon lange! Reinhardt erläuterte mir kurz, worauf ich zu achten hatte, ich würde wohl wirklich keine Probleme damit haben.
»So, das wars eigentlich schon. Wenn du Lust hast, kannst du ruhig auch ein wenig rumlaufen und dir passende Motive suchen. Hier, häng dir die Karte um den Hals, damit kommst du auch in den Bereich, wo eigentlich nur Betreuer und Presse hindürfen.«
Das wurde ja immer besser! Bei vielen meiner Fotostreifzüge hatte ich mich geärgert, daß ich an die wirklich interessanten Stellen nicht randurfte. Das bunte Stück Pappe an der Schnur um meinen Hals würde helfen, diese Hürde diesmal zu überwinden.
»Kann ich gleich los?«
»Nur zu. Hier hast du noch ein paar Speicherkarten, knipse so viel du willst, auf den Dingern ist Platz für mindestens 150 Bilder, da kannst du dich richtig austoben. Ach ja, hier ist auch noch ein Satz Akkus.«
»Danke!« Und weg war ich.
Zuerst machte ich ein paar Aufnahmen von der Halle – mich dabei stets in sicherer Entfernung vom Rand des Höllenschlundes sprich von der Beckenkante haltend –, dann wandte ich mich immer mehr einzelnen Details zu. Die Mutter eines Schwimmers, welche offenbar noch wesentlich aufgeregter war als ihr Sohn. Der grauhaarige Eisverkäufer, der bei mir erst im Frühjahr wieder eine Chance auf ein Geschäft haben würde. Der Hallensprecher, welcher gerade die Teilnehmer des ersten Rennens aufforderte sich am Start einzufinden. Zeit, sich dorthin zu bewegen.
Mein herrlicher Ausweis brachte mich tatsächlich bis direkt an den Beckenrand, von wo aus ich nun den Einzug der Gladiatoren aufnahm. Einer davon mußte Tim sein, und ich versuchte ihn anhand des mir bekannten kleinen Bildes wiederzuerkennen. Da dieses jedoch nicht mehr das neueste war und die Schwimmer mit ihren nassen Haaren und den Trainingsklamotten halt doch etwas anders aussahen, gelang mir das nicht auf Anhieb. Ich hatte den Kreis der Verdächtigen auf drei eingegrenzt, als der Hallensprecher mit der Vorstellung der Teilnehmer begann. Ein paar mir nichts sagende Namen zogen an mir vorbei, und dann war es soweit.
»Auf Bahn vier startet Tim Bergner, der Vorjahresmeister und Halter des Landesrekordes in seiner Altersklasse.«
Ich hatte richtig gelegen, es war einer meiner drei Kandidaten. Ich schoß ein Foto von ihm und sah dann dabei zu, wie er sich seines Trainingsanzugs entledigte. Würde sicherlich interessant sein zu sehen, was für eine Figur er in einer knappen Badehose machte. Aber halt, dieser Anblick war mir anscheinend nicht vergönnt. Was kam denn da zum Vorschein?
Als der Trainingsanzug komplett abgelegt war, konnte ich in vollem Ausmaß sehen, was Tim da anhatte. Es handelte sich um einen dieser modernen Schwimmanzüge, welche den Körper von den Schultern bis knapp über die Knie bedeckten. Speedo Aquablade stand drauf. Ich war mir nicht so ganz sicher, ob ich dies nun bedauern oder begrüßen sollte. Das hautenge Stück Stoff brachte den muskulösen Körper meines zukünftigen Stiefbruders so richtig zur Geltung. Also schnell noch ein paar Fotos, dann riß ich mich von ihm los und beachtete auch wieder seine Konkurrenten, von denen noch ein weiterer in der gleichen Bekleidung antrat. Alle Schwimmer waren nun vorgestellt, und der Starter rief sie auf die Blöcke. Ich nahm einen strategisch günstigen Platz ein, von welchem ich gedachte, den Start so authentisch wie möglich zu fotografieren. Die Kommandos kamen, der Starter hob die Pistole, und mit dem Knall derselben drückte ich auf den Auslöser, mich dabei auf die mittleren Bahnen und somit auch auf Tim konzentrierend.
Kurz darauf wurde ich auf dem Kontrollmonitor mit einem offensichtlich sehr gut gelungenen Bild belohnt. Wenn das in groß nur halb so gut aussah, war mir ein toller Schnappschuß geglückt. Ich riß mich vom Monitor los und verlegte meine Aufmerksamkeit wieder auf das Rennen. Verflixt, worum ging es eigentlich? Ich hätte wohl doch besser hinhören sollen. Ach ja, 200 Meter Freistil. Ich richtete die Kamera wieder aus, verzichtete jedoch darauf auszulösen, und wartete lieber darauf, daß die Schwimmer nach der ersten Wende wieder auf mich zukamen. Tim und seine zwei Bahnnachbarn lagen praktisch gleichauf, und ich nutzte die Gelegenheit, um ganz dicht an die drei heranzuzoomen und eine Serie von sechs Bildern zu schießen. Während die Kamera diese speicherte, verfolgte ich das Rennen, in welchem es Tim jetzt gelang, sich ein wenig von seinen Konkurrenten abzusetzen. Rechtzeitig zur nächsten Wende war die Kamera wieder einsatzbereit, und ich erwischte meinen angehenden Stiefbruder in Nahaufnahme.
Nun hielt ich Ausschau nach einem guten Platz um den Zielanschlag ins Visier zu bekommen. Ein Mann, der durch seine Profiausrüstung als Pressefotograf zu erkennen war, erspähte meinen suchenden Blick und winkte mich zu sich. Er hatte eine wirklich gute, leicht erhöhte Stelle ausgesucht, und ich durfte mich direkt neben ihm auf die Lauer legen. Das Rennen lief in der Zwischenzeit für Tim sehr gut, an der letzten Wende hatte er bereits einen Vorsprung von einer ganzen Körperlänge herausgeschwommen. Jetzt näherte er sich mit kraftvollen Armschüben dem Ziel, und ich visierte die Stelle seines bevorstehenden Triumphes an. Kurz vor seinem Anschlag betätigte ich den Auslöser und wurde damit belohnt, daß die Kamera den Befehl genau im richtigen Moment ausführte. Ich machte noch einige weitere Aufnahmen und erwischte Tim unter anderem, als er triefend naß aus dem Becken kletterte. Als er komplett auf dem Trockenen war, schaute er mich eindringlich an.
»He, ist das nicht unsere Kamera? Du bist bestimmt Danny, richtig?«
»Genau. Gutes Rennen, gratuliere. Ich hoffe, du hast dich nicht zusehr verausgabt, und hast noch ein wenig Kraft für das Finale aufgehoben.«
Er lächelte mich ein wenig unsicher an. Oh oh, dieses Lächeln, diese grünen Augen! In dem Moment war ich verdammt froh, nicht auch in so einem hautengen Schwimmanzug vor ihm zu stehen. Mein Gott, wäre das peinlich gewesen!
»Keine Bange, ich habe mich extra ein wenig zurückgehalten.«
Zurückgehalten? So hatte das aber nicht ausgesehen! Gerade als ich ihm das sagen wollte, tauchte ein Kerl im Trainingsanzug bei uns auf.
»Klasse, Tim, gut gemacht. Den anderen Finalteilnehmern schlottern jetzt schon die Knie. Marsch, unter die Dusche, und zieh dir was an. Dein Finale ist erst um eins, du kannst dann also zu deinem Vater gehen. Aber denk dran: nicht zuviel essen und trinken!«
Das war also wohl Tims Trainer. Er schickte seinen Schützling mit einem Klaps aufs Hinterteil in die Kabine. Es fehlte nicht viel, und ich hätte das auch getan, aber ich konnte mich im letzten Moment am Riemen reißen. Der Mann wandte sich mir zu.
»Und wer bist du, ein Freund von Tim?«
»Noch nicht, aber ich hoffe es zu werden. Sein Vater und meine Mutter werden wohl heiraten.«
»Ah ja. Davon hat Tim mir schon erzählt. Dann ist das wohl deine Mutter, die dort oben neben Reinhardt sitzt?«
»Genau. Die beiden dachten, dies hier sei eine gute Gelegenheit für Tim und mich, uns kennenzulernen.«
»Wenn das so ist kannst du gerne mit in die Kabine, du gehörst ja praktisch zur Familie.«
O nein, diese Prüfung wollte ich mir lieber nicht antun. Auf Tuchfühlung mit lauter mehr oder weniger nackten Jungs, nein danke. Ich meine, ja bitte! Aber nicht unbedingt jetzt.
»Danke für das Angebot, aber ich ziehe lieber weiter und mache noch ein paar Bilder.«
»Wie du meinst. Das Angebot steht. Bekomme ich die Bilder auch mal zu sehen? Du hast doch Tims Zieleinlauf aufgenommen, oder?«
»Habe ich. Was die Bilder betrifft müssen Sie Reinhardt fragen, es ist seine Kamera, und ich arbeite sozusagen für ihn.«
»Das werd ich tun. So, ich muß weiter, war nett dich kennengelernt zu haben. Tschüß.«
»Tschüß.«
Und ich war wieder alleine. Alleine und ziemlich verwirrt. Wow. So einen gewaltigen Eindruck hatte noch kein Junge auf den ersten oder auch zweiten Blick auf mich gemacht. Okay, daß Tim einen super Körper hatte war mir ja schon beim Anblick desselben auf dem Startblock klargeworden, was mich aber am meisten aus der Bahn warf, waren die Augen und das schüchterne Lächeln. Mir wurde klar, daß ich mich ganz offensichtlich verliebt hatte.
Aber halt mal, hilfe, das darf doch nicht wahr sein! Um Himmelswillen, doch nicht gerade in diesen einen Jungen! Mein zukünftiger Stiefbruder, der Gedanke daran grenzte doch fast schon an Inzest! Von all den Problemen, die dadurch auf mich zukamen, ganz zu schweigen. Das durfte einfach nicht passieren. In diese erschreckenden Gedanken versunken, machte ich mich auf den Weg zu unseren Tribünenplätzen.
»Na, Danny, bist du mit der Kamera zurande gekommen?«
Ich schrak aus meinen Grübeleien auf.
»Äh, ja, danke. War eigentlich ganz einfach.«
»Prima. Hast du ein paar gute Bilder gemacht?«
»Ich denke schon. Einiges aus der Halle, dazu Tims Start und auch seinen Zielanschlag.«
»Sehr schön. Hat Tim das bemerkt?«
»Ich denke schon. Wir haben auch kurz miteinander gesprochen, als er aus dem Becken kam.«
»Hm, dann bekommst du hiermit den Auftrag, die Kamera gegen ihn zu verteidigen. Tim mag es nicht sonderlich fotografiert zu werden, und wenn man nicht aufpaßt, hat er es drauf, die Bilder von ihm gleich zu löschen.«
»Tschuldigung, das wußte ich nicht. Sonst hätte ich ihn nicht fotografiert.«
»Kein Grund sich zu entschuldigen, ganz im Gegenteil. Man muß ihn manchmal zu seinem Glück zwingen. Später wird er dankbar sein, wenn er die Bilder seinen Kindern und Enkeln zeigen kann.«
»Naja, aber ich möchte nicht gleich am ersten Tag auf seine schwarze Liste kommen.«
»Keine Bange, das ist alles nicht so ernst wie es sich anhört. Er wird ein wenig grummeln, aber richtig böse wird er dir nicht sein. Oder hat er irgendwas in der Art gesagt?«
»Nein. Ich habe ihm zu seinem Sieg gratuliert, er meinte er hätte sich ein bißchen zurückgehalten und hat dabei gelächelt. Dann kam sein Trainer und hat ihn in die Kabine geschickt.«
»Tim hat gelächelt? Wahnsinn, dann muß ich unbedingt einen roten Punkt an den Kalender machen. Seit … tja, seit seine Mutter uns verlassen hat, lächelt er nur sehr selten mal. Ich denke das ist ein gutes Zeichen, ihr werdet euch bestimmt gut vertragen.«
Hoffentlich. Und hoffentlich verdarb ich mit meinem Gefühlsdurcheinander nicht alles.
»So, bleibst du eine Weile bei deiner Mutter? Ich schau mal zu Tim in die Kabine und bring ihn dann hierher.«
Und weg war er. Meine Mutter war die ganze Zeit nicht dazu gekommen, auch etwas zu sagen, sicherlich eine ganz neue Erfahrung für sie. Dafür wandte sie sich jetzt nach Reinhardts Verschwinden an mich.
»Also, Danny, sei ehrlich. Hast du ein gutes Gefühl dabei?«
Tolle Wortwahl. Ich sagte ihr lieber nicht, was für ein »Gefühl« ich bei der Sache hatte.
»Sicher, Mami. Wir werden uns schon zusammenraufen. Und wenn nicht werden wir halt sehen, wer die stärkeren Argumente hat: ein Schwimmer oder ein Karateka.«
Sie schaute mir tief in die Augen.
»Mußt du immer alles ins Komische ziehen? Das hier ist eine ernste Angelegenheit.«
»Mach dir keine Sorgen, ehrlich. Tim scheint okay zu sein, er ist mir nicht an die Gurgel gegangen und machte auch nicht den Eindruck, mich abzulehnen oder gar zu hassen. Vermutlich hat er sich mit den neuen Familienverhältnissen schon genauso abgefunden wie ich.«
»Nur abgefunden? Mehr nicht?«
»He, erwarte nicht zuviel auf einmal. Reinhardt ist nett, und ich freue mich für dich, aber nur die Zeit wird zeigen, wie das alles mein Leben beeinflussen wird. Auf jeden Fall bin ich bereit ihm jede Chance zu geben. Und Tim natürlich auch.«
»Entschuldige, Danny. Es bedeutet mir sehr viel, daß du uns diese Chance gibst. Ich weiß, das alles ist nicht einfach, besonders für euch Jungs nicht. Ich meine, Reinhardt und ich haben uns gefunden, wir lieben uns – ihr aber werdet mehr oder weniger zusammengeworfen ohne groß was voneinander zu wissen oder einander zu kennen. Wir verlangen da sehr viel von euch.«
»Keine Bange, es wird schon alles gutgehen. Übrigens, hast du schon mit Reinhardt wegen heute abend gesprochen?«
»Noch nicht, das können wir besprechen wenn wir alle vier zusammen sind. Vielleicht beim Mittagessen.«
»Okay.«
In diesem Moment näherten sich die beiden Objekte der Begierde, das meiner Mutter (Reinhardt) und das meinige (Tim), und setzten sich zu uns. Tims Haare waren wieder trocken und ich konnte ihre tatsächliche Farbe erkennen: ein fast schon an weiß grenzendes Blond, darin ein paar grüne(!!) Strähnchen. Er trug einen Trainingsanzug seines Vereins und weiße Baskettballschuhe. Meine Mutter, die ja die einzige war, die ihn heute noch nicht gesehen hatte, begrüßte ihn und gratulierte ihm zu seinem Sieg. Wieder war das schüchterne Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen, und er bedankte sich mit leicht gesenktem Kopf. Ein Ausbund an Selbstsicherheit schien er ja nicht gerade zu sein.
Der Hallensprecher kündigte das nächste Rennen an, in welchem wieder zwei Schwimmer aus Tims Mannschaft mitschwimmen würden. Reinhardt griff nach der Videokamera, um seiner Aufgabe nachzukommen.
»Ich muß noch die nächsten beiden Rennen filmen, danach passiert bis zu Tims Finale nichts mehr was ich aufnehmen müßte. Was haltet ihr davon, wenn wir dann alle zusammen in die Sportlerklause essen gehen?«
Er erntete allgemeine Zustimmung. Kurz darauf wurde das Rennen gestartet, und zwei Minuten später waren beide Mannschaftskameraden von Tim ausgeschieden. Er schien mehr oder weniger das einzige Aushängeschild seines Vereins zu sein, denn auch im nächsten Rennen schaffte es nur einer seiner Kollegen, sich als letzter für das Finale zu qualifizieren. Die lauten Anfeuerungsrufe von den Tribünen befreiten mich von der Notwendigkeit großartig auf Konversation zu machen, ich schaute nur ab und an ganz vorsichtig und etwas verunsichert in Tims Richtung, und erwischte ihn ein paar Mal dabei, wie er gleiches in meine Richtung tat. Ob das nun aber daran lag, daß ich ihn mit meinem Superkörper und meiner herausragenden Persönlichkeit in meinen Bann geschlagen hatte, oder ob da einfach ein wenig Nervosität dem zukünftigen »großen Bruder« gegenüber eine Rolle spielte – tja, wer konnte das schon sagen?
Dann war es soweit sich Richtung Futterkrippe auf den Weg zu machen. Reinhardt verpackte die Kamera, und wir alle erhoben uns von unseren Plätzen.
»Geht ihr drei schon mal vor, Tim weiß wo es lang geht. Ich bringe schnell noch die Kamera beim Trainer vorbei, ich habe keine Lust die mit mir herumzuschleppen.«
Wir taten wie uns geheißen und machten uns auf den Weg. Unser Marsch verlief mehr oder weniger schweigend, meine Mutter versuchte zwar ein paar Mal, Tim in ein Gespräch zu verwickeln, bekam aber stets nur einsilbige Antworten und gab es dann auf. Das setzte sich auch in der Gaststätte fort, wo wir zu unserer großen Überraschung sofort einen freien Vierertisch fanden. Dann hielt es meine Mutter nicht mehr aus.
»Also, Tim, das war wirklich eine Superleistung die du da gezeigt hast. Seit wann schwimmst du denn eigentlich?«
»Seit etwa acht Jahren. Und so gut bin ich wirklich nicht.«
»Das sah aber vorhin anders aus. Du warst um einiges besser als die anderen in deinem Rennen.«
»Danke.« Endlich zeigten seine Mundwinkel wieder leicht nach oben. Mal sehen, ob sich das noch ein wenig verstärken ließ.
»Sie hat völlig recht. Eventuell könntest du sogar mich schlagen.«
Meine Mutter prustete los, und Tim blickte verwirrt zwischen uns beiden hin und her. Als meine Mutter sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, erläuterte sie Tim meine etwas seltsame Beziehung zum nassen Element. Und dann fühlte sie sich bemüßigt, einen Kommentar zu meiner diesbezüglichen Leistungsfähigkeit vom Stapel zu lassen.
»Um Danny zu schlagen müßtest du ihn erstmal ins Wasser bekommen! Und wenn du dir dann noch einen Zentner Blei an den Körper hängen und Danny die Hälfte der Strecke als Vorsprung geben würdest, tja, dann wäre die Gefahr, daß du gegen ihn verlierst, zumindest nicht ganz auszuschließen.«
Das konnte ich natürlich nicht völlig unkommentiert auf mir sitzen lassen und wandte mich in gut gespielter Empörung an meine Mutter.
»Komm, ganz so schlecht bin ich wirklich nicht. Ich hätte auch eine Chance gegen ihn, wenn er nur einen halben Zentner Blei mitschleppen müßte. Wenn er mir dafür drei Viertel der Strecke als Vorsprung lassen würde.«
Jetzt hatten wir es mit vereinten Kräften geschafft, Tim brach in ein schallendes Gelächter aus, welches die Aufmerksamkeit der angrenzenden Tische auf uns lenkte. Passenderweise kam in diesem Moment Reinhardt zu uns an den Tisch, dem der Anblick seines Tränen lachenden Sohnes ganz offenbar Vergnügen bereitete.
»Ich sehe das Eis ist gebrochen. Was ist denn hier so lustig, Tim?«
»Es geht um Dannys Schwimmkünste.«
»Genau, ich war gerade dabei, Tim ein paar entscheidende Tips zu geben, inwieweit er seine Technik noch verbessern müßte, um gegen mich eine Chance im Becken zu haben.«
»Das war aber sehr freundlich von dir.«
»Naja, sowas gehört doch zu den Aufgaben eines großen Bruders, oder?«
Tim, der sich zwischenzeitlich ein wenig beruhigt hatte, brach bei diesem Wortwechsel wiederum in Lachen aus, während sich Reinhardt und meine Mutter erfreut und erleichtert anschauten. Meine Mutter wandte sich an Reinhardts Sohn.
»Tim, das ist hier Selbstbedienung, wollen wir zwei losziehen und für uns alle Essen und Getränke holen?«
Reinhardt mischte sich ein.
»Laß mal, Maria, ich kümmere mich schon darum.«
»Nichts da, Reinhardt. Schau dir Danny an, der hat ein frisches weißes Hemd an, der kann darauf ganz bestimmt keine Colaflecken gebrauchen.«
»Also so tolpatschig bin ich nun wirklich nicht!«
»Trotzdem, wir wollen lieber kein Risiko eingehen. Einverstanden, Tim?«
»Klar. Paps, Danny, was wollt ihr essen und trinken?«
Während Reinhardt seine Bestellung aufgab, überflog ich schnell das Angebot. Ah ja, da war schon etwas was meinem Geschmack entsprach. Tim hatte mittlerweile seinen Vater abgearbeitet und schaute nun mich fragend an.
»Ich nehme das Zigeunerschnitzel mit Pommes, dazu einen großen Spezi.«
»Wie der Herr wünschen.«
Dann zogen die beiden Aushilfskellner ab, Reinhardt und mich alleine am Tisch zurücklassend. Dieser (also Reinhardt, nicht der Tisch!) schaute mich kurz und eindringlich an, dann lächelte er.
»Ihr zwei habt bei Tim gute Arbeit geleistet, danke. Es ist ewig her, daß ich ihn dermaßen fröhlich gesehen habe. Tut mir leid wenn der Witz auf deine Kosten ging.«
»Das war es wert. Er machte den Eindruck, als könne er ein wenig Aufmunterung gebrauchen.«
»Richtig bemerkt.«
»Ist er immer so zurückhaltend? Ich meine jetzt nicht einfach so, einem Fremden wie mir gegenüber, sondern ganz allgemein. Meine Mutter hat sein Rennen gelobt, er aber hat so getan, als wäre er lange nicht so gut wie sie ihn darstellte.«
»Das ist ein großes Problem. Seit seine Mutter abgehauen ist, naja, seitdem steckt er in einer ziemlichen Krise. Weniger körperlich als seelisch, er glaubt, er wäre daran schuld gewesen, daß er einfach nicht gut genug und zu nichts zu gebrauchen sei. Egal wieviele Leute ihm zu seinen Leistungen gratulieren, er glaubt ihnen einfach nicht. Verflixt, der Junge ist Landesmeister, wird es wohl dieses Jahr wieder werden, aber er wollte überhaupt nicht an der Meisterschaft teilnehmen, weil er überzeugt war, nicht gut genug zu sein. Er scheint sämtliches Selbstbewußtsein verloren zu haben.«
»Blöde Situation. Was kann man da machen?«
»Nicht viel, außer ihm immer wieder das Gegenteil zu beweisen. Das von vorhin betrachte ich als gutes Zeichen, wie gesagt, ich habe lange nicht einen solchen Lachanfall bei ihm miterleben dürfen. Also nochmal: danke!«
»Keine Ursache. Schließlich sind wir ja jetzt eine Familie, oder werden es zumindest bald sein. So, ich werde mal den beiden hinterhergehen, die werden wohl kaum alles alleine tragen können.«
»Soll ich gehen? Oder zumindest mitkommen?«
»Nö, bewache du lieber den Tisch. Außerdem mag ich mein Hemd so wie es ist, will heißen: weiß.«
»Huh, du nicht auch noch! Also los, zisch ab!«
Ich machte mich auf die Socken und erwischte meine Mutter und Tim im richtigen Moment, gerade als sie an der Kasse bezahlt hatten und sich mit drei Tabletts auf den Weg zu unserem Tisch machen wollten. Ich griff mir eines der Tabletts, und als meine Mutter erkannte, wer der freche Dieb war, machte sich Erleichterung bei ihr breit.
»Dich schickt der Himmel, ich habe keine Ahnung, wie wir das zu zweit hätten wegbekommen sollen!«
»Mich schickt nicht der Himmel sondern meine eigene geniale Eingebung, daß genau dies passieren würde. Ich werde doch nicht riskieren, daß mein Essen wegen der Schwäche des Personals auf dem Fußboden landet.«
»Oh, danke, du mich auch!«
Aber sie lachte bei ihren Worten. Solche Geplänkel waren bei uns an der Tagesordnung. Zu dritt drängelten wir uns nun zurück zu unserem Tisch, wo Reinhardt die leeren Plätze heldenhaft gegen die in immer größeren Massen anrückenden Menschen verteidigt hatte. Puh, geschafft, und ohne Verluste an Mensch und Material! Zum Glück, denn mir knurrte mittlerweile heftig der Magen, und so stürzte ich mich ohne große Vorreden auf mein Essen, welches ich in Rekordzeit seiner Bestimmung zuführte. Anschließend lehnte ich mich zufrieden zurück und sah den anderen drei beim Essen zu.
Meine Mutter hatte sich wie so oft nur einen Salatteller und ein Mineralwasser gegönnt, Reinhardt arbeitete an einer Roulade der ein Glas Bier Gesellschaft leistete, und Tim begnügte sich mit einer Kartoffelsuppe und einem Glas Orangensaft. Als alle mit ihrem Essen fertig waren, brachte meine Mutter das Gespräch auf den weiteren Tagesverlauf.
»Reinhardt, hast du schon irgendwas geplant, was wir nach Tims Finalrennen machen könnten?«
»Nein, noch nicht, ich dachte mir, daß es besser wäre, wenn wir da alle gemeinsam drüber sprechen.«
»Gut gedacht. Danny hat nämlich für heute abend bereits etwas vor, eine Freundin gibt eine ihrer berühmten Partys, und die möchte er nicht verpassen.«
»Schade, ich hatte eigentlich gehofft, daß wir noch etwas gemeinsam unternehmen, besonders damit die Jungs sich noch ein wenig besser kennenlernen können.«
Hm, ich wollte ihn nun wirklich nicht enttäuschen, aber auf Katjas Party wollte ich auch nicht verzichten. Moment, was war das, krabbelte da etwa eine Idee durch meine Gehirnwindungen? Wow, das könnte die Lösung sein.
»Tut mir wirklich leid, Reinhardt, aber die Party ist schon lange geplant. Aber ich habe eine Idee: Warum kommt Tim nicht einfach mit? Da könnten wir uns weiter beschnüffeln, und ihr zwei hättet einen freien Abend.«
»Ich weiß nicht. Maria, was meinst du? Was sind das für Partys?«
»Keine Bange, Reinhardt, die Truppe ist zwar ein wenig ausgeflippt, aber dafür völlig harmlos. Ich halte das eigentlich für eine gute Idee, Tim lernt gleich noch ein paar Freunde von Danny kennen, und die beiden können sich zusammenraufen, ohne daß wir zwei alten Herrschaften ihnen ständig auf die Füße treten.«
»Wenn du meinst. Tim, was sagst du dazu?«
»Keine Ahnung. Ich will mich nicht aufdrängeln. Wer weiß, ob Dannys Freunde mich überhaupt dabeihaben wollen.«
»Mach dir darüber keine Sorgen, sie wollen. Besonders die Mädels!«
»Aber die werden doch alle älter sein als ich.«
»Nicht alle. Die meisten sind zwar siebzehn oder achtzehn, aber es werden auch ein paar in deinem Alter da sein. Hauptsächlich jüngere Geschwister, die sind bei uns immer mit eingeladen. Solange sie nicht zu jung sind. Überhaupt: wieviel bin ich eigentlich älter als du? Sechs Monate, neun Monate? Das macht doch nun wirklich keinen großen Unterschied.«
»Okay, wenn du meinst.«
»He, nicht so trübsinnig! Ich verspreche dir, du wirst dich amüsieren.«
Vielleicht hatte er ja gerade davor Angst, denn er schaute mich nun etwas gequält, sogar ein wenig ängstlich an. Aber ich würde ihn jetzt auf keinen Fall mehr vom Haken lassen. Mal abgesehen davon, daß er mir halt extrem gut gefiel, hatte das was Reinhardt mir unter vier Augen erzählt hatte doch einen gewissen Eindruck hinterlassen. Ich meine, als mein Vater starb war das schlimm genug, aber wenigstens wußten wir, daß es ein tragischer Unglücksfall war, und daß keiner von uns daran hätte etwas ändern können. Tim hingegen gab sich anscheinend die Schuld dafür, daß seine »Mutter« ihn und seinen Vater hatte sitzenlassen, und ich konnte mir einigermaßen lebhaft vorstellen, was da in seinem niedlichen Kopf vorging.
»Gut, damit ist das geklärt. Wann muß Tim zu Hause sein?«
Ich schaute seinen Vater an. Reinhardt allerdings zuckte mit den Schultern.
»Tim war bisher kein großer Partygänger, ich habe keine Ahnung. Maria, was meinst du?«
»Naja, es ist Samstag, laß ihn ruhig ein wenig von der Leine. Um eins dürfte ausreichend sein, Katjas Partys sind um die Zeit eh meist zu Ende.«
»Schön. Jetzt müssen wir nur noch ausmachen, wo ich ihn abholen kann. Ich möchte nicht, daß er mitten in der Nacht durch die Straßen zieht, womöglich noch alleine.«
»Er könnte doch bei uns im Gästezimmer übernachten, das wären dann nur fünf Minuten zu Fuß von der Party, und die würde er ja mit Danny gemeinsam gehen.«
»Das klingt vernünftig, Maria, danke für das Angebot. Also abgemacht. Und was machen wir zwei alten Leute heute abend?«
»Ich weiß nicht, hattest du nicht mal was von einem neuen Pub bei euch um die Ecke erzählt?«
»Das Hotchkins? Gute Idee, das wollte ich eh mal ausprobieren.«
Reinhardt schaute meine Mutter an, und man konnte sehen, wie seine grauen Zellen arbeiteten.
»Sagt mal, Jungs, können wir uns auf euch zwei verlassen? Es kann auch bei Maria und mir spät werden, und ich denke, es wäre keine schlechte Idee, wenn sie die Nacht dann bei uns verbringen würde. Aber dann müssen wir uns sicher sein können, daß bei euch alles glattgeht. Was sagt ihr dazu?«
Ich schaute Tim, Tim mich an. Er zuckte mit den Schultern. Das reichte mir als Ermutigung.
»Macht nur, ich sagte doch, daß ihr einen freien Abend bekommt. Und ich werde schon auf den Kleinen aufpassen.«
Der letzte Satz brachte mir einen ausgestreckten Mittelfinger von der genannten Person ein, gleichzeitig aber auch ein leichtes Lächeln, welches verriet, daß diese Geste nicht allzu ernst gemeint war. Dann wandte sich Tim an seinen Vater.
»Du, Paps, dann müssen wir aber nachher noch bei uns vorbei, ich habe weder die richtigen Sachen für eine Party noch Zeugs zum Übernachten dabei.«
Da hatte er wohl recht, und auch Reinhardt sah dies ein.
»Kein Problem. Nach deinem Sieg fahren wir zu uns, du schnappst dir ein paar Sachen, dann lade ich euch alle zum Kaffeetrinken beim Italiener ein, und anschließend setzen wir euch zwei jungen Hüpfer bei Maria zu Hause ab. Einverstanden?«
Es gab keine Gegenstimmen. Nachdem wir nun alle abgefüttert waren und das große Palaver erfolgreich beendet hatten, verließen wir die gastliche Stätte und begaben uns wieder auf unsere Tribünenplätze. Tim ging gleich weiter in die Umkleidekabine, in einer halben Stunde würde sein Finalrennen aufgerufen werden. Ich machte die Kamera wieder einsatzbereit, wechselte Speicherkarte und Akkus, und machte mich auf um weitere Bilder einzufangen. Während ich mich gemütlichen Schrittes von den beiden anderen entfernte, bekam ich noch mit einem Ohr mit, wie sie sich gegenseitig sagten wie glücklich sie wären, daß alles so harmonisch abgelaufen war. Tja, was soll ich sagen, ich war selbst sehr angenehm überrascht. Obwohl ja kaum eine Chance darauf bestand, daß Tim meine tieferen Gefühle erwidern würde – auch als Bruder war er mir angenehm, ich hätte es wesentlich schlechter treffen können. Jetzt hieß es halt abwarten, was sich daraus noch so entwickelte.
Halb in Gedanken, halb fotografierend bemerkte ich gar nicht, wie schnell die Zeit verging, schon wurde Tims Rennen aufgerufen. Ich beeilte mich, um rechtzeitig zum Start einen guten Platz einnehmen zu können. Da stand er schon in seinem schicken blauen Schwimmanzug auf dem Startblock, ich hatte gerade noch Zeit ihn anzuvisieren, als auch schon der Startschuß fiel.
In den nächsten anderthalb Minuten machte ich noch verschiedene Fotos, meist mit Tim im Mittelpunkt. Dieser wiederum rechtfertigte die ihm geschenkte Aufmerksamkeit durch ein extrem gutes Rennen, in welchem er seinen Kontrahenten nie auch nur die Spur einer Chance ließ. Bei seinem Zielanschlag hatte er mehr als zwei Körperlängen Vorsprung und einen neuen Landesrekord aufgestellt. Die Zuschauer tobten, ganz besonders natürlich zwei bestimmte Zuschauer, und auch ich war begeistert. Erfreulicherweise war ich durch meine strategisch gewählte günstige Position einer der ersten, die Tim nach dem Klettern aus dem Becken gratulieren konnten. Er machte jetzt einen etwas selbstbewußteren Eindruck, als hätte er sich selbst bewiesen, daß er doch nicht ganz so schlecht ist.
Nach dem nächsten Rennen hatten sich meine Mutter und Reinhardt eingefunden um die Siegerehrung aus nächster Nähe mitzubekommen. Ich war natürlich mit der Kamera dabei. Tim erhielt seine Medaille und einen ziemlich großen Pokal, und er strahlte übers ganze Gesicht. Ein Anblick, der wiederum seinem Vater die Freudentränen in die Augen trieb. Sein Sohn schien ihm wirklich extrem viel zu bedeuten, was ja eigentlich auch genau so sein sollte. Gute Aussichten für die Zukunft, das heißt, wenn er wenigstens einen Bruchteil davon über die Zeit auch für mich empfinden würde. Daß meine Mutter Tim bereits gewaltig in ihr Herz geschlossen hatte, war nicht zu übersehen.
Als Tim das Treppchen verließ stürzte er sofort auf uns zu und holte sich auch noch von den anderen beiden die ihm zustehenden Gratulationen ab. Als Reinhardt ihm sagte, wie stolz er auf ihn sei, konnte auch Tim die Tränen nicht mehr zurückhalten, und die beiden umarmten sich auf das Heftigste. Meine Mutter legte mir den Arm um die Schulter (gar nicht so einfach bei der Größendifferenz) und lächelte glücklich vor sich hin. Sie schien mit dem bisherigen Tagesverlauf recht zufrieden zu sein.
Anschließend begab sich der Held des Tages in die Umkleidekabine, um den Trainingsanzug mit einer etwas passenderer Bekleidung zu vertauschen. Eine Viertelstunde später trafen wir uns alle im Foyer an der Garderobe. Tim erschien ganz in schwarz, schwarzer Rolli, schwarze Jeans, schwarze Jacke, dazu ebenso schwarze Handschuhe und eine Mütze in der gleichen Farbe.
»Ich bin soweit, wir können.«
»Hast du dir die Haare ordentlich getrocknet?«
»Hab ich, keine Bange. Ich will mir auch nicht kurz vor Weihnachten noch was einfangen.«
Mittlerweile hatten wir auch unsere Jacken und Mäntel zurückgeholt, und ich schlüpfte in meine äußerste Verteidigungslinie. Tim musterte mich von oben bis unten.
»Coole Jacke.«
»Danke. Vor allem schön warm!«
»Tim, das mußt du dir merken: Danny und Minusgrade sind wie Feuer und Wasser, die passen einfach nicht zusammen.«
Tim und Reinhardt lachten. Danke, Mutti.
»Spottet ihr nur und friert dabei.«
Wir gingen Richtung Ausgang, und ich zog mir die Kapuze über den Kopf.
»Bist du dir sicher, daß du in dem Aufzug nicht unter das Vermummungsverbot fällst?«
»Na und? Tim, mit dir könnten wir dafür nie mit der Straßenbahn fahren, man würde dich sofort als Schwarzfahrer rausfischen.«
»Touché.«
»Naja, wenigstens kannst du nie verloren gehen, wenn du mal in eine Schneewehe fällst.«
Jetzt lachten wir alle, und zwei Minuten später hatten wir Reinhardts Auto erreicht. Ein dunkelgrüner Chrysler Stratus, nicht schlecht. Ich hatte schon immer eine Vorliebe für amerikanische Autos gehabt, und auch wenn das keine Viper oder auch keine Corvette war, es war auf jeden Fall besser als die alltäglichen deutschen Kollegen.
Nach fünf Minuten Fahrt wurde die Temperatur im Wagen langsam angenehm, und ich lehnte mich entspannt in die Polster. Eine Viertelstunde später, welche hauptsächlich mit ununterbrochenen Gesprächen zwischen meiner Mutter und Reinhardt angefüllt war, erreichten wir unser Ziel, einen frisch sanierten Altbau. Reinhardt stellte den Motor ab.
»Ihr kommt doch für ein paar Minuten mit rein, oder?«
Da mir aus höchstpersönlich gemachter Erfahrung bekannt war, wie schnell ein Auto bei den herrschenden Außentemperaturen auskühlte, kam mir dieses Angebot sehr gelegen. Wir stiegen aus und betraten das Haus, wo wir einen Höhenunterschied von drei Etagen überwinden mußten bis wir vor der Wohnungstür mit dem Namensschild »Bergner« standen. Reinhardt öffnete die Tür und lotste uns wie ein Portier eines Luxushotels an sich vorbei in die heiligen Hallen. Hallen war übrigens recht zutreffend – große Räume, hohe Decken, im Korridor hätte eine ausgewachsene Kegelbahn ziemlich problemlos Platz gefunden. Über dieses Thema mußte ich bei passender Gelegenheit mal mit meiner Mutter reden. Wenn wir zusammenziehen würden dann hoffentlich in unser Haus und nicht hierher, so schön die Wohnung auch hergerichtet war.
Wir legten Jacken und Mäntel ab und schlüpften aus den schneenassen Schuhen – was Reinhardt vor ein kleines Problem stellte.
»Entschuldigt, aber wir haben im Moment keine Gästepantoffeln, die alten habe ich letzte Woche dem Müllcontainer anvertraut. Ist das ein Problem?«
Wir zwei Gäste schauten uns an, danach den teppichbedeckten Fußboden, dann schüttelten wir die Köpfe.
»Nein, Reinhardt, wirklich nicht.«
»Sehr schön. Tim, packst du dir ein paar Sachen zusammen? Wir warten ihm Wohnzimmer auf dich.«
»Okay, bin schon unterwegs.«
Er machte sich auf den Weg in die tieferen Gefilde der Wohnung, und während Reinhardt meiner Mutter die Wohnzimmertür öffnete, schaute ich seinem Sohn hinterher. Dieser stoppte nach einigen Schritten, verharrte kurz und drehte sich sodann zu uns um.
»Danny, willst du mit in mein Zimmer kommen?«
Diese Gelegenheit würde ich mir ganz gewiß nicht entgehen lassen, bemühte mich aber, meine Begeisterung über die Einladung nicht allzu deutlich zu zeigen.
»Klar, warum nicht?«
Ich folgte Tim bis ans Ende des elendig langen Korridors, wo er eine Tür öffnete, auf welcher ein großes Verbotsschild ungebetene Besucher vom Eintreten abhalten sollte. Nun, ich fiel wohl nicht unter diese Bezeichnung, also folgte ich ihm furchtlos in seine privaten Gemächer. Sein Zimmer war deutlich kleiner als ich erwartet hatte, gemessen am Maßstab von den anderen bereits von mir gesehenen Räumlichkeiten. Meine Verwunderung muß offensichtlich gewesen sein.
»Was ist, gefällt es dir nicht?«
»Doch, doch, ich hatte bloß an etwas Größeres gedacht.«
Das Zimmer war wesentlich kleiner als mein eigenes. Höchstens halb so groß, wenn auch fast doppelt so hoch. Dafür war es aber sehr gemütlich eingerichtet, in einer Ecke am Fenster stand eine Verwandlungscouch, welche nachts als Bett und tagsüber als mit vielen Kissen gepolsterte Sitzgelegenheit diente. Gegenüber befand sich eine kleine Schrankwand mit ausklappbarem Schreibtisch, kleinem Fernseher und Stereoanlage. Hinter Glas ein gutes Dutzend Pokale und noch mehr Medaillen. Dazu dann noch ein Kleiderschrank und ein paar Regale. An den Wänden hingen verschiedene Poster, allerdings wurde ich aus deren Zusammenstellung nicht ganz schlau. Ich meine, wie passen denn Lara Croft und die Backstreet Boys zusammen? Ich wandte mich wieder meinem Gastgeber zu, welcher sich nun an die Beantwortung meiner unausgesprochenen Frage machte.
»Ich hätte ein größeres Zimmer haben können, aber ich finde es so besser. Ist irgendwie gemütlicher, wenn man sich nicht im eigenen Zimmer verlaufen kann. Das nächstgrößere Zimmer ist dreimal so groß, ich wüßte gar nicht, was ich da alles reinstellen sollte.«
»Komisch, aber das Wort gemütlich kam mir auch gerade in den Sinn.«
Tim lächelte mich (anscheinend erleichtert) an.
»Setz dich am besten auf die Couch während ich meine Tasche packe.«
Ich tat wie mir geheißen, und bevor Tim nun seine Ankündigung in die Tat umsetzte, schaltete er das Radio ein, wo gerade die von mir nicht sonderlich verehrten Spice Girls einen Auftritt hatten. Die Couch war noch gemütlicher als sie aussah, und ich nutzte die Gelegenheit, nach der vielen Rumsteherei am Beckenrand ein wenig die Füße hochzulegen.
Unterdessen hatte Tim eine Sporttasche hervorgeholt und begann nun, aus mehreren Fächern und Schubladen die verschiedensten Dinge hineinzupacken. Anfänglich bemühte ich mich noch, seinen Verrichtungen zu folgen, aber irgendwann forderte die kurze vorangegangene Nacht ihren Tribut, und ich mußte wohl tatsächlich eingeschlafen sein.
»Danny? He, Danny, wach auf!«
»Hm … Was? Oh Mist, entschuldige, ich muß wohl eingenickt sein. Was sagtest du gerade?«
Jetzt lächelte Tim mich nicht an, nein, er grinste spöttisch! Okay, ich hatte es wohl verdient.
»Ich wollte wissen, ob es für die Party irgendeine Kleiderordnung gibt. Was soll ich anziehen?«
»Was du willst, solange du nicht splitterfasernackt erscheinst – was bei diesen Temperaturen eh nicht zu empfehlen wäre – ist alles erlaubt.« Huh, mein Geist war wohl noch nicht ganz anwesend, ansonsten wäre mir das sicher nicht rausgerutscht. Obwohl, die Idee … Tim splitterfasernackt … gar nicht mal so übel.
»Was wirst du anziehen?«
»Weiß ich noch nicht genau. Vielleicht weiße Jeans und blaues Hemd. Mal sehen was so im Schrank hängt.«
»So was hab ich auch. Würde es dich stören, wenn ich das anziehe?«
»Kein Problem. Mich stört das nicht, aber ich würde dir empfehlen, niemals im gleichen Kleid wie meine Mutter auf einer Party aufzutauchen. Da kann sie ziemlich giftig werden.«
»Gut, daß du mir das sagst, ich werde mich vorsehen. Zum Glück habe ich eine reichliche Auswahl an Kleidern, da dürfte sich immer etwas finden, was sich erheblich von dem was sie trägt unterscheidet.«
Huch, der Kleine hatte ja Humor! Sehr gut. Wir sahen uns an und brachen in Lachen aus. Als wir uns wieder beruhigt hatten, schaute Tim mich etwas unschlüssig an.
»Was meinst du, soll ich mich jetzt gleich umziehen oder erst kurz vor der Party bei dir?«
»Ich schätze bei mir ist besser. Vor allem sicherer. Dein Vater will uns schließlich alle noch zum Italiener ausführen, und dort gibt es sehr viele Sachen, die er uns über die Klamotten schütten kann.«
Tim schien mir den kleinen Seitenhieb auf seinen Vater nicht übelzunehmen, im Gegenteil, er war kurz davor wieder lauthals loszulachen. Aber er riß sich zusammen.
»Du hast recht, das wäre nicht so genial. Also packe ich lieber alles ein.«
Genau das tat er dann auch, kurz darauf verschwand er für einen Moment und kam mit einer kleineren Tasche, in welcher sich vermutlich sein Waschzeug befand, zurück. Diese packte er sodann in seine große Sporttasche.
»So, das war alles, wegen mir können wir los.«
»Dann sollten wir wohl mal schaun, was unsere alten Herrschaften so anstellen.«
Mit ein bißchen Wehmut verabschiedete ich mich von der bequemen Couch und verließ Tims Zimmer, selbigen im Schlepptau. Aus dem Wohnzimmer drang lautes Gelächter, und nach einem kurzen Anklopfen traten wir ein.
»Paps, ich bin soweit.«
»Hast du auch alles was du brauchst?«
»Ich denke schon.«
»Und wenn er was vergessen hat ist das auch nicht so schlimm, Danny kann ihm bestimmt mit allem aushelfen.«
»Na wenn ihr meint. Dann los, der Italiener wartet.«
Wir verließen das Haus, stiegen in den Wagen, und fünf Minuten später waren wir dort wo wir hinwollten. Wir suchten uns einen schönen Platz am Fenster und studierten das Angebot. Zu meinem Glück gab es nicht nur Eis, sondern auch ein großes Angebot an Torten und Kuchen. Ich entschied mich für Quarktorte und eine heiße Schokolade, und überraschenderweise schloß Tim sich meiner Wahl an. Wir brauchten nicht lange zu warten, und schon wurde unsere Bestellung serviert.
Großzügigerweise verzichtete Reinhardt darauf, anderer Leute Bekleidung zu verschmutzen, und beschränkte sich darauf, sein eigenes Hemd mit einem Kaffeefleck zu verzieren – was ihm einen gequälten Blick von meiner Mutter einbrachte.
»Also Reinhardt, wenn wir zusammenziehen, weigere ich mich, ständig deine bekleckerten Sachen zu waschen! Wie kann so ein großer Kerl nur so ein Tolpatsch sein!«
»Ich bekenne mich schuldig, aber ich verweise auf mildernde Umstände. Schau dir doch mal den Tassenhenkel an, der ist nichts für so große Hände.«
Da mußte sie ihm allerdings rechtgeben, und der Rest des Kaffeeklatsches verlief friedlich und ohne weitere Schäden. Danach dauerte es nicht mehr lange, bis Tim und ich bei uns zu Hause abgesetzt wurden. Es folgte die übliche Mischung aus Verabschiedung und Ermahnungen.
»So, da wären wir. Ihr Jungs benehmt euch ordentlich, wir verlassen uns auf euch, verstanden?«
»Klar, Mutti, mach dir keine Sorgen.«
»Hm.« Sie zog mich ein Stück zur Seite und senkte die Stimme. »Kümmere dich ein wenig um Tim, nicht daß er auf der Party dann ganz alleine rumhockt. Er macht mir nicht den Eindruck, großartig von sich aus auf andere zuzugehen.«
»Keine Bange, ich sorge schon dafür, daß er sich auch amüsiert.«
Wir begaben uns wieder zu den anderen beiden, wo Reinhardt gerade seinen Sohn vergatterte.
»Also, Tim, viel Spaß. Und denk dran, Danny hat die Verantwortung. Wenn er dir was sagt, dann höre auch drauf, okay?«
Hm, das klang ja vielversprechend. Obwohl, ausnutzen würde ich das bestimmt nicht. Niemals. Ehrlich.
»Kapiert.«
Noch ein paar kurze Abschiedsworte, und die zwei Erwachsenen fuhren davon. Ich schaute meinen Schutzbefohlenen an.
»So, die beiden Turteltäubchen wären wir los. Komm rein.«
Ich öffnete die Haustür und schob Tim in den Korridor.
»Die Garderobe ist hier links, häng dich auf.«
»Wo kann ich die nassen Schuhe hinstellen?«
»Direkt hinter dir liegt eine Gummimatte. Stell sie da drauf.«
Während ich nun meine Jacke auf einen Bügel schleuderte zog sich Tim die Schuhe aus, und es zeigte sich mal wieder, daß unser Korridor für zwei sich darin betuende Personen doch etwas zu eng war. Will heißen: wir stießen immer wieder zusammen. Als Tim sich sodann an mir vorbei zur Garderobe drängeln wollte, stoppte ich ihn.
»Moment, so wird das nichts. Gib mir deine Jacke, ich kümmere mich darum.«
»Danke, ist wohl wirklich besser so.«
Als dann endlich alle Jacken und Schuhe dort waren wo sie hingehörten, führte ich Tim zur Treppe.
»Geh ruhig schon mal hoch, mein Zimmer ist die zweite Tür links.«
»Und was ist mit dir?«
»Ich komme gleich nach, ich will nur noch was aus der Küche holen. Jetzt wo dein Vater weg ist, dürfte es nicht mehr allzu gefährlich sein, eine Flasche Cola aufzumachen. Willst du auch ein Glas?«
»Klar, danke.«
Tim zog seine Tasche schleppend die Treppe hinauf, und ich erleichterte den Kühlschrank um eine Maxiflasche Coke, zu der sich dann noch zwei Gläser gesellten. Solchermaßen bepackt folgte ich Tim in Richtung meines Zimmers.
Dort hatte mein zukünftiger kleiner Bruder seine Tasche abgestellt und war dabei, sich in aller Ruhe umzusehen. Wie schon erwähnt war mein Zimmer wesentlich größer als das seinige und zeichnete sich unter anderem durch einen Fernseher mit Großbildschirm und eine Computeranlage mit zwei Druckern, Scanner, Diascanner und 19-Zoll-Monitor aus. Tim jedoch war etwas ganz anderes aufgefallen.
»Sag mal, wofür hast du denn zwei Betten?«
Im Zimmer standen tatsächlich zwei solche Möbelstücke, und das hatte einen guten Grund.
»Das linke gehört mehr oder weniger Thomas, meinem besten Freund. Seit bestimmt zehn Jahren übernachtet der ziemlich regelmäßig hier – kein Wunder, er hat einen älteren Bruder und drei jüngere Schwestern und ist jedesmal froh, für ein oder zwei Nächte aus dem Chaos rauszukommen.«
»Ich weiß nicht, ich hatte mir immer Geschwister gewünscht. So ganz alleine macht es auch keinen Spaß.«
Darüber hatte ich noch nicht groß nachgedacht. Mir machte das Alleinsein nicht sonderlich viel aus, außerdem war ja wie gesagt Thomas ein häufiger Gast.
»Tja, sieht ja so aus, als würde dein Wunsch nun doch noch in Erfüllung gehen. Mit einer Schwester kann ich dir zwar nicht dienen, aber als Bruder stehe ich zur Verfügung.«
»Naja, ich dachte zwar eher an einen jüngeren Bruder, aber ich schätze ich werde damit leben können.«
Tim lächelte bei diesen Worten, also machte ich mir keine weiteren Sorgen deswegen.
»Das ist also das Bett von Thomas, und ich dachte schon, ich würde hier schlafen.«
»Möchtest du denn? Mom hat zwar was von Gästezimmer gesagt, aber wenn du willst, kannst du auch hier schlafen. Wir müssen nur das Bettzeug austauschen.«
»Wenn ich dir nicht zu sehr auf den Wecker falle, wäre mir hier eigentlich lieber. Bitte lach mich nicht aus, aber das ist seit Ewigkeiten das erste Mal, daß ich in einem fremden Haus übernachte, und dann ganz allein in einem fremden Zimmer … naja, daran muß ich mich erst gewöhnen.«
»Kein Problem. Ist außerdem sicherlich lustiger zu zweit. Wenn du willst, kannst du schon mal dein Waschzeug ins Bad bringen, das ist die Tür dort neben dem Kleiderschrank. Ich kümmere mich inzwischen um das Bettzeug.«
Tim nahm seine Tasche und öffnete die genannte Tür, nur um sich kurz darauf mit großen Augen zu mir umzudrehen.
»Du hast dein eigenes Badezimmer? Komplett mit Dusche und Wanne?«
»Yep. Nachdem ich mir immer öfter mit meiner Mutter ins Gehege gekommen bin, hat sie kurzerhand ein zusätzliches Bad einbauen lassen.«
»Klasse.« Und er verschwand in genanntes Heiligtum.
Ich wiederum schnappte mir das gesamte Bettzeug von Thomas' Bett und transportierte es ins Gästezimmer, um es mit dem dortigen auszutauschen. Wieder in meinem Zimmer eingetroffen, gab ich mir die größte Mühe, das Bett wieder so perfekt wie zuvor herzurichten, aber um ehrlich zu sein war ich diesbezüglich keine große Nummer. Thomas im Gegensatz – tja, sagen wir mal so: sowohl der Bund als auch seine zukünftige Ehefrau würden ihre helle Freude an ihm haben. Als ich die letzten mehr oder weniger erfolglosen Handgriffe machte, kam Tim wieder aus dem Bad heraus.
»Na, alles verstaut?«
»Ja. Du bist wirklich ein Glückspilz, so ein Riesenbad nur für dich alleine. Wenn ich da an zuhause denke… Besonders im Winter ist es blöd, wenn man mal nachts aufs Klo muß bedeutet das immer eine Wanderung über den eiskalten Korridor.«
»Tja, wie sagt man so schön: Mein Klo ist dein Klo. Zumindest heute Nacht bleibt dir so ein unangenehmer Gang erspart.«
»Danke. Bei solchen Vorteilen könnte ich mich vielleicht sogar an einen älteren Bruder gewöhnen.«
»Das will ich doch hoffen, unsere Eltern verlassen sich auf uns.«
»An mir solls nicht liegen. Übrigens, wann müssen wir eigentlich los? Soll ich mich schon umziehen?«
»Wir haben jede Menge Zeit, wir müssen erst um sieben bei Katja sein, es reicht also, wenn wir so gegen dreiviertel losmarschieren.«
Tim schaute auf die Uhr. Gerademal kurz vor vier.
»Und was machen wir jetzt mit der ganzen Zeit?«
»Tja, ich weiß nicht was du machst, ich für meinen Teil springe jetzt erstmal unter die Dusche.«
»Was denn, ich denke du bist wasserscheu?«
»Das gilt nur für tiefere Gewässer, gegen eine schöne heiße Dusche habe ich nichts einzuwenden. Übrigens, du hast zwar heute schon eine gehörige Portion Wasser abbekommen, aber wenn du willst kannst du nach mir auch noch mal.«
»Hm. Danke für das Angebot, aber nach Duschen ist mir im Moment nicht unbedingt.«
»Keine Ursache, war auch nur ein Vorschlag.«
»Äh, ohne jetzt zu aufdringlich erscheinen zu wollen, aber …«
Tim stoppte mitten im Satz.
»Na los, spucks aus, ich werd dir schon sagen wenn du zu aufdringlich wirst.«
Was ich mir allerdings kaum vorstellen konnte.
»Naja, mir tun ein wenig die Knochen weh, und dagegen hilft am besten ein heißes Bad. Wenn es also nicht zuviele Umstände bereitet …«
»Absolut nicht. Wenn ich vom Karatetraining komme, ist das auch meine Lieblingsbeschäftigung.«
»Danke.«
»Kein Problem.«
Ich ging zu meinem Kleiderschrank und nahm ein paar zusätzliche große Badetücher heraus.
»Hier, nimm die schon mal.«
Danach nahm ich mir aus meinem Kleiderschrank frische Unterwäsche und verfrachtete diese ins Bad. Jetzt kam die große Frage: Wo sollte ich mich ausziehen? Im Bad? Naja, das käme mir nun doch etwas albern vor. Im Zimmer? Vor den Augen des Jungen, in den ich mich mehr oder weniger heftig verknallt hatte? Auch nicht die allerbeste Idee. Ich entschied mich für den goldenen Mittelweg. Im Zimmer würde ich mich bis auf die Unterwäsche ausziehen, den Rest dann im Bad erledigen. Ich öffnete die Träger der Latzjeans und ließ sie herunterfallen. Anschließend zog ich mir das Fleeceshirt über den Kopf. Dann kam der Moment der Wahrheit: ich ließ die Jeans an meinen Beinen heruntergleiten. Tim schenkte dem keine sonderliche Beachtung, sondern schaute sich weiterhin interessiert im Zimmer um. Er hatte gerade meine CD-Kollektion entdeckt und studierte sie eingehend. Ich legte meine ausgezogenen Sachen auf einen Stuhl und machte mich auf in Richtung Bad.
»So, ich bin weg. Wenn du willst, mach dir ruhig ein wenig Musik an oder was auch immer. Falls irgendwas ist komm einfach rein, bei dem rauschenden Wasser höre ich sowieso nicht, wenn du von draußen rufst oder klopfst.«
»Okay.« Ohne den Kopf zu mir zu drehen. Ich verschwand im Bad.
Dort angekommen schlüpfte ich zuerst aus den restlichen Klamotten, stopfte diese in den Wäschekorb, dann legte ich mir mein Waschzeug zurecht, regelte die Wassertemperatur auf ein angenehmes Niveau und sprang letztendlich unter den Wasserstrahl, die Tür der Duschkabine hinter mir zuziehend.
Wie üblich vergaß ich einmal unter der Dusche stehend völlig die Zeit und meine Umgebung. Es gab für mich kaum etwas angenehmeres, als das mir den Buckel herunterfließende warme Wasser. Ich war mit mir und der Welt zufrieden, doch plötzlich klopfte es an das Milchglas der Duschkabine.
»Danny?«
»Ja, was gibts?«
»Entschuldige die Störung, aber hast du was dagegen, wenn ich mir schon mal die Wanne aufdrehe?«
»Nur zu, ich bin eh gleich fertig.«
»Laß nur, ich will dich nicht drängeln. Bleib solange wie du willst.«
Eigentlich sollte ich nun wirklich meine Duschorgie beenden, aber andererseits… Wo es doch gerade so angenehm war. Und wieder wurde ich einige Zeit später durch Tim aufgeschreckt.
»Stört es dich, wenn ich in die Wanne steige?«
Ich schaute auf meine wasserdichte Uhr. Ups, ich stand tatsächlich schon eine halbe Stunde unter der Dusche! Nicht sonderlich gastfreundlich. Und nun würde ich deshalb Tim nackt sehen, und er mich auch! Aber was solls, schließlich war er es, der die Idee hatte, nicht daß ich ihn dazu gedrängt hätte.
»Mach nur. Entschuldige, daß ich so trödle.«
»Kein Problem, ich vergesse bei solchen Dingen auch oft die Zeit.«
Während ich nun nach dem Duschgel griff und mich gründlich einseifte, sah ich durch das Milchglas Tims Schatten zur Wanne gehen und sodann hineinsteigen. Kurz darauf war ein zufriedenes Stöhnen zu hören. Ich beeilte mich nun mit meinen Verrichtungen, und fünf Minuten später war ich am Überlegen, wie ich mich am günstigstens aus Duschkabine und Bad verdrücken könnte. Zu einem wirklichen Ergebnis kam ich nicht. Also spülte ich mich noch einmal gründlich ab, dann drehte ich den Wasserhahn zu, öffnete die Kabinentür und trat hinaus. Mir kam zugute, daß Tim mich aus seiner Position an dieser Stelle nicht richtig sehen konnte, zwischen uns lag die Duschkabine und deren nach außen öffnende Tür. Ich konnte mich also mehr oder weniger sicher vor seinen Blicken fühlen und mich ungestört abtrocknen. Meine Sachen allerdings lagen am anderen Ende des Badezimmers, und ich würde bald den Sichtschutz verlassen müssen. Naja, da war ja noch eine Möglichkeit. Ich band mir eines der großen Badetücher um die Hüften und wanderte in Tims Sichtfeld.
»Na, kleiner Bruder, ist es schön?«
Ich wagte einen Blick in seine Richtung, ohne wirklich etwas zu sehen, denn mit Ausnahme seines Kopfes war sein gesamter Körper unter einer dicken Schaumschicht verborgen.
»Danke, großer Bruder. Einfach herrlich. Ich spüre schon, wie sich meine Muskeln entspannen.«
»Dann ist ja gut. Bleib so lange drin wie du willst, ich sag dir rechtzeitig bescheid, damit wir pünktlich loskommen.«
»Okay. Ich werd mich bemühen nicht einzuschlafen.«
Ich griff mir meine Sachen vom Hocker und verließ das Badezimmer. Es war mittlerweile kurz vor Fünf, also immer noch viel zu zeitig um sich bereits komplett für die Party anzuziehen. Ich schlüpfte also nur in meine frische Wäsche, die, wie bereits am Morgen, aus T-Shirt und Strumpfhose bestand (das nennt man wohl einen gut abgerichteten Sohn). Mal schaun, wie Tim darauf reagieren würde.
Als das erledigt war und ich mir schnell die Haare getrocknet hatte, setzte ich mich im Schneidersitz in meinen Computersessel und startete den Mac. Die Zeit, die Tim in der Wanne verbrachte, wollte ich nutzen, um schnell meine eMails abzurufen. Der Rechner fuhr hoch, und einige Minuten später war ich in die Beantwortung eines technischen Hilferufs einer Klassenkameradin vertieft. Daß Tim wieder aus der Wanne heraus und ins Zimmer zurückgekommen war bemerkte ich erst, als er mich direkt ansprach.
»Ich bin wieder da. Das war einfach herrlich, genau was ich gebraucht habe.«
»Sehr schön. Überrascht mich bei so einer Wasserratte wie dir auch nicht.«
»Ich bin halt so. Schon als kleines Kind bin ich in jede Pfütze gehüpft.«
»Ich hoffe doch stark, daß du diese Angewohnheit mittlerweile abgelegt hast.«
»Glaub schon. Ist mir jedenfalls in den letzten drei Monaten nicht mehr passiert.«
Ich drehte mich mit dem Sessel um und schaute in Tims Richtung. Dieser stand, nur mit einer Boxershort bekleidet, im Zimmer und schaute sich um.
»Hast du irgendwo einen Fön?«
Ich zeigte auf mein Bett, wo genanntes Gerät halb vom Kissen verdeckt herumlag. Um dorthin zugelangen, mußte Tim nun an mir vorbei, und ich konnte aus nächster Nähe seinen Schwimmerkörper bewundern. Und »bewundern« war der richtige Ausdruck. Obwohl bereits Dezember, waren immer noch die Reste von Sommerbräune vorhanden, und seine glatte Haut wurde durch keinerlei Härchen oder andere störende Dinge verunziert. Zum Glück bedeckte mein locker hängendes T-Shirt eine gewisse Region meines Körpers. Genau auf diese unteren Teile meines Körper starrte Tim mittlerweile, der in einem Meter Abstand vor mir stehengeblieben war. Wie allerdings seine folgenden Worte zeigten, hatte er etwas anderes als mein genanntes Problem im Sinn.
»Sag mal, was hast du denn an?«
Obwohl ich genau wußte was er meinte, beschloß ich, ein wenig auf verständnislos zu machen.
»Ein T-Shirt, wieso?«
»Quatsch. Ich meine untenrum. Das ist doch eine Strumpfhose, oder?«
»Ach das. Ja, richtig erkannt.«
»Und sowas ziehst du an?«
»Nicht ganz freiwillig, meine Mutter besteht darauf.«
»Also da würde ich niemals mitspielen.«
Mir kam eine Idee, er sollte sich bloß nicht allzu sicher fühlen.
»Warte nur ab, wenn wir erst eine Familie sind wird diese Anweisung auch für dich gelten, verlaß dich drauf.«
»Niemals! Notfalls spreche ich mit meinem Vater darüber, der wird ihr das schon ausreden.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Meine Mutter kann verdammt stur sein, und wie ich sie kenne, wirst nach einem solchen Gespräch zwischen den beiden nicht nur du sondern auch dein Vater in den Dingern rumlaufen.«
»Kann ich mir wirklich nicht vorstellen.«
»Glaubs nur. Aber ganz so schlimm ist es nicht, die Dinger sind wenigstens schön warm.«
»Das scheint für dich ja das allerwichtigste zu sein.«
»Genau. Wenn sich schon der Winter nicht vermeiden läßt, dann will ich wenigstens nicht frieren müssen. Und nun sag bloß nicht, daß du bei der Kälte nur in Jeans rumläufst.«
»Nö, habe ich auch nie behauptet.«
Tim ging weiter und holte sich den Fön, dann kehrte er zurück zu »seinem« Bett und setzte sich darauf, nach einem Stapel Wäsche greifend, den ich jetzt erst bemerkte.
»Thermo-Unterwäsche. Ganz unter uns, ich friere auch nicht gerne. Außerdem würde mich mein Vater nie ohne was drunter rauslassen. Aber auf die Idee, mir Strumpfhosen zu verpassen, würde er nie kommen.«
»Tja, das ist ja wohl auch eher eine Mutter-Domäne. Wir werden sehen. Entweder werde ich in Zukunft sowas wie du anziehen dürfen, oder du wirst demnächst einen Stapel Strumpfhosen in deinem Wäschefach vorfinden. Ich fürchte allerdings, daß letzteres passieren wird, die Chancen dürften etwa 10:1 stehen.«
Tim grummelte etwas in seinen nichtvorhandenen Bart und begann, die erwähnte lange Unterwäsche anzuziehen. Ich schaute ihm dabei zu, und einige Momente später war er von oben bis unten in hellblau gekleidet. Dazu gesellte sich ein Paar dicke Socken. Bei diesem Anblick fiel mir eine andere Frage ein, welche mir seit dem Schwimmwettkampf unter den Nägeln brannte.
»Sag mal, bringen diese Schwimmanzüge wirklich etwas? Ich meine, okay, du hast gewonnen, das sollte eigentlich Beweis genug sein, aber trotzdem …«
»Wie du vielleicht bemerkt hast, hatte in meinem Halbfinale noch einer so einen Anzug an, und der ist nur Vorletzter geworden.«
»Hm, stimmt, hatte ich ganz vergessen.«
»Aber mal ernsthaft: mein Trainer meint, daß man dran glauben muß, damit es funktioniert. Ich glaube dran, und wie du siehst: es scheint zu wirken. Außerdem steckt da noch was anderes dahinter: dafür, daß ich das Teil trage, wird unsere Mannschaft vom Sponsor komplett mit Schwimm- und Trainingsbekleidung ausgestattet.«
»Das ist allerdings ein ziemlicher Anreiz.«
»Genau. Wir sind weder ein besonders großer noch ein besonders guter Verein und müssen mit dem Geld ziemlich rechnen. Da kommt ein solches Angebot natürlich gerade recht.«
»Naja, wenn du weiter so siegst wird sich der Status deines Vereins wohl bald zum Besseren ändern. Und fang jetzt bloß nicht wieder damit an, daß du gar nicht so gut bist. Glaube endlich mal was dir alle anderen sagen. Oder geht das in deinen Kopf nicht rein?«
Tim schaute verlegen zu Boden.
»Vielleicht habt ihr ja doch recht. Es ist bloß … naja, ich bin wohl ziemlich kritisch mir selbst gegenüber.«
»Du bist nicht mehr kritisch, du bist überstreng. Aber das werden wir dir schon noch austreiben.«
Jetzt lachte Tim, und ich lehnte mich zufrieden in meinem Sessel zurück. Von diesem Anblick konnte ich einfach nicht genug bekommen. Er griff zum Fön, dann schaute er wieder in meine Richtung. Und sein Blick erstarrte! Nanu, ich dachte über die Sache mit den Strumpfhosen sei er hinweg? Aber halt mal, er starrte ja gar nicht mich an, er starrte an mir vorbei. Aber worauf? Ach du heilige Scheiße! Mir wurde schlagartig bewußt, was ihn da geschockt hatte. Ich hatte einige Minuten lang dem Computer nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit zukommen lassen, mit dem Ergebnis, daß sich der Bildschirmschoner aktiviert hatte. Und dieser bestand aus einer Diaschau. Um präzise zu sein aus einer Diaschau ziemlich eindeutiger und verräterischer Bilder, die ich mir in langen Nächten aus dem Internet heruntergeladen hatte. In Sekundenbruchteilen drehte ich mich zum Rechner und bewegte die Maus, damit den Bildschirmschoner beendend. Na klar, den Brunnen abdecken nachdem das Kind hineingefallen ist. Gute Arbeit, Danny. Mich wieder zu Tim zurückzudrehen traute ich mich nicht.
Es verging eine Zeitspanne die mir wie eine Ewigkeit erschien, vermutlich aber bloß einige kurze Minuten, wenn nicht gar nur Sekunden dauerte. Dann fand Tim seine Sprache wieder.
»Ähm, Danny, bist du etwa schwul?«
Tja, was sollte ich darauf antworten? Ich überlegte fieberhaft, aber ein Ausweg war nicht in Sicht. Da gab es wohl wirklich kaum noch etwas zu vertuschen oder zu verleugnen. Dies war nun wahrscheinlich das Ende meiner so hoffnungsvoll begonnenen Freundschaft mit meinem zukünftigen kleinen Bruder. Ohne mich zu ihm umzudrehen antwortete ich ihm mit leiser Stimme.
»Sieht ganz so aus, oder?«
»Allerdings.«
»Und?«
»Was und?«
»Naja, bist du wütend, schockiert, angewidert? Ich nehme mal an, daß du nicht mehr hier im Zimmer schlafen willst. Ich werde das Bettzeug wieder austauschen.«
»Nicht so eilig, okay? Ich muß mir selbst erst darüber klarwerden.«
Hm, sollte etwa tatsächlich noch Hoffnung bestehen? Okay, daß ich bei ihm wohl keine Chance hatte war mir eh klar, aber ich wäre schon vollkommen zufrieden, wenn er mich als Bruder und Freund akzeptieren würde. Ich nahm all meinen Mut zusammen und drehte mich zu ihm um. In Tims Gesicht entdeckte ich einen Ausdruck, wie ich ihn bei ihm noch nicht gesehen hatte. Weder lächelte er, noch war er wütend, und auch das noch am Vormittag so ausgeprägte Insichgekehrtsein konnte ich nicht ausmachen. Dann schaute er mich direkt an, und es fiel mir äußerst schwer diesem Blick standzuhalten.
»Laß mal, ich schlafe trotzdem hier im Zimmer. Das heißt, wenn du nichts dagegen hast.«
»Ganz bestimmt nicht, aber … ich meine, wirst du damit klarkommen?«
»Mach dir darum keine Sorgen. Außerdem, ich brauch ja wohl keine Angst zu haben, daß du in der Nacht über mich herfällst, oder?«
Ich würde ihm lieber nicht sagen, wie gern ich genau das tun würde. Außerdem war mir klar, daß ich mir das um jeden Preis verkneifen würde.
»Da kannst du dir ganz sicher sein, dir droht von mir keine Gefahr.«
»Wieso eigentlich nicht?«
Ich glaubte mich verhört zu haben.
»Huh?«
»Ich meine, findest du mich häßlich oder warum droht mir von dir keine Gefahr?«
Das mußte ich jetzt erstmal verdauen. Und dann beschloß ich, einigermaßen ehrlich zu ihm zu sein.
»Äh, Tim, ich finde dich wirklich nicht häßlich, ganz im Gegenteil. Aber ich kann dir garantieren, daß ich niemals, wirklich niemals, irgendetwas gegen deinen Willen tun würde.«
»Da bin ich ja beruhigt. Ich dachte schon ich hätte irgendwas an mir, was dich abstößt.«
»Wirklich nicht.«
Eines mußte ich nun allerdings wirklich genauer wissen, seine Frage, ob ich ihn häßlich finden würde, hatte in mir doch einige Zweifel geweckt.
»Sag mal, Tim, flipp jetzt bitte nicht aus, aber … bist du etwa auch schwul?«
Er starrte mich eine Minute schweigend an.
»Du brauchst die Frage nicht zu beantworten, vergiß es einfach.«
»Nein. Du warst ehrlich zu mir, also muß ich es auch zu dir sein…«
Ich unterbrach ihn.
»Tim, du mußt gar nichts. Meine Ehrlichkeit war auch nur erzwungen, wenn nicht die Sache mit dem Computer gewesen und ein weiteres Verschweigen eh unmöglich gewesen wäre, hätte ich es dir bestimmt nicht gesagt, zumindest nicht schon heute.«
»Schon okay. Du willst wissen ob ich schwul bin? Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ich habe noch nie darüber nachgedacht. Ich meine, ich war noch nie mit jemandem zusammen, weder mit einem Mädchen noch mit einem Jungen. Und es ist auch nicht so, daß mir da bisher irgendwas gefehlt hätte. Aber eines kann ich dir mit Sicherheit sagen: damit, daß du schwul bist, habe ich keine Probleme, wirklich nicht.«
Puh, jetzt war ich aber erleichtert, der Stein, der mir vom Herzen fiel, hat die Ausmaße eines Eiszeit-Findlings. Und der Aufprall war mit Sicherheit von allen umliegenden seismologischen Stationen aufgefangen worden.
»Danke, Tim. Das bedeutet mir wirklich sehr viel. Ich mag dich wirklich, keine Bange, als Bruder und Freund. Ich fände es blöd, wenn das jetzt unser Verhältnis belasten würde.«
»Wie gesagt, das wird es nicht. Aber mal zur Vorsicht, damit ich mich nicht irgendwo verplappere: weiß außer mir schon irgendwer davon? Schließlich will ich nicht, daß deine Mutter wegen eines unbedachten Wortes von mir einen Herzinfarkt bekommt.«
»Die bestimmt nicht, die hat es als erste erfahren. Aber nett, daß du daran denkst. Also, außer meiner Mutter wissen es eigentlich alle meine Freunde, da droht keine Gefahr.«
»Und mein Vater?«
»Falls er es nicht von meiner Mutter weiß – und ich bezweifle, daß sie ihm das ohne mich vorher zu fragen gesagt hat – dann ist er noch ahnunglos. Und mir wäre es lieber, wenn es vorerst auch so bliebe. Ich werde es ihm sicherlich irgendwann sagen, aber ich möchte wirklich, daß er es von mir erfährt, zu dem Zeitpunkt, den ich für richtig halte.«
»Okay, meine Lippen sind versiegelt.«
»Danke.«
»Aber was mich jetzt wirklich mal interessieren würde: wann und wie hast du selbst es gemerkt? Wenn du nicht darüber reden möchtest ist das okay, aber ich würde es wirklich gerne wissen.«
Also begann ich damit, Tim meine Geschichte zu erzählen, mit all den Höhen und Tiefen, der Unterstützung und den Zurückweisungen. Ich erzählte ihm sogar von der Zeit, in der ich ernsthaft an Selbstmord gedacht hatte. Das nun war eine Sache, die ich vorher noch niemandem erzählt hatte, nicht einmal meine Mutter wußte davon, da ich sie nicht beunruhigen wollte. Warum ich das alles nun gerade Tim erzählte – keine Ahnung. Vielleicht nur, weil ich es einfach mal irgendjemandem erzählen mußte, ich hatte diese Zeit sehr tief in meinen Erinnerungen vergraben, und irgendwie tat es gut, sie einmal herauszulassen. Tim hörte sehr aufmerksam zu, stellte ein paar Zwischenfragen und gab sich redlich Mühe, alles zu verstehen.
»Du wolltest dich wirklich umbringen?«
»Naja, wohl nicht wirklich, sonst hätte ich es sicher getan. Aber der Gedanke spukte mir durchaus ein paar Mal durch den Kopf.«
»Warum?«
»Ich hatte Angst. Angst davor, daß niemand mehr etwas mit mir zu tun haben will. Davor, daß ich nach meinem Vater auch noch meine Mutter verlieren würde. Davor, keine Freunde mehr zu haben. Ich war vierzehn oder fünfzehn, da können einem solche Vorstellungen durchaus einen Heidenschrecken einjagen.«
»Entschuldige, war eine blöde Frage.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. So blöd war die Frage gar nicht. Für jemanden, der es nicht selbst erlebt hat, ist es halt schwer zu verstehen. Ich glaubte damals, niemanden zu haben, mit dem ich darüber reden könnte. Zum Glück hatte ich dann irgendwann doch den Mut, es meiner Mutter zu sagen, und von da an ging es – mit einer kleinen Verzögerung – wieder aufwärts. Und Tim?«
»Ja?«
»Wenn du mal jemanden zum reden brauchst, und nicht zu Reinhardt oder auch zu meiner Mutter gehen willst, dann versuche es mal mit mir. Du kannst mit mir über alles reden, ich werde dich niemals auslachen oder dich für irgendetwas verachten oder was auch immer. Du wirst sehen, wenn du jemanden in deine Probleme reinläßt, wird es viel einfacher sie zu lösen.«
»Danke. Ehrlich. So ein Angebot hat mir noch niemand gemacht.«
»Nun, es steht. Wann immer du darauf zurückkommen willst soll es mir recht sein. Aber verflixt, jetzt haben wir jede Menge Zeit verquasselt. Wir müssen langsam machen, daß wir loskommen, ich habe vor der Party bei Katja noch was zu erledigen.«
»Mist. Wieder mal meine Schuld, ich habe uns mit meiner Neugierde solange aufgehalten.«
»Hör auf dich ständig zu entschuldigen. Es ist zwar spät aber noch nicht zu spät. Außerdem war ich derjenige, der so lange Monologe von sich gelassen hat. Aber los jetzt, wir sollten uns fertig anziehen und dann losmarschieren.«
»Einverstanden. Und Danny … danke daß du mir das alles erzählt hast. Es bedeutet mir sehr viel, daß du mir das anvertraut hast.«
»He, keine Geheimnisse zwischen Brüdern, okay?«
»Okay.«
Mit diesen Worten erhoben wir uns beide und zogen uns komplett an. Ich stellte den Computer aus, schnappte mir zwei große Plastetüten und ging in Richtung Zimmertür.
»Los, Tim, wir müssen ein wenig die Einrichtung zerlegen.«
Er schaute mich reichlich verständnislos an.
»Was meinst du damit?«
»Also, meine Mutter ist ein totaler Radiofreak. In jedem Zimmer will sie ihren Lieblingssender hören können. Wir haben aber nur ein Radio am Kabel hängen, und über Antenne bekommt sie diesen Sender nicht. Also habe ich ihr von diesem einen Radio aus eine Funkstrecke gebastelt, mit Lautsprechern in allen Zimmern in denen sie sich aufhält. Und genau diese Funkstrecke minus der Lautsprecher bauen wir jetzt ab und nehmen sie mit zur Party. Auf die Weise kann Katja von der Anlage in ihrem Zimmer aus das ganze Haus unterhalten.«
»Aha, deswegen also mußtest du unbedingt zu dieser Party.«
»Naja, ich würde ja gerne glauben, daß man mich ausschließlich wegen meines unnachahmlichen Charmes einlädt, aber ich befürchte, daß auch mein technisches Genie eine Rolle dabei spielt.«
In der Zwischenzeit waren wir im Erdgeschoß eingetroffen.
»Also los, du hältst mir die Beutel, ich packe die Technik ein.«
Zehn Minuten später war alles verstaut, wir schlüpften in Schuhe und Jacken und machten uns auf den kurzen Fußweg zum Veranstaltungsort des kulturellen Großereignisses.
Nach wenigen Minuten heftigen Leidens unter der herrschenden Kälte betätigte ich den Klingelknopf, und anscheinend hatte Katja direkt hinter der Tür gestanden, denn uns wurde sofort aufgetan.
»Hallo Danny, ich bin ja so froh, daß du kommen konntest. Thomas hat mir von deinem kleinen Dilemma erzählt.«
»Bist du froh mich zu sehen oder den Inhalt dieser Beutel?«
»Also wie kannst du nur an mir zweifeln! Die Antwort darauf ist ja wohl klar. Her mit den Beuteln! Du kannst sie morgen wieder hier abholen.«
»Deine warmherzigen Begrüßungen überraschen mich immer wieder. Übrigens, das hier ist Tim, mein zukünftiger …, äh, zukünftiger Stiefbruder meine ich. Ich dachte mir, ich bringe ihn einfach mit, ich hoffe du hast nichts dagegen. Tim, diese zerzauste Gestalt hier ist Katja, die wenig gastfreundliche Veranstalterin des heutigen Happenings. Und wenn die uns nicht bald reinläßt und vor der Kälte rettet, gehen wir wieder nach Hause.«
»Nichts da, rein mit euch. Danny, du darfst erst wieder gehen wenn die Anlage läuft. Dein neuer Bruder ist niedlich, der darf sowieso bleiben. Du mußt mir
nur noch sagen, ob ich ihn mit einem Mädchen oder einem Jungen verkuppeln soll.«
Oh oh, da hatte sie ja voll ins Fettnäpfchen getreten. Der arme Tim wurde abwechselnd knallrot und leichenblaß.
»Hör einfach nicht drauf was Katja sagt, wer sie ernst nimmt ist selber schuld. Mal ganz davon abgesehen, Katja, bei mir haben deine Kuppelversuche nie funktioniert, wie kommst du darauf, es bei Tim besser machen zu können?«
»Ganz einfach, er sieht entschieden besser aus als du.«
»Okay. Du möchtest eine Party ohne Musik – du bekommst eine Party ohne Musik. Tim, was hältst du von einem gemütlichen Videoabend bei uns zu Hause?«
»Oh nein! Ach, bitte, bitte, Danny, du hast doch selbst gesagt, daß man mich nicht ernstnehmen darf! Bitte bleib hier und bau die Anlage auf, ich flehe dich an! Ich tu alles, was du verlangst. Soll ich dir einen Callboy für den Abend organisieren? Oder soll ich ein paar der Jungs die heute kommen zu einer Runde Strippoker mit dir verdonnern? Nenne deinen Wunsch und er soll dir erfüllt werden.«
»Weißt du was, ich will mal nicht so sein. Den Wunsch hebe ich mir für eine günstigere Gelegenheit auf, und ich garantiere dir, ich werde das nicht vergessen. Also los, Tim, Jacke aus und ran an die Arbeit.«
Katja hüpfte erfreut auf und nieder.
»Juchhu, ich wußte doch, daß ich mich auf dich verlassen kann. Du bist und bleibst mein Lieblings-Homo.«
»Vielen Dank auch.«
Plötzlich schlug sie sich mit den Händen vor den Mund.
»Oh mein Gott, entschuldige Danny. Ich hoffe Tim wußte es schon, oder habe ich mich wieder einmal verplappert?«
»Er weiß es schon, wenn auch erst seit etwas mehr als einer Stunde.«
»Da bin ich aber beruhigt. So, du weißt ja wo alles ist, ich muß mich wieder um andere Dinge kümmern.«
»Ist sonst schon jemand da?«
»Jürgen bereitet den Grill vor, und Lisa hat mit ihrem Freund bereits die Bar bestückt. Die ersten Gäste werden wohl so in einer halben Stunde auftauchen. Reicht dir die Zeit?«
»Keine Bange, ist ja nicht das erste Mal.«
Katja verschwand, und ich machte mich mit Tim daran, die in den Zimmern vorhandenen Lautsprecher mit Funkempfängern zu versehen. Als das erledigt war, begaben wir uns zu Katjas Zimmer um dort den Sender an ihre Anlage anzuschließen. Gerade als ich die Tür öffnen wollte, kam die Besitzerin des Zimmers angerannt.
»Warte, Danny, meine Anlage ist kaputt, wir müssen die von meinem Bruder nehmen.«
»Weiß der schon von seinem Glück?«
Katja und ihr kleiner Bruder Ralph, gerade mal fünfzehn Jahre alt, verstanden sich nicht besonders gut – naja, ich hatte ein wenig Mitleid mit dem armen Kerlchen. Ständig mit Katja unter einem Dach zu leben mußte ihm wie eine völlig unverdiente Dauerbestrafung vorkommen.
»Nein, aber er ist auch gar nicht zuhause, der zieht mit seinen Freunden durch die Gegend. Geht einfach rein und schließt alles an. So, ich bin wieder weg.«
So ganz wohl war mir bei dem Gedanken, so einfach in ein fremdes Zimmer einzudringen und ohne zu fragen an fremdem Eigentum rumzuspielen, nicht, aber irgendwie mußte ich es wohl über die Runden bringen. Ich ging mit Tim im Schlepptau zu Ralphs Zimmertür und öffnete diese schwungvoll, um sodann mit einem großen Schritt das mir bisher völlig unbekannte Zimmer zu betreten. Es war stockdunkel, also griff ich zielsicher nach dem Lichtschalter, und kurz darauf blendete das Licht aus mehreren Halogenstrahlern meine Augen. Aber nicht stark genug, als daß ich nicht hätte sehen können, daß Katja mit ihrer Aussage, ihr Bruder wäre nicht zuhause, völlig daneben gelegen hatte. Ralph war da, lag auf seinem Bett – und er war ganz offensichtlich nicht alleine. So richtig sehen konnte ich zwar nur ihn, aber da waren ein paar blonde Haare die nicht zu seinen braunen paßten, und außerdem war ich mir ziemlich sicher, daß er bei unserer letzten Begegnung nur zwei und nicht vier Füße gehabt hatte. Er war zwar vollständig angezogen, aber die Lage seines Körpers ließ nicht viel Interpretationsspielraum bezüglich dessen was da vorging übrig. Der Bengel hatte Nerven – im ganzen Haus liefen Partyvorbereitungen, und er vergnügte sich seelenruhig mit seiner Freundin! Jaja, die Jugend. Begeistert war er von meinem ungestümen Eindringen allerdings nicht.
»Verdammt, was soll das? Wer ist da? Raus hier!«
Wollte er nun wissen wer da eingedrungen war, oder wollte er, daß der Eindringling sich sofort verzog? Sosehr ich auch seine Reaktion verstehen konnte – meine natürliche Neugier setzte sich durch, und ich beschloß, erstmal seine Fragen zu beantworten.
»Ich bins, Danny. Deine liebreizende Schwester hat mir gesagt, daß ich den Funksender an deine Stereoanlage anschließen soll. Angeblich bist du gar nicht im Hause.«
Ralph verharrte weiterhin in der Lage in der ich ihn vorgefunden hatte.
»Davon war nie die Rede, verdammt noch mal.«
Der kleine Aufruhr hatte mittlerweile auch Katja angelockt.
»Was ist hier los? Ralph? Ich denke du bist mit deinen Freunden unterwegs?«
Der Genannte sackte ein wenig in sich zusammen.
»Danny, gib mir bitte zwei Minuten, okay? Und halt mir die blöde Ziege vom Halse.«
»Okay.«
Ich schob mich zurück durch die Zimmertür nach draußen, dabei Katja und Tim vor mir herdrängend. Als wir alle draußen angekommen waren, schloß ich die Tür und machte mich vor ihr breit, Ralphs Schwester dadurch davon abhaltend, sofort wieder reinzustürmen.
»Der kleine Mistkerl, was hat der hier zu suchen?«
»Äh, nur mal so als Hinweis, der kleine Mistkerl wohnt hier. Das ist sein Zimmer. Wir sind diejenigen, die dort drin eigentlich nichts zu suchen haben.«
»Und was machen wir jetzt? Der erlaubt mir doch nie, seine Anlage zu benutzen!«
»Das hast du dir dann selbst zuzuschreiben, du Musterexemplar einer großen Schwester.«
In diesem Moment klingelte es wieder an der Haustür.
»Ich schlage vor, du kümmerst dich um deine Gäste, ich versuche das hier zu regeln. Wenn Ralph dein Gesicht nochmal sehen muß, schaltet er garantiert auf stur.«
»Na gut, ich verlaß mich auf dich. Ich will aber nachher wissen, wer das Flittchen war mit dem er da rumgemacht hat. Unsere Eltern haben mir die Verantwortung übergeben!«
»Ah, komm, Katja. Dein Bruder wird langsam erwachsen. Mein Gott, die beiden waren komplett angezogen, da kann gar nicht viel passiert sein. Außerdem, muß ich dich daran erinnern was du mit fünfzehn für Stunts abgezogen hast? Also los, schieb ab, ich kümmere mich um alles.«
Sie warf mir noch einen zweifelnden Blick zu, aber meine letzte Bemerkung schien zu ihr durchgedrungen zu sein. Kopfschüttend machte sie sich auf den Weg zur Haustür, an welcher mittlerweile Sturm geläutet wurde. Ich drehte mich zu Tim um, welcher mit einem Grinsen im Gesicht am Türpfosten lehnte.
»Also eines muß man dir lassen, Danny, wenn man mit dir unterwegs ist, kann man einiges erleben.«
»Ich hab dir doch versprochen, daß du dich amüsieren wirst.«
Tim kam nicht dazu darauf zu antworten, denn in diesem Moment ging die Zimmertür auf und Ralph steckte seinen Kopf durch den Spalt.
»Danny, kommst du bitte mal rein? Alleine.«
Ich schaute kurz zu Tim, der zuckte mit den Schultern, und dann folgte ich Katjas Bruder in sein Zimmer. Seine Besucherin hatte sich unter der Decke zusammengerollt, nur ein Stück blonder Haarschopf schaute hervor und ein leises Schluchzen war aus der Ecke zu hören. Beim genaueren Hinschauen mußte ich feststellen, daß auch Ralphs Augen etwas gerötet und tränenverschmiert aussahen. Er setzte sich neben das zusammengerollte Bündel auf sein Bett und streichelte beruhigend über den versteckten Kopf.
»Danny, danke daß du Katja rausgeworfen hast.«
»Schon gut. Ralph, tut mir wirklich leid, daß ich so reingeplatzt bin, aber deine Schwester behauptete, du wärst nicht zuhause.«
»Meine Pläne haben sich halt ein wenig geändert.«
»Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen, das wäre wohl eher mein Job. Aber komm, das ist doch alles nicht so schlimm. Ich meine, he, du bist ja langsam alt genug, oder? Wie wäre es also, wenn du mir deine Freundin vorstellst und wir dann gemeinsam die technischen Dinge in Angriff nehmen?«
Ralph schenkte mir einen leicht gequälten Blick, drehte sich dann zu dem immer noch leise schluchzenden Bündel um, nahm es in den Arm und zog es langsam in eine aufrechte Position, wobei die schützende Decke langsam aber sicher verrutschte und ein verheultes Gesicht freigab. Ein verheultes, hübsches Gesicht. Das Gesicht eines Jungen!
»Danny, darf ich dir Christoph vorstellen. Chris, das ist Danny, ein Freund meiner Schwester. Du brauchst keine Angst zu haben, er ist okay. Er ist …«
Ralph stoppte mitten im Satz.
»Sprich es ruhig aus. Ist ja nicht so, daß ich ein Geheimnis daraus machen würde. Ich bin schwul. Und damit wohl momentan nicht der einzige hier im Zimmer. Übrigens, Christoph mit ›f‹ oder mit ›ph‹?«
»Mit ›ph‹.«
»Na prima, da paßt ihr doch wunderbar zusammen. Ralph mit ›ph‹ und Christoph mit ›ph‹. Besser konntet ihr es doch gar nicht treffen.«
Auf zwei ziemlich gestreßten Gesichtern machte sich ein leichtes Lächeln breit. Ralph schaute mich fragend an.
»Wie soll es jetzt weitergehen?«
Ich überlegte kurz.
»Gibt es noch einen anderen Weg aus deinem Zimmer als über den großen Korridor? Ein Hinterausgang vielleicht?«
»Nein. Ich meine, es gibt einen Hinterausgang, aber dazu müßten wir trotzdem erstmal runter und am Wohnzimmer vorbei.«
»Hm. Wie sieht es mit dem Fenster aus, irgendeine Möglichkeit da sicher runterzukommen?«
Wir befanden uns im ersten Stock, aber vielleicht gab es ja so etwas wie ein Blumengitter oder etwas in der Art.
»Unter meinem Fenster ist die Einfahrt zur Tiefgarage, keine Chance da heil runterzukommen.«
Mist. So langsam gingen mir die Ideen aus. In der Zwischenzeit hatte es noch mehrmals an der Haustür geklingelt, es wurden immer mehr Gäste. Und Katja hatte sicherlich schon allen erzählt, daß sie ihren Bruder bei »unmoralischen Verrichtungen« ertappt hatte. Jeder Versuch, die beiden Verliebten unauffällig aus dem Haus zu schmuggeln, war zum Scheitern verurteilt.
»Habt ihr schonmal über euer Coming Out nachgedacht? Wenn nicht, wäre das jetzt der passende Moment damit anzufangen.«
»Das kann nicht dein Ernst sein! Das wäre unser Ende!«
»Also für mich war es nicht das Ende. Und die Leute da draußen wissen praktisch alle über mich Bescheid.«
»Keine Bange, meine Schwester wird schon dafür sorgen, daß ich das nicht überlebe.«
»Weiß überhaupt schon jemand von euch beiden?«
»Meine Eltern.«
Das waren die ersten Worte, die ich von Ralphs Freund zu hören bekam.
»Von euch als Paar oder nur, daß du schwul bist?«
»Beides.«
Diese Antwort schien nun Ralph mächtig zu überraschen.
»Was? Du hast es deinen Eltern gesagt? Wieso?«
»Ich konnte nicht anders. Daß ich auf Jungs stehe wissen sie schon eine ganze Weile, naja, und da ich in letzter Zeit so oft mit dir zusammen bin, haben sie eins und eins zusammengezählt und mich danach gefragt. Von selbst hätte ich es ihnen nicht erzählt, aber ich konnte sie einfach nicht anlügen. Verzeihst du mir?«
Er starrte seinen Freund mit großen Augen an, denen man einfach alles verzeihen mußte. Mir jedenfalls ging es so, und auch Ralph blieb von diesem Eindruck nicht verschont.
»Okay, okay. Da muß ich mich allerdings erst dran gewöhnen. Wann ist das passiert?«
»Vor zwei Wochen, nach dem Wochenende das du bei mir verbracht hast.«
»Solange ist das schon her? Und deine Eltern haben nie etwas gesagt, haben mich immer nur angelächelt und wie immer behandelt! Sogar zu weiteren Übernachtungen haben sie mich eingeladen!«
»Siehst du, Ralph, so schlimm ist es gar nicht. Deine Eltern hatten mit mir bisher auch keine Probleme. So wie ich das sehe, habt ihr nur zwei Möglichkeiten: entweder ihr verzieht euch heimlich und schweigend, wobei man euch auf jeden Fall bemerken wird. Dann wird das Getratsche groß sein, und alles hinter eurem Rücken, ohne daß ihr euch verteidigen könnt. Oder ihr geht mit erhobenen Köpfen da raus, sagt erstmal gar nichts zu dem Thema, aber wenn euch jemand drauf anspricht sagt ihr die Wahrheit. Eure Entscheidung, aber ich sehe keine anderen Alternativen.«
Die beiden ertappten Sünder sahen sich einen Augenblick lang schweigend an. Dann nickten sie, umarmten sich noch einmal und standen auf. Ralph übernahm die Führung.
»Okay, packen wir's an.«
Ich stoppte die beiden auf ihrem Weg zur Tür.
»Moment, vorher solltet ihr noch etwas mit euren Gesichtern tun. Ihr seid momentan nicht gerade vorzeigbar. Das Bad ist doch genau gegenüber, richtig?«
»Richtig.«
»Gut, wartet einen Moment.«
Ich steckte den Kopf zur Zimmertür heraus und winkte Tim heran.
»Geh mal bitte vor an die Korridorecke und schau nach, ob die Luft rein ist.«
Tim schaute mich fragend an, tat dann aber worum ich ihn gebeten hatte. Er warf einen Blick um die Ecke und zeigte mir den hochgereckten Daumen. Ich öffnete weit die Zimmertür und schob die zwei verliebten Jungs auf den Korridor.
»Los, macht hin, bevor noch jemand kommt. In fünf Minuten seid ihr wieder hier, dann kümmern wir uns erstmal um die Technik. Das gibt euch noch eine kurze Gnadenfrist.«
Ralph und Christoph verschwanden ins Badezimmer, und ich konnte hören, wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde. Daran hätten die beiden aber auch schon vorher in Ralphs Zimmer denken können!
Ich für meinen Teil wanderte vor zu Tim, der mich mit weitaufgerissenen Augen anstarrte. Ich grinste und zuckte mit den Schultern.
»Hast du das vorher gewußt oder war es für dich auch so eine Überraschung?«
»Ich hatte keine Ahnung. Aber ich finde, sie geben ein niedliches Paar ab, oder?«
»Hm. Auf jeden Fall hatten sie Glück, daß gerade du sie überrascht hast.«
Wir standen noch ein Weilchen an der Ecke und ich erklärte Tim, wie es weitergehen würde, dann hörten wir wieder den Schlüssel und die Badezimmertür ging auf. Die beiden Jungs flitzten über den Gang zurück in Ralphs Zimmer, und ich folgte ihnen, Tim mit mir mitziehend. Als wir im Zimmer eintrafen, saßen Ralph und Chris eng aneinander auf dem Bett, als sie jedoch Tim erblickten, rückten sie sofort ein Stück auseinander. Ich mußte grinsen.
»Bleibt nur so sitzen, Tim ist cool.«
Ralph schaute Tim fragend an.
»Ist er dein … dein Freund?«
»Mein zukünftiger Bruder. Er weiß über mich Bescheid, und nun auch über euch. Also los, wir sollten langsam die Technik in Gang bringen. Das heißt, wenn du sie nach all dem noch zur Verfügung stellen willst.«
»Hab ich eine Wahl?«
»Ja. Sag einfach nein und ich ziehe wieder ab.«
»Das glaube ich dir sogar. Aber das wäre wohl trotzdem keine so gute Idee. Ich kann es mir nicht leisten, all die Leute da unten auf mich wütend zu machen. Fangen wir an.«
Viel gab es nicht zu tun, das größte Problem war, daß wie üblich alle notwendigen Buchsen und Stecker an den unzugänglichsten Orten plaziert waren. Gerade als ich die letzte Verbindung eingestöpselt hatte, klopfte es an die Tür, diese ging auf und Thomas trat ein.
»Katja schickt mich, ich soll fragen wie es um die Musik bestellt ist. Und ich möchte gerne das Mädel sehen, welches dem kleinen Casanova den Kopf verdreht hat.«
Thomas schaute sich im Zimmer um, konnte aber partout kein weibliches Wesen entdecken.
»Was, habt ihr die Kleine etwa schon rausgeschmuggelt? Gute Arbeit, Katja wird ausflippen wenn sie das erfährt.«
Wir vier schauten uns an, Mundwinkel zuckten, dann lachten wir laut los. Sogar die beiden Ertappten fielen mit ein. Thomas hingegen stand völlig verdattert im Zimmer und kam nicht mehr mit.
»Äh, könnte mich mal jemand aufklären?«
»Das wäre doch aber eigentlich ein Job für deine Eltern, meinst du nicht?«
Thomas warf mir einen leicht beleidigten Blick zu. Naja, da wollte ich ihn mal nicht dumm sterben lassen.
»Thomas, das hier neben mir ist Tim. Wir haben ja schon über ihn gesprochen.«
»Ah ja, freut mich. Gute Idee, daß du ihn zur Party mitgebracht hast, da schlägst du ja gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. So, und wer ist das da neben Ralph?«
Katjas Bruder griff nach der Hand von Chris, nahm all seinen Mut zusammen und antwortete Thomas.
»Das ist Christoph. Er ist derjenige, der mir den Kopf verdreht hat.«
Thomas schnappte nach Luft wie ein Karpfen auf dem Trockenen.
»Das … das … das glaube ich einfach nicht. Danny ist seit Jahren auf der Suche nach seinem Traumprinz, und diese beiden kleinen Rotzlöffel hier sind ein Pärchen?«
Sein Gesichtsausdruck verriet, daß er die ganze Sache lustig fand.
»Gratuliere, ihr zwei. Ralph, ich hoffe du bist dir darüber klar, daß wenn die Sache rauskommt die Hälfte der Mädels deiner Klassenstufe in schwerste Depressionen verfallen wird.«
Da mußte ich ihm rechtgeben, sowohl Ralph als auch sein Freund waren wirklich äußerst ansehnlich. Wenn sie nicht doch ein bißchen zu jung für mich wären, würde ich mich jetzt wohl in den Hintern beißen, weil ich nicht früher versucht hatte, mich an Katjas kleinen Bruder ranzumachen. Thomas holte mich mit seiner nächsten Frage in die Realität zurück.
»Und wie soll das hier jetzt weitergehen?«
Gemeinsam erklärten wir ihm, wie wir uns den weiteren Verlauf der Angelegenheit vorstellten. Thomas machte ein ernstes Gesicht und nickte am Ende unserer Erläuterungen zustimmend.
»Danny hat recht, das ist die beste Lösung. Ich denke, ihr braucht keine Angst zu haben, die Leute hier sind alle handverlesen. Wir passen schon seit langer Zeit auf, daß zu unseren Partys nur Leute auftauchen, die kein Problem mit Danny haben. Wär doch blöd, wenn mitten in der schönsten Stimmung so ein intolerantes Arschloch anfängt, einen unserer besten Freunde anzumachen.«
Also das war mir neu. Und ich hatte mich manchmal doch schon ein wenig gewundert, daß immer alles glattgegangen war. Nie hat mich bei solchen Feierlichkeiten jemand schief angeschaut, und diejenigen, die in der Schule blöde Sprüche losließen, waren seltsamerweise nie erschienen. Warum das so war wurde mir jetzt ganz plötzlich klar – und im gleichen Moment wurde mir bewußt, daß ich über noch bessere Freunde verfügte als ich je zu hoffen gewagt hatte.
»Danny, hier sind ein paar CDs, du solltest jetzt wohl lieber die Musik anwerfen, bevor sich wütende Menschenmassen auf den Weg hier hoch machen. Ich werde in der Zwischenzeit Tim herumzeigen und mit allen bekanntmachen.«
Mit diesen Worten drückte Thomas mir eine Tüte voller CDs in die Hand, schnappte sich meinen verdatterten zukünftigen Stiefbruder und zog ihn aus dem Zimmer. Okay, wenn er meint. Ich griff in den Beutel und holte die CDs hervor, eine bunte Mischung, die Hitparaden der letzten Jahre rauf und runter.
»Ralph, das ist deine Anlage, also bestückst du sie auch.«
Er nickte. Beim Zusammenstöpseln der Kabel hatte ich gesehen, daß er über einen 5fach-Wechsler verfügte – einmal bestückt würden wir lange Ruhe (bzw. Musik) haben. Drei Minuten später erklang der erste Titel, und wir beschlossen, uns nun auch in die Höhle des Löwen zu begeben. Bevor wir aber das Zimmer verließen, mußte ich noch etwas loswerden.
»Hört mal, Jungs, ich hoffe ich trete euch jetzt nicht zu nahe, aber … ihr wißt Bescheid über Safer Sex, oder?«
Die Farbe, welche ihre Gesichter jetzt annahmen, hätte einer holländischen Gewächshaustomate alle Ehre gemacht. Ein verschämtes Nicken war ihre Antwort.
»Na dann ist ja gut. Ich wollte nur sichergehen, daß ihr keinen Blödsinn anstellt. Also los, gehen wir runter. Und denkt dran, mischt euch einfach unter die Gäste als ob überhaupt nichts passiert ist.«
»Okay. Und Danny? Danke.«
»War mir ein Vergnügen. Abmarsch!«
Das unsichere Pärchen vor mir herschiebend begab ich mich nach unten, wo so langsam die Feierlichkeiten in Gang kamen. Ich entdeckte unter den Gästen die älteste Schwester von Thomas, die altersmäßig gerade richtig zu meinen beiden Schützlingen paßte. Ich wußte zwar nicht, ob die sich schon kannten, aber das würde sich schon finden. Mit sanftem Druck beförderte ich Ralph und Christoph in die gewünschte Richtung.
»Hallo Caren, hast du Thomas mal wieder überreden können dich mitzubringen?«
»Hi Danny, tja, du weißt ja, daß er mir keine Bitte abschlagen kann. Das ist übrigens Patrick, mein Freund. Patrick, das ist Danny. Er ist derjenige, der die unangenehme Aufgabe hat Thomas aus Schwierigkeiten rauszuhalten.«
Ich mußte grinsen, das stimmte tatsächlich, naja, zumindest war ein kleines Körnchen Wahrheit drin. Thomas hatte manchmal so komische Anwandlungen, beispielsweise hatte er es einmal fertiggebracht, drei Glatzen anzupöbeln, die ihn mehr oder weniger versehentlich angestoßen hatten. Zum Glück war ich dabei um zu vermitteln. Ich sage nur: Karate. Glücklicherweise war das auf einer Klassenfahrt passiert, ansonsten hätte es doch noch unangenehme Folgen haben können. Aber zurück zum aktuellen Geschehen. Ein Junge mit feuerroten Haaren streckte mir seine Rechte entgegen.
»Da hast du sicherlich alle Hände voll zu tun. Zumindest wenn man dem, was Caren über ihren Bruder erzählt, glauben darf.«
»Ganz so schlimm ist es nicht. Übrigens, das hier sind Ralph und Christoph. Ralph ist in der bedauernswerten Lage Katjas Bruder zu sein. Oder kennt ihr euch etwa schon?«
»Ralph habe ich schon mal gesehen, Christoph ist mir neu. Du gehst nicht auf unsere Schule, oder?«
»Nein, ich gehe auf die gleiche wie Patrick. Wir kennen uns schon.«
Die beiden Verliebten waren offenbar in guten Händen, also konnte ich mich langsam absetzen.
»So, amüsiert euch schön, ich dreh mal eine Runde durchs Haus.«
Ich zog von dannen, bemüht, in der dichter werdenden Menge Tim ausfindig zu machen. Ah ja, da war er, am anderen Ende des Wohnzimmers, wo Thomas ihn gerade einer Traube unserer Freunde vorstellte. Tim schien sich ganz wohl zu fühlen, und ich beschloß, ihn noch ein Weilchen der Obhut von Thomas zu überlassen. Langsam merkte ich, wie mein Magen anfing zu knurren, und ich machte mich auf den Weg zur Futterkrippe. Auf halber Strecke wurde ich allerdings von unserer Gastgeberin und ihrem Freund abgefangen. Ich begrüßte Karsten und versuchte, mich sofort wieder zu verdünnisieren, hatte aber meine Rechnung ohne Katja gemacht.
»Hiergeblieben! Wo willst du denn so eilig hin?«
»In die Küche, wenn du nichts dagegen hast. Die Zwangsarbeit, zu der du mich verdonnert hast, hat mich ziemlich hungrig gemacht. Wenn du mich also entschuldigst …«
»Nichts da! Du bist mir erst noch ein paar Antworten schuldig. Also, wer war die Tussi die sich an meinen kleinen Bruder rangemacht hat?«
»Das solltest du ihn lieber selber fragen. Übrigens, wem hast du denn schon alles davon erzählt?«
»Nur Thomas und Karsten. Und Jürgen. Und Lisa.«
»Sonst niemandem?«
»Nein! Aber wieso willst du das wissen?«
Hm, das hörte sich besser an als ich befürchtet hatte. Wenn ich mich beeilte, würde ich alle Genannten rechtzeitig vergattern können – bevor es zu einem großen Knall kam.
»Katja, was jetzt kommt meine ich absolut ernst. Ich möchte, daß es bei den paar Leuten bleibt, verstanden?«
»Na sag mal, seit wann hast du denn so ein Interesse an meinem Bruder?«
»Hast du mich verstanden?«
Katja mußte wohl meinem Blick entnommen haben, daß mir die Angelegenheit wirklich wichtig und todernst war.
»Jaja, schon gut, ich habe verstanden. Versprochen.«
»Gut. Karsten?«
»Ich halt mich da völlig raus. Mir ist egal, was der kleine Herzensbrecher angestellt hat, von mir erfährt keiner was.«
»Sehr schön. So, ich muß weiter.«
Für den Augenblick war mein protestierender Magen vergessen, und ich machte mich auf die Suche nach den von Katja genannten Mitwissern. Bei einem kleinen Rundblick entdeckte ich Lisa, die mit ihrem Freund Mike Getränke verteilte. Ich drängelte mich zu ihnen.
»Hallo Lisa, Mike.«
»Danny, hallo, was können wir dir anbieten?«
»Momentan noch nichts, danke. Mike, kann ich dir mal kurz deine Freundin entführen?«
»Nur zu, ich komme schon alleine klar. Ist ja nicht so, daß ich mir wegen dir Sorgen machen müßte.«
»Sei dir da nicht so sicher, vielleicht habe ich ja gerade meine Bi-Ader entdeckt.«
Ich zog eine verwunderte Lisa in eine etwas ruhigere Ecke.
»Ich habe gehört, Katja hat dir erzählt, daß wir ihren Bruder bei, naja, bei einer Art Schäferstündchen ertappt haben.«
»Ja, hat sie, und ich denke, das hätte sie lieber für sich behalten sollen. Ich wollte es ganz bestimmt nicht wissen, und ich hoffe du hast auch nicht vor, das weiter breitzutreten.«
Schön wenn sich herausstellt, daß man jemanden richtig eingeschätzt hat.
»Keine Bange, ich wollte dich eigentlich gerade überreden, es nicht weiterzuerzählen. Das scheint ja nun nicht notwendig zu sein.«
»Darauf kannst du dich verlassen. Der arme Junge ist mit Katja als Schwester schon schlimm genug bestraft. Aber mal was anderes: Thomas war vorhin bei uns und hat uns deinen zukünftigen Bruder vorgestellt. Gott ist der niedlich! Und so schüchtern. Wie ich dich kenne, hast du dich sofort in ihn verknallt.«
Na prima, jetzt war ich an der Reihe rot zu werden.
»Bin ich so leicht zu durchschauen?«
»Nur für uns die wir dich kennen und lieben. Außerdem kann ich es bei Tim nachvollziehen, verflixt, bei ihm könnte sogar ich schwach werden. Wenn du das jemals Mike erzählst, werde ich steif und fest behaupten, es nie gesagt zu haben!«
»Zu spät, ich habe alles für spätere Erpressungsversuche auf Band aufgenommen. So, ich muß weiter, Schadensbegrenzung betreiben. Hebt mir irgendwas hübsches auf, was hübsches zu trinken, meine ich.«
Ich überließ Lisa wieder sich selbst und warf einen weiteren Rundumblick durch die Massen. Mittlerweile waren sicherlich fünfzig oder mehr Leute anwesend, und ich beschloß, mich diesmal nicht für das Aufräumen nach der Party freiweillig zu melden. Gerade als ich mich auf den Weg in die Küche zu Jürgen machen wollte, zupfte mir jemand von hinten am Arm, ich drehte mich um, und vor mir standen Thomas und Tim. Ersterer sprach mich an.
»So, da hast du deinen Bruder wieder. Ich habe ihn ein wenig rumgezeigt, jetzt möchte ich mich aber langsam mal auf die Suche nach einer Freundin für den Abend machen. Wenn ihr mich also entschuldigt …«
Und er wollte sich davonmachen, ich aber hielt ihn noch kurz auf.
»Thomas, du kannst gleich losziehen, nur noch eins vorneweg. Katja hat nur dir, Karsten, Lisa und Jürgen von dem erzählt was vorhin passiert ist. Ich bin gerade dabei, alle Lippen zu versiegeln, also halt du bitte auch die Klappe, okay?«
»Alles klar, ich schweige wie ein Grab.«
»Gut, zisch ab.«
Weg war er, und ich blieb mit Tim alleine zurück. Dieser machte einen ziemlich vergnügten Eindruck.
»Na, kleiner Bruder, wie gefällt es dir? Bereust du, mitgekommen zu sein?«
»Nein, ehrlich nicht. Die Leute sind nett, die Musik ist gut, und irgendwie merke ich langsam, was mir die letzten zwei, drei Jahre gefehlt hat.«
Na das machte doch schon einen ganz anderen Eindruck als das Häuflein Selbstzweifel, welches ich früher am Tag kennengelernt hatte.
»Sehr schön. Hör zu, ich muß noch eine Person zum Schweigen bringen, günstigerweise trifft es sich, daß diese Person in der Küche arbeitet und ich eh dringend was zu essen brauche. Kommst du mit oder willst du dich weiter unters Volk mischen?«
»Ich komme mit. Erstens habe ich auch Hunger, und zweites möchte ich nicht so ganz alleine rumlaufen. Natürlich nur, wenn ich dir nicht zur Last falle.«
»Keine Bange, tust du nicht. Also los, hier geht's lang.«
Der Weg zur Küche war nicht zu verfehlen, ein Duft von Steaks und Bratwürsten zog mich praktisch an der Nase in die richtige Richtung. Dort angekommen sahen wir Jürgen einen großen Elektrogrill mit lauter guten Sachen bestücken. Dummerweise hielt sich auch noch eine Handvoll anderer Gäste in der Küche auf, die mußte ich erstmal loswerden.
»Guten Abend, Herrschaften. Hygieneinspektion. Wenn bitte alle außer dem Koch die Küche verlassen würden. Hurtig, hurtig!«
Leise murrend verzogen sich die unerwünschten Mithörer – auf solche Kleinigkeiten konnte ich nun wirklich keine Rücksicht nehmen.
Jürgen grinste mich erwartungsvoll an.
»Ich grüße dich, Hüter des Fleischtopfes!«
»Gruß auch dir, o Gebieter des guten Tones!«
Wir waren einmal gemeinsam in einer Schulaufführung als römische Senatoren aufgetreten – eine Sache an die wir uns immer wieder gerne zurückerinnerten.
»Also, Herr Hygieneinspektor, womit kann ich dienen? Und wer ist das da neben dir?«
»Das ist Tim, mein Bruder.«
»Freut mich. Aber weshalb hast du alle rausgeschickt, doch sicher nicht nur um mir Tim vorzustellen und in alten Erinnerungen zu schwelgen?«
»Du hast mich durchschaut. Hör mal, Katja hat dir vorhin etwas über Ralph erzählt …«
»Erinnere mich bloß nicht daran! Diese alte Schwatztante weiß auch nie, wann sie lieber die Klappe halten sollte. Wenn wir alles rumerzählen würden was wir mit ihr erlebt haben – da könnte man ganze Fernsehserien drüber schreiben.«
»Darf ich also davon ausgehen, daß du mit niemandem darüber gesprochen hast und auch mit niemandem darüber sprechen wirst?«
»Absolut. Was Ralph macht ist allein seine Sache, und Katja ist die allerletzte die hier einen auf Moralapostel machen sollte.«
»Sehr gut. Nachdem nun die geschäftlichen Dinge geklärt wären: was kannst du uns Schönes zu essen anbieten?«
Jürgen hatte keine halben Sachen gemacht und wieder einmal den elterlichen Metzgerladen leergeräumt. (Übrigens: den Beruf seiner Eltern sah man Jürgen recht deutlich an, aber er war eine Seele von Mensch und ging über die immer wieder mal aufkommenden Sticheleien seine Körperform betreffend mit grenzenloser Großmut hinweg. Als Freund gehörte er zu den seltenen Exemplaren, auf die man sich hundertzehnprozentig verlassen konnte.) Drei Minuten später saßen Tim und ich am Küchentisch und machten uns über zwei mit Fleisch und Wurst gut gefüllte Teller her.
»Herr Inspektor, darf ich jetzt die anderen Kunden wieder hereinlassen?«
»Es sei dir gestattet.«
Der Rest der Party verlief in den üblichen Bahnen: viel Musik, Tanz, mehr oder weniger sinnvolle Gespräche, gutes Essen, mehr oder weniger gehaltvolle Getränke. Mit Ausnahme von zwei Glas Bier hielt ich mich an alkoholfreien Getränken fest, und auch Tim lebte diesbezüglich sehr solide. Meine Absicht, nach hübschen Jungs Ausschau zu halten, war durch die Ereignisse des Abends ziemlich in den Hintergrund getreten, die richtige Lust dazu hatte ich eh nicht mehr. Die Party war in handfeste Arbeit ausgeartet.
Irgendwann in der Mitte der Feierlichkeiten zog mich Katja in eine kleine Abstellkammer. Ich hatte das dumpfe Gefühl genau zu wissen, was jetzt kommen würde.
»Danny, verdammt, das hättest du mir sagen müssen!«
»Was?«
»Das mit Ralph und seinem … seinem Freund! Wie steh ich denn jetzt da!«
»Wie meinst du das, wie sollst du jetzt dastehen? Ist das so schlimm, daß dein Bruder auf Jungs steht? Überraschung: ich auch! Das hat dich doch bisher nicht gestört.«
»Mich stört ja auch nicht, daß Ralph schwul ist. Naja, nicht sonderlich. Aber dieser Christoph sollte eigentlich bei ihm übernachten, und jetzt muß ich zusehen, wie ich die Sache hinbiege. Du hast nicht zufällig die Telefonnummer seiner Eltern?«
»Man, Katja, ich habe ihn auch erst vorhin kennengelernt! Und wofür brauchst du die Nummer überhaupt?«
»Na hör mal, ich muß dort anrufen, daß sie ihn abholen kommen! Hier kann er auf keinen Fall übernachten!«
»Blödsinn. Als du fünfzehn warst, haben bei dir auch schon Freunde übernachtet, mit Wissen und Billigung deiner Eltern.«
»Das war aber auch was anderes!«
»So? War es das? Also ich kann da keinen Unterschied sehen. Es ist sogar völlig legal.«
»Und was ist mit unseren Eltern? Wie soll ich denen das erklären?«
»Du mußt denen gar nichts erklären, wenn überhaupt dann ist das etwas, was Ralph tun muß. Solange du dich nicht verplapperst hat dein Bruder einfach einen Freund zu Besuch, und das ist ja nun wirklich nicht das erste Mal. Wenn die beiden bereit sind werden sie von ganz alleine mit euren Eltern reden.«
»Und ich soll einfach gute Miene zum bösen Spiel machen?«
»Also erstens sehe ich kein böses Spiel, und zweitens: wie oft mußte Ralph mit ansehen, wie deine Eroberungen plötzlich mit am Frühstückstisch saßen?«
»Gut, gut! Wie du meinst! Aber ich weise jede Verantwortung von mir. Wenn hiervon was rauskommt und meine Eltern Terror machen, werde ich ihnen sagen, daß alles deine Schuld ist! Und jetzt muß ich mich wieder um meine Gäste kümmern!«
Huh, die war ja wirklich auf hundertachtzig. Egal, ich würde mir von ihrer miesen Laune nicht den Abend verderben lassen.
Gegen Mitternacht begann der allgemeine Aufbruch, und eine halbe Stunde später waren nur noch die Freiwilligen des Aufräumkommandos anwesend. Die Eltern von Katja und Ralph erlaubten zwar großzügigerweise ab und an solche Partys, verlangten aber, daß bei ihrem Eintreffen – und das würde so gegen zwei Uhr sein – Ruhe eingekehrt und die schlimmste Unordnung beseitigt war. Lisa, Mike und Jürgen kümmerten sich um Küche und Geschirr, Thomas, der sich die zweite Hälfte des Abends mit einem Mädel aus unserer Parallelklasse amüsiert hatte, kämpfte mit dem Staubsauger, einige andere rückten Möbel. Tim und ich bauten die Funkempfänger ab, Ralph und Christoph hingegen waren nirgends zu sehen.
Der erste Beutel war gefüllt, es fehlte nur noch der Sender aus Ralphs Zimmer. Ich wanderte nach oben, und eingedenk der Erlebnisse am Nachmittag klopfte ich diesmal leise an die Zimmertür. Keine Antwort. Ich klopfte etwas lauter – wieder ohne Resultat. Also drückte ich die Türklinke runter, halb erwartend, daß abgeschlossen wäre, aber nein, die Tür ging auf. Die beiden Vermißten lagen in voller Montur friedlich schlummernd und aneinandergekuschelt auf dem Bett. Ein niedlicher Anblick. Ich beschloß, auf den Abbau des Senders zu verzichten, das hätte zuviel Radau gemacht und die beiden mit Sicherheit geweckt. Anstelle dessen schaltete ich nur die HiFi-Anlage aus und schaute dann wieder amüsiert auf die beiden Jungs. Obwohl ich sie nicht stören wollte beschloß ich, ihnen zumindest vorsichtig die Schuhe auszuziehen. Als das erledigt war, nahm ich die am Boden liegende Bettdecke und breitete sie über die beiden aus. Zum Abschluß strich ich Ralph und Chris kurz über die Haare, flüsterte »Schlaft gut« und schlich mich dann aus dem Zimmer. An der Tür erwartete mich Tim, ich legte grinsend den Zeigefinger auf meine Lippen und zog leise die Zimmertür hinter mir zu.
»So, ich denke wir sollten langsam nach Hause aufbrechen. Den Sender hole ich mir morgen zurück.«
Tim schaute mich mit leicht schiefgelegtem Kopf durchdringend an.
»Danny?«
»Ja?«
»Ich glaube du bist der beste große Bruder den ich mir wünschen könnte.«
Wäre das hier eine echte Liebesschnulze würde ich jetzt gerührt in Tränen ausbrechen. Ähem, um ehrlich zu sein, ich stand auch wirklich kurz davor. Es gelang mir aber gerade noch, all das runterzuschlucken und Tim mit einer großzügigen Geste den Weg zur Treppe zu weisen. Unten verabschiedeten wir uns von den noch Anwesenden, ich schärfte Katja ein, die Jungs oben in Frieden zu lassen, dann zogen wir uns an und wanderten durch die dunkle, eiskalte Nacht in Richtung Heimat.
Was waren wir beide froh, als wir den rettenden Eingang des gut geheizten Hauses erreicht hatten! Wer hatte diese Saukälte bestellt? Zehn Minuten nach eins schloß ich die Haustür von innen ab, und wir schälten uns aus unseren Jacken, Schals, Handschuhen usw. Tim starrte den Beutel mit der Technik an.
»Müssen wir das jetzt noch wieder aufbauen?«
»Nö, der Sender fehlt eh noch, und wer weiß, wann meine Mutter wieder hier auftaucht.«
»Gott sei Dank.«
»Ich nehme an, du willst gleich ins Bett?«
»Um ehrlich zu sein, würde ich lieber schnell noch mal unter die Dusche springen. Meine Klamotten und meine Haare stinken nach Zigarettenqualm, und ziemlich geschwitzt habe ich auch.«
Tim hatte einige Male mit verschiedenen Mädchen getanzt, und tatsächlich war unheimlich viel geraucht worden, wie ich bei einem kurzen Schnüffeltest an meinem Fleeceshirt feststellen konnte.
»Stimmt. Das ist wirklich eine gute Idee. Diesmal kannst du anfangen, nicht daß du wieder ewig auf mich warten mußt.«
Wir wanderten die Treppe nach oben, Tim verschwand im Badezimmer, und nach kurzer Zeit hörte ich das Wasser rauschen. Ich ging zu meinem Kleiderschrank und suchte mir einen ordentlich warmen Schlafanzug heraus. Im gleichen Moment klingelte das Telefon.
»Thom.«
»Hallo Danny, ich bins, Mutti.«
Als ob ich sie nicht an der Stimme erkannt hätte.
»Hallo Mutsch. Na, wie war euer Abend ohne uns Plagegeister?«
»Ich hätte jetzt beinahe ›langweilig‹ gesagt, aber das stimmt natürlich nicht. Wir hatten wirklich ein paar schöne Stunden. Ihr hoffentlich auch? Ist alles gutgegangen?«
»Aber sicher. Tim hat es anscheinend auch gefallen, und er hat ein paar neue Freunde gefunden.«
»Da wird Reinhardt aber erleichtert sein. Moment, er steht gerade neben mir. Er würde gerne mal mit Tim sprechen, kannst du ihm mal das Telefon geben?«
»Tut mir leid, der ist gerade unter der Dusche. Kann ich was ausrichten?«
»Ach nein, muß nicht sein. Er wollte wohl nur von ihm selbst hören, wie es ihm ergangen ist.«
»Sag ihm, er soll sich keine Sorgen machen. So, wie sieht es aus, wann sollen wir euch morgen erwarten? Habt ihr noch was besonderes vor?«
»Wie ich dich kenne willst du bestimmt ausschlafen, und Reinhardt sagt, daß Tim einem verschlafenen Vormittag auch nicht abgeneigt ist, also dachten wir uns, wir holen euch so gegen halb zwölf ab und fahren gemeinsam irgendwohin Mittagessen. Einverstanden?«
»Klar.«
Just in diesem Augenblick ging die Badezimmertür auf, und Tim kam nur mit einem Handtuch bekleidet ins Zimmer.
»Mutti, warte mal. Ist Reinhardt noch in der Nähe?«
»Ja, wieso?«
»Tim ist gerade raus aus dem Bad, ich geb ihm mal das Telefon.«
Ich drückte Tim den Hörer in die Hand, schnappte mir meinen Schlafanzug und verzog mich ins Bad, sodaß ich nicht mehr mitbekam, was Tim mit seinem Vater besprach. Als ich zehn Minuten später bettfertig das Bad verließ, lag Tim bereits in den Federn.
»Na, alles klar mit deinem alten Herren?«
»Ja, alles in Ordnung. Er hat sich für den schönen Abend bedankt. Vielmehr dafür, daß er ihn mit Maria alleine verbringen durfte.«
»Vielleicht sollten wir getrennte Wohnungen nehmen, wir zwei hier, die beiden bei euch.«
»Ach nee. So mal vorübergehend ist es zwar schön ganz alleine, aber auf die Dauer würde mir Paps sicher fehlen.«
»Geht mir mit Mutti genauso. Hat er dir die Pläne für morgen …«, ich schaute auf die Uhr, »wollte sagen für heute erklärt?«
»Hat er. Also können wir ein wenig ausschlafen.«
»Du ja, ich muß vorher noch was erledigen.«
»Was denn?«
»Ich muß doch noch den Sender bei Katja abholen. Ich werde es so einrichten, daß ich so gegen halb, um elf bei ihr auf der Matte stehe. Da habe ich genügend Zeit zum Abbauen und bin immer noch rechtzeitig wieder hier.«
»Hast du was dagegen wenn ich mitkomme?«
»Ganz und gar nicht. Aber dann müssen wir so halb zehn rum aufstehen, um vorher noch ein schnelles Frühstück zu schaffen.«
»Kein Problem. Stellst du dir einen Wecker?«
»Bin gerade dabei.«
Als das erledigt war, griff ich zum Lichtschalter, knipste die Beleuchtung aus und ging dann vorsichtig zu meinem Bett. Auf dem Weg dorthin machte ich am Fenster Station.
»Stört es dich, wenn ich das Fenster leicht ankippe? Ich kann bei frischer Luft besser schlafen. Wenn es zu kalt wird können wir es jederzeit wieder zumachen.«
»Kein Problem, ich kann bei geschlossenem Fenster auch nicht schlafen. Ich finde es immer schrecklich, wenn ich es bei Sturm oder starkem Regen nicht aufmachen kann.«
Da lag er ja ganz auf meiner Linie. Als ich an meinem Bett angekommen war, ließ ich mich gemütlich nieder, streckte mich aus und kuschelte mich in die warmen Federbetten.
»Gute Nacht, Tim.«
»Gute Nacht, Danny. Und danke, daß du mich überredet hast mitzukommen.«
»War mir ein Vergnügen. Also schlaf gut und schnell.«
»Ich find' dich scheiße!«
Hilfe! Was für ein schreckliches Geräusch! Nach einer kurzen, für jemanden der gerade aus dem schönsten Tiefschlaf aufgeschreckt wurde wohl nicht sehr verwunderlichen Phase der Desorientierung, machte ich meinen Radiowecker als Quell allen Übels aus. Wenn ich etwas zu sagen hätte, dann würde der Radioredakteur, der dieses olle Tic-Tac-Toe-Stück wieder hervorgekramt hatte, in diesem Moment seinen Job verlieren.
Mit einem gut gezielten Schlag brachte ich die Lärmquelle zum Verstummen. Ein Blick zum anderen Bett zeigte, daß Tim ähnlich wie ich reagiert hatte und mit verschlafenen Augen aufrecht im Bett saß.
»Mußte das sein, Danny?«
»Entschuldige. Das nächste Mal werde ich Kopfhörer anstöpseln und damit schlafen.«
»He, war doch nicht so gemeint!«
»Weiß ich doch. Wie sieht's aus, willst du zuerst durchs Bad?«
»Du willst nur, daß ich als erster aus den warmen Federn muß und das Fenster zumache!«
»Genau! Außerdem kannst du dabei gleich die Heizung aufdrehen. Wozu hat man schließlich einen kleinen Bruder.«
Tim ergab sich in sein Schicksal, schubste seine Decke von sich, setzte sich auf den Bettrand und schlüpfte in seine Hausschuhe.
»Argh! Die sind ja eiskalt!«
»Jetzt weißt du auch, warum ich mit Socken schlafe.«
»Danke daß du mich rechtzeitig informiert hast.«
»Keine Ursache.«
Er zog jetzt auch seine Socken an, stand auf, schloß das Fenster, drehte die Heizung auf, griff sich seine Wäsche und verzog sich ins Bad – erfreut feststellend, daß dieses bereits angenehm geheizt war. Ich für meinen Teil legte mich wieder zurück und ließ noch einmal die Ereignisse des letzten Tages Revue passieren. Es war mit Sicherheit einer der interessantesten Tage meines bisherigen Lebens gewesen. Am Wichtigsten dabei war natürlich Tim, auch wenn ich diesbezüglich in einem ziemlichen Dilemma steckte. Einerseits genoß ich meine Rolle als großer Bruder und ging (wohl nicht zu unrecht) davon aus, daß wir beide ganz schnell dicke Freunde werden würden – wenn wir es nicht gar schon waren. Andererseits war da natürlich auch noch meine andere Seite, diejenige, die sich nach noch etwas mehr und anderer Zuwendung sehnte. Meine Oma hatte immer gesagt »Zu jedem Topf gibt es einen passenden Deckel«, aber sosehr ich auch bisher gesucht hatte, meiner war mir bis jetzt nicht untergekommen. Und nun spülte mir das Schicksal plötzlich jemanden vor die Füße, der direkt aus meinem imaginären Traumboy-Katalog entsprungen sein könnte – und es ist ausgerechnet mein zukünftiger kleiner Bruder! Die schwer zu deutenden Signale von Tim in dieser Beziehung halfen mir auch nicht dabei, Ordnung in meine Gefühle zu bringen.
Dann war da natürlich die Entdeckung von Ralph und Christoph. Mir war zwar immer schon klargewesen, daß es schon alleine rein statistisch gesehen in meiner Umgebung noch andere Jungs geben mußte, die wie ich fühlten, daß diese aber so nahe waren und ich sie auch noch höchstpersönlich entdecken durfte hatte ich nie gedacht. Das Dumme ist, daß ich – je mehr ich über die beiden nachdachte – doch ein wenig eifersüchtig auf ihr gemeinsames Glück wurde. Verflixt, wäre ich nicht erstmal drangewesen? Schließlich hatte ich mit meinen zwei Jahren Altersvorsprung die »älteren Rechte«.
Tims Wiederauftauchen im Zimmer schreckte mich aus meinen Grübeleien. Er stand da in seiner blauen Thermo-Unterwäsche und hielt die Sachen, die er zur Party getragen hatte, weit von sich gestreckt.
»Das Zeug stinkt immer noch nach Qualm.«
»Schmeiß die Sachen in die Wäschebox im Bad, meine Mutter wird sie mitwaschen.«
»Meinst du? Ich kann sie doch auch mit nach Hause nehmen.«
»Dann stinkt deine Tasche hinterher auch.«
»Stimmt. Danke.«
Tim schleuderte die genannten Sachen zu meiner dreckigen Wäsche.
»Das wärs, das Bad gehört ganz dir.«
Es war soweit. Jetzt halfen keine Ausreden mehr, ich mußte mein schönes, warmes Bett verlassen. Zum Glück war das Zimmer mittlerweile einigermaßen angewärmt. Also schlenkerte ich meine Füße über die Bettkante, stand auf und marschierte mit mehr Schwung als ich mir nach der letzten Nacht zugetraut hätte ins Badezimmer. Nach einer Viertelstunde hatte ich alles erledigt, mich teilweise angezogen und begab mich zurück ins Zimmer, wo Tim noch im gleichen Aufzug wie zuvor auf seinem Bett saß und in einem meiner Bücher schmökerte.
»Ich dachte mir, ich ziehe mich noch nicht vollständig an, wir wollen doch sicher erst noch frühstücken bevor wir losmüssen, oder?«
»Richtig gedacht. Ich laufe im Winter praktisch immer so im Haus rum. Ist praktischer als die ständige Umzieherei. Also los, schaun wir mal, womit wir unsere Mägen füllen können.«
In der Küche angelangt, entschieden wir uns für aufgebackene Baguettes. Während ich den Ofen anwarf und bestückte, manövrierte ich Tim verbal durch die Tiefen unserer Küchenschränke, damit er den Tisch decken konnte. Anschließend ging ich zum Kühlschrank und inspizierte die Marmeladenvorräte.
»Tim, was möchtest du? Erdbeerkonfitüre, Pflaumenmus oder Nutella?«
»Nutella.«
»Ein Schoko-Kind. Süß.«
»Davon muß es hier noch eins geben, ansonsten hättet ihr wohl das Zeug nicht da, oder?«
Ups, da hatte ich mich selbst verraten. Ganz schnell auf ein anderes Thema umschwenken.
»Was willst du trinken? Kaffee, Tee, Kakao?«
»Kakao, wenn es nicht zuviel Arbeit macht. Kaffee kann ich nicht ausstehen.«
Wieder eine Gemeinsamkeit. Normalerweise griff ich zu Tee, aber ich beschloß, keinen großen Aufriß zu machen und mich einfach Tims Wahl anzuschließen.
»Also Kakao. Kein Problem.«
Ein paar Minuten später saßen wir uns kauend gegenüber, und ich erkannte alsbald, daß eine der schlimmsten Befürchtungen meiner Mutter eintreffen würde. Sie würde einen weiteren Esser von meinem Kaliber ins Haus bekommen. Ich aß ja schon viel, aber Tim inhalierte sein Frühstück geradezu. Langsam bekam ich Angst, mich mit der vorbereiteten Menge vertan zu haben.
»Äh, Tim, soll ich dir noch Baguettes in den Ofen werfen?«
Er unterbrach kurz sein Kauen, warf einen schnellen Blick über die noch verfügbaren Vorräte und schüttelte dann seinen Kopf. Puh, Schwein gehabt. Ich machte mir eine geistige Notiz, ihn zukünftig vorher zu fragen wieviel er zu verspeisen gedachte.
Ich lehnte mich gemütlich zurück und beobachtete Tim dabei, wie er den Baguettes in einem Zug ein großes Glas heißen Kakao folgen ließ. Als er es absetzte und mich satt und zufrieden anschaute, zuckten meine Mundwinkel unwillkürlich nach oben.
»Was ist?«
»Dort drüben hängt ein Spiegel. Schau selbst.«
Tim stand auf, ging zum Spiegel, schaute hinein und leckte sich sodann den Kakaobart von der Oberlippe.
»Genau diese Tropfen hatte ich bereits vermißt.«
So, das wars, jetzt mußte ich laut losprusten. Lachend beseitigten wir dann die Spuren unseres Frühstücks, anschließend gingen wir wieder nach oben und zogen uns an. Das Thermometer zeigte 6 Grad unter null, und am Himmel hingen dicke Schneewolken. Tim packte schnell noch seine Tasche, sodaß er sie später nur noch greifen brauchte, dann machten wir uns auf den Weg zu Katja. Der Weg dorthin verlief ereignislos, wenn man mal davon absah, daß Tim auf einer schneebedeckten, vereisten Pfütze ausrutschte, sich auf der Suche nach Halt an mir festklammerte und auf diese Weise uns beide zu Fall brachte. Fluchend und unsere Knochen wieder an die richtigen Stellen rückend erhoben wir uns, dabei jede Menge Schnee von unseren Sachen abklopfend.
»Hör mal, ich denke du hast die Sache mit dem in-jede-Pfütze-hüpfen aufgegeben?«
»Entschuldige, das liegt mir halt im Blut. Aber zumindest war das Wasser im festen Zustand, also dürfte es dich nicht allzusehr geängstigt haben. Keine Gefahr darin zu ertrinken. Ist doch schon ein Fortschritt, oder?«
Ah ja. Wie war das eigentlich, darf ein großer Bruder seinen vorlauten, kleinen Bruder übers Knie legen? Andererseits war ich froh, daß er einen Teil seiner Zurückhaltung und Schüchternheit aufgegeben hatte.
Mit deutlich geschärften Sinnen schafften wir es, den Rest des Weges ohne weitere Un- und Zwischenfälle zurückzulegen. Ich klingelte an der Tür, und kurz darauf wurde uns von einer großgewachsenen, blonden Frau geöffnet.
»Danny, sehr schön, wir hatten gehofft, daß wir dich heute zu sehen bekommen. Und das ist wohl dein Bruder, von dem haben wir auch schon gehört.«
»Guten Morgen, Frau Maurer. Stimmt, das ist Tim. Wir sind hier, um den Rest meiner Technik abzuholen. Ich bin da letzte Nacht nicht mehr dazugekommen.«
»Kein Problem. Kommt rein.«
Wir betraten das Haus und zogen die Schuhe aus.
»Habt ihr es sehr eilig, oder habt ihr ein paar Minuten Zeit? Wir würden gerne etwas mit euch besprechen.«
Ich schaute auf die Uhr, wir lagen gut in der Zeit.
»Kein Problem. Wenn es nicht zu lange dauert.«
»Ganz bestimmt nicht. Kommt mit ins Wohnzimmer.«
Wir folgten ihr in die genannte Räumlichkeit, dort saß bereits ihr Mann, und nach einer allgemeinen Begrüßung komplimentierten sie uns in zwei Sessel. Kurzes gegenseitiges Anschweigen, dann ergriff Frau Maurer wieder das Wort.
»Danny, hast du eine Vorstellung, was wir heute nacht vorgefunden haben, als wir kurz bei Ralph ins Zimmer schauten ob alles in Ordnung ist?«
Oh weh, ich hatte tatsächlich eine ziemlich genaue Vorstellung. Die Maurers erkannten den Ausdruck des Erschreckens auf meinem Gesicht sofort, und die ihrigen verzogen sich zu einem Lächeln.
»Du weißt also, wovon ich rede. Hör zu, wir haben dich nur hier reingebeten, um uns bei dir zu bedanken. Die Jungs haben uns vorhin erzählt, was du für sie getan hast, und auch Katja hat ein wenig empört berichtet, wie du ihr die Verantwortung abgeknöpft hast.«
»Sie haben also kein Problem damit?«
»Aber nicht doch!« Die Lachfältchen im Gesicht von Herrn Maurer traten in Aktion. »Wir hatten schon seit ein paar Tagen so eine Ahnung. Wir sind mit dem Auto am Kino vorbeigefahren, und nun ratet mal, wer da händchenhaltend in der Kassenschlange stand. Ganz auffällig-unauffällig natürlich. Allerdings wollten wir den beiden die Zeit und die Gelegenheit geben, sich selbst zu entscheiden, wann sie uns etwas sagen wollen.«
»Also haben Sie sie heute auch nicht auf das etwas ungewöhnliche Schlafarrangement von letzter Nacht angesprochen?«
»Nein, wirklich nicht. Nachdem wir gesehen hatten, wie sich die beiden aneinanderklammerten, haben wir sofort beschlossen, kein Wort darüber zu verlieren. Naja, und heute beim Frühstück sind sie von selber damit rausgerückt.«
Ich war erleichtert. Es machte ganz den Eindruck, als ob Ralph und Christoph betreffend alles auf dem Wege zu einem Happy-End war.
»Übrigens, die beiden konnten sich nicht erinnern, sich die Schuhe ausgezogen oder sich zugedeckt zu haben. Hast du eine Ahnung, wer da eingegriffen hat?«
Ich lächelte Ralphs Eltern an und fragte mich gleichzeitig, wie unter deren Obhut so eine Zicke wie Katja hatte heranwachsen können.
»Als ich den Sender holen wollte, fand ich in etwa das gleiche Bild vor wie Sie heute nacht. Das sah so friedlich aus, daß ich es nicht übers Herz brachte, die beiden zu stören, also habe ich nur das getan, wo ich mir sicher war sie nicht damit zu wecken, und dann habe ich mich leise verzogen.«
»Das war wirklich nett von dir, wir denken, du hast den Jungs extrem geholfen. Wir sind dermaßen froh, daß du über die beiden gestolpert bist und nicht Katja. Die ist manchmal ein wenig … naja, sie ist nicht besonders sensibel.«
Nicht besonders sensibel! Diese Beschreibung qualifizierte sich problemlos für die Auszeichnung zur Untertreibung des Jahrhunderts. Schon ihren Namen und das Wort »sensibel« im gleichen Satz zu verwenden, widersprach aufs Gröbste den Regeln der neuen Rechtschreibung.
»Also wie gesagt, wir wollten uns bei dir bedanken. Äh, ich hoffe ich trete dir jetzt nicht zu nahe, aber mich würde wirklich interessieren ob Du … naja, ob du auch schon einen Freund gefunden hast. Der müßte sich dann sehr glücklich schätzen.«
»Tja, ich bin noch solo. Sie haben nicht zufällig noch einen Sohn in Katjas Alter und mit Ralphs Aussehen und Charakter?«
Die beiden lachten, und Frau Maurer schüttelte bedauernd ihren Kopf.
»Tut uns wirklich leid, haben wir nicht. Ansonsten wärst du uns als Schwiegersohn sehr willkommen.«
»Schade. Aber ist halt nicht zu ändern.« Ich schaute auf meine Uhr. »Jetzt sollten Tim und ich uns aber doch langsam um die Technik kümmern, unsere Eltern holen uns halb zwölf zum gemeinsamen Mittagessen ab.«
»Oh, geht nur, wir wollen euch nicht unnötig aufhalten. Aber … äh … klopft vielleicht lieber an wenn ihr oben seid.«
Diese Lektion hatte ich gelernt. Wir erhoben uns, und kurz darauf standen wir vor der berühmten Zimmertür. Ich klopfte, und wir wurden sofort zum Eintreten aufgefordert. Ralph und Christoph saßen auf dem Bett und hielten die Controller einer Playstation in ihren Händen. Das Spiel hatten sie bei meinem Anklopfen unterbrochen, und jetzt schauten sie uns aus großen Augen an und wurden schon wieder ein wenig rot. Dann brach auf ihren Gesichtern ein verschmitztes Lächeln durch.
»Na ihr zwei, gut geschlafen?«
Das konnte ich mir jetzt einfach nicht verkneifen.
»Ja.«
Oh, sie antworteten sogar schon in Stereo! Hach muß Liebe schön sein!
»Danny, wir müssen uns …«
»Stop! Kein weiteres Wort mehr! Meine Aufnahmefähigkeit für Dankesbezeugungen ist ziemlich erschöpft.«
»Wer sagt dir, daß wir uns bedanken wollten?«
Das war Chris, diesmal ganz alleine. Und Ralph fühlte sich genötigt fortzufahren.
»Wir wollten uns eigentlich beschweren, daß du letzte Nacht einfach die Musik ausgeschaltet hast. Leisedrehen hätte völlig ausgereicht.«
»Undank ist der Welten Lohn. Soll nicht wieder vorkommen. So, während ich den Sender abbaue könnt ihr Tim mal euer Spielzeug zeigen.« Ob der sich dafür interessierte wußte ich zwar nicht, aber ich hatte plötzlich nicht mehr die richtige Kraft, mich weiterhin mit diesem zufriedenen, glücklichen Pärchen zu unterhalten. Das erinnerte mich zu sehr daran, was mir selbst fehlte.
Fünf Minuten später war alles sicher in der mitgebrachten Tasche verstaut, wir verabschiedeten uns von den beiden Jungverliebten, wanderten nach unten, meldeten uns bei Ralphs Eltern ab und waren kurz darauf bereits wieder in meiner Behausung. Die nächste Viertelstunde nutzten wir, um die Technik wieder dort zu installieren wo sie hingehörte, und kaum waren wir damit fertig, da hupte es schon draußen vor der Haustür. Wir schlüpften in Schuhe und Jacken, verließen und verschlossen das Haus und stiegen in den wartenden Chrysler von Tims Vater.
Die Wiedersehensfreunde zwischen Reinhardt und seinem Sohn war gewaltig, die zwischen meiner Mutter und mir … nun, auf jeden Fall war sie vorhanden. Die beiden »Alten« quetschten uns natürlich sofort über den vergangenen Abend aus (als wahre Gentlemen ließen wir natürlich das Thema Ralph und Christoph außen vor) und waren sehr erfreut zu erfahren, daß wir uns tatsächlich gut »zusammengerauft« hatten. Man konnte beinahe hören, wie in ihren Gehirnen ein Relais klickte und die Aktion »Umschalten auf nächste Familienzusammenführungs-Stufe« auslöste. Kaum im Restaurant angekommen (übrigens wieder ein Italiener, irgendwie schienen es die Bergners damit zu haben – nicht daß ich mich beschweren würde), fing meine Mutter an, die Pläne für das weitere Zusammenwachsen der Familien vor Tim und mir auszubreiten.
»Jungs, wir haben uns gedacht, daß es doch ganz nett wäre, wenn wir alle zusammen über Weihnachten und Neujahr irgendwohin verreisen würden. So als richtige Familie.«
Tim sprang sofort darauf an.
»Klasse. In die Alpen, zum Skifahren!«
Ich sackte in meinem Stuhl zusammen und machte ein gequältes Gesicht. Eigentlich war es mir hier schon kalt genug. Und diesen tückischen, glatten Holzbrettern konnte ich nun wirklich nichts abgewinnen. Ich sah mich im Geiste schon mit gebrochenen Beinen die Feiertage im Krankenhaus verbringen. Reinhardt schien meine Skepsis bemerkt zu haben.
»Mal sehen. Wir lassen uns was einfallen was uns allen gefällt. Ich habe da schon eine Idee.« Seine Worte wurden von einem geheimnisvollen Lächeln begleitet.
Damit war das Thema beendet, und bald stand das Essen auf dem Tisch. Meine Mutter hatte ja nun zum ersten Mal das Vergnügen, Tim bei einem normalen, nicht durch Wettkämpfe diktierten Essen zu beobachten. Während Tim nun eine wagenradgroße Pizza ihrer Bestimmung zuführte, wurde das Gesicht meiner Mutter lang und länger. Sie warf einen zweifelnden Blick erst auf Tims Teller, dann auf ihre übliche Salatschüssel, und schüttelte anschließend resigniert den Kopf.
»Sag mal, Reinhardt, wie kommt es, daß die Jungs essen können soviel sie wollen, ohne daß man es ihnen ansieht! Ich zähle jede einzelne Kalorie und nehme trotzdem nicht ab. Tim, wo ißt du das alles hin?«
Diese Frage hatte sie mir auch schon oft genug gestellt, und von meinem Brüderchen bekam sie jetzt eine Antwort, die sie auch schon von mir gehört hatte.
»Keine Ahnung. Hohle Beine?«
Falls er solche hatte, so wurden diese jetzt in einer gewaltigen Geschwindigkeit gefüllt, und bevor meine Mutter auch nur die Hälfte ihres Salates verzehrt hatte, war Tims Teller leer. Meiner übrigens auch. Alles in allem saßen hier vier ziemlich zufriedene Leute am Tisch.
Während des Essens unterhielten wir uns noch darüber, was man mit dem angerissenen Tag so anfangen könnte, leider wurden die Pläne (welche von Weihnachtsmarkt bis Sauna reichten) von einer heftigen Kopfschmerzattacke meinerseits zunichte gemacht. Es hatte mich wie aus heiterem Himmel erwischt, und ich hatte noch nicht einmal von dem Glas Wein, welches unsere alten Herrschaften Tim und mir zur Feier des Tages spendiert hatten, genippt. Mein schmerzverzerrtes Gesicht fiel natürlich zuerst meiner Mutter auf.
»Danny, was ist, du siehst plötzlich so blaß aus.«
»Nichts schlimmes, ich hab bloß auf einmal mörderische Kopfschmerzen.«
Meine Mutter schaltete sofort auf ihren »Mein-armer-Junge-Modus«, und zehn Minuten später saßen wir im Auto Richtung Heimat. Bis wir dort waren, hatte ich das Gefühl, als ob eine Hundertschaft Zwerge in meinem Schädel Bowling spielte. Und die Brüder trafen immer in die Vollen! Ich war wirklich überrascht, denn ich konnte mir das nicht erklären. Einen Kater hatte ich definitiv nicht, und auch ansonsten waren mir Kopfschmerzen eigentlich ziemlich unbekannt. Meine Mutter jedenfalls verfrachtete mich zu Hause sofort ins Bett, verpaßte mir zwei Schmerztabletten und wollte dann Reinhardt und Tim wegschicken.
»Tut mir leid, aber ihr seht ja, ich muß mich um Danny kümmern.«
Das konnte ich nun wirklich nicht zulassen. Es reichte, daß ich außer Gefecht gesetzt war, da brauchten die anderen drei nicht auch noch drunter zu leiden. Ich schaffte es, meine Mutter zu überzeugen, daß ihre Anwesenheit nicht erforderlich war und ich auch ganz gut alleine leiden konnte. Nachdem sie ein halbes dutzendmal nachgefragt hatte, ob sie mich wirklich alleine lassen konnte, zog Reinhardt sie am Arm aus meinem Zimmer. Alle drei wünschten mir gute Besserung und machten sich dann auf den Weg zum Weihnachtsmarkt. Ich legte mich im Bett zurück und versuchte, eine Position für meinen Kopf zu finden, in welcher die Schmerzen einigermaßen erträglich waren.
Anscheinend hatten die Tabletten tatsächlich gewirkt, denn irgendwann war ich eingeschlafen, und als ich erwachte, war es draußen vor dem Fenster bereits dunkel. Die Kopfschmerzen waren weg und hatten einem dumpfen Gefühl Platz gemacht, welches zwar auch nicht angenehm, aber wesentlich leichter zu ertragen war. Vorsichtig richtete ich mich auf, und als ich keine allzu negativen Reaktionen meines Körpers verspürte, beschloß ich nachzuschauen, ob ich noch das Haus für mich alleine hatte.
Hatte ich natürlich nicht. Es war bereits kurz vor sieben, und meine Mutter war längst zurück und werkelte in der Küche herum – extra leise, um mich nicht zu stören. Ich ging zum Küchentisch und ließ mich mit einem Seufzer auf einen Stuhl nieder.
»Danny, da bist du ja. Wie geht es dir, sind die Schmerzen weg?«
»Schon wieder ganz gut. Es tut zumindest nicht mehr weh.«
»Hast du eine Ahnung, was dich da erwischt hat? Hast du gestern vielleicht doch zuviel getrunken?«
»Mutti, ich habe gerade zwei Bier getrunken! Wenn das zuviel gewesen wäre, hätte es mich gleich früh erwischt und nicht gewartet, bis wir gemütlich beim Mittagessen sitzen. So, anderes Thema, wie war euer Nachmittag?«
»Wirklich schön. Wir sind drei Stunden lang von Bude zu Bude gewandert, ganz gemütlich. Wir haben überall mal genascht, Waffeln, gebrannte Mandeln, kandierte Äpfel, Zuckerwatte, Glühwein usw. Mir gruselt schon davor, morgen früh auf die Waage zu steigen.«
»Und, habt ihr mir wenigstens was mitgebracht?«
Meine Mutter lächelte mich an und holte eine große Papiertüte aus dem Küchenschrank.
»Hier, ich weiß doch genau, worauf du hinauswillst.«
Ich war durchschaut. Eine Maxitüte gebrannte Mandeln, meine Zähne knirschten schon in kaum zurückgehaltener Vorfreude.
»Einverstanden?«
»Allerdings. Danke.«
»Ach, da fällt mir ein Reinhardt hat dir auch noch etwas mitgeschickt.«
Sie verschwand für einen kurzen Moment und tauchte dann mit etwas riesigem, flauschigen in den Händen wieder auf. Ich brauchte eine Weile um zu ergründen, um was genau es sich handelte, dann ging mir ein Licht auf. Ein riesiger Plüschhund starrte mich aus Fünf-Mark-Stück-großen Knopfaugen an.
»Mein Gott, wo habt ihr denn den her!«
»Reinhardt hat an einer Losbude gleich zweimal ›Freie Auswahl‹ gezogen, und da hat er mich gefragt, womit man dir eine Freude machen könnte. Da du auf Hunde stehst, hab ich ihm dieses kleine Tier vorgeschlagen. Tim hat einen mindestens genauso großen Bären bekommen. Du hättest die beiden mal sehen sollen, wie sie die Viecher über den Markt zum Auto geschleppt haben, die werden auf die Dauer nämlich ziemlich schwer!«
Das konnte ich mir lebhaft vorstellen. Laut dem inoffiziellen Teenager-Codex war ich zwar mittlerweile längst viel zu alt für Plüschtiere, trotzdem freute ich mich über diese Geste. Außerdem war mein Zimmer ja groß genug – wo allerdings Tim mit seinem Bären in seinem kleinen Zimmer hinwollte, konnte ich mir nicht so recht ausmalen. Ich beschloß jedenfalls, mich bei nächster Gelegenheit bei seinem Vater ausgiebig zu bedanken.
»So, mein Jungchen, wie sieht es aus. Hast du Appetit auf Abendbrot?«
Ich horchte in mich hinein. So eine richtige Meinung zu dem Thema hatte ich nicht. Bevor ich aber mitten in der Nacht mit knurrendem Magen aufwache, ließ ich mich dann doch zu ein paar Toastscheiben breitschlagen. Anschließend verabschiedete ich mich für die Nacht und ging an diesem Sonntag zu einer Zeit ins Bett, gegen die ich im Normalzustand schon im zarten Alter von zehn Jahren heroisch protestiert hätte. Der riesige Plüschhund fand auf dem Bett von Thomas/Tim seinen Schlafplatz.
Montag. Ich hasse Montage. Also zumindest solche, die sich nicht dadurch auszeichnen, auf einen Feiertag oder in die Ferien zu fallen. Ich hielt es da mit den Boomtown Rats: »I wanna shoot the whole day down.« Aber es half alles nichts, bis zu den Weihnachtsferien waren noch einige Tage durchzustehen.
Die Schmerzzwerge in meinem Kopf hatten mich in Frieden gelassen, allerdings hatte ich ein wenig das Gefühl, daß mein Kopf in Watte verpackt wäre. Ich war zwar wach, aber so richtig anwesend war ich wohl nicht. Rein instinktmäßig arbeitete ich die morgendliche Checkliste ab, aß ein Frühstück, welches mir normalerweise nichtmal zu Füllen eines Zahnlochs gereicht hätte, und machte mich dann zu den besorgten Blicken meiner Mutter auf den Weg zu dem Gebäude, welches beschönigend den Namen »Gymnasium« trug – anstatt wesentlich wahrheitsgemäßer unter dem Titel »Kerker« zu firmieren.
Wie üblich traf ich mich mit Thomas und einigen anderen, die meisten waren auch auf der Party gewesen und zeigten keine der von mir zu erduldenden Symptome – eine Lebensmittelvergiftung war also wohl auch auszuschließen. Es zeigte sich schnell, daß ich an diesem Tag kein guter Gesellschafter war, und einige machten sich auch ernsthafte Sorgen ob meiner unnatürlichen Blässe. Aber was solls, da mußte ich durch.
Die ersten beiden Stunden verliefen einigermaßen erträglich, sie zogen an mir vorbei, ohne daß ich groß etwas davon wahrgenommen hätte – eigentlich ein Segen. Später dann kamen meine Kopfschmerzen vom Vortag zurück, und gegen Ende der dritten Stunde war mir dermaßen übel, daß ich nur durch einen Sprint zur Toilette ein größeres Unglück verhindern konnte. Ich – pardon – kotzte mir die Seele aus dem Leib und war drauf und dran, in der Kabine zusammenzurutschen. Zum Glück war mir unbemerkt Thomas gefolgt, der nun helfend eingriff und mich aufrecht hielt.
»Mönsch, Danny, was machst du denn für Sachen!«
Das hätte ich auch gerne gewußt. Nachdem ich mich ein wenig gefangen hatte, schaffte ich mit Thomas' Hilfe den Weg zurück in die Klasse, wo mittlerweile die Pause begonnen hatte. Die nächste Stunde war Geschichte angesagt, und zum Glück war unser dazugehöriger Lehrer (leider bereits älteren Jahrgangs) bereits anwesend. Er schaute Thomas und mich an, ließ sich kurz erklären was passiert war, und marschierte dann schnurstracks ins Sekretariat, Thomas damit beauftragend, mich ganz langsam auch dorthin zu bringen.
Was weiter geschah, bekam ich nicht mehr richtig mit, man hatte wohl meine Mutter angerufen, und wieder einigermaßen zu mir kam ich erst im Behandlungszimmer unserer Hausärztin. Dort mußte ich die üblichen Prozeduren über mich ergehen lassen, unter anderem fand die gute Frau Doktor heraus, daß ich fast vierzig Fieber hatte. In meinem Kopf polterten wieder die Kegel, und ich fühlte mich ganz allgemein etwa so, wie das was ich vorher auf der Toilette ausgespuckt hatte.
Meine Mutter hatte natürlich darauf bestanden, bei der Untersuchung anwesend zu sein, und machte sich nun wirklich ganz erhebliche Sorgen. Ich hatte ja schon ganz am Anfang angedeutet, daß ich bereits einmal dem Sensenmann von der Schippe gehüpft war, und seitdem lebten wir in ständiger Angst davor, daß der Blutkrebs wieder zurückkehren könnte. Meine aktuellen Symptome waren nicht sonderlich beruhigend. In Anbetracht meiner Krankheitsgeschichte nahm sich die Ärztin natürlich besonders viel Zeit. Sie klopfte hier, horchte da, stocherte dort. Am Ende lächelte sie uns aufmunternd an.
»Junger Mann, ich denke du brauchst dir keine allzugroßen Sorgen zu machen. Ich werde zwar noch einen Bluttest machen lassen, aber meiner Meinung nach hat dich die Grippe erwischt, die geht momentan bei uns um. Hast du dich etwa nicht impfen lassen?«
Ich?!? Ich sollte mich freiwillig einer Nadel aussetzen? Niemals! Ich schüttelte heftig mit dem Kopf – und bereute dies sofort bitterlich. Die Schmerzzwerge stellten das Bowling ein und nahmen dafür mehrere riesige Kirchenglocken in Betrieb.
»Welche Nachricht willst du zuerst hören, die gute oder die schlechte?«
»Die schlechte.«
»Du wirst dich noch ein paar Tage richtig dreckig fühlen.«
Na prima, ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen.
»Und was ist die gute Nachricht?«
»Du wirst dieses Jahr nicht mehr in die Schule müssen.«
Na das war doch zumindest etwas. Die Ärztin zapfte mir noch Blut ab, schrieb dann einige Rezepte aus, und dann ging es mit einem kurzen Zwischenstop an der Apotheke nach Hause. Dort angekommen legte ich mich sofort in mein Bett.
Kurz darauf erschien meine Mutter mit verschiedenen Medikamenten. Mich würde mal ernsthaft interessieren, wer festgelegt hatte, daß wirksame Medikamente unbedingt scheußlich schmecken müssen! Aber das war ja noch nicht das Schlimmste, das kam erst noch. Gegen die Kopfschmerzen hatte die tapfere Pillenkundige mir doch tatsächlich Zäpfchen verschrieben! Irrgh! Mir von jemandem am Hinterteil herumfummeln zu lassen war nun wirklich keine angenehme Vorstellung, zumindest nicht, wenn es sich dabei um die eigene Mutter handelte. Aber auch das ertrug ich heldenhaft, dann verließ meine Mutter das Zimmer, ließ die Tür angelehnt, und nachdem die Kopfschmerzen nun etwas nachließen, dämmerte ich in einen unruhigen Schlaf hinein.
Als ich wieder aufwachte war mein Bettzeug durchgeschwitzt, und meine Uhr behauptete steif und fest, daß es bereits kurz nach drei Uhr nachmittags war. Die Kopfschmerzen waren nur noch ein einigermaßen erträgliches dumpfes Pochen, dafür war mein Hals wie ausgetrocknet, also nahm ich all meine Kraft zusammen und rief nach meiner Mutter. Ich hatte so meine Zweifel, ob mein heiseres Krächzen sie erreicht hatte, aber schon kurz darauf kam sie die Treppe hinaufgestürmt und in mein Zimmer.
»Wie geht es dir, Danny? Alles in Ordnung?«
»Geht schon besser. Ich brauche was zu trinken.«
»Ich bring dir gleich Tee, du mußt eh wieder deine Medikamente nehmen. Zeig mal deine Stirn. Hm. Nicht mehr ganz so heiß, aber wir messen dann gleich mal richtig. Mein Gott, du bist ja klatschnaß! Und dein Bettzeug auch. Paß auf, ich geb dir einen frischen Schlafanzug, den ziehst du an, und dann legst du dich in das andere Bett.«
So wurde es gemacht, und fünf Minuten später fühlte ich mich in trockener Umgebung etwas wohler. Mit Todesverachtung schluckte ich die ekelhafte Medizin, und der dazu gereichte Tee hatte eine sehr angenehme Wirkung auf meinen Hals. Dann kam meine Mutter mit dem Fieberthermometer, und ich ergab mich in mein Schicksal. Sie hielt nicht viel von Messungen in der Achselhöhle sondern beharrte auf der mehr traditionellen Methode. Ich denke, ich muß das hier nicht weiter vertiefen. Jedenfalls hatte ich gerade die Invasion meiner hinteren Gefilde über mich ergehen lassen und wartete geduldig auf das Ergebnis, als es an der Haustür klingelte.
»Bleib schön liegen, ich schau mal nach wer das ist.«
Als ob ich in der Lage wäre davonzulaufen.
Kurz darauf stand sie wieder im Zimmer, allerdings war sie alles andere als alleine. Hinter ihr schoben sich Reinhardt und Tim durch die Tür und starrten in meine Richtung. Ich brauchte einen Moment um zu kapieren, warum sie so sehr starrten, dann zerrte ich so schnell ich eben konnte die Bettdecke über mein entblößtes Hinterteil mit dem daraus hervorstehenden Fieberthermometer. Vielen Dank auch, Mutsch. Sie hatte wirklich ein seltenes Talent, mich in die peinlichsten Situationen zu manövrieren. In diesem Moment wurde ihr offenbar auch klar, was sie da mal wieder angerichtet hatte.
»Oh Gott, entschuldige Danny, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.«
Reinhardt lächelte mir kurz zu und griff sich dann seinen Sohn.
»Komm, Tim, wir warten mal kurz draußen. Sagt uns bescheid, wenn wir wieder reinkönnen.«
Die beiden verließen das Zimmer, meine Mutter beendete schnell was sie so schnöde vergessen hatte, und entschuldigte sich noch einmal flüsternd bei mir. Naja, ich hatte es noch nie fertiggebracht ihr lange böse zu sein, und dies war keine Ausnahme.
»Schon gut. Also, wie sieht's aus, kann man schon Spiegeleier auf mir braten?«
»Nicht mehr. 38.9 – das klingt doch schon ein wenig besser. So, zieh dich wieder an und deck dich zu, damit ich deine Besucher reinlassen kann.«
Kaum hatte ich das erledigt, als sie auch schon Tim und seinen Vater wieder ins Zimmer holte. Woher wußten die eigentlich von meinem Zustand, oder waren die einfach so vorbeigekommen? Stellen brauchte ich diese Frage ihnen nicht, denn sie wurde von Reinhardt sofort freiwillig beantwortet.
»Hallo Danny, entschuldige bitte, daß wir hier so einfach aufkreuzen, aber als Maria bei mir anrief und erzählte was los ist, dachten wir uns, daß du dich vielleicht über ein wenig Besuch freust. Nun sag mal, was machst du denn für Sachen?«
Den letzten Satz hatte ich heute schonmal gehört. Von Thomas, wenn ich mich recht erinnerte. Irgendwie schien diese Frage eines Gesunden an einen Kranken im menschlichen Erbgut verankert zu sein. Schneid dich in den Finger – »Was machst du denn für Sachen?«. Brich dir ein Bein – »Was machst du denn für Sachen?«. Fang dir die Grippe – »Was machst du denn für Sachen?«. Schwängere die Nachbarstochter – »Was machst du denn für Sachen?«. Naja, zumindest über die letztgenannte Situation würde ich mir wohl nie Sorgen zu machen brauchen. So hat halt alles im Leben sein Gutes.
Freundlicherweise übernahm meine Mutter die Aufgabe, den beiden zu erzählen, was sich seit unserer Trennung gestern Mittag ereignet hatte. Ich konnte meine Stimme schonen und genoß ein wenig die besorgte Aufmerksamkeit, die mir von den drei anderen entgegengebracht wurde. Als meine Mutter fertig war, erntete ich weitere Blicke voller Anteilnahme. Reinhardt schüttelte betrübt seinen Kopf.
»Tut mir wirklich leid, Danny, und ich hoffe, daß es dir bald wieder besser geht. Zum Glück ist noch ein wenig Zeit bis Weihnachten, sonst müßte ich jetzt …«
Er stoppte mitten im Satz. So was mag ich nun gar nicht, erst die Neugier wecken und einen dann in der Luft hängen lassen. Den anderen beiden ging es ähnlich, und meine Mutter verfiel in ihre Rolle als Chefinquisitor. Eine Rolle übrigens, die sie regelrecht perfektioniert hatte.
»Was müßtest du sonst?«
Reinhardt druckste ein wenig herum, gab dann aber doch klein bei.
»Na gut, ist zwar nicht gerade der passendste Moment, aber was soll's. Vielleicht nimmt Danny das als Ansporn, sich möglichst schnell zu bessern. Ich habe heute vormittag für uns vier eine Reise über die Feiertage nach Florida gebucht. Ich hoffe, ihr seid mir nicht böse, daß ich das ganz allein entschieden habe, aber es sollte eine Überraschung werden.«
Also die Überraschung war ihm gelungen! Ich beschloß. freiwillig die widerlichsten Medikamente ohne zu Klagen einzunehmen und die erniedrigendsten Behandlungen über mich ergehen zu lassen, um auch ja rechtzeitig wieder fit zu sein. Ich brauchte nur in die Gesichter von Mutti und Tim zu blicken und konnte mir ungefähr ausmalen, wie überrascht und begeistert ich selbst aussehen mußte. Es machte nicht den Eindruck, als wolle sich jemand bei Reinhardt über seinen Alleingang beschweren.
Die nächsten Minuten vergingen in angeregtem Geplapper darüber, wie begeistert alle von der Idee waren. Also die anderen plapperten, ich hörte nur zu. Tims Augen leuchteten vor Freude, und er konnte kaum stillsitzen. Urplötzlich schlug meine Mutter in höchstem Erschrecken die Hände vors Gesicht.
»Mein Gott, ich habe völlig vergessen, daß ich doch morgen für fünf Tage nach Paris muß!«
Ups, da ging es ihr wie mir! Auch ich hatte mit keiner Silbe daran gedacht, daß sie zu einem internationalen Architekten-Kongreß eingeladen war. Sogar einen Vortrag sollte sie halten! Eine große Ehre, welche ihr das erste Mal zuteil geworden war. Nach kurzer Diskussion waren wir zu dem Ergebnis gekommen, daß sie mich problemlos für diese Zeit alleine lassen konnte – mit meinem jetztigen Zustand allerdings hatte sich die Lage drastisch geändert.
»Ich rufe gleich an und sage ab.«
Na prima, jetzt erwischten mich die Schuldgefühle, weil sie wegen mir auf etwas verzichten mußte, worauf sie sich schon seit Wochen gefreut hatte. Es stand ihr ins Gesicht geschrieben wie traurig sie war, und als sie zu meinem Telefon greifen wollte, hielt Reinhardt sie davon ab.
»Warte mal, Maria. Wir wollen doch mal sehen, ob sich nicht eine bessere Lösung findet. Ich weiß, das kommt alles sehr plötzlich, und es wäre sicherlich schöner gewesen, das alles etwas ruhiger besprechen zu können, aber das läßt sich jetzt nicht ändern. Wie wäre es, wenn Danny mit zu uns kommt und während du in Frankreich bist bei uns wohnt. Er wäre höchstens mal für ein oder zwei Stunden alleine, die restliche Zeit wären entweder Tim oder ich bei ihm.«
Reinhardt verdiente seine Brötchen als freiberuflicher Fremdsprachen-Übersetzer, hauptsächlich für Fachbücher. Er war offensichtlich sehr erfolgreich, und – was noch viel wichtiger für diesen speziellen Fall war – er arbeitete von zu Hause aus. In den Augen meiner Mutter machte sich Hoffnung breit. Trotzdem hatte sie noch ihre Zweifel.
»Ich weiß nicht, das ist doch ziemlich viel von euch verlangt. Er muß am Donnerstag auch wieder zu seiner Ärztin.«
»Das ist doch kein Problem, ich kann mir meine Arbeitszeit doch so einrichten wie ich es brauche. Wir haben zwar kein Gästezimmer, aber Tim ist bestimmt bereit, die paar Tage auf der Couch im Wohnzimmer zu schlafen.«
Obwohl der Genannte sofort zustimmend nickte nahm ich mir vor, ihn auf keinen Fall aus seinem gemütlichen Zimmer zu vertreiben. Aber damit würde ich jetzt nicht meine Mutter belasten, das zu klären würde später noch genügend Zeit sein.
»Mir ist trotzdem nicht ganz wohl bei dem Gedanken. Ich meine, Danny ist krank und leidet, und ich amüsiere mich in Paris.«
»Spuck einmal für mich vom Eiffelturm und dir soll vergeben sein.«
Allgemeines Gelächter.
»Siehst du, Maria, er macht schon wieder Witze. Du wirst sehen, wenn du zurückkommst ist er wieder auf den Beinen. Ihr könnt ja auch täglich telefonieren.«
Er hatte es geschafft, meine Mutter hatte sich überzeugen lassen.
»Na gut. Ich weiß zwar nicht, wie ich euch je dafür danken soll, aber wenn ihr alle drei einverstanden seid, machen wir es so.«
»Damit wäre also alles geklärt. Wann geht eigentlich dein Flieger?«
»7.55 Uhr.«
»Hm. Dann sollte Danny vielleicht schon heute umziehen. Morgen früh würde es sehr knapp werden.«
Da mußten wir ihm allerdings rechtgeben. Die Vorstellung, schon um fünf oder so aus dem Bett zu müssen, erschien mir nicht sonderlich ansprechend. Also wurde vereinbart, daß Reinhardt und Tim schnell nach Hause fahren und alles vorbereiten würden, unterdessen würde Mutti alles zusammenpacken was ich so brauchte, und ich würde mich in aller Gemütsruhe anziehen. Und genauso lief es dann auch ab.
In unsere Vorbereitungen hinein platzte dann noch der Anruf der Medizinfrau mit den erlösenden Resultaten meiner Bluttests. Alle entsprechenden Werte im Idealbereich, nichts deutete auf eine Rückkehr der Leukämie hin. Nachdem sie dies vernommen hatte, mußte sich meine Mutter erstmal zehn Minuten hinsetzen und heulte glücklich vor sich hin. Auch ich fühlte mich gleich um mehrere Grade besser. Wer schon einmal eine Krebsstation von innen gesehen hat, kann das bestimmt nachvollziehen.
Während wir dann auf unser Privattaxi warteten, rief auch noch Thomas an und wollte wissen, wie es mir ergangen war. Da meine Kehle inzwischen wieder einigermaßen ihren Dienst verrichtete, weihte ich ihn schnell in das was geschehen war und geschehen würde ein, gab ihm die Telefonnummer der Bergners, und er versprach, mich schulmäßig auf dem Laufenden zu halten. Ich würde auch mein Powerbook samt Modem mitnehmen, so würde ich regelmäßig wenn mir danach war meine eMails abrufen können. Wenn ich den Bergnerschen Telefonanschluß dafür mißbrauchen durfte.
Gegen sechs wurden wir dann von Reinhardt abgeholt. Ich war für die paar Schritte zum Auto und vom Auto zur Bergnerschen Haustür noch dicker verpackt als sonst, und das will bei mir was heißen. Ich schätze, in diesem Aufzug hätte sich problemlos ein Sumo-Ringer hinter mir verstecken können. Mit ausgebreiteten Armen und Prinz Charles samt Segelfliegerohren auf den Schultern. Zum Glück bot Reinhardts Auto mehr Platz als der SLK, den sich meine Mutter zu ihrem letzten Geburtstag selbst geschenkt hatte. Der Stratus war gut geheizt, sodaß ich die Fahrt zu meinem vorübergehenden Domizil trotz einem dazwischenkommenden Stau gut überstand. Kurz vor sieben betrat ich das Zimmer, welches für die kommenden Tage mein Quartier sein würde. Reinhardt zeigte auf Tims Liege, welche bereits als Bett hergerichtet war.
»Mach es dir bequem, Danny. Wir lassen dir ein paar Minuten Zeit, damit du dich in Ruhe ausziehen kannst. Wenn was ist rufe einfach.«
Bevor ich aber mit diesen Verrichtungen anfangen konnte verabschiedete sich meine Mutter noch halb unter Tränen von mir. Sie hatte es plötzlich etwas eilig, kein Wunder, hatte sie doch zu Hause noch einiges für ihre große Reise vorzubereiten. Sie versprach täglich anzurufen, wünschte mir nochmals gute Besserung und schwor mich darauf ein, mich anständig zu benehmen. Nachdem ich ihr das versprochen hatte, zog sie mit einem letzten Winken von dannen.
Nun konnte ich mich ungestört umziehen. Ich griff mir den ganz oben in meiner Reisetasche bereitliegenden Schlafanzug, und fünf Minuten später hatte mein Körper durch den Verlust von mehreren Kleidungsschichten wieder seine normale Form angenommen. Ich testete die Liege auf ihre Bequemheit, fand diese ausgesprochen akzeptabel und legte mich gemütlich zurück in die weichen Kissen. Kurz darauf klopfte es an die Tür, und nach meiner Aufforderung kam Tim ins Zimmer spaziert.
»Na, liegst du gut?«
»Danke, ganz ausgezeichnet. Aber wir sollten über ein paar Dinge reden. Also erstens ist das dein Zimmer, also spar dir das Anklopfen. Nach eurem überraschenden Auftauchen vorhin gibt es eh nur noch wenig, was du von mir noch nicht gesehen hast.«
Tim kicherte leise vor sich.
»Und zweitens fühle ich mich nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dir dein Zimmer zu stehlen. Ich denke es wäre besser, wenn ich bei euch im Wohnzimmer schlafe, du mußt in die Schule und brauchst eine ordentliche Nachtruhe. Außerdem ist dein ganzes Zeug hier in diesem Zimmer.«
»Kommt gar nicht in Frage! Du schläfst hier, du brauchst einen ruhigen Platz, das Wohnzimmer ist da ganz und gar ungeeignet, das geht nämlich zur Hauptstraße raus, und da ist es immer ziemlich laut. Wenn ich was aus dem Zimmer brauche, hole ich es mir einfach. Ich habe eh vor dir – wenn ich dir nicht auf den Wecker gehe – öfters mal Gesellschaft zu leisten.«
»Tim, du gehst mir ganz bestimmt nie auf den Wecker. Ich fühl mich halt ein wenig schlecht bei der ganzen Sache. Ich falle euch eh schon zur Last, und dann verbanne ich dich auch noch aus deinem persönlichsten Reich.«
»Tja, ich hab halt leider nicht zwei Betten. Es sei denn …«
»Es sei denn was?«
»Naja, wir haben noch ein Klappbett. Auf dem schlafe ich immer, wenn mein Cousin zu Besuch kommt.«
»Warum hast du das nicht gleich gesagt? Ich schlafe auf dem Ding, und du kannst dein Bett für dich haben.«
»Ich dachte, daß du dir vielleicht ein bißchen Privatsphäre wünscht.«
»Äh, danach steht mir der Sinn im Moment überhaupt nicht. Um ehrlich zu sein ist es mir lieber, nicht hier ganz alleine vor mich hinbrüten zu müssen, da komme ich nur auf dumme Gedanken und langweile mich im Endeffekt zu Tode.«
»Geht es dir denn gut genug, um meine Gesellschaft zu ertragen?«
Ich horchte in mich hinein. Die Medikamente wirkten, mir war zwar weiterhin etwas kotzerig, und ich war mir sicher, im Augenblick keine großen Kraftakte aufführen zu können, aber ganz allgemein ging es mir deutlich besser als am Vormittag. Mein Schädel war wie mit Watte ausgepolstert, sodaß verrückte Kegler und Glockenläuter kein so leichtes Spiel mehr mit mir hatten.
»Keine Bange. Wenn es mir wirklich mal richtig dreckig geht und ich ganz alleine vor mich hinleiden möchte, sage ich dir rechtzeitig bescheid.«
»Okay. Ich sage Paps, daß wir beide hier wohnen werden. Aber nur unter einer Bedingung: du bleibst im Bett, ich nehme das Klappbett. Und darüber gibt es keine Diskussion!«
O Gott, der Kleine konnte ja richtig autoritär werden! Aber naja, besser ein halber Sieg als gar keiner. Ich beschloß, keinen Aufstand darum zu machen, und so kam es, daß eine halbe Stunde später die Hälfte des noch verfügbaren Platzes im Zimmer von dem genannten Klappbett eingenommen wurde. Dieses konnte zum Glück – wie ja der Name schon sagt – tagsüber zusammengefaltet und platzsparend verstaut werden.
Reinhardt fragte uns nochmal, ob wir uns über dieses Arrangement wirklich sicher waren, als wir beide bejahten war er jedoch offensichtlich sehr zufrieden damit. Übrigens, im Unterschied zu mir hatten sich beide Bergners heldenhaft der Grippeschutzimpfungsspritze ausgesetzt, ihnen drohte von mir also keine Gefahr.
Die Zeit verging dann wie im Fluge, plötzlich war es neun Uhr abends. Zwischendurch hatte Tim mir ein leichtes Abendessen ans Bett gebracht, Reinhardt steuerte meine Pillen und Säftchen bei. Einen kleinen Schreck bekam ich, als er dann ankündigte, daß es Zeit wäre Fieber zu messen, aber als Tims Vater meinen leicht schockierten Gesichtsausdruck sah grinste er nur und zeigte mir das Thermometer welches er zu verwenden gedachte. Es war eines dieser neuen Dinger mit welchem man die Temperatur im Ohr messen konnte, und ich war extrem erleichtert. Das technische Wunderwerk zeigte 38.5, nach dieser einigermaßen beruhigenden Messung verneinte ich Reinhardts Frage, ob ich noch was brauchen würde, er wünschte mir gute Nacht und gute Besserung, verließ das Zimmer, und ich beschloß zu versuchen einzuschlafen. Tim schloß sich den Wünschen seines Vaters an und sagte, daß er noch ein wenig im Wohnzimmer fernsehen würde. Eigentlich wollte ich ihm sagen, daß er das ruhig hier machen könne, aber irgendwie fehlte mir plötzlich die Kraft, und mir fielen die Augen zu. Ich muß wohl ziemlich fest geschlafen haben, denn ich merkte nicht, wie Tim irgendwann ins Zimmer zurückkam und sich auf dem Klappbett langmachte. Ich war wohl zu sehr mit meinen reichlich wirren Fieberträumen beschäftigt.
Wach wurde ich gegen fünf Uhr morgens, und zwar hauptsächlich dadurch, daß die Schmerzmittel ihre Arbeit eingestellt hatten. Wiedereinmal hatte ich das Gefühl, daß mir der Schädel zu zerspringen drohte, wußte aber nicht so recht, was ich dagegen unternehmen sollte. Ich wünschte mir jetzt regelrecht meine Mutter mit der Zäpfchenschachtel herbei, aber so verlockend der Gedanke auch war, ich würde es nie über mich bringen, Tim oder gar Reinhardt zu bitten, mir diesbezüglich auszuhelfen. Also würde ich tapfer die Schmerzen ertragen müssen.
Die nächsten anderthalb Stunden litt ich Höllenqualen, und als Tim dann aufstand, kostete es mich all mein schauspielerisches Talent, meinen Zustand vor ihm zu verbergen. Ich tat, als würde ich noch schlafen, und beobachtete durch winzige Augenschlitze wie er sich ein paar Sachen schnappte und dann das Zimmer verließ, offensichtlich auf dem Weg ins Bad. Jetzt hielt ich es nicht mehr aus, ich beschloß, mir den Schmerzkiller höchstselbst zu verpassen. Mit fahrigen Fingern riß ich die Verpackung auf und griff mir das leicht glitschige Ding, um es sodann an seinen Bestimmungsort zu bringen. Letzteres war nun leichter gesagt als getan, denn dieser Bestimmungsort zeichnete sich halt dadurch aus, verdammt schlecht einsehbar zu sein. Nach zwei oder drei vergeblichen Versuchen mit zitternder Hand landete ich endlich einen Treffer. Jetzt konnte ich nur noch hoffen, daß die Wirkung ähnlich schnell wie am Vortag eintreten würde.
Ich hatte Glück, schon nach wenigen Minuten ließ der Schmerz nach. Erleichtert ließ ich mich zurück in die Federn fallen, gerade in dem Moment, in welchem Tim wieder das Zimmer betrat. Heute war seine Thermo-Unterwäsche knallrot, und als er sah, daß ich munter war, schenkte er mir ein strahlendes Lächeln.
»Danny, du bist ja wach! Wie geht es dir, hast du gut geschlafen?«
»Danke, mir geht es einigermaßen. Guten Morgen. Na, bereit dich der grausamen Schulrealität zu stellen?«
Tim lachte.
»So grausam ist die gar nicht. Zumindest nicht für mich.«
»Ach ja? Wie stehst du eigentlich in der Schule?«
»Das willst du wirklich nicht wissen.«
»Oh doch, das will ich!«
»Versprichst du mir, mich nicht auszulachen?«
»Klar. Das habe ich dir schon an unserem ersten gemeinsamen Nachmittag versprochen, erinnerst du dich?«
»Stimmt. Also gut. 1,0.«
WAS? Oh Gott, da stand mir ja was bevor! Wenn meine Mutter das erfuhr, würde sie mir ab sofort immer vor die Nase halten, wie gut mein kleiner Bruder in der Schule ist, und daß ich mir doch an ihm ein Beispiel nehmen sollte. Dabei war ich mit meinem Notenschnitt – der stets zwischen 1,8 und 2,2 lag – immer zufrieden gewesen.
»Das ist gar nicht gut, Tim, überhaupt nicht. Du verdirbst damit die Maßstäbe.«
»Tut mir leid, aber deswegen werde ich nicht absichtlich Arbeiten in den Sand setzen.«
»Huh, also werde ich wohl damit leben müssen.«
»Genau.«
Tim ging an mir vorbei, um am Schreibtisch seine Schulsachen zusammenzupacken, dabei fiel sein Blick auf die leere Zäpfchenverpackung. Mist, warum hatte ich nicht daran gedacht die zu beseitigen? Neugierig nahm er sie in die Hand und betrachtete sie.
»Cool, die Dinger hat mir der Arzt vor ein paar Monaten auch mal verschrieben. Die sind dermaßen stark, daß ich davon regelrecht ein bißchen high war. Aber die Schmerzen waren im Nu weg.«
Das konnte ich bestätigen, meine Kopfschmerzen hatten die Schlacht für den Moment auch verloren.
»Hast du dir das Ding selbst verpaßt?«
Ich nickte.
»Und du hast extra gewartet bis ich im Bad bin?«
Ich nickte wieder.
»Wie lange hattest du schon Schmerzen?«
»Seit ein, zwei Stunden.«
»Blödmann. Hättest mich bloß zu wecken brauchen und ich hätte dir dabei geholfen.«
»Heh, vielleicht geniere ich mich ja vor dir!«
»Äh, falls dir das entfallen ist: ich bin dein Bruder, kein Grund sich vor mir zu genieren. Außerdem habe ich diese Seite von dir gestern schonmal bewundern dürfen. Und auch wenn du meine Hilfe nicht wolltest, du hättest zumindest nicht auf meine Abwesenheit zu warten brauchen um dir selbst zu helfen.«
Nanu, vertauschte Rollen? Noch vor drei Tagen hatte ich ihm beizubringen versucht, daß wir Geschwister sind und uns mit allem vertrauen könnten. Okay, ich plädiere auf mildernde Umstände. Mein Geist war halt krankheitsbedingt etwas umnachtet.
»Schon gut, ist angekommen. Keine falsche Scham mehr, erst recht nicht in Notfällen.«
»Das will ich doch hoffen. So, ich muß mich anziehen, in zehn Minuten muß ich los. Paps und ich haben schon gefrühstückt, soll ich ihm wenn ich gehe sagen, daß er dir was machen soll?«
»Nein, danke. Mir ist noch nicht nach Essen zumute.«
Für diese Aussage würde meine Mutter einen roten Punkt an den Kalender malen.
»Okay, wie du meinst. Aber genier dich nicht ihn zu rufen, wenn du was brauchst, ich lasse die Tür angelehnt.«
Während unseres Gespräches war er in Hemd und Hose geschlüpft, griff sich dann seine Schultasche und ging zur Tür.
»Also dann, ruh dich schön aus. Und bessere dich. Tschüß.«
»Viel Spaß. Bis heute nachmittag.«
Und er verschwand, wie versprochen die Tür einen Spalt offen lassend. Naja, irgendwie war es auch ganz angenehm mal im Mittelpunkt zu stehen und von allen bemuttert zu werden. Allerdings mit den Schmerzen und den restlichen Symptomen teuer erkauft.
Ich schaffte es wieder einzuschlafen, und wurde erst durch eine über meine Haare streichende Hand geweckt. Ich zwang meine Augen sich zu öffnen und schaute in das lächelnde Gesicht von Tims Vater.
»Guten Morgen, du Sorgenkind. Wie geht es dir denn heute?«
»Guten Morgen. Jetzt geht es mir wieder gut, aber heute früh hatte ich wieder Kopfschmerzen.«
»Hast du was dagegen genommen?«
»Ja, und es hat auch gewirkt.«
»Na dann ist ja gut. So, laß mich erstmal schnell deine Temperatur messen.«
Das Wunderthermometer kam wieder zum Einsatz und zeigte am Ende der Messung 37.9. Naja, könnte besser sein.
»Hast du Hunger?«
Hm. Interessante Frage. Ich denke schon.
»Ja.«
»Wie wäre es mit einem warmen Pudding? Dazu Tee? Du mußt eh deine Medikamente nehmen.«
»Okay.«
»Gut. In einer Viertelstunde bin ich wieder hier, ich hoffe du hältst solange noch durch. Übrigens, schönen Gruß von deiner Mutter, sie hat vom Flughafen aus angerufen.«
Ich warf einen Blick auf meine Uhr, es war bereits halb zehn. Also war sie wohl mittlerweile schon kurz vor Paris. Naja, es war ihr zu gönnen, dafür hatte sie lange geschuftet.
In der Zwischenzeit war Reinhardt aus dem Zimmer verschwunden, und ich überlegte, wo und wie ich am besten essen sollte. Am besten wäre wohl, zu ihm in die Küche zu gehen. Ich setzte mich auf und ließ probeweise meine Füße über die Bettkante hängen. Keine negativen Reaktionen. Also schlüpfte ich in meine Hausschuhe und erhob mich langsam und vorsichtig. Ein wenig benebelt war ich schon, aber nicht so schlimm, als daß ich den Weg nicht geschafft hätte. Ich mußte eh zuallererst mal auf Toilette. Wobei ich keinen blassen Schimmer hatte, wo ich die finden sollte. Also schlurfte ich erstmal in die Küche, wo der Hausherr erstaunt von seinen Verrichtungen aufschaute als er mich in der Tür stehen sah.
»Reinhardt, könntest du mir bitte verraten, wo bei euch die Toilette ist?«
»Die letzte Tür links, hinten am Ende des Korridors. Sag mal, bist du dir sicher, daß du es alleine dorthin schaffst?«
»Ich denke schon. Aber wenn du einen lauten Plautz hörst komm bitte mal nachschauen.«
»Mach keine Witze damit, junger Mann! Ich habe Maria versprochen, gut auf dich achtzugeben. Und ich gedenke dieses Versprechen zu halten!«
»Alles klar. Aber ich schaffe es wirklich, keine Angst.«
»Na gut.«
Mit langsamen Schritten machte ich mich auf den Weg zur genannten Tür, und tatsächlich verbarg sich hinter ihr ein geräumiges Badezimmer. Ich erledigte das, weswegen ich hergekommen war, wusch mir die Hände und holte mir den Schrecken meines Lebens. Beim Blick in den Spiegel starrte mich eine furchterregende Gestalt an. Meine Augen lagen in dunklen Höhlen, meine Gesichtsfarbe kalkweiß zu nennen wäre geschmeichelt gewesen. Und das nach gerade mal anderthalb Tagen! Ich riß meine Augen von diesem Anblick los und machte mich auf den Rückweg zur Küche. Dort wollte Reinhardt gerade mein Frühstück auf ein Tablett packen und in Tims Zimmer bringen. Ich konnte ihn überzeugen, daß ich lieber in der Küche essen würde.
»Na gut, wo du eh schon hier bist. Setz dich.«
Ich ließ mich in der Sitzecke nieder und betrachtete mit gemischten Gefühlen den Puddingteller vor mir. Einerseits verspürte ich ein deutliches Hungergefühl, andererseits wurde mir beim Anblick des Essens gleich wieder ein wenig übel. Was solls. Nach Verhungern stand mir nicht der Sinn, und mehr als wieder rauskommen konnte es nicht. Löffel für Löffel beförderte ich den Schokopudding in meinen Mund, dazu immer wieder heißen Tee schlürfend. Es dauerte nicht lange, und das Geschirr war leer, auch meine morgendliche Tablettenration hatte den Weg in meinen Magen gefunden. Als ich mich zurücklehnte konnte ich sehen, daß Reinhardt ein zufriedenes Gesicht machte.
»So, da sieht doch die Welt gleich wieder viel besser aus, oder?«
»Stimmt, ich brauchte jetzt was in den Magen. Danke. Ach, übrigens, könntest du mir einen Gefallen tun?«
»Klar, schieß los.«
»Könntest du alle Spiegel im Haus verhängen, der Anblick meines Gesichts hat mich vorhin fast aus den Latschen kippen lassen.«
»Naja, deinen Humor scheinst du jedenfalls nicht verloren zu haben.«
»Das ist reine Notwehr, sonst würde ich den ganzen Mist nicht aushalten.«
»Wie siehts aus, legst du dich wieder hinter?«
»Gleich. Ich will bloß noch ein Weilchen sitzen, ich habe die letzten 24 Stunden fast nur gelegen.«
»Kann ich verstehen. Aber das ist hier nicht sonderlich bequem. Was hältst du davon, wenn wir ins Wohnzimmer gehen? Da kannst du dich gemütlich auf die Couch setzen, und wenn dir das zuviel wird kannst du dich einfach langmachen. Ich würde eh gerne etwas mit dir besprechen, natürlich nur, wenn dir das nicht zuviel wird.«
Jetzt hatte er meine Neugier geweckt. Mir ging es im Augenblick relativ gut, und ich hatte sowieso keine Lust, mich alleine in Tims Zimmer zu langweilen.
»Okay.«
»Geh schon mal vor, du weißt ja wo es ist. Ich stelle bloß noch das Geschirr in die Spülmaschine und komme dann nach.«
Also schlich ich langsam ins Wohnzimmer und lümmelte mich dort im Schneidersitz auf die genannte Couch. Bei einem schnellen Rundumblick konnte ich feststellen, daß hier offenbar ein Technik-Freak zu Hause war. Ein Fernseher mit einer Monsterbildröhre, dazu eine Stereoanlage von einer Marke, bei der alleine das Typenschild eine dreistellige Summe kostete. Tims Vater war offensichtlich nicht nur fachlich sondern auch finanziell erfolgreich. Kein Wunder, daß er es sich leisten konnte, mal so eben mit vier Personen nach Florida abzudüsen.
Während ich noch über diese Dinge nachdachte kam Reinhardt ins Zimmer, eine Steppdecke mitbringend. Diese brachte er mir und legte sie mir um die Schultern.
»Hier, ganz so warm wie in der Küche ist es hier nicht. Wir wollen doch kein Risiko mehr eingehen.«
Wer mir eine warme Decke brachte, hatte damit bei mir automatisch einen großen Stein im Brett. Ich zog sie mir fest um den Körper und kuschelte mich in sie hinein. Reinhardt setzte sich mir gegenüber in einen Sessel und schaute mich eine Weile lang einfach nur an. Dann kam er zur Sache.
»So, Danny, erstmal eines: wenn es dir zuviel wird sag es einfach, dann verschieben wir das. Es eilt wirklich nicht.«
»Schon gut, ich sag dir rechtzeitig bescheid bevor ich vom Hocker kippe.«
Er lachte.
»Gut. Aber jetzt mal ernsthaft. Danny, ich liebe deine Mutter.«
Das hatte ich auch schon mitbekommen.
»Und ich mag auch dich, sehr sogar.«
Das hörte sich doch nun wirklich erfreulich an.
»Und ich weiß, daß es Tim ebenso geht.«
Es wurde immer besser.
»Danny, Maria und ich, wir möchten gerne, daß wir alle zusammenziehen, eine richtige Familie werden. Das ist aber keine Sache, die wir zwei Oldies alleine entscheiden können, da habt ihr beiden Jungs mindestens genausoviel zu sagen. Ich wüßte nun gerne, wie du darüber denkst, ob du dich mit dieser Idee anfreunden könntest, und ich möchte deine ganz ehrlich Meinung hören. Ich denke mal, so ganz überraschend kommt das alles für dich nicht.«
Stimmt. Mit einem solchem Vorschlag hatte ich ja nun schon eine ganze Weile gerechnet. Okay. Er wollte die schonungslose Wahrheit? Er sollte sie bekommen.
»Reinhardt, zuerst mußt du wissen, daß mir das Allerwichtigste ist, daß meine Mutter glücklich ist. Sie hat schon einiges einstecken müssen, erst meine Krankheit, dann der Tod meines Vaters. Wenn es sie glücklich macht, würde ich es auch mit einem Scheusal von Stiefvater und einem nervtötenden kleinen Bruder aushalten.«
Auf Reinhardts Gesicht machte sich ein ungläubiger, schockierter Ausdruck breit. Er setzte an um etwas zu sagen, ich aber unterbrach ihn.
»Moment, ich bin noch nicht fertig! Ich sagte, ich würde auch das aushalten. Aber ich bin wirklich sehr froh, daß ich das nicht aushalten muß, sondern stattdessen Leute wie dich und Tim bekomme.«
Erleichterung zeigte sich in seinem Gesicht.
»Also eins muß ich dir sagen, an deinen Humor werde ich mich wohl erst noch gewöhnen müssen.«
»Keine Bange, das wird schon noch.«
»Du bist also einverstanden?«
»Meinen Segen habt ihr. Aber wie sieht es mit Tim aus?«
»Oh, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen! Er mag Maria sehr, sie gibt ihm wohl das, was ihm seit dem Verschwinden seiner Mutter gefehlt hat. Ich denke, ich habe einen einigermaßen guten Vater abgegeben, aber die Mutter konnte ich ihm nie ersetzen. Naja, und dich betreffend …«
Ich hing förmlich an seinen Lippen.
»… er bewundert dich regelrecht. Keine Ahnung, wie du das in der kurzen Zeit geschafft hast, aber wenn er über dich spricht, glänzen seine Augen. Er sieht zu dir auf, und wenn du nicht was ganz bescheuertes anstellst, hast du in ihm nicht nur einen kleinen Bruder sondern auch deinen größten Fan gewonnen.«
Mein Gott, auf einen solchen Sockel brauchte er mich nun wirklich nicht zu stellen. Andererseits freute ich mich aber, daß Tim eine so hohe Meinung von mir hatte.
»Ich hoffe, das beseitigt die letzten Zweifel, die du vielleicht noch hattest. Wir würden gerne Anfang des nächsten Jahres zusammenziehen. Erst dachten wir an die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, aber dann haben wir entschieden, daß wir diese Tage lieber gemeinsam irgendwo genießen.«
»An mir soll es nicht liegen. Sagt mir bloß rechtzeitig den genauen Termin, damit ich mir dann schnell einen Fuß verstauchen kann und nicht bei der Schlepperei mithelfen muß.«
»Oh nein, so leicht kommst du uns nicht davon! Selbstverstümmelung wird schwer bestraft.«
Jetzt lachten wir beide, und die leichte Anspannung, die zu Beginn des Gespräches über uns geschwebt hatte, war vollständig verflogen. Eine wichtige Frage war aber bisher nicht zur Sprache gekommen. Das mußte ich ändern.
»Nun verrate mir aber bitte mal, wo wir zusammen wohnen werden. Hier oder bei uns?«
»Also so sehr es mir hier auch gefällt, für vier Personen wäre es wohl doch etwas zu eng. Wir brauchen ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein großes Arbeitszimmer, und je nachdem wie ihr – also Tim und du – euch entscheidet, ein oder zwei Kinderzimmer. Entschuldige bitte die Bezeichnung Kinderzimmer.«
»Also zieht ihr beide bei uns ein.«
War eigentlich logisch, wir hatte mehr als genug Platz. Als meine Eltern das Haus planten und bauten, rechneten sie gleich weiteren Familienzuwachs mit ein. Es war nie geplant, daß ich ein Einzelkind bleiben würde, und sowohl mein Vater als auch meine Mutter glaubten außerdem fest an die Idee eines Generationenhauses. Es war genug Platz vorhanden, um später auch noch meine Familie zu beherbergen, inklusive zwei bis drei Kindern – tja, damals ahnte noch keiner, daß der kleine Danny, der im Kindergarten dafür in die Ecke gestellt worden war, daß er einem Mädchen unter den Rock geguckt hatte, später ans andere Ufer wechseln würde. So, wie war das jetzt mit den Kinderzimmern?
»Ich nehme an, Tim möchte sein eigenes Zimmer, oder?«
»Eigentlich nicht. Er sagte, daß er gerne ein Zimmer mit dir teilen würde, aber nur, wenn dir das recht ist.«
Ob mir das recht war? Eine schwere Frage. Einerseits gefiel mir diese Vorstellung sehr – und zwar ohne irgendwelche weitergehenden Hintergedanken. Ich hatte Tim einfach gerne um mich herum. Andererseits war ich mir nicht ganz sicher, wie sich dies auf meine Gefühle ihm gegenüber auswirken würde. Naja, ich würde mich halt zusammenreißen müssen.
»Ich hätte damit keine Schwierigkeiten. Und wenn es wider Erwarten doch nicht funktionieren sollte, können wir immer noch getrennte Wege gehen.«
Aber da war noch etwas. Dies war der richtige Zeitpunkt für den abschließenden Test für Tims Vater. Dieser Test konnte jetzt zwar alles noch verderben, aber lieber jetzt als später, wenn nichts mehr zu machen war.
»Reinhardt, da ist etwas, was du über mich wissen solltest. Es gibt eine Sache, die eventuell deine Meinung über mich entscheidend verändern könnte.«
»Was ist es? Du hast doch nicht etwa eine Leiche im Bettkasten?«
Ganz im Gegensatz zu meiner normalen Art war mir jetzt gar nicht so sehr nach Witzen zumute.
»Mir ist das wirklich ernst. Ich sag es jetzt einfach heraus, es gibt eh keinen Weg dir das irgendwie schonender beizubringen. Reinhardt, ich bin schwul.«
Seine Reaktion als verblüfft zu beschreiben, wäre eine gewaltige Untertreibung gewesen. Naja, wenigstens war er mir noch nicht an die Gurgel gegangen.
»Du bist schwul? Du?«
»Yep.«
»Das muß ich jetzt erstmal verdauen. Hätte ich wirklich nicht gedacht.«
»Ändert das jetzt etwas zwischen uns?«
»Allerdings, das ändert einiges!«
Reinhardt erhob sich aus seinem Sessel und kam auf mich zu. Jetzt machte ich mir doch ein wenig Sorgen. Aber er setzte sich nur neben mich und nahm mich in den Arm.
»Dummkopf. Das einzige was sich dadurch ändert ist, daß ich irgendwann mal statt zwei Schwiegertöchtern nur eine und dafür noch einen Schwiegersohn haben werde.«
Puh, jetzt war ich an der Reihe erleichter aus der Wäsche zu gucken. Allerdings wäre ich mir an seiner Stelle auch mit der einen Schwiegertochter nicht ganz so sicher. Reinhardt grinste mich an.
»Tut mir leid, aber Rache ist Blutwurst. Was meinst du, wie ich mich vorhin gefühlt habe, als du mit dem ›Scheusal von Stiefvater‹ angefangen hast.«
Okay, okay. Ich hatte mir das wohl verdient.
»Danny, du bist weiter der gleiche nette Junge, den ich gerne zum Sohn haben möchte. Was ich nicht so genau weiß ist, wie Tim darauf reagieren wird. Ich hoffe eigentlich, daß ich ihn zu einem toleranten Menschen erzogen habe, aber wir haben nie direkt über dieses Thema gesprochen.«
»Tim weiß es seit Samstag nachmittag.«
So, jetzt hatte ich Reinhardt völlig aus der Bahn geschlagen. Er starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an.
»Und, wie hat er reagiert?!«
»Äh, muß ich diese Frage jetzt wirklich noch beantworten? Schließlich hast du doch seitdem noch einige Male mit ihm gesprochen, oder?«
»Huh, stimmt. Entschuldige, aber das traf mich jetzt doch etwas unvorbereitet. Das war ziemlich mutig von dir, es ihm gleich beim ersten Treffen zu sagen.«
»War es nicht. Es war ziemlich dämlich.«
»Das mußt du mir jetzt aber doch erklären.«
Und ich erzählte ihm, welche Verkettung unglücklicher Umstände zur Entdeckung meines großen Geheimnisses geführt hatte. Als ich fertig war lachte Reinhardt.
»Das nennt man wohl dumm gelaufen. Und, bereust du es jetzt?«
»Nein, wie könnte ich, wo Tim so super reagiert hat. Und du jetzt auch. Danke.«
Daß Tim selbst von einigen Zweifel ob seiner selbst geplagt wurde, hatte ich in meiner Erzählung vorsichtshalber weggelassen. Das war etwas, womit Tim selbst rausrücken mußte, wenn er dazu bereit war.
»Kein Grund sich zu bedanken. Das sollte eigentlich nichts Besonderes sein. So, jetzt haben wir ziemlich lange geredet, wie geht es dir? Wird es dir auch nicht zuviel?«
Hm, jetzt wo er es sagte. Ein wenig schlapp fühlte ich mich schon – andererseits hatte mich unsere Unterhaltung von meinem Zustand ziemlich erfolgreich abgelenkt. Trotzdem.
»Ich denke, ich leg mich mal wieder für eine Weile hinter.«
»Tu das. Es ist eh gleich Zeit für deine nächste Pillenration, ich bringe sie dir dann ins Zimmer.«
Und so fand ich mich wenige Minuten später in Tims Bett wieder, noch aufrecht gegen die Wand gelehnt sitzend und den Anflug des Giftbombers erwartend. Ich wurde nicht enttäuscht, es dauerte nicht lange und Reinhardt erschien mit Pillen und Tröpfchen – über deren Nebenwirkungen ich lieber gar nicht erst anfing nachzudenken. Aber es führte kein Weg an dem widerlichen Zeug vorbei, also schluckte ich alles tapfer herunter.
»Brav, mein Kleiner.«
Das rief ein gequältes Lächeln bei mir hervor.
»Versuch ein wenig zu schlafen. Gegen halb zwei kommt Tim nach Hause, und ich werde ein schnelles Mittagessen für uns vorbereiten. Möchtest du dann auch etwas?«
»Kann ich dir jetzt noch nicht sagen. Wenn ich schlafen sollte laßt mich lieber schlafen. Ich melde mich dann schon wenn ich was brauche.«
»Auch gut. Also dann, ich laß die Tür ein bißchen offen.«
Und dann war ich wieder alleine. Ich beschloß, Reinhardts Rat zu folgen, und tatsächlich bin ich wohl kurz darauf eingeschlafen.
Panik. Schreiende Menschen. Die bemüht ruhige Stimme einer Stewardess. Kreischendes Metall. Feuer. Blitzende Lichter. Dann Dunkelheit. Und eine Stimme von weither.
»Danny … Danny, komm zu dir. Das ist nur ein Traum … wach auf … komm schon … bitte wach auf …«
Die Stimme zog meinen Geist langsam aus dem schrecklichen, brennenden Kerker, in welchem er gefangen war. Ich öffnete meine Augen und sah in das besorgte und nichtsdestotrotz so hübsche Gesicht von Tim.
»Komm, Danny, alles ist in Ordnung. Es war alles nur ein böser Traum.«
Das war es allerdings gewesen. Ich kannte diesen Traum ganz genau, ich erinnerte mich nur zu gut an ihn. Nach dem Tod meines Vaters hatte ich ihn monatelang jede Nacht gehabt, später dann immer seltener, aber erst seit etwa einem Jahr hatte ich endgültig Ruhe vor ihm. Hatte ich zumindest gedacht. Warum war er nun gerade jetzt zurückgekommen? Lag das nur an meinem eh angespannten geistigen Zustand?
Tim saß halb auf dem Bett und hielt mich in seinen starken Schwimmerarmen.
»Danny, alles ist gut. Du hast nur geträumt. Geht es wieder?«
Genau in diesem Moment kam Reinhardt ins Zimmer gestürmt.
»Was ist passiert? Tim, was ist los?«
»Danny hatte einen Albtraum, ich habe eine ganze Weile gebraucht um ihn wach zu bekommen.«
»Ich seh schon. Danny, ist alles okay mit dir?«
Ich versuchte mich zusammenzureißen, aber ich zitterte trotzdem am ganzen Körper. Mein Schlafanzug war wieder völlig durchgeschwitzt, und meine Augen lieferten auch nur ein ziemlich verschwommenes Bild. Aber irgendetwas mußte ich antworten, also packte ich all meine Selbstbeherrschung in meine zittrige Stimme.
»Geht schon wieder. Es war nur so … so wirklich. So intensiv.«
Ich schaute meinem Bruder in die Augen.
»Danke, daß du mich da rausgeholt hast.«
»Keine Ursache. Möchtest du dich jetzt wieder hinlegen?«
»Halt mich bitte noch eine Minute fest, bis ich wieder zur Ruhe gekommen bin.«
Während Tim nun genau das tat und sein Vater einen trockenen Schlafanzug für mich raussuchte, fand ich die Zeit, einen Blick auf meine Uhr zu werfen. Es war kurz vor sechs, ich hatte den ganzen Nachmittag durchgeschlafen. Oder fast durchgeschlafen, denn ich erinnerte mich vage daran, daß Reinhardt mich irgendwann kurz geweckt und mir meine Medikamente verabreicht hatte.
Langsam aber sicher kehrte wieder Ruhe in mir ein, und ich sagte Tim, daß er mich wieder loslassen könne – nicht ohne mich nochmals bei ihm zu bedanken. Sein Vater reichte mir den neuen Schlafanzug.
»Ist wohl besser wenn du dich umziehst. Ich bringe auch gleich noch frische Bettwäsche.«
»Laß nur, ihr habt eh schon genug mit mir am Hals.«
»Nichts da. Außerdem habe ich bereits einen kompletten Satz Bettzeug vorbereitet. Als die Grippe mal Tim erwischt hatte ging es ihm genauso. Und wenn dann alles erledigt ist, bringe ich dir ein leichtes Abendbrot und deine Medikamente.«
Naja, sah ganz so aus, als hätte ich hier keinerlei Stimmrecht. Mit Tims Hilfe erhob ich mich vom Bett, um Reinhardt die Möglichkeit zu geben, das durchnäßte Bettzeug zu entfernen. Ich ließ mich auf das Klappbett nieder, und kurz darauf war Tims Vater aus dem Zimmer verschwunden. Drei Minuten später war er wieder da und richtete das Bett neu her. Als das erledigt war, ließ er mich wieder mit Tim alleine.
»In zehn Minuten bringe ich das Essen. Wenn ich dann komme, möchte ich, daß du in trockenen Sachen im Bett liegst.«
Aye aye, Sir. Ich begann mich aus dem Schlafanzug-Oberteil zu schälen. Eigentlich eine kinderleichte Angelegenheit, mir aber fiel sie so schwer wie … wie das Freischippen der Garageneinfahrt bei 20cm Neuschnee. Irgendwann hatte ich es geschafft, und mir wurde klar, daß ich nicht so einfach die frischen Sachen anziehen konnte. Ich hatte jetzt mehrmals wie ein Schwein geschwitzt, und egal wie dreckig es mir ging, ich mußte das von meinem Körper runterspülen.
»Tim, kannst du mal deinen Vater holen?«
»Was ist, geht es dir schlechter?«
»Nein, aber wir müssen die Pläne ein wenig ändern. Hol ihn bitte, okay?«
»Wie du meinst. Ich bin gleich wieder da.«
Tatsächlich konnte ich kaum zweimal mit den Augen zwinkern, schon standen die beiden wieder mit besorgten Mienen im Zimmer.
»Was ist, Danny? Brauchst du irgendwas?«
»Reinhardt, ich muß unter die Dusche. Ich stinke, und ich fühle mich extrem schmutzig.«
»Danny, ich kann mir das vorstellen, aber ich weiß nicht, ob duschen so eine gute Idee ist. Du kannst dich doch so schon kaum auf den Beinen halten.«
Da konnte ich allerdings kaum widersprechen. Tim jedoch hatte eine Idee.
»Er könnte doch in die Wanne gehen. Wir helfen ihm beim rein- und raussteigen, und während er drin ist, paßt einer von uns auf, daß nichts passiert.«
Reinhardt schaute mich fragend an.
»Was meinst du, Danny? Entweder das oder wir waschen dich hier im Bett.«
Nee, also so gebrechlich war ich nun auch wieder nicht. Hoffte ich zumindest.
»Probieren wir die Wanne.«
»Gut. Ich laß gleich Wasser ein.«
»Soll ich Handtücher holen?«
»Nein, das mach ich schon. Du bleibst hier und läßt Danny nicht aus den Augen.«
Hah, als ob ich wegrennen würde!
Eine knappe Viertelstunde später kam Reinhardt wieder zu uns. Er reichte mir einen Bademantel.
»Zieh die Hose gleich hier aus und dafür das hier an. Im Bad wird es zu eng dazu.«
Leichter gesagt als getan. Am Ende mußte Tim mir helfen Socken und Hose loszuwerden. Da ich mich immer noch ein wenig vor ihm genierte, bekam ich von der Angelegenheit einen so roten Kopf, daß er für eine zu groß geratene, reife Kirsche hätte durchgehen können. Zum Glück war ich dermaßen hinüber, daß ein anderes Körperteil gar nicht erst auf dumme Gedanken kam.
Wir waren gerade mit der Auszieherei fertig, als auch schon Tims Vater kam um uns abzuholen. Von beiden Seiten vorsichtig geführt, schaffte ich den Weg zum Bad. Komisch, nur ein paar Stunden zuvor hatte ich die gleiche Strecke relativ mühelos aus eigener Kraft bewältigt.
Im Badezimmer angekommen, erwartete mich eine einladend mit warmem Wasser gefüllte Wanne. Reinhardt nahm mir den Bademantel ab, dann standen wir drei etwas unschlüssig vor dem Wannenrand.
»Hm, wie kriegen wir dich jetzt am besten hier rein, ohne daß du wegrutscht oder dir anderweitig wehtust?«
Reinhardt warf einen abschätzenden Blick auf meinen ganzen Körper.
»Sag mal, wann hat dich zum letzten Mal jemand auf den Arm genommen? Wörtlich gesehen, meine ich.«
Huh, nicht das, bitte nicht! Das war nun doch zu ernie… Ah. Bevor ich noch anfangen konnte zu protestieren, hatte Reinhardt seine Größe und Kraft ausgenutzt, mich vom Boden gehoben, wie ein Baby in die Arme genommen, und ließ mich nun langsam und vorsichtig ins Wasser sinken.
»Ist das Wasser so in Ordnung? Nicht zu heiß oder zu kalt?«
»Gerade richtig.«
»Gut. Bleib erstmal fünf Minuten einfach liegen. Soll ich dir dann beim Waschen helfen oder soll Tim das erledigen?«
Bitte nicht Tim. War schon schlimm genug, daß er das alles mit ansehen mußte. Sein starker, großer Bruder – hilflos wie ein Kleinkind.
»Du.«
»Okay. Tim, du bleibst bitte solange hier und paßt auf, daß nichts passiert.«
»Alles klar, Paps.«
Ich lehnte mich zurück und versuchte, so viel Körperfläche wie möglich in das angenehm warme Wasser zu versenken. Ich schaffte es, daß am Ende nur noch mein Kopf und die Kniespitzen herausschauten. Irgendwie ging es mir gleich ein wenig besser.
»Alles okay, Danny?«
Ich warf einen Blick zu Tim, der auf einem Hocker saß und mich mit besorgten Blicken anschaute.
»Danke, das ist herrlich. Tut mir leid, daß ich euch dermaßen zur Last falle.«
»Irgendjemand hat mir erst kürzlich gesagt, ich solle aufhören mich ständig für alles zu entschuldigen. Ich gebe den Rat jetzt einfach mal an dich weiter.«
Okay, okay. Ich bekam eine Kostprobe von meiner eigenen Medizin. Es dauerte nicht lange, und Reinhardt tauchte wieder im Bad auf und schickte Tim in die Küche, um dort dem Teewasser beim Kochen zuzuschauen.
»So, dann wolln wir mal. Wie möchtest du es haben, soll ich dir komplett helfen?«
»Ich denke es reicht, wenn du mir den Rücken schrubbst, den Rest werde ich hoffentlich alleine schaffen.«
»Wie du meinst. Aber genier dich bitte nicht, wenn du mehr Hilfe brauchst. Ich kann dir versichern, daß da nichts ist, was ich nicht schon bei Tim gesehen oder gemacht hätte.«
Sehr beruhigend. Trotzdem war ich froh, daß ich wirklich bloß beim Rücken Hilfe benötigte. Das herrlich warme Wasser hatte meine Lebensgeister wieder etwas aufgefrischt. Ein paar Minuten später war alles erledigt, ich erhob mich aus der Wanne und wollte nach einem großen Badetuch greifen. Reinhardt jedoch hielt mich davon ab und spülte erstmal mit dem Duschschlauch die Seifenreste von mir. Danach nahm er das Badetuch, wickelte mich darin ein und hob mich dann wieder aus der Wanne heraus. Das alles mit einer Leichtigkeit, als würde ich überhaupt nichts wiegen.
»So, ich nehme an du möchtest dich alleine abrubbeln.«
Volltreffer. Als ich wieder trocken und angezogen war, brachte Reinhardt mich zurück in Tims Zimmer. Ich legte mich hin, wurde kurz alleine gelassen und bekam dann mein Abendessen serviert. Ein paar Scheiben Toast, dazu Tee und die unvermeidlichen Medikamente. Tapfer vernichtete ich alles, und gerade als ich damit fertig war, klingelte das Telefon. Tims Vater stürzte los und kam kurz darauf mit dem Telefon zurück ins Zimmer. Ich hatte so eine Ahnung, wer da an der Strippe war, und diese Ahnung wurde sofort bestätigt.
»Danny, deine Mutter ist dran, sprichst du mal mit ihr?«
Ich nahm den Hörer entgegen und meldete mich.
»Danny, wie geht es dir? Du hörst dich ja eigentlich ganz gut an.«
Gut, daß sie nicht eine halbe Stunde früher angerufen hatte.
»Danke, mir geht es auch schon viel besser. Reinhardt und Tim kümmern sich wirklich prima um mich. Und, was macht Paris?«
»Es steht noch. Das ist eine herrliche Stadt, die Stadt der Liebe. Vielleicht sollte ich dich mal hierhin schicken. Möglicherweise findest du hier einen hübschen Jungen für dich. Ups – ich hoffe das Gespräch läuft nicht über Lautsprecher! Ich wollte dich wirklich nicht verraten.«
Das löste nun ein heiseres Krächzen, was mit viel Phantasie als Lachen durchgehen konnte, bei mir aus.
»Keine Bange, es läuft nicht über Lautsprecher. Und selbst wenn: sie wissen es beide.«
»Was? Du hast es ihnen erzählt? Und, wie ist es gelaufen?«
»Ganz ausgezeichnet. Mach dir darüber mal keine Sorgen. Aber das erzähle ich dir alles, wenn du wieder hier bist, nicht daß dich das Ferngespräch noch arm macht. Ich geb dir mal wieder deinen Liebsten.«
Der Genannte griff lächelnd wieder nach dem Telefon und verließ damit das Zimmer. Na sowas, Heimlichkeiten!
Während Reinhardt nun die Telefonrechnung noch ein wenig in die Höhe trieb, beseitigte Tim die Reste meiner Mahlzeit. Fünf Minuten später waren wieder alle in Tims Zimmer versammelt. Reinhardt schaute mich ein wenig tadelnd an.
»Das war aber nicht die ganze Wahrheit, die du deiner Mutter da erzählt hast. Von wegen dir geht es schon viel besser.«
»Ich hoffe, du hast mich nicht verraten. Ich will, daß sie sich in Paris amüsiert. Wenn ich ihr gesagt hätte, was heute wirklich mit mir los war, wäre sie ins nächste Flugzeug gesprungen und würde in ein paar Stunden hier auf der Matte stehen.«
»Ich verstehe was du meinst. Ich habe ihr nichts gesagt, und werde es auch vorläufig nicht tun. Wenn es dir aber schlechter gehen sollte, werde ich ihr das nicht vorenthalten können. Einverstanden?«
»Damit kann ich leben.«
»Gut. Wie geht es dir jetzt, hast du die Anstrengungen einigermaßen überstanden?«
»Ich denke schon. Was mir jetzt noch fehlt ist eine ruhige, erholsame Nacht ohne Kopfschmerzen und andere Probleme.«
»Dann versuch am besten zu schlafen. Du hast doch auch etwas gegen Schmerzen, nimm davon lieber gleich etwas, als Vorbeugung. Diese Zäpfchen sind dermaßen stark, daß sie bis morgen vormittag vorhalten sollten.«
»Okay, ich zwäng mir so ein Ding rein.«
»Soll ich dir helfen?«
Ich überlegte hin und her. Was solls, das machte jetzt auch keinen Unterschied mehr.
»Okay.«
»Gut. Tim, holst du in der Zwischenzeit bitte mal das Fieberthermometer?«
Tim tat wie ihm aufgetragen, und während er unterwegs war, verpaßte mir sein Vater den Schmerzkiller. Dann hatte das Thermometer noch seinen Einsatz, zeigte 38.8, und kurz darauf verließen meine beiden Pfleger das Zimmer und überließen mich mir selbst. Zum Glück blieb mir nicht viel Zeit zum Grübeln, denn schon nach wenigen Minuten entschlummerte ich traumlos in Morpheus' Arme.
Also gut, jetzt hieß es stark zu sein. Danny, sei kein Waschlappen, da mußt du jetzt durch. Was sollte schon passieren. Aber so sehr ich mir das auch immer wieder vorbetete, so oft ich in meinem Kopf die Statistiken hervorkramte, ein blödes Gefühl blieb trotzdem zurück. Das wirkte sich natürlich auf meinen Allgemeinzustand aus, und langsam aber sicher fiel ich hinter den anderen zurück. Was selbstverständlich sofort bemerkt wurde. Reinhardt ließ sich ebenfalls zurückfallen.
»Alles okay, Danny?«
»Ja, alles prima, spitze, wunderbar.«
»Du bist ein verdammt schlechter Lügner.«
»Ich weiß. Aber versuchen mußte ich es.«
»Na komm, gehen wir, wird schon werden.«
Er legte mir seinen gewaltigen rechten Arm um den Körper, und gemeinsam gingen wir durch den schmalen Passagiertunnel zum Eingang des Airbus, welcher uns nach Orlando bringen sollte. Nun dürfte wohl auch klar sein, was mich aus der Bahn geworfen hatte. Okay, die Vorfreude auf Florida war gewaltig, aber je näher der Abreisetag rückte, desto bewußter wurde mir, daß damit zwangsläufig verbunden war in ein Flugzeug steigen zu müssen. Das ist etwas, was ich seit dem Tod meines Vaters nie wieder getan hatte. Mutti schon, und obwohl es sie anfangs auch große Überwindung gekostet hatte, war sie in den letzten Jahren quer durch Deutschland und halb Europa geflogen. Ich hingegen … naja, wie schon gesagt, mir war durchaus klar, daß Fliegen an sich eine sehr sichere Fortbewegungsart ist. Auch kannte ich alle physikalischen Grundlagen, aber trotzdem verspürte ich nagende Zweifel. Ich meine, diese turbinengetriebenen Möchtegernvögel sind höllisch schwer und werden nur durch Tricks in der Luft gehalten – mögen diese Tricks auch noch so wissenschaftlich fundiert sein –, und wenn diese Tricks versagen, ist der Weg nach unten verdammt lang, und der Aufschlag verdammt hart und endgültig. Aber halt, ich mußte mich jetzt zusammenreißen, schließlich ging es nicht an, daß ich durch meine (wenn auch verständliche) Feigheit den anderen den verdienten Urlaub verdarb. Außerdem war es jetzt eh viel zu spät um noch abzuspringen. Abzuspringen? Ups, treffende Wortwahl.
Mit einem Ausdruck von Todesverachtung im Gesicht packte ich all meinen Mut zusammen und stiefelte einigermaßen festen Schrittes neben Reinhardt ins Flugzeug. Immerhin war die Belohnung für meinen Mut wirklich was Besonderes, zumindest für jemanden wie mich. Fast zwei Wochen raus aus der in Deutschland herrschenden Kälte und ab in eine Gegend, wo wir in T-Shirts und kurzen Hosen würden rumlaufen können! Das war so in etwa meine Vorstellung vom Paradies. Mein übermütiger kleiner Bruder war übrigens vorangestürmt als fürchtete er, daß die Maschine ohne ihn abheben würde. Ach ja, der Enthusiasmus der Jugend!
Moment mal, werden jetzt einige sagen. Der Kerl lag doch eben noch todsterbenskrank in fremden Betten, und jetzt ist er plötzlich auf dem Weg ins Land des großen Big Mac? Tja, liebe Leute, ich habe beschlossen, mir (und euch) die herzergreifende Beschreibung meines Leidensweges in den letzten zwei Wochen zu ersparen. Mit täglichen, leichten Verbesserungen wiederholte sich eh hauptsächlich das, was schon an meinem ersten Tag bei den beiden Bergners abgelaufen war. Glücklicherweise hatte vor ein paar Tagen die heilkundige Familien-Medizinfrau grünes Licht für den Trip zu Uncle Sam gegeben, sodaß ich – obwohl ich mich noch nicht hundertprozentig wieder hergestellt fühlte – frohen (oder nicht ganz so frohen) Mutes in den Flieger steigen konnte. Die knappe Woche, die ich bei Tim und seinem Vater verbrachte, hatte die erfreuliche Auswirkung, uns drei ziemlich zusammenzuschweißen, was auch meine Mutter bei ihrer Rückkehr aus der Baguette-Hauptstadt hocherfreut zur Kenntnis genommen hatte. Sie hatte mir übrigens einen echten Pariser mitgebracht! Naja, leider keinen auf zwei Beinen, sondern einen in Folie verpackten. Und der machte sich jetzt in meinem Portemonnaie mit mir zusammen auf den Weg nach Florida – nicht daß ich irgendwie gesteigerte Hoffnungen hegte, ihn dort brauchen zu können.
Aber weiter im Text und zurück ins Flugzeug. Als Reinhardt uns bei der Gepäckaufgabe einen ersten Blick auf die Tickets gestattete, waren mir fast die Augen aus den Höhlen gekullert. Da stand doch tatsächlich Business-Class! Ich kramte kurz in meinem Gedächtnis, fand jedoch keinen Hinweis auf einen kürzlichen Lottogewinn. Gut ging es in finanzieller Hinsicht zwar beiden Familien, aber soviel Geld für ein Transportmittel springen zu lassen, kam mir doch etwas übertrieben vor. Beschweren würde ich mich zwar bestimmt nicht, aber ich war dann doch etwas erleichtert, als Tims Vater erklärte, wie wir zu dieser Ehre kamen. Es stellte sich heraus, daß er schon längere Zeit technische Literatur für diese Fluggesellschaft übersetzte, mit dem Ergebnis, daß er selbst über Freiflugtickets in der Business-Class verfügte und seine Begleitung diesen Luxus zum Preis der Touristenklasse bekam. Bei Gelegenheit würde ich ihn mal fragen, ob er nicht zufällig auch für Lincoln tätig war. Bis zu meinem 18. Geburtstag waren es nur noch ein paar Monate, dann wäre der Führerschein fällig, und ein Lincoln Navigator zum Discount-Preis würde mein Glück komplett machen. Okay, nicht ganz komplett, aber den passenden Beifahrer würde ich mir schon noch angeln. Irgendwann mußte das doch mal klappen!
Im Flieger angekommen, wurden wir zu unseren Plätzen geleitet, und großmütig überließ ich Tim den Fensterplatz. Auf diese Weise würde ich hoffentlich vom Start nicht allzuviel mitbekommen. Ich machte es mir gemütlich und harrte der Dinge, die da kommen wollten. Eine Weile lang beobachtete ich die anderen Passagiere, dann kramte ich das Infomaterial hervor, welches die Betreiber des fliegenden Blechhaufens zum Amüsement der Fluggäste bereithielten. Ein Hochglanzprospekt, aus welchem mir gleich beim ersten Aufklappen die Sicherheitshinweise ins Gesicht sprangen. Wirklich sehr beruhigend. Beim Anblick meiner gequälten Gesichtszüge kicherte Tim neben mir.
»Wirklich so schlimm?«
»Äh … hm … ja. Müssen die auch noch ausdrücklich darauf hinweisen, daß etwas passieren könnte?«
»Ich denke schon, alleine um sich gegen Schadenersatzklagen abzusichern.«
Sehr schön. Ich blätterte weiter und fand einige beruhigendere Dinge, zum Beispiel zum Video- und Radioprogramm und zum Duty-Free-Einkauf. Leichte Entspannung machte sich bei mir breit, und ich bemerkte gar nicht, wie die Zeit des Abflugs immer näher rückte. Aufgeschreckt wurde ich durch die Stimme des Captains, welcher androhte, daß die Flugbegleiter nunmehr mit der Sicherheitseinweisung beginnen würden.
»Nicht das auch noch!«
Meine Mutter, die mit Reinhardt hinter Tim und mir saß, beugte sich nach vorne und flüsterte mir beruhigend ins Ohr.
»Da mußt du durch, dauert auch nicht lange.«
Wie das sprichwörtliche, zur Schlachtbank geführte Schaf ließ ich die Ansprache über mich ergehen, und als diese zu Ende war, wünschte ich mir, sie würde noch ein paar Stunden weitergehen. Mir war nämlich blitzartig klargeworden, daß mit dem Ende des Gequatsches nunmehr der Start unmittelbar bevorstand. Die Flugbegleiter verteilten noch Bonbons zum Zwecke des besseren Verkraftens des Druckausgleichs (mir wäre eine Vollnarkose lieber gewesen), und dann fing die Maschine an zu rollen. Ich machte mich in meinem Sessel ganz klein und krampfte die Hände um die Sitzlehnen. Tim war nun nicht mehr amüsiert sondern eher besorgt.
»Wir starten noch nicht, erst müssen wir zur Startbahn rollen.«
Der Grad meiner Verkrampfung fiel auf 99%. Tim lächelte mich beruhigend an und legte seine linke Hand auf meine rechte. 98%. Die Rollerei dauerte eine ganze Weile, und mir schoß ein verrückter Gedanke durch den Kopf. ›Gott sei dank, wir rollen nach Florida.‹ 97%. Wir drehten einige Kurven über das Flughafengelände. 96%. Das Flugzeug blieb stehen. ›Maschine kaputt, Flug abgesagt!‹ 25% und fallend! (Ja, ja, ich weiß: totaler Blödsinn. Aber was geht einem nicht alles durch den Kopf, wenn man vor Angst nicht weiß wohin mit sich.) Plötzlich ein Dröhnen, die Maschine fing an zu zittern und setzte sich, immer schneller werdend, in Bewegung. Ich war wieder auf 100%. Die Armlehnen würde man bestimmt nach meinem Flug austauschen müssen, die waren garantiert mit den Abdrücken meiner Fingernägel dauerhaft verziert. Ich wollte von all dem nichts mehr mitbekommen und kniff die Augen zusammen. Zwar hatte ich keinen totalen Blackout, aber weit davon entfernt war ich auch nicht.
Wie lange ich in dieser Starre verharrte, kann ich nicht mehr sagen, als ich jedenfalls wieder in der Lage war meine Umgebung wahrzunehmen, hatte das Dröhnen und Schütteln aufgehört, und ich fühlte mich jetzt ein wenig wie in einem schnellen, komfortablen Auto auf einer frisch hergerichteten Autobahn. Ich warf einen vorsichtigen Blick in die Runde und erblickte lauter entspannte Gesichter. Offenbar hatte alles so funktioniert wie geplant, und wir waren dabei, die ersten Kilometer auf dem Weg zu Disneys Märchenland zurückzulegen. Ich drehte meinen Kopf nach rechts, und von dort schaute mich Tim mit einem Grinsen an, welches so breit war, daß es beinahe die Grenzen seines Gesichts sprengte.
»Na, überlebt?«
»Gerade mal so.«
»Sieh dir das mal an.«
Mein Brüderchen zeigte auf den Bildschirm vor meinen Augen. Keine Ahnung was er damit beabsichtigte, aber sonderlich beruhigend war die ständig steigende Höhenangabe nicht gerade. Aber was solls, jetzt war eh nichts mehr zu ändern, also fand ich mich wohl besser mit meiner Lage ab. Ich griff nach meinem mitgebrachten Buch, und kurz darauf war ich überraschenderweise völlig in die Handlung versunken.
Ein Weilchen später – der mysteriöse Mörder in meinem Krimi hatte gerade zum dritten Mal zugeschlagen – wurde ich aus der Handlung herausgerissen. Eine Stewardess (halt, stop, Einspruch: eine Flugbegleiterin) verteilte Getränke und Knabbereien. Tim und ich griffen zu, die freundliche Dame wanderte weiter durch die Reihen, dann ertönte die Stimme des Bezwingers der Lüfte um uns mitzuteilen, daß wir nunmehr einen Blick auf das viele Kilometer unter uns liegende, nächtliche Hamburg werfen konnten. Dieser Anblick – Tim ließ mich freundlicherweise auch mal aus dem Fenster schauen, was ich anfangs nur mit ein wenig Zagen tat – entschädigte für vieles. Ich hätte nie geglaubt, daß man aus dieser Höhe alles so deutlich erkennen konnte. Einzelne Autos, ein vollbeleuchtetes Fußballstadion – einfach herrlich. Mittlerweile hing ich mit dem ganzen Körper auf dem nämlichen meines Bruders, und unsere Köpfe drängten sich an das kleine Fenster. Ein paar Minuten später war alles vorbei, und wir sortierten uns wieder in unsere eigenen Sitze.
»Na, Danny, war das nicht ein toller Anblick?«
»Kannst du laut sagen. Ist das immer so?«
»Nein, bei meinen bisherigen Flügen hatte ich nie so ein Glück. Entweder waren wir am Tag unterwegs, oder es waren zu viele Wolken zwischen dem Boden und uns. Olle Petrus scheint dir wohlgesonnen zu sein.«
»Naja, ein klein wenig Glück muß ich doch auch mal haben. Ob wir so etwas heute noch öfters zu sehen bekommen?«
»Wenn das Wetter mitspielt schon. Nächste Station wäre Glasgow, und nach dem großen Wasser dann Washington.«
»Klasse!«
»Nanu, wo ist denn plötzlich deine Flugangst hin?«
»Welche Flugangst? Aber ich doch nicht.«
»Haha. Wenn du so leicht zu kurieren bist, werde ich dir ganz schnell auch deine Angst vorm Wasser austreiben.«
»Uhg. Erinnere mich nicht da dran. Ich habe im Augenblick genug damit zu tun, darüber hinwegzukommen, in zehntausend Metern Höhe ohne Netz und Fallschirm dahinzufliegen. Zu allem Überfluß demnächst auch noch über einem der größten Gewässer der Welt.«
Aber Tim hatte durchaus recht. Ich war jetzt tatsächlich deutlich entspannter und konnte mich relativ locker in meinem Sessel zurücklehnen. Wobei mir langsam aber sicher eine Sache klarwurde.
»Sag mal, Tim, ist es in Flugzeugen immer so kalt?«
»Naja, sonderlich warm ist es jedenfalls nicht. Schau mal auf die Außentemperatur: minus 55 Grad. Jedes Grad was sie mehr heizen kostet extra Sprit. Also verteilen die lieber Decken. Brauchst du eine?«
»Laß mal, jetzt noch nicht. Falls ich aber nachher auf die Idee kommen sollte, mal ein Weilchen zu schlafen, wäre ich einer Decke gegenüber nicht abgeneigt.«
»Wie du meinst.«
Zumindest wußte ich jetzt, warum wir nicht schon auf dem heimischen Flughafen in die deutlich sommerlicheren Florida-Klamotten geschlüpft waren, sondern damit bis zur Ankunft im Sunshine State warten würden.
Die Zeit bis zum Überflug von Glasgow verbrachten wir mit Lesen und dem Verfolgen der bordeigenen Radioprogramme. Über der schottischen Hauptstadt hatten wir wiederum großes Glück mit dem Wetter, und die Erfahrung von Hamburg wiederholte sich. Kurz darauf wurde Essen serviert, welches … naja, sagen wir mal so: eßbar war. Nach dem Abräumen veränderte sich das Bild auf den Monitoren, und der Hauptfilm des Fluges wurde angekündigt. Armageddon. Naja, den hatte ich noch nicht gesehen, also schaltete ich die Kopfhörer auf den passenden Kanal und verbrachte die nächsten knapp zwei Stunden damit, der Menschheit beim Überlebenskampf zuzuschauen. Eigentlich nicht schlecht, was aber die Mädels meiner Schule nun gerade an Ben Affleck fanden, konnte ich nicht so recht nachvollziehen.
Nach dem Ende des Films griff ich mir eine der bereits angesprochenen Decken und schlief gut zwei Stunden. So konnte ich zumindest davon träumen, festen Boden unter den Füßen zu haben. Da so etwas Gutes aber nie auf Dauer anhält, wurde ich durch ein sanftes Rütteln an meiner Schulter geweckt.
»Danny, wach auf.«
Ich versuchte ein wenig meine Gedanken zu sammeln, und nach ein paar verwirrten Momenten brachte ich tatsächlich eine Antwort zustande.
»Was ist, sind wir schon da?«
»Nein, aber du mußt dich anschnallen. Der Captain hat Turbulenzen angekündigt.«
Na prima! Genau das, was mir zu meinem Glück noch fehlte. Ich setzte mich aufrecht und ließ den Gurt einschnappen. Tatsächlich fing kurz darauf eine höchst unerfreuliche Schüttelei an. Das Flugzeug wackelte nach allen verfügbaren Richtungen, und manchmal spürte ich regelrecht, wie es ein ganzes Stück durchsackte. Die Stimmung in der Kabine war entsprechend, man konnte die Spannung regelrecht fühlen.
Unser Martyrium dauerte etwa eine Viertelstunde, nach welcher die Flugbegleiter alle Hände voll damit zu tun hatten, die berühmten Tüten einzusammeln. Überraschenderweise hatte ich die meinige nicht benötigt – ganz im Gegensatz zu meinem ach so coolen kleinen Brüderlein. Aber halt, ich würde mich auf keinen Fall über ihn lustigmachen, hatte ich doch während dieser 15 langen Minuten mehrfach mit meinem eigenen Leben abgeschlossen.
Nun ja, zum Glück enden nicht nur die schönen sondern auch die weniger solchen Momente im Leben, und wir fanden uns in nicht ganz so durcheinandergeratenen Luftschichten wieder. Tim war wie gesagt ziemlich bleich – und konnte nunmehr meine Lage wohl deutlich besser nachvollziehen. Auch Mutti und Reinhardt waren von den Ereignissen der letzten Minuten nicht ganz unbeeindruckt geblieben, wenn ich es richtig mitbekommen hatte, mußte die Flugbegleiterin aus der Reihe hinter uns zwei K…tüten entgegennehmen. Es dauerte dann etwa eine halbe Stunde, bis sich alle wieder einigermaßen beruhigt hatten und das normale Bordprogramm mit Kurzfilmen und einem kleinen Imbiß erneut anlief.
Der Rest des Fluges verging wie im Fluge. Nanu, was ist denn das nun wieder für ein blöder Spruch? Tja, blöd aber zutreffend. Washington verbarg sich unter einer dichten Wolkendecke – naja, vielleicht hatte der gute George gerade Besuch von einer Praktikantin und wollte vermeiden, daß man ihn von oben beobachtet. Vielleicht waren es ja auch gar keine Wolken sondern vielmehr Zigarrenqualm.
Die letzte Strecke ging die Küste hinunter in Richtung Orlando, wo wir dann gegen 22.30 Uhr landeten. Nur anderthalb Stunden später hatten wir die Einreiseformalitäten hinter uns gebracht, das Gepäck gefunden, uns umgezogen und wollten uns gerade ein Taxi zum Hotel suchen, als plötzlich der Name »Bergner« ausgerufen wurde. Also machten wir uns wie gewünscht auf den Weg zum Info-Stand, wo uns ein Mann in der Uniform der Fluggesellschaft erwartete. Letztere schien Reinhardt tatsächlich ziemlich dankbar zu sein, der auf uns wartende Angestellte stellte sich als unser Fahrer heraus, welcher uns nunmehr mit einem Kleinbus (ich verwende absichtlich dieses Wort, das bei uns in Mode gekommene »Van« wäre in Anbetracht des Riesengefährts deutlich untertrieben) zum Hotel beförderte.
Nach einer Fahrt über immer noch recht belebte Straßen erreichten wir unsere Unterkunft für die nächsten Tage: ein »Resort« direkt am Magic Kingdom. Reinhardt ließ sich wirklich nicht lumpen, wie sich kurz darauf auch darin zeigte, daß wir zu einer uns den Atem nehmenden Suite geführt wurden. Ein großer Wohnraum, zwei Schlafräume, jeweils mit zwei riesigen Betten sowie eigenem Bad samt Whirlpool, natürlich überall Fernsehgeräte (okay, nicht überall, in den Bädern hatte man unverständlicherweise darauf verzichtet), und voll klimatisiert. Mit zwei einfachen Worten: Luxus pur.
Auf weitere Erkundungen verzichteten wir jedoch ob der vorgerückten Stunde. Wir packten noch schnell die nötigsten Sachen aus, und kurz darauf lagen wir in den Betten. Trotz der ziemlich aufregenden vergangenen Stunden kam der Schlaf diesmal wirklich schnell.
Erst 8 Uhr und ich war bereits wach. Und das im Urlaub. Und ich brauchte nur etwa eine Stunde, bis ich auch wußte wo ich mich befand. Nee, ganz so schlimm war es nicht, aber etwas verdutzt war ich schon, in einem Bett aufzuwachen, in welchem ich mich der Größe wegen hätte verlaufen können. Das alles in einem geringfügig zu stark dekorierten Zimmer. Für meinen Geschmack alles ein wenig übertrieben, aber das war dann wohl typisch amerikanisch. Bevor ich mich allerdings weiteren Analysen hingeben konnte, wurde ich aus meinen Grübeleien herausgerissen.
»Hallo Schlafmütze. Na, endlich wach?«
Ein unangenehm munterer Tim stand fröhlich grinsend und nur mit hautengen Boxershorts bekleidet in der Tür des Badezimmers. Dieser Anblick war reiner Psychoterror für mein einsames Herz, und ich verfluchte mal wieder die Tatsache, daß man – ganz im Gegensatz zu bestimmten Vorurteilen – niemanden zum Schwulsein verführen konnte. Mein Brüderchen wäre mit Sicherheit jede diesbezügliche Anstrengung wert gewesen. Aber das sollte halt nicht sein.
»Wieso bist du schon wach? Es heißt doch immer, daß kleine Kinder ihren Schlaf brauchen.«
»Wenn ich nicht meine ganze Energie für den heutigen Tag bräuchte, dann würde ich dir jetzt zeigen, wer hier ein kleines Kind ist.«
»Versprich nichts was du nicht halten kannst, Timmy!«
»Argh! Jetzt bist du fällig!«
Mit diesen Worte überbrückte mein Brüderchen die wenigen Schritte zwischen der Badezimmertür und meinem Bett, nur um dann knapp über Armesreichweite entfernt abrupt stehenzubleiben. Mit grübelndem Blick starrte er mich an.
»Moment mal. Wie war das, du kannst Karate?«
»Darauf kannst du dich verlassen.«
»Okay, Entschuldigung akzeptiert. Da hast du jetzt wirklich Riesenschwein gehabt. Aber du solltest dein Glück nicht allzusehr strapazieren, wenn du dich jetzt nicht beeilst aus den Federn zu kommen, wirst du garantiert Ärger mit unseren alten Herrschaften bekommen. Wir haben heute nämlich einiges vor.«
Normalerweise wäre ich von solcherart Drängelei genervt gewesen, da ich aber selbst nur allzu gespannt darauf war, meine Umgebung zu entdecken, sah ich diesmal großzügig darüber hinweg. Ich schleuderte die Bettdecke von mir, was zur Abwechslung (und im Unterschied zu winterlichen deutschen Landen) nicht in einem Fröstelanfall endete.
»Tim, hast du schon herausgefunden, was das Thermometer sagt?«
»So um die achtzehn Grad. Und es sollen bis fünfundzwanzig werden.«
»Hallelluja! Und woher hast du diese göttlichen Neuigkeiten?«
Tim wies mit dem rechten Arm in Richtung Fernseher, welcher – wie ich erst jetzt bemerkte – tonlos vor sich hin flimmerte und aktuelle Wetterdaten zeigte. Ich schickte ein kurzes Stoßgebet bezüglich der Zuverlässigkeit amerikanischer Wetterpropheten gen Himmel und machte mich dann auf den Weg ins Badezimmer.
Eine Viertelstunde später betrat ich wieder das Zimmer, etwa im gleichen Aufzug wie Tim bei meinem Aufwachen, mit dem einzigen Unterschied, daß ich weniger auf solch hautenge Sachen stand. Reinhardts Sohnemann hatte mittlerweile seine Garderobe komplettiert und stand in T-Shirt und kurz unter den Knien abgeschnittenen Bluejeans im Zimmer. Da mir dies den Temperaturen durchaus angemessen erschien, schloß ich mich seiner Wahl an und gesellte mich kurz darauf in ganz ähnlichem Outfit zu ihm. Tim schaltete den Fernseher aus, dann begaben wir uns ins »Wohnzimmer« der Suite, wo wir bereits von Mutti und Reinhardt erwartet wurden.
»Na, sind die jungen Leute auch endlich munter geworden?«
»Ach, Reinhardt, laß sie doch. Der Tag gestern war doch wirklich anstrengend.«
»War doch gar nicht so gemeint. Guten Morgen allerseits.«
Der Morgen machte tatsächlich einen guten Eindruck. Noch besser wäre er allerdings, wenn mir nicht so der Magen knurren würde.
»Wie siehts aus mit Frühstück?«
»Wir haben nur noch auf euch gewartet. Also los, alles was Hunger hat mir nach.«
Da brauchte er nicht lange zu bitten. Die Karawane setzte sich in Bewegung, und nach einem Marsch durch lange Gänge und der Fahrt mit einem Aufzug fanden wir einen gemütlichen Vierertisch in einem der Hotelrestaurants. Zehn Minuten später stand unser Frühstück vor uns, und das unterschied sich nun wirklich recht deutlich davon, was wir von zuhause gewöhnt waren. Toast (ziemlich lappriger solcher) mit Schinken, Speck und Spiegelei, dazu Tee und Kaffee (welcher von unseren Eltern als nicht sonderlich gelungen bezeichnet wurde). Nun, so ungewohnt die Speisenzusammenstellung auch war (meine Mutter und ich bevorzugten zum Frühstück üblicherweise die »süße Alternative«, sprich Brötchen und Konfitüre), sättigend war das Zeug auf jeden Fall. An den Geschmack würde ich mich erst gewöhnen müssen, aber schlecht schmeckte es nicht.
Nachdem nunmehr dieses extrem wichtige Bedürfnis befriedigt war, wandten wir uns gemeinsam der Planung des Tages zu. Am ungeduldigsten war natürlich Tim.
»Paps, was machen wir heute?«
»Tja, wir bleiben für vier Tage hier, da können wir jeden Tag einen anderen Park besuchen. Maria und ich dachten, daß wir heute am besten die MGM Studios besuchen, da braucht man nicht unbedingt einen ganzen Tag für. Wir müssen uns ja eh erstmal ein wenig eingewöhnen.«
Ich kramte kurz in meinem Gedächtnis, welches ich bereits zuhause gründlich mit allen möglichen Daten und Informationen zu unserem Reiseziel vollgestopft hatte. Stichworte wie StarTours und Tower of Terror kamen mir in den Sinn. Tja, heute würde sich zeigen, wie mutig mein kleines Brüderlein wirklich war.
Eine große Diskussion gab es erwartungsgemäß nicht, und nachdem nunmehr alle abgefüttert waren, begaben wir uns zurück auf unsere Suite. Dort zeigte Reinhardt uns verschiedene Dinge, die er auf dem Zimmertisch vorgefunden hatte. Dazu gehörten Disney-Pässe, Landkarten, Werbeprospekte sowie Papiere und Schlüssel zu einem Mietwagen. Wir machten noch die ganze Video- und Fototechnik einsatzbereit, dann war es an der Zeit, uns endlich auf den Weg zu unserem eigentlichen Ziel zu machen, also wanderten wir wieder nach unten, und kurz darauf saßen wir in einem disneyeigenen Bus, welcher uns zu den MGM Studios bringen sollte. Die Fahrt ging über teilweise sechspurige Straßen, der Verkehr war lebhaft, aber nicht allzu dicht.
Am Parkeingang eingetroffen, deckten wir uns mit Infomaterial ein und machten einen Treffpunkt aus für den Fall, daß wir uns im Gewimmel verlieren würden. Noch waren die Menschenhorden relativ übersichtlich, aber das würde sich vermutlich im Tagesverlauf ändern. Nicht zum Besseren, wohlgemerkt. Die Technik wurde aufgeteilt, Reinhardt nahm die Videokamera, Mutti unsere Kleinbildknipse und ich erhielt die Digitalkamera. Für Tim blieb nichts übrig, und das erschien mir nicht ganz fair.
»He, Tim, willst du die Digiknipse nehmen? Ist schließlich eure.«
»Nee, laß mal. Ich hab mit Fotografieren nicht so viel am Hut.«
»Okay, wenn du meinst.«
Wir beschlossen, den Park im Uhrzeigersinn abzuarbeiten, was uns zuerst zur »Indiana Jones Epic Stunt Spectacular!« brachte. Wir hatten richtig Glück, gerade hatte der Einlaß zur Show begonnen, und wir fanden einen guten Platz in der Mitte der Tribünen. Selbige füllten sich ziemlich schnell, wären wir zehn Minuten später gekommen, hätten wir auf die nächste Show warten müssen. Kurz nachdem die heiligen Hallen bis auf den letzten Platz besetzt waren, erschien ein »Moderator«, welcher die Gäste begrüßte und sich sodann auf die Jagd nach ein paar Freiweilligen für die Mitwirkung als »Aushilfs-Stuntmen« machte. Ich überlegte kurz, ob ich mich melden sollte, verzichtete dann aber doch darauf (hinterher war ich mächtig froh darüber). Fünf Zuschauer wurden herausgepickt und »abgeführt«, um auf ihre Rollen vorbereitet zu werden. Dann begann das große Spektakel in mehreren Szenen. Unter anderem kam die riesige Felskugel aus »Indiana Jones und der Tempel des Todes« (wenn ich das jetzt richtig einordne) zum Einsatz, dann eine wilde Verfolgungsjagd per Auto und zu Fuß samt Prügelei und Schießerei, und auch die berühmte Szene mit dem wild durch die Gegend rollenden Flugzeug fehlte nicht. Das alles untermalt mit Musik, Knallerei und Pyrotechnik (alles extrem laut!), dazu teilweise lodernde Flammen. Auch die Freiwilligen hatten ihren Auftritt, und jetzt höre ich auf das weiter zu erzählen, schließlich möchte ich nicht zukünftigen Florida-Touristen die ganze Spannung verderben ;-)
Die Show war wirklich spektakulär, und an deren Ende verließen wir – von Handlung und Laustärke betäubt – die Arena. Nächster Halt war »Star Tours«, eine Fahrt, die ich allen StarWars-Fans nur wärmstens ans Herz legen kann. Vor dem Eingang liegt ein abgestürzter X-Wing-Fighter in der Gegend herum, und ein riesiger Walker verschießt Wasser aus seinen »Laser«-Kanonen – untermalt von den typischen StarWars-Geräuschen.
Drinnen erlebten wir dann eine rasante Jagd durch den Weltraum, inklusive freilaufenden Asteroiden und angreifenden Bösewichtern. Die Sound-, Licht- und Bewegungseffekte machten das alles ungemein realistisch – etwas, was ich vorher einfach nicht für möglich gehalten hätte. Okay, ich hatte schon davon gehört, wie toll das sein sollte, aber dies bisher immer als Übertreibung abgetan. Ist es wirklich nicht! Bereits in diesem Moment war mir klar, daß mich wohl die vier aufregendsten Tage meines bisherigen Lebens erwarteten.
Wieder in unserem Raum- und Zeitgefüge eingetrudelt, beschlossen wir dann, uns zu trennen. Mutti und Reinhardt wollten es gemütlich angehen, Tim und ich dagegen konnten nicht schnell genug zur nächsten Attraktion gelangen.
»Jungs, wir treffen uns siebzehn Uhr am Weihnachtsbaum, okay?«
Dieser geschmückte Geselle ist übrigens eine gesonderte Erwähnung wert. Weihnachts»baum« traf es wohl nicht so richtig, denn so geometrisch exakt kann sicherlich kein echter Baum wachsen. Mit Kullern, Girlanden und sonstigem Firlefanz behängt bis zum Gehtnichtmehr war er ein lebendes (oder besser gesagt: nicht lebendes) Beispiel amerikanischen Übertreibens. Alles muß noch etwas größer, bunter, ausgefallener sein als sonstwo auf der Welt. Man muß die Amis einfach dafür lieben. Aber zurück zum eigentlichen Geschehen. Nachdem meine Mutter den Treffpunkt festgelegt hatte, zückte Reinhardt nun seine Brieftasche und drückte Tim und mir jeweils 50 Dollar in die Hand.
»Hier, das heißt aber nicht, daß ihr die gleich in den nächsten paar Stunden ausgeben müßt.«
Hm, ich hatte im StarWars-Shop einige Dinge gesehen, die ich gerne gekauft hätte – allerdings würden diese sowohl den finanziellen Rahmen als auch die Freigepäckgrenze für den Rückflug sprengen.
»So, schiebt ab, ihr seid ja eh kaum noch zu halten. Paßt auf, daß ihr euch nicht aus den Augen verliert. Und Tim: du hältst dich an Danny, klar? Tu was er dir sagt. Viel Spaß ihr zwei.«
Ich war mir nicht so sicher, ob mir diese Rolle als großer Bruder unbedingt gefiel. Klar, es machte schon Spaß für den »Kleinen« zu sorgen – andererseits wollte ich nicht, daß er mich nun nur als »Authoritätsperson« ansah. Naja, das würde ich notfalls bei Gelegenheit mit ihm abklären.
Auch Mutti wünschte uns noch viel Vergnügen, dann endlich konnten wir uns verdünnisieren. Gut, ich mochte die beiden »Oldies« wirklich, aber so etwas wie Disney World erkundete ich doch lieber mit jemandem in meinem Alter. Tim schien es ähnlich zu gehen, denn auch er konnte gar nicht schnell genug Abstand zwischen uns und die alten Herrschaften bringen.
»Puh, endlich alleine! Ich dachte schon, die würden uns nie in Frieden ziehen lassen.«
Yup, Tim ging es genau wie mir!
»Na dann los, was ist unser nächstes Ziel?«
Wir warfen gemeinsam einen Blick auf die Karte, dann einen Blick ins Gelände, und schon waren wir auf dem Weg zur Muppet Show – genau gesagt zu »Jim Henson's Muppet Vision 3-D«. Wie der Name schon andeutet, handelt es sich um eine dreidimensionale Umsetzung der berühmten Puppenshow. Am Eingang wurden entsprechende Brillen verteilt, die Wartezeit bis zur nächsten Show wurde durch Auftritte der verschiedensten Muppets auf Videomonitoren verkürzt, und wenige Minuten später saßen wir in einem richtigen Theater. Die Show die dann begann war … einfach atemberaubend! Es ist schon ein sehr seltsames Gefühl, wenn plötzlich aus der Leinwand heraus ein Auto auf einen zugestürzt kommt. Ich zuckte in meinem Sitz zusammen und war drauf und dran, mich nach unten zu verkriechen. Keine so gute Idee, Tim neben mir hatte nämlich ganz ähnliche Gedanken, sodaß wir mit den Köpfen zusammenstießen.
»Aua!«
»Gleichfalls!«
Jetzt werden natürlich einige sagen: Die wußten doch was auf sie zukommt. 3-D sagt doch schon alles. Stimmt! Aber denk mal da dran, wenn du von der Handlung mitgerissen wirst! Wir zwei waren übrigens nicht die einzigen, die so reagiert haben. Der Zusammenprall war zum Glück nicht sonderlich heftig, der Schreck war größer als der Schmerz, sodaß wir die Show weiterhin genießen konnten. Zusammengezuckt sind wir (wie alle anderen im Theater auch) noch einige Male, allerdings konnten wir uns weitere körperliche Zusammenstöße verkneifen.
Übrigens, Kenntnisse der englischen Sprache sind sehr hilfreich. Für reine Fahrten braucht man sie zwar nicht, aber die Shows machen erst dann richtig Spaß, wenn man auch versteht was gesprochen wird. Tim und ich hatten mit unserem Schulenglisch keine Probleme – wir verstanden nicht nur die gespielten sondern auch die gesprochenen Witze.
Und noch was: egal ob Sprache, Musik oder Spezialeffekte – alles ist extrem laut. Thomas mag das ja von seinen sich streitenden Schwestern gewöhnt sein – mich hat es anfangs total fertiggemacht. Man gewöhnt sich mit der Zeit dran, spätere Folgeschäden sind jedoch nicht ausgeschlossen. (Was ganz angenehm sein kann, wenn man das Schnarchen seiner besseren Hälfte nicht mehr hört. Was allerdings vorraussetzt, eine solche zu haben, womit wir wieder beim leidigen Thema des einsamen Danny wären.)
Tim und ich beschlossen nach der Muppets Show jedenfalls, eine kurze Pause zum Nachladen der verbrauchten Energien einzulegen. Da die Disney-Leute zu der völlig korrekten Schlußfolgerung gekommen sind, daß verhungerte Gäste keine gute Werbung darstellen, brauchten wir auch nicht lange zu suchen bis uns ein HotDog-Stand über den Weg lief. Wir gönnten uns jeder einen solchen heißen Hund und eine Flasche Sprite und suchten uns sodann ein schattiges Plätzchen zum Zwecke des Verzehrs der teuer erkauften Lebensmittel (2 Dollar 50 für eine 0.5er Flasche Sprite – puh.) Zu den Flaschen kann man übrigens ein sehr nützliches Utensil erwerben – einen Tragegurt, mit welchem man sich die Flaschen um den Hals hängen kann. Somit sind die Hände frei, und freie Hände braucht man bei Disney immer.
Wie gesagt, wir setzten uns auf eine strategisch günstig gelegene Bank und führten als erstes die HotDogs ihrer Bestimmung zu. Nachdem unsere Lebensgeister solcherart wieder aufgefrischt waren, lehnten wir uns gemütlich zurück und beguckten ein wenig das bunte Treiben. Mittlerweile waren gewaltige Menschenmengen unterwegs, und da »Leute gucken« eh zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte, genoß ich es so richtig. Ich meine, je mehr Leute umso größer die Chancen auf ein paar wirklich schöne Anblicke ;-)
Tim guckte mir eine Weile dabei zu wie ich den Leuten zuguckte, dann wurde es ihm zu langweilig.
»Na, irgendjemand der dich interessiert dabei?«
Ich grinste ihn an.
»Ich hab schon ein paar gesehen, denen ich nicht abgeneigt wäre.«
»Schlimmer Finger. Und du sollst mir ein Vorbild sein. Sag mal, welcher Typ Junge gefällt dir eigentlich am besten?«
»Hm, laß mich mal scharf nachdenken. Blond, schlank, sportlich – aber kein Bodybuilder, eher Richtung Fußballer oder Schwimmer –, intelligent, lustig, etwa mein Alter.«
Es gab natürlich eine viel kürzere Antwort, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden, »Schau einfach in einen Spiegel« zu sagen. Um ehrlich zu sein, hatte ich bezüglich Tim in dieser Angelegenheit keine großen Hoffnungen mehr. Fragt mich jetzt bitte nicht warum, es war einfach so ein Gefühl.
»Verguck dich hier bloß nicht in einen Ami, oder bist du auf einen Urlaubsflirt aus?«
»Nee, ich will was Dauerhaftes. Mit dem Typen, in den ich mich verliebe, will ich nicht nur mein Bett sondern auch mein Leben teilen. Das mag jetzt altmodisch klingen, aber so bin ich nun mal.«
»Keine Bange, das klingt nicht altmodisch, eher romantisch. Ich könnte mir eine reine Sex-Beziehung auch nicht vorstellen. Wobei ich mir im Moment überhaupt noch keine Beziehung so richtig vorstellen kann. Sag mal, warum flüstern wir eigentlich, uns versteht doch hier sowieso keine Sau?«
»Da wäre ich mir an eurer Stelle nicht so sicher.«
Unser nun folgendes Zusammenzucken entsprach in der Heftigkeit in etwa dem in der ersten Schrecksekunde im 3-D-Kino. Da sitzt man weit von daheim auf einer Bank in Disney-World und wird plötzlich in heimatlicher Zunge angesprochen! Japanisch hätte mich nicht so überrascht, uns waren schon einige Leute mit den passenden Gesichtszügen und den unvermeidlichen Kameras vor den Augen über den Weg gelaufen, aber Deutsche? Und ausgerechnet auf der Nachbarbank?
Nachdem wir uns einigermaßen von unserem Schreck erholt hatten, schauten wir in die Richtung, aus der die heimatlichen Klänge gekommen waren. Auf der Bank neben uns saß ein Pärchen (ein Hetero-Pärchen :-), vielleicht zwei oder drei Jahre älter als wir. Beide grinsten uns fröhlich und gleichzeitig ein wenig schuldbewußt an.
»Entschuldigt bitte, Jungs, wir wollten euch wirklich nicht erschrecken. Bernd ist manchmal ein wenig impulsiv.«
»He, das konnte ich mir einfach nicht entgehen lassen. Übrigens, das ist Sandra. Meinen Namen kennt ihr ja schon.«
»Ha … Hallo. Ich bin Danny, und der Typ neben mir ist Tim.«
Wie lange hatten die beiden uns schon zugehört?
»Schön euch kennenzulernen. Seid ihr alleine hier?«
»Unsere Eltern haben uns von der Leine gelassen, wir waren denen wohl ein wenig zu anstregend. Oder besser gesagt, die waren uns zu langsam.«
»Kann ich mir vorstellen. Wir sind mit Sandras Eltern hier, und wir haben uns lieber gleich am Eingang getrennt.«
»Die hatten Angst, daß Bernd sie in den ›Tower of Terror‹ schleift, also haben sie uns lieber etwas Geld in die Hand gedrückt und sich dann selbst verdrückt.«
Tim und ich grinsten uns an.
»Kommt uns irgendwie bekannt vor.«
Ich schaute mir unsere neuen Bekannten etwas genauer an. (Ich schaute natürlich zuerst auf den männlichen Part.) Bernd schien – vorsichtig ausgedrückt – ein wahrer Riese zu sein. Was ich so im Sitzen erkennen konnte, überzeugte mich, daß er vermutlich mindestens so groß wie Reinhardt war. Und dessen 1.95 zu übertreffen ist auch heute noch nicht alltäglich. Er hatte pechschwarze, relativ kurzgeschnittene Haare und ein Kinnbärtchen. In beiden Ohren machten sich silberne Ohrringe breit. Welche Farbe seine Augen hatten konnte ich ob der dunklen Sonnenbrille nicht erkennen. Die Nase war … nun ja, prominent. Nicht häßlich, aber sie dominierte das Gesicht. Der darunter befindliche Mund (Blödsinn, wo soll er sich auch sonst befinden!) war ziemlich breit, wie geschaffen für das ausgeprägte Lächeln, welches Bernd momentan zur Schau trug. Bekleidet war er mit einem weißen T-Shirt und einer schwarzen Latzjeans. (Hatte ich eigentlich schonmal erwähnt, daß ich Jungs in Latzhosen hochgradig erotisch finde?) Okay, Zeit woanders hinzugucken, nicht daß der gute Bernd noch auf dumme Gedanken kommt.
Sandra war, und das ist ja überraschend genug, nicht wesentlich kleiner als ihr Freund. Ich schätze mal so an die 1.85 brachte sie auch unter die Meßlatte. Lange, rotbraune Haare, braune Augen, Stupsnase und pralle, rote Lippen die zum Küssen einluden. Wenn man auf solche Einladungen stand. Rote Jeans und weißes
T-Shirt vervollständigten das Bild.
Während ich dies alles in mich aufnahm, blieben sowohl Tim als auch unsere Gegenüber natürlich nicht untätig. Sandra und Bernd scannten uns wohl ebenso ausführlich wie wir sie, und das während dieses gegenseitigen Abschätzens aufgekommene Schweigen wurde alsbald vom einzigen weiblichen Wesen in der Runde gebrochen (okay, das ist jetzt ein Klischee, aber weibliche Wesen sind üblicherweise neugieriger und schwatzhafter als Jungs).
»Sagt mal, wir haben ja nun einiges vorhin mitangehört, ich hoffe ihr seid uns nicht allzu böse, aber … seid ihr ein Paar? Ich meine, wie Geschwister seht ihr eigentlich nicht aus.«
Tim schaute mich an.
»Sind wir ein Paar?«
»Nö.«
Das »leider« konnte ich mir gerade noch verkneifen.
»Danny ist tatsächlich mein Bruder. Stiefbruder, um genau zu sein. Seine Mutter und mein Vater haben sich vor ein paar Monaten kennengelernt, und wir werden Anfang des Jahres zusammenziehen.«
»Tut mir leid, ich wollte euch wirklich nicht zu nahe treten. Und nur der Ordnung halber: ich hätte auch kein Problem damit wenn ihr eins gewesen wärt.«
»Okay, dann bin ich ja beruhigt. Tim und ich sind zwar kein Paar, aber schwul bin ich trotzdem. Und mein Brüderchen scheint mich verkuppeln zu wollen, oder woher kommt das plötzliche Interesse an meinen Vorlieben?«
»Ist doch logisch, wie soll ich dich auf hübsche Kerle aufmerksam machen, wenn ich nicht weiß, was du unter einem hübschen Kerl überhaupt verstehst.«
»Halt dich bitte ein wenig zurück, okay? Schlimm genug, daß Mutti mir ständig irgendwelche Jungs auf der Straße zeigt und mich fragt, ob dieser oder jener nicht genau mein Typ wäre.«
»Okay, ich werde mich bemühen. Aber beschwer dich dann hinterher nicht, wenn dir die Liebe deines Lebens entgeht.«
»Wäre es möglich, ein anderes Thema als mein nicht vorhandenes Liebesleben zu finden?«
Jetzt mischte sich Bernd ein.
»Wo wart ihr denn schon überall?«
Ich erzählte ihm, was wir bisher alles unternommen hatten, und es stellte sich heraus, daß die beiden genau die gleichen Stationen abgeklappert hatten, wenn auch in etwas abweichender Reihenfolge.
»Wie wärs, wollt ihr euch Sandra und mir anschließen? Zu viert macht es bestimmt noch mehr Spaß.«
Tim und ich schauten uns an und zuckten mit den Schultern. Warum nicht?
»Gerne. Wo wolltet ihr denn als nächstes hin?«
»Am besten wir schauen mal auf die Karte, was liegt denn am günstigsten?«
Wir vertieften uns in das Infoblatt und suchten eine zweckmäßige Route zur nächsten Attraktion. Tim tippte auf einen Punkt der Karte.
»Wie wäre es damit? ›Backlot Studio Tour‹, klingt doch interessant, oder? Auf dem Weg dahin kommen wir dann auch gleich an ›Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft‹ vorbei.«
Alle waren einverstanden, also rafften wir uns in die Senkrechte und machten uns auf den Weg. »Honey, I shrunk the kids« entpuppte sich als Kinderspielplatz, aber als was für einer! Zehn Meter hohe Grashalme, eine Rutsche die als Filmrolle gestaltet war, dazu eine Ameise in Pony-Größe. Logischerweise war der Platz von Kindermassen bevölkert. Für uns »große Kinder« war das nicht so interessant, die Kleinen aber waren begeistert. Wir schauten ein paar Minuten dem tobenden Chaos zu, dann setzten wir unseren Bummel in die vereinbarte Richtung fort.
Diesmal mußten wir doch ein wenig warten, es verging gut eine halbe Stunde, bis wir an der Reihe waren um uns auf die »Disney-MGM Studios Backlot Tour« zu machen.
Anfangs ging es zu Fuß voran, Höhepunkt war eine simulierte Seeschlacht mit Kanonen- und Torpedofeuer. Eine für die Zuschauer leicht feuchte Angelegen-
heit – noch wesentlich feuchter jedoch für die beiden rausgepickten »Freiwilligen«, die mitten im Schlachtfeld auf eine Schiffsbrücke plaziert worden waren!
Anschließend wurden wir in eine kleine Bahn gesetzt (so wie die, welche einem auch bei uns in Deutschland ab und zu auf der Straße begegnen, nur mit viel mehr Hängern), und es begann eine Tour durch verschiedene Teile der Disney-MGM-Studios. Wir bekamen Aufnahmestudios zu sehen, aber auch Requisitenkammern und Schneiderei-Werkstätten usw. Im Außengelände standen jede Menge Fahrzeuge aus den verschiedensten Filmen (Armageddon, StarWars, Mary Poppins u.v.a.) herum. Letzter Teil der Fahrt war der »Catastrophe Canyon«, wo explodierende Tankwagen und rauschende Wassermassen das Besichtigungsmobil zu verschlingen drohten. Wieder machten einige Teilnehmer, die sich ungünstig gesetzt hatten, nähere Bekanntschaft mit dem nassen Element – wir jedoch blieben trocken. Bei ca. 25 Grad Celsius war eine solche äußerliche Abkühlung auch nicht zwingend erforderlich.
Nachdem wir diese Fahrt absolviert hatten, begaben wir uns gleich weiter zum nächsten Punkt auf der Karte, einem Blick hinter die Kulissen von »101 Dalmatiner«. Trainer zeigten die Arbeit mit den süßen Dalmatinerwelpen, anschließend gab es einige Requisiten zu betrachten und es wurden Dalmatinerpuppen vorgeführt, welche in bestimmten Filmszenen die echten Hundebabys ersetzten.
Langsam aber sicher arbeiteten wir uns nun zu der Attraktion des Parks vor, zum Tower of Terror, oder, wie der komplette Name lautet, »The Twilight Zone Tower of Terror«. Selbiger war schon von weitem zu sehen und zu hören. Also der Tower war nur zu sehen, zu hören waren die panischen Schreie der Besucher. Schauplatz ist das vom Blitz zerstörte, heruntergekommene Hollywood Tower Hotel, in welchem sich der Besucher – so er den Mut dazu aufbringt – per Fahrstuhl erst langsam nach oben, dann rasend schnell nach unten bewegt. 13 Stockwerke geht es im freien Fall abwärts! Von außen sieht man durch sich öffnende Schiebetüren die Leute in den Aufzugkabinen, genau in dem Moment, in welchem er kurz anhält, um alsbald begleitet von markerschütternden Schreien der Insassen in die Tiefe zu stürzen.
Als unsere Viererbande vor dem Tower stand, waren wir uns längst nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee wäre dort mitzufahren. Am Ende siegte die Gruppendynamik, keiner wollte kneifen, also stellten wir uns an, und nur eine Stunde später saßen wir im Aufzug und es ging rauf mit uns. Während der Fahrt tauchten gespenstische Flure vor uns auf, aber so richtig konnte sich wohl keiner von uns darauf konzentrieren. Alle meine Gedanken waren jedenfalls auf den bevorstehenden Sturz gerichtet, und später, als alles überstanden war, wurde mir klar, daß diese Spannung vor dem eigentlichen Sturz, dieses Nicht-Wissen wann es genau so weit wäre, wohl das Schlimmste am ganzen Abenteuer war. Tim, der natürlich neben mir saß, griff nach meiner Hand, und bis zum Aufstehen ließen wir einander nicht mehr los. Irgendwann öffneten sich dann die bereits von außen gesehenen Schiebetüren, ich erhaschte einen kurzen Blick über den Park, dann ging es abwärts, und in Sekundenschnelle waren wir eine ziemlich heruntergekommene Gesellschaft. Das Gefühl bei dem Sturz ist schwer zu beschreiben, all meine Eingeweide verspürten einen starken Drang zur Decke des Fahrstuhls und brauchten hinterher ein Weilchen, um sich wieder an die angestammten Plätze zu sortieren. So ungefähr mußte sich Schwerelosigkeit anfühlen. Unser Martyrium wiederholte sich noch einmal, und spätestens jetzt war ich dankbar, daß ich nur den einen HotDog zu mir genommen hatte und wir trotz knurrender Mägen die nächste Mahlzeit auf nach dem Tower-Besuch verschoben hatten.
Nach unserem zweiten Sturz verließen wir etwas schwankenden Fußes das Gelände, und an unseren Gesichtern war wohl abzulesen, daß der Tower nicht umsonst den Beinamen »of Terror« trug. Ich für meinen Teil beschloß, daß ich das nicht nochmal haben mußte. Okay, ich hatte es einmal mitgemacht, jetzt konnte ich mitreden, aber auf eine Wiederholung war ich nicht scharf. Mit dieser Meinung stand ich offensichtlich nicht alleine da.
»Bernd, nie wieder! Hast du verstanden? Mein Gott, wenn ich daran denke, daß ich heute abend wieder in einen Fahrstuhl im Hotel steigen muß!«
»Du kannst ja auch die Treppe ins zwölfte Stockwerk nehmen.«
»Rauf ist das keine Alternative, aber runter werde ich in Zukunft laufen, darauf kannst du dich verlassen!«
Ich schaute zu Tim, und der war auch ziemlich bleich. Ich schätze etwa so bleich wie ich in diesem Moment. Naja, wenigstens hatten wir uns nicht in die Hosen gemacht.
Wir beratschlagten kurz unter acht Augen und beschlossen, daß wir uns nunmehr eine kleine Erholungspause verdient hatten. Passenderweise fand sich ganz in der Nähe eine größere Futterkrippe mit verschiedenen Ständen, dazu jede Menge Tische, von welchen wir einen sofort in Beschlag nahmen. Übrigens, wir befanden uns mittlerweile auf dem Sunset Boulevard. Genau, der aus Hollywood. Naturgetreu nachgebaut im Flair der vierziger Jahre, sogar ein paar schicke Oldtimer waren an den Straßenrändern geparkt.
Zehn Minuten später hatten wir verschiedene Stände mit unseren Dollars beehrt und saßen nunmehr an unserem reichlich gedeckten Tisch. Ich hatte das Gefühl, daß mich das Erlebnis im Turm des Schreckens erst recht hungrig gemacht hatte – entsprechend hatte ich mich mit gleich zwei Hamburgern eingedeckt. Während wir nun alle über unser Essen herfielen, kam bei Sandra wieder die Neugier durch.
»Wie alt seid ihr eigentlich? Und woher kommt ihr?«
Ich war viel zu sehr mit meinen gefüllten Wabbelbrötchen beschäftigt um antworten zu können, zum Glück hatte Tim seins bereits verschlungen (sehr verwunderlich, daß er nicht auch gleich zwei genommen hatte).
»Danny ist schon siebzehn, und ich werde es im März. Wir wohnen in Leipzig. Und was ist mit euch?«
»Wir sind beide zwanzig. Ich bin in Berlin geboren und aufgewachsen, Bernd stammt ursprünglich aus Hannover, studiert jetzt aber in Berlin. In der Uni haben wir uns auch kennengelernt.«
Oh weh, Preußenalarm! Mir fiel sofort eine Liedzeile des berüchtigten Leipziger Kabarettisten Jürgen Hart ein. »Doch kommt der Sachse nach Berlin, dort könnse ihn nich leiden, dort wolln sem eene drüberzieh, dort wolln se mit ihm streiten.« Andererseits: wir waren jetzt schon einige Stunden gemeinsam unterwegs, und so übel schienen die beiden gar nicht zu sein. Wobei ja Bernd eh nur »Aushilfs-Preuße« war.
»Und ihr seid mit deinen Eltern hier?«
»Ja. Wir haben uns vor zwei Monaten verlobt, und das ist so eine Art Verlobungsgeschenk von meinen Eltern. Allerdings wollten sie halt unbedingt mitkommen. Aber das klingt schlimmer als es ist, wir haben einen eigenen Leihwagen, und unser Zimmer ist in einem anderen Teil des Hotels.«
»Hört sich nach ziemlich coolen Eltern an.«
»Sandras Eltern sind wirklich prima, sie haben mich sofort in die Familie aufgenommen.«
»Und was ist mit deinen eigenen?«
Bernd verzog schmerzhaft das Gesicht, was meinem neugierigen Brüderlein natürlich sofort auffiel.
»Ups, sorry, ist wohl ein heikles Thema. Vergiß die Frage.«
Sandras Verlobter machte weiterhin einen gequälten Eindruck.
»Laß mal. Stimmt, das ist ein heikles Thema, aber vielleicht ist es besser, wenn ihr darüber Bescheid wißt. Besonders Danny.«
Nanu?
»Meine Eltern existieren für mich nicht mehr. Das ist eine ziemlich unerfreuliche Geschichte, die Kurzform ist diese: Ich habe eine ältere Schwester. Antje ist lesbisch, und als sie das unseren Eltern erzählte, haben die sie aus dem Haus geworfen. So nach dem Motto ›wir haben keine Tochter mehr‹. Tja, und da bin ich gleich mitgegangen, nun haben sie auch keinen Sohn mehr. Und solange sie sich nicht mit Antje aussöhnen, will ich mit ihnen nichts zu tun haben.«
Wow. Also das nenne ich Zusammenhalt unter Geschwistern. Bernd hatte sich soeben in meinen Augen für eine baldige Heiligsprechung qualifiziert. Jetzt war mir auch klar, warum die beiden kein Problem mit meinem Schwulsein zu haben schienen. Okay, bei Sandra hatte ich diesbezüglich eh keine allzu großen Sorgen, Mädels scheinen mit schwulen Jungs nur selten Probleme zu haben. Bei Hetero-Jungs sah das allerdings nicht ganz so gut aus, leider. Bernd war also … naja, nicht unbedingt eine rühmliche Ausnahme, aber wohl doch Angehöriger einer Minderheit. Ein kurzer Blick zu Tim zeigte mir, daß der unseren Gegenüber mit ebenso großen Augen anstarrte wie ich.
Ich beschloß, daß trotz allem ein Wechsel zu einem weniger emotionsbelasteten Thema angeraten war.
»Wie lange seid ihr schon hier? Und wie lange bleibt ihr noch?«
Sandra griff erfreut nach der Gelegenheit.
»Wir sind schon eine ganze Woche hier in Orlando, heute ist unser letzter Tag. Morgen früh fahren wir runter Richtung Key West. Und ihr?«
»Wir bleiben erstmal vier Tage hier, dann fahren wir rüber zum Kennedy Space Center, und dann die Küste runter, über Fort Lauderdale und Miami, ebenfalls bis nach Key West. Vielleicht laufen wir uns ja dort wieder über den Weg.«
»Das wird leider nichts, wir bleiben dort nur zwei Tage, dann fahren wir in drei Tagen die Golfküste hoch, und dann müssen wir wieder zurück nach Deutschland.«
»Schade. Aber sagt mal, wo ihr schon so lange hier seid, was muß man hier denn unbedingt gesehen haben?«
Jetzt hatte sich auch Bernd wieder soweit gefangen, daß er sich an der Unterhaltung beteiligen konnte.
»Also mir hat Epcot am besten gefallen. Besonders das ›World Showcase‹, dort haben die verrückten Amis an einem See gleich elf verschiedene Länder nachgebildet. Über Deutschland werdet ihr euch kaputtlachen, für die Amerikaner ist Bayern gleichbedeutend mit Deutschland. Jeder ordentliche Deutsche trägt Lederhosen, jodelt und hält einen Bierhumpen in der Hand. Aber die ›Bratwurst mit Sauerkraut‹ schmeckt ganz gut, zur Abwechslung mal was Heimatliches auf dem Teller ist auch nicht schlecht.«
Sandra hatte allerdings noch eine äußerst wichtige Ergänzung beizusteuern.
»Hütet euch vor der Blaskapelle! Die greifen sich regelmäßig unbescholtene Zuschauer heraus, die müssen dann mit denen zusammen Schuhplatteln! Meinen vorwitzigen Verlobten hat es prompt erwischt, und als er sich mehr als nur ein wenig tolpatschig anstellte, konnten die gar nicht glauben, daß er Deutscher ist!«
Ich machte mir einen ganz dicken, roten Eintrag in meinem Gedächtnis. Auf solch eine Zurschaustellung konnte ich gut und gerne verzichten.
»Und, Sandra, was hat dir am besten gefallen?«
»Das ist leicht zu beantworten. Animal Kingdom. Da gibt es zur Abwechslung mal lebendige Tiere zu sehen, nicht nur Puppen. Und im ›Baum des Lebens‹ gibt es ein tolles 3-D-Kino.«
Bei der Erwähnung dieser cineastischen Errungenschaft brachen Tim und ich
in schallendes Gelächter aus, welches unsere zwei Begleiter leicht zu verwirren schien.
»Los, Tim, erzähl den beiden mal, was wir zum Thema ›3-D-Kino‹ beizusteuern haben.«
Mein Bruder kam der Aufforderung nur zu gerne nach, mit dem Ergebnis, daß nunmehr Sandra und Bernd in kaum enden wollende Lachkrämpfe verfielen. Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatten, zeigte Bernd uns seinen rechten Unterarm.
»Schaut mal, diese kleinen Kratzer stammen von Sandras Fingernägeln. Verabreicht hat sie mir die genau in der Szene, die Tim gerade beschrieben hat.«
Damit war die Stimmung endgültig gerettet, der leichte Mißklang beim Thema »Bernds Eltern« war vergessen. Nachdem wir mittlerweile auch alle unsere Lebensmittel vernichtet hatten, schlenderten wir nun gemütlich über den Sunset Boulevard durch das geschäftige Treiben der Menge. An einer Ecke hatte sich eine Zwei-Mann-Komödianten-Gruppe breitgemacht, und auch diese bezog Zuschauer mit in ihre Darbietung ein. Wichtigster Punkt zum Merken also: niemals allzu weit vorne stehen.
Das Wetter war übrigens ideal für die Erkundung des Parks, Sonnenschein mit Schäfchenwölkchen, nicht zu warm, nicht zu kalt. Für mich bedeutete dies jede Menge hübscher Jungs, verhüllt von nur relativ wenig Stoff. Einen besonders interessanen Anblick boten die weißgekleideten Reinigungs-Boys, welche auf Rollschuhen durch die Straßen düsten und jedes noch so kleine Papierschnipselchen oder was auch immer unter die Bezeichnung »Dreck« fiel sofort aufkehrten. Sicherlich kein sonderlich angenehmer Job, aber wie gesagt, diese braungebrannten, muskulösen Kerlchen waren ein toller Anblick.
In gemütlichem Tempo wanderten wir jetzt in Richtung des mit unseren (also Tims und meinen) Eltern ausgemachten Treffpunkts, dem großen Weihnachtsbaum direkt vor dem »Great Movie Ride«, in welchen wir dann, da noch genügend Zeit verblieb, auch gleich eincheckten. Eine Fahrt durch die amerikanische Filmgeschichte, mit Casablanca, dem Zauberer von Oz, Alien und anderen Filmen. Ganz interessant, und es zeigt sich mal wieder, daß der Amerikaner nichts, aber auch gar nichts zu Fuß macht, solange sich dies irgendwie vermeiden läßt.
Nachdem wir dann auch diese Fahrt hinter uns gebracht hatten, war es an der Zeit, uns von unseren so überraschend gefundenen neuen Freunden zu verabschieden. War ja wirklich schade, daß sie bereits am nächsten Tag weiterfahren mußten, aber so war halt das Leben. Während nun Tim und Bernd noch einen schnellen Blick auf einen Souvenirstand warfen, an welchem es Leuchtarmbänder und ähnliche Dinge zu erwerben gab, nahm Sandra mich ein wenig zur Seite.
»Also dann, schönen Urlaub noch. Und viel Glück bei Tim.«
Ich muß wohl ziemlich verdattert ausgesehen haben, denn sie lachte leise vor sich hin.
»Versuch bloß nicht es abzustreiten, du bist verknallt in den Jungen, das sehe ich dir auf eine Meile Entfernung an.«
»Hm, okay, schuldig im Sinne der Anklage. Aber da wird nichts draus, er ist vermutlich ›straight as an arrow‹, wie der hiesige Eingeborene so schön sagt. Oder hast du auch bei ihm zufällig etwas bemerkt?«
»Naja, er mag dich, sogar sehr. Ob nun nur als Bruder oder ob da vielleicht doch mehr dahintersteckt, ist wirklich schwer zu sagen. Auf jeden Fall würde ich an deiner Stelle nicht alle Hoffnung komplett aufgeben. So, wo sind die zwei? Ach ja, da drüben. Los, komm, wir sollten uns wirklich langsam verabschieden, meine Eltern erwarten Bernd und mich am Ausgang.«
Also wanderten wir zu dem bereits erwähnten Souvenirstand, wo Bernd seiner Freundin eine leuchtende Plastikrose schenkte und sich die beiden sodann von Tim und mir verabschiedeten.
Mein Brüderchen hatte sich einen Leuchtring gekauft, welchen er sich nunmehr um den Hals hängte, und kurz darauf beglückte er mich mit einem ähnlichen Teil, nur daß meines blau und seines rot leuchtete.
»Danny, wie spät ist es?«
»Viertel vor fünf. Moment mal, wo ist deine Uhr?«
»Muß ich wohl verloren haben, das Armband war heute früh schon leicht eingerissen. War zum Glück bloß ein billiges Plastikteil. Anderes Thema. Ich habe Durst, wollen wir noch schnell was trinken, bevor Paps und Maria auftauchen?«
Gute Idee. Keine zwanzig Meter entfernt entdeckte ich einen Getränkewagen. Ich drückte Tim einen 5-Dollar-Schein in die Hand.
»Hier, bring mir bitte eine Coke mit. Ich will mich bloß noch schnell hier am Stand umschauen.«
»Okay.«
Tim zog ab, und ich ließ meine Augen über die Auslagen schweifen. Ich suchte nach etwas ganz bestimmten, welches ich in den letzten Stunden schon einige Male im Park gesehen hatte. Ah ja, da war es! Ich bezahlte, und in diesem Moment blieb mein Blick noch an einem anderen Artikel hängen, und ich konnte einfach nicht widerstehen, meine Brieftasche nochmals zu zücken. Das Geld wieder sicher verstauend und meine Einkäufe in den Händen, schaute ich mich nach Tim um und entdeckte ihn auf einer Bank, praktisch direkt unter dem als Treffpunkt vereinbarten Weihnachtsbaum. Ich schlenderte hinüber und setzte mich neben ihn.
»Hast du dir was Schönes gekauft?«
»Nö.«
»Aber du hast doch was gekauft?«
»Ja. Aber nicht mir sondern dir. Gib mir mal deine linke Hand.«
Tim guckte mich verdutzt an, tat aber wie ihm geheißen. Im nächsten Moment klappte ihm die Kinnlade runter als er sah, wie ich ihm eine dunkelblaue Uhr mit dezenten Disney-Motiven um den Arm schnallte.
»So, damit du wieder weißt in welcher Zeit wir leben. Ist zwar kein Luxusteil, aber es wird seinen Dienst tun.«
»Cool, Danny, danke. Aber das war doch nicht nötig.«
»Oh doch. Und jetzt die andere Hand.«
Nun war Tim völlig verwirrt, und ich mußte ein wenig nachhelfen. Erst wußte er nicht so richtig, was ich ihm nun am anderen Handgelenk befestigte, dann aber erkannte er es, und seine Augen wurden immer größer.
»Das meinst du doch nicht ernst!«
»Oh doch!«
»Ich bin doch kein kleines Kind mehr!«
»Dein Vater hat mir die Verantwortung für dich übertragen, und das war in dem Gewimmel schon tagsüber nicht einfach. Jetzt, wo es dunkel wird, will ich dich auf keinen Fall verlieren. Also keine Widerrede!«
Tja, was hatte ich ihm angetan? Ganz einfach: im Laufe des Tages waren mir mehrfach Eltern aufgefallen, die ihre kleinen Kinder ›an die Leine‹ gelegt hatten. Genaugenommen waren es knallbunte Plastikspiralen, ähnlich Telefonschnüren, welche mit einem Armband am Kinderarm befestigt und am anderen Ende per Schlaufe festgehalten wurden. So konnten die Kinderchen auch im dichtesten Getümmel nicht verlorengehen. Und solch eine ›Kinderleine‹ hatte ich meinem mich ungläubig anstarrenden kleinen Bruder nunmehr angelegt.
»Mir soll niemand nachsagen können, daß ich nicht ordentlich auf dich aufgepaßt habe. So, Kleiner, ich denke, wir sollten uns mal ein wenig umschauen, ob wir nicht den Rest der Party irgendwo rumstehen sehen.«
Ich erhob mich, Tim jedoch war immer noch dermaßen perplex, daß er nicht reagierte. Also nutzte ich erstmals meine neugewonnene Macht und zog an der Strippe. Das erregte nunmehr die Aufmerksamkeit meines Bruders.
»He, zerr nicht so, ich komme ja schon.«
Nanu, war das alles? Wo blieb sein lautstarker Protest? Egal. Ich ließ meinen Blick über die Menschen schweifen, und tatsächlich, in etwa hundert Metern Entfernung konnte ich Reinhardt ausmachen. War bei diesem Riesen ja auch nicht so schwer. Der wiederum tat das gleiche wie ich, er scannte die Menge, hatte uns aber wohl noch nicht erspäht. Ich machte Tim darauf aufmerksam.
»Wo? Ah, dort. Klasse. Los, wir schleichen uns von hinten an.«
Und fort war er. Will heißen: fort wollte er sein, allerdings hatte er ja jetzt ein Anhängsel. Dieses Anhängsel – also mich – zog er nun mit aller Kraft seiner Schwimmerbeine zur Reinhardts aktueller Blickrichtung gegenüberliegenden Seite des Platzes. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. So war das mit der Leine ja eigentlich nicht gedacht gewesen, aber ich fügte mich in mein Schicksal.
Drei Minuten und ein paar schnelle Abduckmanöver später fanden wir uns zehn Meter hinter dem Rücken von Mutti und Reinhardt wieder. Wir schlichen uns heran, dann zwängte sich Tim von hinten zwischen die beiden.
»Sucht ihr jemanden bestimmtes?«
Das Ergebnis dieses Überfalls waren zwei mächtig zusammenzuckende Elterneinheiten, sowie einige düstere Versprechungen bezüglich einer grausamen Rache. Ich hatte mich beim eigentlichen »Erschreck-Vorgang« vornehm zurückgehalten, und war daher guter Hoffnung, dieser Rache zu entgehen.
Als sich alle wieder etwas beruhigt hatten beratschlagten wir, was nunmehr zu unternehmen wäre. Tims Vater zog sein Programmheft hervor und blätterte darin herum.
»Hier, schaut mal. Halb sieben findet eine große Licht- und Lasershow statt, wollen wir uns die anschauen?«
Das hörte sich recht vielversprechend an, also stimmten wir sofort zu.
»Gut, dann sollten wir uns aber beeilen dorthin zu kommen, damit wir noch ein paar gute Plätze ergattern.«
»Jungs, falls wir uns in dem Gewimmel verlieren sollten, treffen wir uns um acht wieder hier.«
»Keine Bange, Mutti, Tim kann gar nicht verlorengehen.«
»Wie meinst du das?«
Ich zog an Tims Leine, sodaß sein rechter Arm in die Senkrechte gehoben wurde. Mutti und Reinhardt nahmen nun zum ersten Mal zur Kenntnis, was da am Handgelenk meines kleinen Bruders befestigt war. Entsprechend war die Reaktion, Reinhardt verschluckte sich an der eigenen Spucke und mußte sich von meiner Mutter mit heftigen Schlägen auf den Rücken aushelfen lassen. Ich setzte ein zufriedenes Gesicht auf, Tim hingegen schaute etwas verlegen in die Runde. Allerdings mit einem leichten Lächeln im Gesicht.
Nach ein paar Minuten hatten sich unsere Erziehungsberechtigten wieder beruhigt, und ein immer noch leicht keuchender Reinhardt wandte sich an meine Mutter.
»Da hat dein Sohn aber eine wirklich gute Idee gehabt. Aber jetzt, wo wir wieder alle beieinander sind, sollten wir die vielleicht ein wenig abwandeln.«
Oh oh, was führte er im Schilde? Das klang aber extrem verdächtig, und ich warf einen argwöhnischen Blick auf den gelernten Cola-Verschütter. Meine Mutter schien auch etwas zu ahnen und wollte es genau wissen.
»Was meinst du damit, Reinhardt?«
»Sollten wir nicht noch so eine Leine kaufen, dann kannst Du Tim sicher durch die Massen führen, und ich kümmere mich um Danny. So als eine Art Familienbande.«
Nein! Das hatte Reinhardt tatsächlich drauf, so gut kannte ich ihn mittlerweile. Und Mutti war ja eh zu jeder Schandtat bereit, siehe kaltes Wasser als Aufsteh-Hilfe. Zu meiner großen Erleichterung zeigte mir ein schneller Blick in die Runde, daß der Souvenirstand unterdessen weitergezogen war. Trotzdem, eine kleine Klarstellung konnte nicht schaden.
»Nicht nötig, Reinhardt, ich bin im Gegensatz zu Tim alt genug, um auf mich selbst UND auf ihn aufzupassen.«
»Was meinst du, Maria, glauben wir ihm das?«
»Naja, bisher hat er uns nicht enttäuscht, also im Zweifel für den Angeklagten. Aber ich denke, wir sollten uns jetzt wirklich auf den Weg machen. Los ihr zwei, abmarsch!«
Wir machten uns auf den Weg zur Arena, welche sich übrigens direkt unterhalb vom bereits erwähnten Tower of Terror befand. Tim ging ganz dicht neben mir her, wohl damit niemand so leicht sehen konnte, wie sehr er von meiner Erscheinung gefesselt war. Naja, wegen der einsetzenden Dunkelheit brauchte er sich da wohl eh keine allzu großen Sorgen zu machen.
Gegen halb sechs hatten wir den Schauplatz des angekündigten Geschehens erreicht, und wir fanden auch noch relativ gute Plätze direkt an einem Gang. Den Sitz direkt an diesem Gang nahm Reinhardt in Beschlag – was er später noch bereuen würde. Erst aber fingen wir einen der vielen fliegenden Händler ab und gönnten uns wiedereinmal Getränke – so ein Tag im Disney-Park schlaucht ganz schön. Die Arena füllte sich weiter, und eine halbe Stunde vor dem Beginn der Vorstellung war sie bis auf den letzten Platz gefüllt. Wir bereiteten uns bereits auf weitere dreißig Minuten Wartezeit vor, als sich plötzlich hinter uns etwas tat.
Zwei der Straßenkomödianten, die Tim und mir bereits früher am Tag mal über den Weg gelaufen waren, kamen unseren Gang hinuntergestiefelt, bepackt mit Stuhl, Leiter und Taschenlampe. Unten, sozusagen auf »Bühnenebene«, angekommen, machten sie sich daran, das Publikum aufzuheizen. Aber halt, da fällt mir ein, ich habe ja noch nicht ein einziges Wort über diese »Bühne« verloren! Ich bitte um Nachsicht. Also, das Amphitheater war im Halbkreis aufgeschüttet, und am Fuße der Sitzreihen befand sich ein See! In der Mitte dieses Sees wiederum ragte ein riesiger Felsen mit auf halber Höhe hineingehauener Bühne auf.
Die beiden Animateure hatten unterdessen Stuhl und Leiter aufgebaut, kletterten darauf (also jeder auf eines der Teile), leuchteten mit Taschenlampen ins Publikum und machten ihre Späßchen. Das ging etwa eine Viertelstunde so, die Massen (und auch wir) steigerten uns in eine regelrechte Vorfreude hinein auf das was da kommen wollte. Dann packten die zwei bunt gekleideten Disney-Angestellten ihr Zeug zusammen und wanderten langsam die Treppe in unserem Gang hinauf in Richtung Dammkrone. Langsam deshalb, weil sie ständig für Fotos posieren mußten und ja ganz nebenbei einiges an Gepäck mit sich herumschleppten. Allerdings nicht mehr lange. An unserer Reihe angekommen, warf der Leiter-Träger einen abschätzenden Blick auf Reinhardt, und kurz darauf wurde Tims Vater von ihm als Packesel vereidigt! Naja, kein Wunder, der Komiker war eher von schmächtiger Gestalt, ganz im Gegensatz zu meinem zukünftigen Stiefvater. Dieser machte gute Miene zum bösen Spiel und ergab sich in sein Schicksal, das da hieß, die Leiter den Rest des Hanges (und das waren etwa zwei Drittel der Strecke) hinaufschleppen. Naja, dafür bekam er dann am Ende auch Szenenapplaus. Ich denke mal, daß Reinhardt spätestens jetzt gelernt hatte, daß man sich in Disney-World nicht unbedingt an die exponiertesten Stellen setzen sollte. Wir drei anderen amüsierten uns königlich, und besonders Tim war es anzusehen, wie sehr er diese Vorstellung genoß.
Der »Freiwillige« hatte sich gerade wieder neben meine Mutter gesetzt, als langsam aber sicher die Lichter erloschen und einer nur von den Blitzlichtern der Kameras durchbrochenen Dunkelheit Platz machten. Dann passierte das, was ich bereits befürchtet hatte: Musik in trommelfellgefährdender Lautstärke ertönte. Okay, ich mache das jetzt mal kurz, das hier soll ja eigentlich keine Reisereportage werden. Die nächsten dreißig Minuten bestaunten wir mit offenem Mund eine Show aus Licht, Laser, Feuer, Tanz und Musik. Alle möglichen Disney-Figuren traten auf, teilweise auf der bereits erwähnten Felsenbühne, teilweise auf Booten welche diese Bühne umkreisten. Und wie gesagt, überall Feuer und Licht. Ein Tip für alle, die vielleicht auch mal in die Verlegenheit kommen nach Florida zu düsen: es lohnt sich immer, bis zum Abend in den Disney-Parks durchzuhalten, die Feuerwerke und sonstigen Lichtershows sind es wert.
Eine halbe Stunde später war alles vorbei, und die Massen setzten sich in Bewegung, um die Arena für die eine Stunde danach beginnende zweite Vorstellung des Abends zu räumen. Ich versuchte, meine Ohren zu sortieren, und nach einer Weile war ich sogar wieder in der Lage, in normaler Lautstärke gesprochene Worte zu verstehen.
»Na, Jungs, das war doch herrlich, oder?«
»HÄH? SORRY, PAPS, ICH KANN DICH NICHT VERSTEHEN!«
Ich war anscheinend nicht der einzige, der unter der Lautstärke gelitten hatte. Meine Mutter machte ein besorgtes Gesicht.
»Tim, ist alles in Ordnung? Kannst du wirklich nichts hören?«
»Alles okay, Maria. Mir geht es gut. Aber jeden Tag möchte ich das nicht durchmachen, das verdirbt einem ja regelrecht den Rest der Show.«
Tja, zumindest die nächsten drei Tage würden wir wohl noch damit leben müssen, denn ich befürchtete, daß die Verhältnisse in den anderen Themenparks diesbezüglich nicht besser aussehen würden.
Nach einem Blick ins Info-Heft ließen wir uns nun von den Massen in Richtung New York Street treiben, einer nachgebauten Straße der Millionenmetropole, die teilweise aus Kunststoff-Fassaden, teilweise auch nur aus aufgemalten Häusern besteht. Wäscheleinen hängen über die Straße, und es wird »echter« New-York-Verkehrslärm eingespielt. Tim und ich hatten diese Straße bereits früher am Tag gesehen, jetzt hatte sich allerdings einiges verändert. An verschiedenen Stellen wurden 3-D-Brillen verteilt, was wir uns natürlich nicht entgehen ließen. Die weihnachtlichen Dekorationen hatten wir ja schon im Hellen gesehen, nun waren diese auch noch hell beleuchtet, und mit den Brillen verwandelten sich viele Elemente in bewegliche Bilder, zum Beispiel flatterten Engel mit ihren Flügeln. Dazu dudelte jetzt Weihnachtsmusik, und es … schneite! Natürlich nur künstlichen Schnee, sprich Schaumflocken, aber immerhin.
Wir wanderten gemütlich die Straße hinunter, und an deren Ende erwartete uns eine weitere, nur im Dunkeln zu genießende Attraktion, »Osborns Wonder of Light«. Der gute Mr. Osborn war stolzer Vater einer Tochter, welche sich zu Weihnachten ein festlich beleuchtetes Haus von ihm wünschte. Wer schon einmal amerikanische Weihnachtsfilme gesehen hat, dürfte ja den Drang des Amerikaners dazu, sein Haus auch äußerlich mit jeder Menge Lichterketten zu behängen, bereits kennen – bei Mr. Osborn geriet dies allerdings selbst für amerikanische Verhältnisse etwas aus den Fugen. Das ganze Haus wurde mit Lämpchen behängt, und weil das ein paar Jahre später nicht mehr ausreichte, kaufte der treusorgende Familienvater auch noch die beiden angrenzenden Häuser zwecks Erweiterung seiner Lichterwelt. Als auch dies zu klein wurde, verlegte man die ganze Szenerie kurzerhand nach Disney-World, wo mittlerweile ein mehrere hundert Meter langer Rundgang von über 4 Millionen Lämpchen beleuchtet wird. Auch hier kam die Spezialbrille wieder zum Einsatz, so daß »normal« beleuchtete – sprich mit 500 und mehr Glühbirnen behängte – Bäume aussahen, als ob sie sich drehten. Alles, aber auch wirklich alles war beleuchtet, sogar die vor den Häusern stehenden Gartenstühle. Ein wirklich toller Anblick, auch wenn man eigentlich nur den Kopf darüber schütteln konnte. Ach, übrigens, die hier gespielte Weihnachtsmusik war sogar auf eine erträgliche Lautstärke runtergeregelt!
Als wir auch dieses hinter uns gelassen hatten, war es bereits 8 Uhr durch, und wir beschlossen, uns langsam zurück auf den Weg ins Hotel zu machen. Am Ausgang des Parks befreite ich Tim von seiner Leine, und kurz darauf saßen wir im Bus. Im Hotel angekommen, entschieden wir uns für ein spätes Abendbrot im Steakrestaurant. Während wir dann auf das Essen warteten, erzählten wir uns gegenseitig wie wir den Tag verbracht hatten. Die Szene, in welcher wir die überraschende Bekanntschaft mit anderen deutschen Touristen gemacht hatten, löste erwartungsgemäß großes Gelächter bei Reinhardt und Mutti aus.
»Tja, damit hättet ihr rechnen müssen. Hier trifft sich nunmal die halbe Welt. Ich hoffe, es war nicht zu peinlich.«
»Wir habens überlebt. Ich bin ja ähnliche Situationen mit dir gewöhnt, Mutti.«
»Wie meinst du das jetzt?«
»Naja, Tim war gerade dabei, mich darüber auszuquetschen, welcher der vor uns herumlaufenden Jungs wohl am ehesten meinem Geschmack entspräche. Und genau das haben Sandra und Bernd mitbekommen. Erinnerte mich irgendwie an gewisse Szenen in Eiscafés, und sag jetzt bloß nicht, daß du nicht weißt, worauf ich hinauswill.«
Reinhardt und Mutti brachen erneut in Gelächter aus, Tim jedoch schaute mich etwas schuldbewußt an.
»Danny, tut mir wirklich leid, ich wollte dich damit nicht in Verlegenheit bringen. Bist du mir sehr böse?«
»Ach komm, Tim, wo hast du das denn jetzt her? Ich bin dir absolut nicht böse, ist ja nicht so, als wäre das top secret. Wenn ich Probleme mit den Reaktionen der Leute hätte, dann hätte ich es niemals jemandem sagen dürfen. Also beruhige dich wieder. War doch außerdem ganz lustig. Und ich bin ziemlich froh, daß du derjenige warst der sagte, daß uns hier eh keine Sau versteht. Das war peinlich!«
Ich grinste mein Brüderchen an, und auch auf dessen Gesicht wanderten die Mundwinkel wieder nach oben. Sah auch viel besser aus.
Kurz darauf kam unser Essen, und mein T-bone-Steak entpuppte sich als tellerfüllende Monströsität. Aber keine Bange, von einem Stück Fleisch ließ ich mich doch nicht unterkriegen! Besonders nach einem so anstrengenden Tag hatte ich keinerlei Probleme damit, den Teller restlos leerzuessen – Tim ging es übrigens ähnlich.
Nach dem Essen begaben wir uns in unsere Suite, und sowohl Tim als auch ich beschlossen, nur noch schnell unter die Dusche zu springen und anschließend ins Bett zu verschwinden. Ich scheuchte meinen Bruder zuerst ins Bad, und während Tim verschwand, zog ich mich bis auf die Unterwäsche aus und zappte sodann ein wenig durch die unendliche Vielfalt der Fernsehkanäle. Eine Viertelstunde später verließ Tim im Schlafanzug das Bad, und ich machte mich auf den Weg, den Staub des Tages von mir abzuspülen. Der Whirlpool sah ja eigentlich verlockend aus, besonders in Anbetracht meiner doch etwas lahmen Knochen, aber die Kraft dazu konnte ich jetzt wirklich nicht mehr aufbringen, also beließ ich es bei einer schnellen Dusche.
Als ich das Bad wieder verließ, lief der Fernseher ohne Ton, und ein kurzer Blick aufs andere Bett zeigte mir, daß Tim bereits selig in Morpheus Armen schlummerte. Den Kleinen hatte es anscheinend regelrecht ausgeknipst. Naja, kein Wunder, ich würde vermutlich auch keine Einschlafprobleme haben. Ich schaltete noch den Fernseher und Tims Nachttischlampe aus, dann legte ich mich in mein Bett (in welchem bequem noch zwei bis drei andere Personen Platz gefunden hätten). Ein Griff zum Schalter meiner Lampe, dann war das Zimmer in Dunkelheit gehüllt. Beim Versuch, noch einmal die Ereignisse des Tages in Gedanken durchzugehen, bin ich dann wohl ziemlich schnell eingeschlafen.
Was für eine erholsame Nacht. So gut hatte ich lange nicht geschlafen. Wohl ein wenig zu gut, denn geweckt wurde ich nicht etwa durch ein freundliches »Guten Morgen«, sondern durch irgendetwas extrem kaltes, extrem nasses in meinem Gesicht. Wären wir stolze Hundebesitzer, hätte ich an ein entsprechendes Zungenbad gedacht, so aber kam das nicht in Frage. Ich wollte mich von diesem unangenehmen Ding befreien, merkte aber sehr schnell, daß meine beiden Arme gnadenlos festgehalten wurden. Also versuchte ich es mit einem verbalen Befreiungsschlag.
»Verdammt, was soll das! Wer immer das ist, laßt mich in Ruhe!«
»Tim, hast du irgendwas verstanden?«
Aha! Die Stimme meines zukünftigen Stiefvaters kam von links, also war er es wohl, welcher meinen dortigen Arm wie in einem Schraubstock festhielt.
»Nö, Paps. Klang irgendwie arabisch. Kann aber auch chinesisch gewesen sein.«
Tim von rechts. Und mir wurde klar, daß meine Worte durch das, was da auch immer auf meinem Gesicht lag, wohl nicht ganz so klar durchgekommen waren wie sie meinen Mund verlassen hatten.
In diesem Moment betrat ein weiterer Beteiligter des Dramas die Bühne.
»Na, habt ihr den Langschläfer endlich wachbekommen? Also ich hätte an eurer Stelle nicht nur den Waschlappen genommen sondern gleich eine größere Portion kaltes Wasser. Danny verschläft sonst auch das stärkste Erdbeben.«
Aha! Hätte ich mir doch denken können. Meine treusorgende Mutter war die Urheberin dieser unfairen Attacke.
»Ich denke, er ist jetzt wach, Maria. Er hat auf jeden Fall schon einige unartikulierte Laute von sich gegeben. Sollen wir ihn loslassen?«
»Okay. Aber ihr solltet schnell sein und aufpassen, daß er euch nicht erwischt. Mein Herr Sohn ist bezüglich rüder Weckmethoden nämlich ziemlich rachsüchtig.«
»Danke für die Warnung. Tim, auf drei.«
Na wartet nur. Ich spannte schon mal meine Muskeln um auf »drei« sofort losstürzen zu können.
»Eins … zwei …«
Zu drei kam es nicht, denn meine durch das Etwas auf meinem Gesicht verursachte Blindheit wurde schamlos ausgenutzt, und bereits auf »zwei« sprangen meine beiden Festhalter davon, bevor ich überhaupt darauf reagieren konnte. Aber das war vielleicht sogar besser so, denn eigentlich sollte ich meine Rachegelüste wohl lieber auf die Anstifterin, sprich meine Frau Mama, richten. Mit einem schnell Griff wischte ich das, was ich nunmehr als einen meiner Waschlappen identifizieren konnte, aus dem Gesicht, schleuderte die Bettdecke von mir und sprang aus dem Bett, um mit funkelnden Augen voller Mordlust die zehn Schritte zu meiner Mutter zu überbrücken.
»Na warte! Glaub bloß nicht, daß du so einfach davonkommst!«
Auf halbem Weg zu ihr hörte ich plötzlich Tim erschrocken aufschreien.
»Danny, paß auf! Halt!«
Bevor dies richtig zu meinem Gehirn durchdrang, war allerdings schon alles zu spät. Meine Füße verhaspelten sich, und in einem wenig eleganten Flugmanöver landete ich der Länge nach auf dem weichen Teppich. Zum Glück war ich geistesgegenwärtig genug, meinen Sturz noch mit beiden Händen abzufangen, trotzdem pumpte mir das erstmal die Luft aus der Lunge, und ich brauchte einen Moment, um mich wieder zu orientieren. Verflixt nochmal, wer oder was hatte mir da die Beine weggezogen? Ich hatte doch gar kein Hindernis und keine Stolperfalle gesehen? Während ich wieder zu Atem kam und diese Überlegungen anstellte, kam meine Mutter zu mir gerannt.
»Danny, bist du in Ordnung? Hast du dir wehgetan?«
Hatte ich mir wehgetan? Anscheinend nicht, zumindest nicht sehr.
»Alles okay, ich hatte schon schlimmere Abstürze.«
Ich erhob mich auf Hände und Knie und schaute meine Mutter an, die sich vor mich hingehockt hatte. Auf ihrem Gesicht machte sich erst Erleichterung breit, dann fingen ihre Mundwinkel verdächtig an zu zucken, und kurz darauf brach sie in schallendes Gelächter aus, in welches im gleichen Moment Tim und Reinhardt einfielen. Soviel Mitgefühl hatte ich nun wirklich nicht erwartet.
»Was gibt es da zu lachen?«
Das Ergebnis war, daß alle nur noch lauter lachten. Dann schaffte es Tim, ein paar klare Worter herauszubringen.
»Also Danny, so schön ist dein Hintern nun wirklich nicht, daß du ihn uns immer wieder zeigen mußt. Das eine Mal als du krank warst hat eigentlich gereicht.«
Huh? Was wollte er mir damit sagen? Ich begann aufzustehen und sah dabei an mir herunter – und mir wurde einiges klar.
»O Schei…benkleister!«
Meine kurze Schlafanzughose hatte sich selbständig gemacht, vermutlich war der Gummi gerissen, und lag zu meinen Füßen. Das hatte aller Wahrscheinlichkeit nach auch meinen Sturz ausgelöst. Ich für meinen Teil stand total im Freien – und darauf hätte ich nun wirklich verzichten können. Zwar hatten mich alle Beteiligten schon so gesehen, Reinhardt und Tim während meiner Krankheit, und Mutsch sowieso. Aber das war sozusagen im Ausnahmezustand passiert, und selbst da war mir das gehörig peinlich gewesen. Ich bückte mich und griff nach dem verantwortungslosen Stück Stoff, um es wieder an den angestammten Platz zu ziehen, übersah dabei jedoch, daß ich mit einem Fuß auf der Hose stand. Diese nahm mir meine mit aller Kraft durchgeführten Anstrengungen sehr übel, und mit einem unangenehmen Geräusch hatte ich eine Hälfte der Hose in der rechten Hand, die andere lag weiterhin unter meinem Fuß am Boden.
»Verdammter Mist!«
»Danny, hüte deine Zunge!«
Mutti war bezüglich der Flucherei einigermaßen empfindlich, im Moment war mir das allerdings ziemlich egal.
»Soll ich in Jubelstürme ausbrechen?«
»Du sollst dir schnell was anderes zum Anziehen suchen. Hier in Amerika werden Leute für solches Auftreten eingesperrt. Indecent exposure nennen die das, glaube ich.«
»Vielen Dank für den Tip. Ihr braucht ja nur nicht hinzugucken.«
»Gut, gut. Los, Männer, ich denke, wir sollten Danny mal etwas alleine lassen. Und du beeilst dich ein wenig, in zwanzig Minuten ist Abmarsch zum Frühstück.«
Nachdem diese Worte den Mund meiner Mutter verlassen hatten, verzog sie
sich – Tim und Reinhardt im Schlepptau – aus dem Zimmer.
Wunderbar. Wiedereinmal hatte ich zur allgemeinen Erheiterung beigetragen. Blieb bloß noch die Frage, wann mich mal jemand erheitern würde? Bevor ich weiter über diesen Punkt nachgrübeln konnte, fiel mein Blick auf die Uhr und zeigte mir, daß ich mich lieber ein wenig sputen sollte, wenn ich Interesse am Frühstück hatte. Und das hatte ich auf jeden Fall. Also schnell durchs Bad, rein in die Klamotten, und dann gesellte ich mich zu den drei anderen. Das Frühstück verlief ähnlich wie am Vortag, gleiches galt für den Abflug in Richtung Park, mit dem Unterschied, daß das Ziel diesmal nicht die MGM Studios waren sondern Epcot Center.
Ich werde mich diesmal ein wenig mit den Beschreibungen zurückhalten, außer den Attraktionen passierte auch nichts, was einer gesonderten Erwähnung wert gewesen wäre. Mit der Ausnahme, daß nicht nur Tim an die am Vortag erworbene Leine gelegt wurde – nein, Reinhardt machte seine Drohung wahr und besorgte auch für mich ein solches Teil! Und Mutti, die einen Tag zuvor noch der Meinung gewesen war, daß für mich solche eine Sicherheitsschnur nicht notwendig wäre hielt sich vornehm zurück. Wiedermal typisch.
Zum Glück wurden wir beide nach wenigen Minuten wieder befreit – allerdings nicht ohne eindringliche Ermahnungen unser Verhalten betreffend und mit dem Hinweis, daß man uns bei mangelndem Benehmen ganz schnell wieder an die Leine nehmen würde.
Zurück zum Park selbst. Als erstes betraten wir den silbern glänzenden Golfball, das Wahrzeichen von Epcot, genannt »Spaceship Earth«. In selbigem ging es dann in einer langsamen Fahrt durch die Geschichte der Kommunikation von der Steinzeit bis in die Zukunft. In mehreren angrenzenden Ausstellungshallen gab es modernste Computer und – ganz besonders wichtig *g* – modernste Computerspiele zu sehen und zu probieren.
Nächste Station war »The Living Seas«, wo es um die Meeres- und Unterwasserwelt geht. Seekühe, Haie, Rochen und eine Delphinshow waren die Höhepunkte. Überraschenderweise konnte ich den Wasser-Freak Tim nicht dazu überreden, eine Runde im Haifischbecken zu drehen.
Einer der Höhepunkte von Epcot ist auf jeden Fall die 3D-Show »Honey, I shrunk the audience«, welche auf dem Film »Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft basiert«. Nur wird hier halt das Publikum geschrumpft. Die bereits bei den 3D-Shows in den MGM Studios erlebten Effekte sorgten für reichlich Gekreische im Publikum.
Unser Weg führte uns dann ins »World Showcase« – von welchem uns die beiden Berliner ja bereits berichtet hatten. Diesmal war auch Reinhardt schlau genug, sich möglichst fern von allen Disney-Angestellten zu halten – mit dem Erfolg, daß er mit einem breiten Grinsen im Gesicht anderen, weniger vorsichtigen Zuschauern beim Schuhplatteln zuschauen durfte.
So verging der Tag, wiederum recht anstrengend aber erlebnisreich. Einen Tip darf ich natürlich nicht vergessen: Wenn es dunkel wird, sollte man unbedingt mal mit der Einschienenbahn »Monorail« fahren – die hell erleuchteten Parks sind ein toller Anblick!
Wir verließen Epcot gegen 18 Uhr – obwohl noch ein Feuerwerk für 21 Uhr angekündigt war, konnten wir uns nicht dazu durchringen, noch drei Stunden zu warten. Diesmal begnügten wir uns mit einem Fast-Food-Abendessen.
Im Hotel beratschlagten wir, was man mit dem Abend noch anfangen könnte, und ich ließ mich tatsächlich von Tim zum Besuch des Hotelpools überreden. In unserem Zimmer zogen wir uns schonmal die Badesachen an, und wo ich meine übliche schlapprige Badeshorts anzog, entschied Tim sich dafür, mich mal wieder ein wenig zu reizen, indem er so ungefähr die knappste, engste Badehose anzog, die mir bisher vor Augen gekommen war. Ob der überhaupt wußte, was er mir damit antat?
»He, Tim, heute kein Schwimmanzug?«
»Warum? Brauche ich den? Soll ich etwa mit dir um die Wette schwimmen?«
»Da würde dir auch das Wunderteil nichts nützen. Aber hast du keine Angst, daß die prüden Amis dich in der Aufmachung einkassieren könnten?«
»Wieso? Ich bin doch dem Anlaß angemessen gekleidet, oder?«
Naja, ich verkniff mir lieber jede weitere Erläuterung und griff statt dessen zu den anderen Sachen, die wir brauchen würden. Nach einer kurzen Verabschiedung wanderten wir zum Hotelpool. Ein großes Becken mit blauem Wasser, ringsherum Liegestühle unter Palmen, gleich nebenan eine Bar. Tim war beeindruckt.
»Mann, einfach herrlich!«
Naja, wenn ich irgendetwas für Wasser übrig hätte, würde ich mich seiner Bewertung wohl anschließen. So aber nuschelte ich nur halb überzeugt vor mich hin und suchte mir erstmal ein gemütliches Plätzchen – natürlich einige Meter entfernt vom Beckenrand. Tim hatte da keinerlei solche Hemmungen, er warf nur seine Sachen auf einen Liegestuhl neben dem meinigen, und im nächsten Moment sprang er mit einem eleganten Hechter ins Wasser. Meine Hoffnung, daß er bei dieser Gelegenheit seine Badehose verlieren würde, erfüllte sich leider nicht.
Ich beschloß, meinen wasserverrückten Bruder erstmal alleine ein wenig Energie verpulvern zu lassen, und mir stattdessen etwas Gutes von der Bar zu holen. Meine Wahl fiel auf ein reichlich exotisch aussehendes Getränk, welches ich zurück zu meinem Liegestuhl beförderte. Ich setzte mich hin und ließ meine Augen über die Szene schweifen. Um ehrlich zu sein – da gab es außer Tim noch einige andere, die mein Blut in Wallung brachten. Merke: in solchen Situationen sind weite Badehosen mit viel, viel Stoff äußerst beruhigend. Zumindest für den vorsichtigen, schamvollen Geist.
Leider war es mir nicht vergönnt, längere Zeit ungestört in diesen Betrachtungen zu schwelgen, denn alsbald bekam ich höchst unwillkommene Gesellschaft. Hauptsächlich deshalb unwillkommen, weil weiblich. Eine lang aufgeschossene, verdächtig nach Silikoneinlage aussehende Blondine ließ sich auf dem Sitz neben mir nieder und konnte sich nicht verkneifen, mich anzuquatschen. Auf Englisch übrigens, ich werde jedoch den Teufel tun und das hier in der Originalsprache wiedergeben!
»Hi! Was machst du denn hier so alleine?«
Beinahe hätte ich geantwortet, »die bis soeben noch vorhandene perfekte Ruhe genießen«, aber irgendwie gelang mir das nicht. Mußte wohl an meiner für solche Fälle viel zu guten Erziehung liegen.
»Mich nach einem langen Tag erholen.«
»Interessant. Übrigens, mein Name ist Heidi.«
Jetzt mußte ich mich arg zusammenreißen um nicht loszuprusten. Heidi! Das erschien mir nun wirklich äußerst passend. Sie sah genau wie eine Heidi aus. Mir wäre jedoch Heidi-Kollege Peter lieber gewesen. Wesentlich lieber.
»Danny.«
Meine Hoffnung, sie mit solcherart kurzangebundener Antwort zu entmutigen, erfüllte sich leider nicht.
»Du bist nicht von hier, oder? Du hast irgendwie einen komischen Akzent.«
Na vielen Dank auch. Vielleicht sollten wir die Unterhaltung auf Deutsch fortsetzen.
»Ich bin aus Deutschland.«
»Wahnsinn! Ich habe noch nie mit einem Deutschen gesprochen.«
Geschweige denn noch mehr getan, denke ich mal. Und auch bei mir würde die gute Heidi da kein Glück haben.
»Kann ich dich mal in deinen Lederhosen sehen?«
Prust! Prima, bei ihr hatte die Disney-Propaganda bereits voll eingeschlagen! Davon mal abgesehen: so wie sie mich anglotzte und mit den Wimpern klimperte, wollte sie mich wohl weniger in meinen (nicht vorhandenen) Lederhosen sehen als mir vielmehr aus den selbigen heraushelfen. Hilfe!
»Sorry, aber so etwas besitze ich nicht.«
Auch diese leicht schroffe Antwort schien sie nicht von ihren ziemlich eindeutigen Absichten abzubringen.
»Schade. Und, was machst du hier so? Hast du Lust, irgendwas zusammen zu unternehmen?«
Jetzt war ich beinahe soweit, daß ich trotz meiner Wasserphobie aufgesprungen und ins Becken gehüpft wäre. Zum Glück erhaschte ich Tims Blick, welcher grinsend in meine Richtung schaute. Hoffentlich konnte er von den Lippen lesen, denn ich rief ihm jetzt ein lautloses »Rette mich!« zu.
»Tut mir leid, ich muß auf meinen kleinen Bruder aufpassen.«
Zum Glück bekam Tim das nicht mit, der würde mich sonst vielleicht absichtlich zappeln lassen. Voller Erleichterung sah ich ihn gemächlichen Schrittes zu uns schlendern, klatschnaß, ein Anblick, der mich wesentlich mehr interessierte als derjenige des blonden Giftes neben mir.
»He, Danny, wer ist denn das? Du wirst doch nicht etwa Olga untreu?«
Olga? Wer zum Henker war Olga?
»Das ist Heidi. Heidi – mein Bruder Tim.«
Die beiden schauten sich abschätzend an. Obwohl, Tims Blick sah weniger abschätzend als vielmehr geringschätzig aus.
»Schätzchen, du solltest meinen Bruder lieber in Frieden lassen. Er ist nicht mehr zu haben, und seine Freundin ist die Tochter von einem russischen Mafiaboß. Wäre eine dämliche Idee sich mit der anzulegen. Zumindest wenn du noch weiterhin an deinem Spiegelbild Freude haben willst.«
Ah! Diese Olga meinte mein schlaues Brüderchen! Heidi schaute zwischen Tim und mir hin und her.
»Aber das muß sie doch gar nicht erfahren, oder?«
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Wer weiß, vielleicht hat sie jemanden darauf angesetzt, ein Auge auf ihren Liebsten zu haben?«
Man konnte sehen wie es in ihrem Kopf arbeitete. Das heißt, falls es da etwas gab was in der Lage war zu arbeiten. Vielleicht war da drinnen auch nur gerade ein Strohballen umgekippt.
»Oh Gott, mir fällt gerade ein, daß ich mich mit meiner Mutter treffen sollte! Tut mir leid, aber ich muß weg!«
Im nächsten Moment schoß sie davon wie eine Rakete, und nutzte die Gelegenheit, auf dem nassen Boden am Beckenrand auszurutschen. Ein muskelbepackter Blondschopf konnte sie gerade noch abfangen – und wurde dadurch zum nächsten Opfer ihrer Annäherungsversuche. Das vorgeschobene mütterliche Treffen war natürlich sofort vergessen. Wir schauten ihnen hinterher, wie sie gemeinsam das Poolgelände verließen.
»Schade, Danny, vielleicht wäre der blonde Hühne eher nach deinem Geschmack gewesen. Jetzt hat sie ihn am Haken.«
»Nee, ich stehe nicht auf Bodybuilder. Wer weiß, in dem seinen Körper kursiert vermutlich mehr Chemie als in unserem Chemiekabinett in der Schule.«
Tim lachte lauthals.
»Da könntest du recht haben.«
»Übrigens, danke daß du mich gerettet hast. So was furchtbares habe ich lange nicht erlebt.«
»Tja, das hast du nun davon, daß du so gut aussiehst.«
Häh, hatte ich mich verhört? Hatte Tim mir gerade ein Kompliment gemacht?
»Keine Ahnung was du meinst. So besonders sehe ich nun wirklich nicht aus.«
»Ach ja. Und deshalb hast du kaum im Stuhl gesessen, als auch schon die gute Heidi sich daranmachte, dich an Land zu ziehen. Glaub mir, bei dir werden bestimmt einige Mädels schwach.«
Wunderbar, genau das was mir noch fehlte. Zuhause war mir das nicht aufgefallen, praktisch alle weiblichen Wesen, mit denen ich in näherem Kontakt stand, wußten, daß sie sich diesbezüglich keinerlei Hoffnungen zu machen brauchten.
»Huh, dagegen werde ich schleunigst was unternehmen müssen. Was meinst du, sollte ich mir eine Glatze schneiden lassen? Oder einen dicken Nasenring zulegen?«
»Keine gute Idee. Schließlich willst du nur die Mädels verschrecken, nicht auch noch die Jungs, die eventuell ein Auge auf dich werfen könnten.«
Da hatte er leider den Nagel auf den Kopf getroffen. Wobei mir ja blöderweise bisher kein solcher, ein Auge auf mich werfender Junge begegnet war.
»Und, was soll ich tun?«
Tim überlegte kurz, dann hellte sich sein Gesicht auf.
»Ich hab's! Wir verwandeln dich einfach in einen 120-Prozent-Schwulen! Paß auf: ab sofort nur noch hautenge Klamotten, vielleicht etwas Lack und Leder. Dazu rechts einen goldenen Ohrring. Dann mußt du an deiner Aussprache arbeiten, ein ordentliches Lispeln wirst du doch hinkriegen, oder? Außerdem mußt du anfangen, beim Sprechen ordentlich mit den Armen rumzufuchteln. Und natürlich beim Laufen mit dem Hintern wackeln.«
»Aaarggh! Tut mir leid, aber das geht auf gar keinen Fall! Das würde genau die schwulen Jungs verschrecken, die ich ganz bestimmt nicht verschrecken will. Ich hoffe auf einen ganz normalen Typen, und einen solchen könnte ich in dem Aufzug garantiert nicht für mich begeistern. Mal ganz davon abgesehen, was Mutsch und Reinhardt dazu sagen würden.«
»Du bist ein ziemlich schwieriger Patient, weißt du das? Ansprüche stellst du überhaupt nicht, oder?«
»Ich? Ansprüche? Nicht daß ich wüßte.«
»Tja, dann wirst du wohl damit leben müssen, daß auch weiterhin Leute vom falschen Ufer versuchen werden dich abzuschleppen.«
»Naja, ich werde es überleben. Jetzt habe ich ja dich, du wirst doch auch hoffentlich weiterhin zu meiner Rettung herbeieilen, oder?«
»Was tut man nicht alles für seinen großen Bruder. Naja, ich will mal nicht so sein.«
»Vielen, vielen Dank.«
»Du solltest dir vielleicht ein Bild von ›Olga‹ besorgen und in die Brieftasche stecken. Das wirkt dann überzeugender.«
»Okay. Wie sieht denn eine russische Mafiosi-Tochter aus?«
»Keine Ahnung. Viel wichtiger ist der grimmige Leibwächter, der auch mit auf dem Bild sein sollte.«
»Das macht die Suche nach einem passenden Bild nicht gerade einfacher.«
»Du machst das schon. Ist schließlich für einen guten Zweck.«
»Stimmt auch wieder.«
»So, wie siehts aus, kommst du jetzt mit ins Wasser?«
Ich muß wohl einen ziemlich zweifelnden bzw. verzweifelten Anblick geboten haben.
»Mach schon, ich verspreche dir auch, daß ich auf dich aufpasse. Du wirst garantiert nicht ersaufen. Außerdem, wenn du im Wasser bist, ist die Gefahr einer weiteren weiblichen Attacke wesentlich geringer.«
Das letzte Argument war es, welches mich dazu brachte, wider besseren Wissens meinem Erzfeind Wasser gegenüberzutreten. Rücksichtsvollerweise blieb Tim mit mir in Regionen, in welchen ich noch problemlos stehen konnte, und nach einer Weile hatte ich die meisten meiner Ängste vorübergehend vergessen. Ich ließ mich sogar von ihm dazu breitschlagen, einmal die elendig lange Rutsche hinunterzurutschen!
Nach etwa einer halben Stunde verließ ich wieder das nasse Element – Tim blieb noch weitere zwanzig Minuten dort, wo er sich offenbar am wohlsten fühlte. Als auch er endlich schweren Herzens Abschied vom Becken genommen hatte, wanderten wir zurück ins Zimmer, und nach einer schnellen Dusche landeten wir in den Federn. In Anbetracht des wieder anstrengend gewesenen Tages dauerte es nicht lange, bis von uns nur noch die gleichmäßigen Atemzüge zu hören waren, die man halt im Schlaf so von sich gibt.
Der nächste Tag war der 24. Dezember – Heiligabend. Und selbst eine eingeschworene Frostbeule wie ich mußte sich eingestehen, daß Weihnachten bei 20 Grad plus und unter Palmen nicht ganz an die heimatlichen (leider selten weißen) Weihnachten herankam.
Wir hatten beschlossen, den Tag im nächsten Disney-Park, Magic Kingdom zu verbringen, und genau das taten wir auch. Dies ist der erste, ursprüngliche Park, dessen herausragendstes Merkmal das Märchenschloß ist. Auch hier war natürlich alles weihnachtlich geschmückt (bzw. so, wie sich die Amerikaner weihnachtlich vorstellen).
Die Attraktionen waren disneytypisch gigantisch. Am Splash Mountain mußte ich den ersten schweren Verlust der Reise hinnehmen – beim Hinuntersausen der Wildwasserbahn flog mir mein schöner West-Point-Hut davon. Selbigen mußte ich dann durch einen sündhaft teuren Disney-Hut für 25 Dollar ersetzen – ohne Hut unter der Sonne Floridas zu wandeln, ist nicht sonderlich empfehlenswert.
Unseren Hunger stillten wir auf Tom Sawyers Island, wohin man per Floß übersetzen muß. Es gab Schinken-Käse-Sandwich – was sich harmloser anhört, als es in Wirklichkeit war. Man stelle sich darunter zwei große Scheiben Toast vor, mittendrin mindestens ein Dutzend Schichten Schinken und nochmal so viel Käse. Als Beilage eine Tüte Kartoffelchips. Keiner von uns brauchte Nachschlag.
Weitere Stationen waren »Pirates of the Caribbean« (man konnte sogar die haarigen, dreckigen Füße der Piraten erkennen), »Jungle Cruise« (eine Bootsfahrt durch einen künstlichen Dschungel mit genauso künstlichen Tieren), »Big Thunder Mountain Railroad« (eine gemäßigte Achterbahn), »Haunted House« (ein tolles Geisterhaus!), »Space Mountain« (eine Achterbahn in völligem Dunkel – nie wieder!), »The ExtraTERRORestrial Alien Encounter« (nichts für schwache Nerven), »Time Keeper« (eine gemütlich Zeitreise mit H. G. Wells Zeitmaschine), »Peter Pan's Flight« (eine Art Seilbahn durch die Welt von eben diesem Peter Pan) und – natürlich – die große Disney-Parade auf »Main Street USA«. Den Tag beschloß dann ein gut zehnminütiges Feuerwerk am bunt beleuchteten »Cinderella's Castle« – dessen Knallerei beinahe von den ganzen »Ahs« und »Ohs« der Zuschauer übertönt wurde.
Übrigens, wer Angst vor großen Menschenmassen hat, sollte die Disney-Parks zu solchen Anlässen wie Weihnachten tunlichst meiden. Manchmal hatte ich regelrecht Mitleid mit kleinen Kindern, welchen dieses Gedrängel bestimmt nicht sonderlich gut bekommen ist. Aber weiter im Text bzw. Tagesablauf.
Anschließend ging es zurück ins Hotel, wo nunmehr das Wichtigste am Weihnachtsfest stattfinden sollte: die Bescherung. Große Geschenke waren logischerweise nicht mit nach Florida gekommen, aber Kleinigkeiten (von der physikalischen Größe her betrachtet) würde sich keiner von uns nehmen lassen.
Für meine Mutter hatte ich ein paar güldene Ohrringe besorgt. Wochenlang hatte ich sie scharf beobachtet, und dabei war mir aufgefallen, daß sie immer wieder eine bestimmte Katalogseite aufblätterte und eben dieses Paar Ohrringe anstarrte. Als ich ihr die Schmuckstücke überreichte, freute sie sich riesig. Schön, wenn es einem so einfach gemacht wird.
Etwas für Reinhardt zu finden war da schon schwerer gewesen. Zum Glück war mir aufgefallen, daß er sein Geld in einem ziemlich zerlumpten Portemonnaie beförderte. Also hatte ich auch für ihn ein Geschenk, über welches er ebenfalls erfreut schien. Leicht getrübt wurde seine Freude nur, als er ins Kleingeldfach schaute und dort statt des üblichen Glückspfennigs eine Mini-Tube mit Fleckentferner vorfand. Das hatte ich mir einfach nicht verkneifen können…
Und für Tim? Tja, das beste Geschenk wäre wohl ein eigenes Schwimmbecken mit olympischen Abmessungen gewesen, aber ich hatte das dumpfe Gefühl, daß unser kleines Grundstück dafür nicht die richtige Größe hatte. Ich hatte also ein Problem. Welches ich zum Glück gerade noch rechtzeitig hatte aus dem Weg räumen können. Zwar hatte ich dafür bei einigen Leuten Gefallen einfordern müssen, aber zu irgendwas müssen ja Beziehungen auch gut sein. Also konnte ich meinem Bruder nun einen Briefumschlag überreichen, welchen er sofort neugierig aufriß. Dann wurden seine Augen immer größer.
»Wow! Wo hast du DIE Karten her? Mir hat man gesagt, alles wäre ausverkauft!«
Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte ich einen Volltreffer gelandet. Zur Erklärung: Während ich krank bei den Bergners darnieder lag, mußte ich erleben, wie Tim eines Tages äußerst enttäuscht nach Hause kam. Sein Versuch, Eintrittskarten zu einem im Februar stattfindenden Mega-Konzert der verschiedensten aktuellen Pop-Größen zu ergattern, war kläglich gescheitert. Ich hätte zwar nicht gedacht, daß mein scheuer kleiner Bruder auf solche Massenveranstaltungen steht, aber ich hatte plötzlich eine Idee für ein Weihnachtsgeschenk für ihn. Ein Dutzend Anrufe später hatte ich zwei Top-Karten, inklusive Backstage-Pässen. Zu allem Überfluß brauchte ich keinen Pfennig dafür zu bezahlen. Obwohl ich für Tim natürlich auch einiges ausgegeben hätte, ehrlich.
»Sorry, Betriebsgeheimnis.«
»Das sind zwei Karten. Du kommst also hoffentlich mit, oder?«
»Willst du mich denn dabeihaben? Vielleicht findest du ja noch eine bessere Begleitung.«
»Blödmann. Natürlich kommst du mit. Ich werde dir doch nicht die Chance verderben, die Jungs von Natural in natura zu sehen.«
»Okay, wenn du meinst. Josh, ich komme!«
»Will ich doch meinen. Und danke. Das wird ein super Abend!«
Offensichtlich hatte ich mit meinen Geschenken voll ins Schwarze getroffen.
Tim schenkte seinem Vater eine schicke, teuer aussehende Sonnenbrille, mit welcher dieser offensichtlich auch schon länger geliebäugelt hatte, die er sich jedoch nie überwinden konnte zu kaufen. Für meine Mutter gab es eine goldene Halskette, welche prima zu den von mir geschenkten Ohrringen paßte. Was kein Wunder war – hatten Tim und ich die Sachen doch gemeinsam ausgesucht und bestellt.
Aber nun los, was war mit mir? Ich zerpflückte das Geschenkpapier, und darunter zum Vorschein kam … eine orangene Wärmflasche aus Gummi!
»Vielen Dank, Tim! Du bist ja ein richtig treusorgender Bruder.«
Er grinste mich an.
»Tut mir leid, ich konnte einfach nicht widerstehen. Aber schau mal etwas genauer hin, vielleicht ist da ja noch was anderes drin.«
Das tat ich dann auch, und tatsächlich, die Wärmflasche fühlte sich etwas seltsam an. Sollte solch ein Gummiteil nicht eigentlich wabblig sein? Nun, dieses Exemplar hier war das nicht, und bei genauerem Hinsehen konnte ich Klebestellen erkennen. Nun war ich mit meiner Geduld am Ende, und mit einem kräftigen Ruck am Einfüllstutzen zerlegte ich (mit etwas schmerzendem Herzen – so was schönes, wärmendes einfach zerstören zu müssen!) die Wärmflasche. Zum Vorschein kam eine CD-Box, allerdings nicht die einer Audio-CD – nein, sie gehörte zu einem Computerspiel. Genauer gesagt zu dem Computerspiel, auf dessen Erscheinungstermin ich lange gelauert hatte, den ich dann jedoch ob meiner Krankheit verpaßt und dann völlig vergessen hatte.
»Wow, Tim, danke! Woher wußtest du, daß ich das Spiel haben wollte?«
»Tja, manche Leute pflegen in ihren Fieberträumen zu reden. Da habe ich mir einiges zusammengereimt, danach noch deine Mutter gefragt, und schon hatte ich das passende Weihnachtsgeschenk.«
Ein sehr aufmerksamer Zuhörer, der Kleine. Mein Gott, was hatte ich in meinen fiebrigen Schlafphasen noch so von mir preisgegeben! Hoffentlich nicht zu viel. Aber so wie Tim mich anlächelte, schien das nicht der Fall gewesen zu sein. Oder es war ihm zumindest egal.
So, jetzt ging es langsam ans Eingemachte. Die Geschenke der »Großen« an die »Kleinen« waren an der Reihe. Meine Mutter stellte sich in Positur.
»Jungs, Reinhardt und ich haben uns gedacht, daß wir uns zusammentun und jedem von euch ein etwas größeres Geschenk als üblich machen. Seht das bitte nicht als Bestechungsversuch. Ihr habt euch das redlich verdient. Außerdem sind es Dinge, die ihr wirklich gut gebrauchen könnt.«
Nun war meine Neugier erst recht geweckt. Größeres Geschenk? Höre ich da ein Auto hupen? Nö, vermutlich nicht. Das wäre wohl etwas zu groß. Außerdem noch etwas zeitig. Nun los, macht ein bißchen Tempo!
»So, Tim, du zuerst!«
Das Vorrecht der jüngere Geschwister. Na gut. Schaun wir mal. Allerdings … größeres Geschenk … so sah das nicht unbedingt aus. Eher sehr klein. Noch ein Briefumschlag? Etwa ein größerer Geldschein? Tim öffnete den Umschlag, und im nächsten Moment brach er in Jubel aus.
»Wahnsinn! Danke! Genau das, was ich mir schon die ganze Zeit wünsche. Aber war das nicht sehr teuer?«
»Keine Bange, wir können uns das leisten.«
Also langsam würde ich wirklich gerne wissen, wovon hier die Rede war.
»Nun laßt mich mal nicht dumm sterben! Zeig her, kleiner Bruder!«
Genau das tat selbiger dann auch, und im nächsten Moment hatte ich einen selbstgemachten Gutschein in der Hand. Eine Gutschein für … einen Computer! Hm, stimmte ja, ein solches Gerät hatte ich bei ihm bisher vermißt. Und dieser neue Computer würde auf jeden Fall unserem Zimmer einen lebendigen Farbkleckser geben, handelte es sich doch um einen Gutschein für einen iMac von Apple. Naja, das war fast zu schön um wahr zu sein. Auch ich verwendete dieses System, also würden nicht nur Tim und ich sondern auch unsere Rechner gut miteinander auskommen. Aber eins mußte ich schon sagen: dieses Geschenk war noch um eine Klasse größer, als ich erwartet hatte. Was mochte da auf mich zukommen?
Lange brauchte ich nicht mehr zu warten. Ich bekam mein Päckchen in die Hand gedrückt, etwas größer als das von Tim, aber auch nicht riesig. Als ich es auspackte, blieb mein Herz beinahe stehen, und ich glotzte meine Mutter und Reinhardt mit weit aufgerissenen Augen an.
»Maria, du kennst ihn besser als ich. Bedeutet dieser Gesichtsausdruck, daß er sich freut, oder ist er schockiert?«
»Vermutlich beides.«
»Auch gut. Danny, wir hatten überlegt, ob wir dir dein Geschenk gleich zu Anfang des Urlaubs geben sollten, aber dann haben wir uns wegen der weihnachtlichen Tradition dagegen entschieden. Aber es ist alles dafür bereit, daß du gleich loslegen kannst.«
Langsam klappte mein Mund wieder zu, und ich konnte meinen Augen wieder auf mein Geschenk richten. Selbiges war die aktuellste semiprofessionelle Digitalkamera auf dem Markt, die es vom Preis her locker mit Tims neuem Computer aufnehmen konnte. Im Gegensatz zu Vorgängermodellen – und den aktuellen Modellen der Konkurrenz – konnte dieses gute Stück es an Einstellmöglichkeiten tatsächlich schon mit einer »echten«, sprich Film verwendenden Kamera aufnehmen.
Jetzt war ich natürlich an der Reihe, mich höflich zu bedanken, was ich ausgiebig tat.
Nun stand nur noch der letzte Akt der Geschenkeverteilung aus. Wenn ich jedoch gedacht hatte, daß auch dieser ganz normal über die Bühne gehen würde, hatte ich mich getäuscht. Reinhardt setzte zu einer Rede an.
»Tim, Danny, ihr wißt ja, daß diese Reise unter anderem dem Zwecke dient, uns als Familie zusammenwachsen zu lassen. Wir, also Maria und ich, denken, daß wir damit sehr erfolgreich sind. Daher haben wir beschlossen, den heutigen Tag zu nutzen, um uns vor den Augen der beiden Menschen, die uns am wichtigsten sind, zu verloben. Wir hoffen sehr, daß ihr damit einverstanden seid.«
Fragend, beinahe leicht ängstlich schauten uns die beiden an. Wow, das schien ja wirklich der Abend der gewaltigen Überraschungen zu werden! Tim war völlig von den Socken, und auch ich brauchte einen Moment, bis ich die Worte wiederfand.
»Wow, das ist ein Hammer! Klar sind wir damit einverstanden! Also ich auf jeden Fall, und du doch bestimm auch, Tim, oder?«
»Keine Frage! Ich schätze, das ist das schönste Geschenk überhaupt. Herzlichen Glückwunsch!«
»Dem kann ich mich nur anschließen. Reinhardt, ich freue mich wirklich, daß du aus meiner Mutter eine ehrbare Frau machst.«
Dieser Spruch brachte nun alle zum Lachen, und die Anspannung wich von den Gesichtern unserer alten Herrschaften.
»Puh, Gott sei Dank! Reinhardt und ich, wir hatten uns doch leichte Sorgen gemacht.«
»Kennt ihr uns wirklich so schlecht? Wenn Tim und ich Probleme mit euch hätten, dann hättet ihr das längst bemerkt.«
»Ja, das ist uns jetzt auch klar. Aber wie gesagt, ihr seid für uns die wichtigsten Menschen überhaupt, und da macht man sich halt so seine Gedanken.«
»Diese Gedanken solltet ihr jetzt lieber daran verschwenden, wie wir dieses Ereignis angemessen feiern können!«
»Keine Bange, Danny, wir haben daran gedacht. Alles ist vorbereitet. Wir haben im Restaurant einen Tisch reserviert, mit Champagner und Kerzenschein. Also los, wir sollten uns langsam auf den Weg machen.«
Reinhardt und meine Mutter wollten losmarschieren, Tim stellte sich ihnen jedoch in den Weg.
»Ähem, sagt mal, fehlt da nicht noch irgendwas?«
Die von ihm Gestoppten schauten sich fragend an, dann machte sich ein wissendens Lächeln auf ihren Gesichtern breit. Einen Moment danach lagen sie sich in den Armen und küßten sich heiß und innig. Wieder war es Tim, der sich einmischte.
»Schon ganz gut, aber das meinte ich eigentlich nicht. Gehören zu einer richtigen Verlobung nicht auch Ringe?«
Okay, das war wie eine kalte Dusche. Beide schlugen im Geiste sämtliche Hände über dem Kopf zusammen und brachen anschließend in lautstarkes Gelächter aus.
»Mein Gott, Tim hat völlig recht. Wir haben uns dermaßen Gedanken um eure Reaktion gemacht, daß wir die Ringe völlig vergessen haben. Natürlich gehören die auch zur Verlobung, und wir haben sie sogar dabei!«
»Dann solltet ihr sie wohl jetzt auch anlegen. Dann wissen all die anderen Leute hier im Hotel wenigstens, daß sie sich keine Hoffnungen mehr auf einen von euch zu machen brauchen.«
Hm, vielleicht sollte ich mir auch einfach einen Ring anstecken. So als Heidi-und-Kolleginnen-Abwehrmaßnahme. War sicherlich eine weitere Überlegung wert.
Aber zurück zum aktuellen Geschehen. Die beiden offenbar hoffnungslos ineinander Verliebten tauschten nunmehr Verlobungsringe aus, und als dies geschehen war, wurde die Kußszene von kurz zuvor wiederholt. Diesmal hatte ich die nagelneue Kamera einsatzbereit und hielt den Moment für die Ewigkeit fest. Die Kamera nahm ich auch mit, als wir uns anschließend auf den Weg ins Restaurant machten. Dort kam sie nochmals zum Einsatz, einmal mit nur Mutti und Reinhardt, sich gegenüber am Tisch sitzend, als Zielobjekt; ein zweites Mal war ein Kellner dann so freundlich, unsere gesamte Viererbande abzulichten.
Das Essen war wunderbar, und trotz der strengen Ami-Gesetze bekamen auch Tim und ich ein Glas Schampus zum Zwecke des Anstoßens. Nachdem wir gegessen und die Gläser aneinandergeklimpert hatten, zwinkerte ich meinem Bruder vertraulich zu.
»Tim, ich möchte mir eigentlich die Kamera mal ganz genau anschauen. Am besten in aller Ruhe in unserem Zimmer. Kommst du mit?«
Tim schaute mich erst verwirrt, dann aber verstehend an.
»Klar, das interessiert mich auch. Paps, Maria, kommt ihr auch ohne uns klar?«
Die beiden durchschauten unser Manöver natürlich völlig problemlos.
»Jungs, wegen uns braucht ihr nicht zu gehen.«
»Ich denke, ihr könnt ein bißchen Zeit nur für euch gebrauchen. Danny und ich verschwinden. Laßt euch soviel Zeit wie ihr wollt, wir gehen dann einfach ins Bett wenn uns danach ist.«
»Na gut. Aber ihr könnt wirklich gerne noch bleiben.«
»Nein, Tim hat recht. Also dann, schönen Abend noch, und gute Nacht.«
Wir verabschiedeten uns, und kurz darauf betraten Tim und ich unser Zimmer.
»So, Tim, die beiden Turteltäubchen können sich jetzt ohne auf uns Rücksicht nehmen zu müssen betun. Ich für meinen Teil habe eigentlich vor, mir tatsächlich mal die Kamera etwas genauer anzuschauen. Wie siehts mit dir aus?«
»Also ich dachte eigentlich an ein entspannendes, heißes Bad im Whirlpool. Du bist gerne mit eingeladen, das Ding ist ja groß genug für eine halbe Fußballmannschaft.«
Oh, oh. Groß genug für eine halbe Fußballmannschaft war es tatsächlich. Aber auch groß genug für Tim und mich? Wenn ich viel Glück hätte, würde Tim die Baderei in Badehosen angehen, und das wäre ja gerade noch erträglich. Was aber wenn nicht? Sollte ich dann im letzten Moment den Rückzieher machen? Fragen über Fragen.
»Ich lasse schon mal Wasser ein, du kannst es dir ja noch überlegen.«
Das tat ich dann auch die nächsten fünfzehn Minuten, und vertiefte mich nebenbei in die Bedienungsanleitung der Kamera. Letztere war wirklich ein Wahnsinns-Gerät, mit dem ich viel Freude haben würde. Das war wie ein Aufstieg um zwei komplette Spielklassen. Ich spielte ein wenig herum, machte ein paar Bilder und bewunderte die Resultate auf dem Mini-Monitor. Dann war Tim wieder an der Reihe, mich aufzuschrecken.
»Na, was ist nun, kommst du mit ins Wasser?«
Ich schaute von der Kamera auf, und da stand mein kleiner Bruder in der Tür zum Badezimmer, angetan einzig und alleine mit einem weißen Handtuch. Okay, ich konnte nicht sehen, ob er noch was darunter hatte, aber wenn dann wäre ja auch das Handtuch nicht nötig, oder? In mir stritten zwei Seelen miteinander. Einerseits wollte ich den Whirlpool eh mal ausprobieren. Und ein nackter Tim neben mir … naja. Und genau dieses »naja« war die andere Seite der Medaille. Wie würde ich darauf wohl reagieren? Ich meine da besonders Reaktionen, die weniger vom Verstand als vielmehr von Herz und Lustzentrum diktiert werden. Aber Tim ließ mir keine Ruhe.
»Mach schon, zier dich nicht so. Da ist nichts an dir, was ich nicht schon gesehen hätte.«
Das stimmte zweifellos, aber da war einiges an ihm was ich noch nie gesehen hatte. Trotzdem. Kneifen? Ich? Vor meinem kleinen Bruder? Lieber nicht.
»Okay, okay. Spring schon mal rein, ich bin in drei Minuten da.«
»Prima.«
Sprachs und wollte verschwinden.
»Tim!«
Er blieb in der Tür stehen und drehte sich nochmals zu mir um. Dies nutzte ich, um schnell ein Bild von ihm mit der neuen Kamera zu fabrizieren. Was mir ein Grinsen und den Stinkefinger einbrachte. Dann war er weg und ließ mich mit meinen rasenden Gedanken und Gefühlen alleine.
Aber da half nichts, wenn ich jetzt nicht alsbald im Bad auftauchen würde, hieße das, mir eine ziemliche Blöße zu geben. Also legte ich die Kamera beiseite, entledigte mich meiner Sachen, griff mir ein frisches Badehandtuch, wickelte mir selbiges um die Hüften und machte mich auf den Weg ins Badezimmer. Dort saß Tim bis zum Hals im wild blubbernden Wasser, hörte leise Musik aus dem Radio, neben ihm stand eine Flasche Cola, und auch ihm gegenüber, an dem Platz, den er wohl für mich eingeplant hatte, stand ein solches Getränk.
»Da bist du ja endlich. Los, komm rein, das ist einfach herrlich. So ein Ding sollten wir uns zuhause auch zulegen. So richtig entspannend nach der ganzen Rumrennerei der letzten Tage.«
Okay, die letzte Schonfrist war somit abgelaufen. Ich wickelte mich aus dem Handtuch und stieg zu Tim in die Riesen-Wanne. Selbiger beäugte mich interessiert, und ein dickes Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht.
»Was ist?«
»Sorry, ich muß mich wohl bei dir entschuldigen. Ich hätte nicht gedacht, daß du das tatsächlich durchziehst.«
»Wieso? Ich kann doch vor meinem kleinen Bruder nicht zurückstecken.«
Das Grinsen wurde nochmals breiter, und während ich mich hinsetzte und mir eine gute Sitzposition suchte, stand Tim auf, und ich erblickte … seine Badehose!
»He! Das ist unfair!«
»Okay, okay. Ich zieh sie ja schon aus.«
Das tat er dann auch, und ich warf einige verstohlene Blicke in Richtung derjenigen Körperteile meines Bruders, welche ich bisher nicht zu Gesicht bekommen hatte. Also ich hoffte, daß meine Blicke verstohlen waren. Enttäuscht wurde ich jedenfalls nicht… Kurz darauf saßen wir uns wieder gegenüber.
Die nächste Stunde verbrachten wir damit, unsere müden Körper zu entspannen und uns über die vergangenen Tage und natürlich über die gemeinsame Zukunft zu unterhalten – wir hatten also jede Menge Erzählstoff. Ich für meinen Teil schwelgte in ehrlicher Bewunderung für meine Selbstbeherrschung, während der ganzen Zeit war auch Klein-Danny völlig entspannt.
Als wir dann das Gefühl bekamen, daß uns langsam Schwimmhäute zu wachsenen schienen, beschlossen wir, den feuchten Abend zu beenden. Wir kletterten aus dem Whirlpool, und um nicht noch im letzten Moment meine Deckung fallen zu lassen drehte ich mich schnell von Tim weg. Wir trockneten uns ab und merkten anschließend, daß wir beide völlig vergessen hatten, irgendwelche Klamotten mit ins Bad zu nehmen. Die Handtücher waren ziemlich naß, boten also auch keine Alternative. Uns blieb also nichts anderes übrig, als nackt wie Gott oder wer auch immer uns geschaffen hatte in unser Zimmer zu flitzen. Dort entschieden wir, daß wir uns gleich bettfein machen sollten, also schlüpften wir in unsere Schlafanzüge. Gerade noch rechtzeitig, denn kaum lagen wir nebeneinander auf Tims Bett um noch ein wenig die hiesigen Fernsehprogramme durchzuzappen, als auch schon die Zimmertür aufging und die beiden Frischverlobten hereinspazierten. Nicht auszudenken, was die für einen Schock bekommen hätten, wenn sie genau zu dem Zeitpunkt gekommen wären, als zwei nackte Teenager durchs Zimmer sprangen.
»Na, Jungs, wie gehts? Ihr habt euch doch hoffentlich nicht gelangweilt?«
»Keine Bange. Danny und ich haben lange im Whirlpool gefaulenzt, und jetzt wollen wir noch ein wenig in die Glotze gucken. Und, wie war euer Abend?«
»Danke, sehr schön. Also Tim, dein Vater ist ja dermaßen romantisch! Er hat dann noch einen Geiger an den Tisch geholt, einfach herrlich. Aber ihr wißt schon, daß ihr nicht hätten verschwinden müssen, oder?«
»Schon klar, Mutti. Wir mußten nicht, aber wir wollten.«
»Danke, Danny. Maria, ich denke wir haben wirklich großes Glück, zwei solche Jungs zu haben.«
»Das kannst du laut sagen. So, wir verschwinden. Macht nicht mehr so lange, morgen ist der letzte Disney-Park angesagt. Gute Nacht!«
Die üblichen Gute-Nacht-Wünsche wurden ausgetauscht, dann waren Tim und ich wieder alleine. Wir schauten uns an und brachen in Gelächter aus. Anscheinend hatten wir genau das gleiche gedacht.
»Du, Danny, stell dir mal vor, die wären drei Minuten früher reingeplatzt! Das wäre wohl so ungefähr das Peinlichste gewesen, was ich mir vorstellen kann.«
»Es hätte sogar noch viel schlimmer kommen können. Stell dir mal vor, einer von den beiden hätte schnell genug zur Kamera gegriffen und das Schauspiel für die Nachwelt festgehalten. Erklär so ein Bild mal deinen Enkelkindern!«
Jetzt prustete Tim dermaßen los, daß er sich an der eigenen Spucke verschluckte und ich ihm durch heftiges Klopfen auf den Rücken Linderung verschaffen mußte.
»Du rechnest wohl immer mit dem Schlimmsten, Danny?«
»Das nennt man Lebenserfahrung, Kleiner. Das lernst du auch noch.«
»Die Lektion habe ich schon gelernt, danke.«
Mist, da hatte ich wohl Salz in offene Wunden gestreut.
»Entschuldige, Tim, ich weiß. War nicht so gemeint.«
»Weiß ich doch. Und in gewisser Weise ist es wohl ganz gut, immer mal daran erinnert zu werden. Umso mehr weiß ich zu schätzen, was in den letzten Wochen passiert ist. Aber anderes Thema. Sag mal, wieso hast du dich vorhin eigentlich so geziert, als ich dich in den Whirlpool eingeladen habe?«
Oh mein Gott, die Hunderttausend-Dollar-Frage! Jetzt mußte ganz schnell eine Ausrede her. Ich meine, die ehrliche Antwort »Weil ich mitten drin bin mich hoffnungslos in dich zu verlieben und mich nicht verraten wollte« war bestimmt keine gute Wahl. Okay, versuchen wir es mal damit. Zwar nicht die Wahrheit, aber doch zumindest einigermaßen logisch.
»Äh, naja. Ich wollte nicht, daß du dich irgendwie komisch bei der Sache fühlst. Ich meine, ich bin schwul, und vielen behagt die Idee nicht, mit einem wie mir nackt in einer Wanne zu …«
»Danny, hör auf dich selbst runterzumachen. Was muß ich tun, damit du mir endlich glaubst, daß ich damit überhaupt keine Probleme habe? Mit dir durch die hiesigen Szene-Schuppen ziehen?«
Ich lächelte ihn ein wenig unsicher an.
»Also, ein für allemal: Es macht mir nichts aus, mit dir an einem Tisch zu sitzen. Es macht mir nichts aus, mit dir in einem Bett zu liegen. Und es macht mir nichts aus, mit dir nackt im Whirlpool zu sitzen. Kapiert?«
»Schon gut, schon gut. Ich habs kapiert. Danke.«
»Kein Grund sich zu bedanken. So, jetzt laß uns mal schauen, was so in der Flimmerkiste läuft.«
Wir zappten durch die Kanäle, auf denen meist Werbung zu sehen war, unterbrochen von kurzen Filmchen. Ich würde wohl nie wieder auf das deutsche Privatfernsehen mit seinen Werbeunterbrechungen schimpfen. Gegen das, was hier ablief, war das alles noch vollkommen harmlos. Am Ende landeten wir bei MTV, und während dort die aktuellen Charts dudelten, durchstöberten Tim und ich Disney-Infomaterial. Für den nächsten Tag war der neueste Teil von Disneys Imperium angekündigt: Animal Kingdom.
Dann erklang eine Melodie, die mich veranlaßte, wie gebannt auf den Bildschirm zu starren. Was meinem aufmerksamen Nebenmann nicht verborgen blieb.
»Na sag mal, Danny, ich denke du bist schwul? Wieso stierst du dann ausgerechnet auf ein Video von Britney Spears?«
»Keine Angst, Tim, ich bin nicht plötzlich hetero geworden. Ich gucke auch nicht auf die pubertierende Hupfdohle, sondern auf einen ihrer Tänzer. Hier, der links von ihr, ist der nicht süß?«
»Der mit den dunklen Haaren und den blonden Strähnchen?«
»Genau. Der mit dem niedlichen Lächeln. Glatt zum Verlieben.«
Tim verfolgte genau wie ich aufmerksam den Rest des Videos.
»Hm. Ich verstehe was du meinst. Also ich denke, daß ich das verstehe. Er sieht wirklich gut aus. Für einen Jungen, meine ich.«
»Also ich finde das auf jeden Fall. Für diesen Anblick ertrage ich es sogar, gleichzeitig die Spears hören zu müssen.«
»Gut, damit wäre also geklärt, auf welchen Typ von Boys du stehst. Aber blond, wie du vor ein paar Tagen gesagt hast, ist der nicht!«
»Aber zumindest hat er blonden Strähnchen. Außerdem, wenn der Rest stimmt, könnte ich sogar über rote Haare hinwegsehen.«
»Anscheindend bist doch nicht ganz so wählerisch. Zum Glück. Damit dürften deine Chancen wieder steigen.«
»Das will ich doch auch hoffen!«
Lange haben wir dann nicht mehr durchgehalten, und kurz darauf war der Fernseher aus, und wir rutschen langsam hinüber ins Traumland. Jeder in seinem eigenen Bett.
Der Rest der Florida-Reise verging – wie bei solchen Anlässen üblich – viel zu schnell. Nicht immer war alles so gut organisiert wie die ersten paar Tage in Orlando. Manchmal war die Zimmerbeschaffung nicht ganz einfach, besonders, da über die Feiertage und den Jahreswechsel offenbar ganz Amerika und die Hälfte vom Rest der Welt auf die Idee gekommen war, nach Florida zu reisen. Aber wir fanden immer ein Nachtquartier, auch wenn das manchmal hieß, daß Tim und ich uns ein Bett teilen mußten. Oder teilen durften? Jedenfalls handelte es sich immer um riesige Doppelbetten, sodaß wir uns nie zu nahe kamen. Worüber ich einerseits glücklich war, was ich andererseits aber auch ein wenig bedauerte.
Mutti und Reinhardt schwebten wie auf Wolke sieben, auf ihren Gesichtern war ein ständiges Lächeln präsent. Tim und mir schlugen sie keinen Wunsch ab, und wir mußten uns ziemlich zusammenreißen, das nicht über Gebühr auszunutzen. Ich für meinen Teil blieb von weiteren Attacken à la Heidi verschont – und zwar, ohne Tims Vorschläge bezüglich meiner Verwandlung in eine Super-Schwuchtel befolgen zu müssen.
Auf Disneys Animal-Kingdom – wirklich sehr empfehlenswert, in gewisser Weise tatsächlich der interessanteste Disney-Park – folgte das Kennedy Space Center. Hier wurde uns mal so richtig bewußt, wie riesig die Geschosse sind, welche da von Menschenhand in den Kosmos geschleudert wurden. Unter einer liegenden Apollo-Rakete stehend, kamen wir uns plötzlich ziemlich winzig vor.
Danach ging es die Küste hinunter, über Ft. Lauderdale und die Keys bis an die südlichste Spitze der kontinentalen USA – Key West. Allein schon die Fahrt über die kilometerlangen Brücken war ein Erlebnis. Auf vielen der Inseln konnte man noch die Spuren vom letzten Hurrican erkennen. So schön die Gegend auch war – als Dauerwohnsitz kam sie für mich nicht in Frage. Key West selbst war herrlich. Wir bestiegen den alten Leuchtturm, besuchten Hemmingways Haus, machten mit dem Conch Train eine Stadtrundfahrt und versammelten uns mit Hunderten oder Tausenden anderen am Abend zum Sonnenuntergang am Mallory Square. Dies war nun eines der schönsten Naturschauspiele, welches ich bisher erlebt hatte. Leicht bewölkter Himmel, das Wasser voller Segelschiffe, ringsumher klickten und summten die Kameras. Der rote Ball sank immer tiefer, und meine Mutter konnte sich den berühmten sächsischen Sonnen-Untergangs-Spruch nicht verkneifen: »Guggde mal, glei didschd se nein!«
Die Sonne »didschde« tatsächlich rein ins Wasser, und die Aufmerksamkeit der Menschenmenge wandte sich nunmehr den zahlreichen Kleinkünstlern zu. Pantomimen, Feuerschlucker usw. buhlten um die Gunst der Dollarnoten verteilenden Zuschauerschaft. Wir machten uns langsam über die berühmte Duval Street mit all ihren Geschäften (die wohl eher den Namen Touristenfallen verdienten) und Bars auf den Weg zurück ins Hotel. Ach, übrigens, der absolut südlichste Punkt, von welchem man bei guter Sicht angeblich die qualmende Zigarre vom fidelen Castro sehen konnte, war eher ein häßlicher Platz. Direkt an einer Militärbasis gelegen, halb von einem Drahtzaun versperrt, stand das bunte Monument, welches den »Southernmost point of continental USA« kennzeichnet – und im Volksmund bezeichnenderweise den Spitznamen »Riesen-Dildo« trug.
Zurück in nördlicher Richtung ging es dann über die Everglades (unbedingt empfehlenswert für alle Naturliebhaber und Fotofreunde) und die Golfküste (der alte Hafen von Naples ist einen Besuch wert) zurück nach Orlando, wo es sich leider nicht vermeiden ließ, in den Flieger zurück ins kalte Deutschland zu steigen.
Geschafft! Wir waren wieder heil in der Heimat angekommen. Was für eine Umstellung das war! Vor nur zwölf Stunden hatten wir Orlando bei angenehmen 24°C in kurzen Klamotten erlebt – jetzt begannen meine Zähne beim Verlassen des Berliner Flughafens unkontrolliert zu klappern. 12 Grad minus und Schneetreiben! Zum Glück hatten wir uns bereits vor dem Abflug umgezogen, sodaß wir dem Wetter einigermaßen angemessen gekleidet gegenübertreten konnten. Ich für meinen Teil war aber trotzdem drauf und dran, sofort mein gesamtes »Vermögen« in ein Ticket zurück nach Florida zu investieren. Ohne Rückflugoption, versteht sich.
Eine halbe Stunde später saßen wir im Auto und begannen unsere Dreistunden-Fahrt nach Hause. Dreistunden-Fahrt wenn nichts dabei schiefging. Zu unser aller Überraschung blieben wir jedoch trotz des Sauwetters von Staus und Unfällen verschont, und Reinhardt fuhr eh nach dem Motto »Lieber etwas später zu Hause, als etwas früher im Krankenhaus«. Oder gar auf dem Friedhof.
Als wir uns unserer Heimatstadt bis auf wenige Kilometer genähert hatten und von der Autobahn abfuhren, wandte sich der Fahrer an seine Passagiere.
»Was haltet ihr davon, wenn wir zuerst zu uns fahren und dort gemütlich zusammen Abendbrot essen. Oder wollt ihr zwei sofort zu euch?«
Wir beratschlagten ein wenig hin und her und kamen zu dem Ergebnis, daß wir uns dieses Stündchen durchaus leisten konnten. Das Kofferauspacken würde uns vermutlich nicht davonlaufen.
Als wir in die Straße der Bergners einbogen, sahen wir schon von weitem, daß sich ihr Haus irgendwie verändert hatte. Als wir näherkamen, erkannten wir, daß die schöne, frischgeweißte Fassade an verschiedenen Stellen schmutzig-grau bis schwarz aussah. Vor dem Haus standen sowohl ein Polizei- als auch ein Feuerwehrfahrzeug. Wie es Reinhardt schaffte, das Auto heil am Straßenrand zum Stehen zu bringen, ist mir bis heute unbegreiflich. Wir stiegen aus, und die beiden Bergners starrten fassungslos auf das, was noch vor kurzem ein topsaniertes Gründerzeithaus gewesen war. Wie wir da so kopfschüttelnd herumstanden, ging die Haustür auf, und eine ältere Frau trat in Begleitung mehrerer Uniformierter auf die Straße.
»Aber da ist ja der Herr Bergner! Ich habe ihnen doch gesagt, daß er heute aus Amerika zurückkommt.«
Dann stürzte sie auf uns zu.
»Herr Bergner! Gut daß Sie da sind, es ist ja so schrecklich!«
Sie war regelrecht hysterisch. Reinhardt versuchte, sie ein wenig zu beruhigen – ob er in der momentanen Situation dazu aber der Richtige war?
»Frau Schmidt, ist ja gut. Was ist denn über…«
»Das ist alles so furchtbar! Der arme Herr Wansmann! Mein Gott, wie soll es nur weitergehen!«
Reinhardt merkte ganz schnell, daß aus dieser Dame nichts wirklich sinnvolles herauszubekommen war. Glücklicherweise gesellte sich nun auch einer der Uniformierten zu uns.
»Guten Abend. Ich bin Oberkommissar Flander. Sie sind Herr Bergner, der Eigentümer der Wohnung im dritten Stock links?«
»Das bin ich, guten Abend. Könnten Sie mir bitte verraten, was hier passiert ist?«
»Natürlich. Vor zwei Tagen, also in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, ist in der Wohnung unter ihnen ein Feuer ausgebrochen, welches dann über die Fenster auch auf einige Zimmer Ihrer Wohnung übergegriffen hat. Der Mieter der Wohnung konnte leider nur noch tot geborgen werden. So hart das jetzt klingen mag, aber Sie hatten sehr viel Glück, daß Sie nicht hier waren. Das Feuer hat sich rasend schnell ausgebreitet – wer weiß, ob Sie noch heil aus Ihrer Wohnung herausgekommen wären.«
»Wie sieht die Wohnung aus?«
»Ich fürchte, nicht besonders gut. Alle Zimmer auf der Straßenseite sind durch das Feuer beschädigt worden, die anderen zumindest durch Löschwasser. Die Feuerwehr hatte ganz schön zu tun, die Flammen vom Rest des Hauses fernzuhalten.«
Ich ging kurz im Geiste durch, was der Herr in Grün da aufgezählt hatte. Die Zimmer zur Straßenseite – das waren das Wohnzimmer, die Küche und Reinhardts Schlafzimmer. Hintenraus lagen das Arbeitszimmer, das Bad sowie Tims kleines Reich.
»Können wir in die Wohnung, oder ist sie gesperrt?«
»Ich habe gerade mit dem Brandermittler der Feuerwehr gesprochen, er hat die Wohnung freigegeben. Allerdings werden Sie wohl eine ganze Weile nicht darin wohnen können. Zumindest können Sie aber Ihre wichtigsten Dinge herausholen. Die Feuerwehr mußte in der Brandnacht die Tür aufbrechen, wir haben sie jetzt notdürftig verschlossen, ich würde Ihnen aber empfehlen, alle Wertsachen aus der Wohnung zu entfernen und so schnell wie möglich wieder eine richtige Tür einsetzen zu lassen.«
»Wie ist es zu dem Brand gekommen?«
»Im Moment deutet alles darauf hin, daß der Mieter unter ihnen mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen ist. Das ist etwas, was die Leute wohl nie lernen werden.«
Amen. Ich hatte ein einziges Mal an einer Zigarette gezogen – danach war mir dermaßen kotzübel gewesen, daß mir diese Erfahrung für den Rest meines Lebens ausreichte.
Der Kommissar übergab Reinhardt den Schlüssel, und schweigend machten wir uns auf den Weg in den dritten Stock. Es stank durchdringend nach Rauch, die Wände waren feucht, teilweise vereist. Der Polizist hatte Recht: hier würde so bald niemand mehr wohnen.
Oben angekommen, öffnete Reinhardt die aus einem Flickwerk verschiedener Bretter bestehende Tür, durch die wir uns kurz darauf alle schoben. Hier sah es noch schlimmer aus. Ein kurzer Gang durch die Zimmer, und uns allen war klar, daß Tim und sein Vater so gut wie alles verloren hatten. Wo das Feuer nicht gewütet hatte, da hatte das Löschwasser ganze Arbeit geleistet. Technische Geräte, Möbel, Bücher – alles war hinüber. Höchstens ein paar Textilien würden sich wieder trocknen lassen, alles andere war ein Fall für die Versicherung. Mein Gott, hoffentlich waren die beiden ordentlich versichert!
Wie ein Häufchen Elend standen die zwei Bewohner dieses Schutthaufens im Korridor und konnten immer noch nicht fassen, was hier geschehen war. Meine Mutter ging zu den beiden und umschlang jeden mit einem Arm. Gute Idee. Ich folgte ihr und tat gleiches von der anderen Seite.
»Reinhardt, Tim, wir schaffen das. Gemeinsam. Ihr wohnt natürlich bei uns, wir wollten ja eh in den nächsten Wochen zusammenziehen.«
So langsam kam der Schock bei Vater und Sohn durch, und bei beiden waren jetzt Tränen zu sehen. Mit viel Mühe schaffte es Reinhardt, sich selbst aus seinem Schock herauszureißen.
»Du hast recht. Tim, keine Angst, alles wird wieder gut. Maria, Danny, danke, daß ihr uns aufnehmt. Wir sollten jetzt sehen, daß wir die wichtigsten Dinge, die noch zu retten sind, zusammenpacken. Ich gehe ins Arbeitszimmer, die ganzen Dokumente müßten in der Kassette eigentlich alles gut überstanden haben. Tim, geh du mal in dein Zimmer und schau nach, ob du dort etwas findest, was du mitnehmen möchtest.«
»Ich komme mit dir mit, Reinhardt. Danny, begleitest du Tim?«
Na klar, ich würde dem Kleinen niemals zumuten, das alleine durchzustehen. Wir gingen gemeinsam den Weg, den ich während meiner Krankheit so oft gegangen war, vor der geschlossenen Tür nahm Tim all seinen Mut zusammen, dann drückte er die Klinke herunter, die Tür schwang auf, und wir betraten das Zimmer bzw. das, was davon noch übrig war.
Wie der Freund und Helfer gesagt hatte, war hier vom Feuer nicht viel zu sehen, dafür quietschte der Teppich naß unter unseren Füßen, auf Wänden und Schränken glitzerte ein feiner Eisfilm, das Bett, in welchem ich so manche Nacht verbracht hatte, war nur noch ein nasser Klumpen aus Stoff und Federn. Und genau in dem Moment, in welchem ich mir einen ersten Überblick verschafft hatte, brach Tim zusammen. Gerade noch rechtzeitig konnte ich ihn festhalten, sonst hätte er wohl im nächsten Augenblick auf dem durchweichten Boden gelegen.
»He, Tim, komm schon. Ist alles nicht so schlimm. Wir stehen das durch, okay?«
Normalerweise hätte ich ihn jetzt irgendwohin gesetzt, aber keines der Möbelstücke sah sonderlich vertrauenserweckend aus, also hielt ich ihn lieber in meinen Armen. Das hatte ich mir ja schon immer mal gewünscht, aber ganz gewiß nicht unter diesen Umständen. Nach einigen Minuten hatte er sich an meiner Schulter ausgeweint, und seine Beine waren wieder in der Lage, seinen Körper in der Senkrechten zu halten. Mit unsicheren Schritten arbeitete er sich durch den Schutt, ein Regal war durch das gefrierende Löschwasser auseinandergetrieben worden und lag nun in Einzelteilen auf dem Boden. Während Tim nun seine Pokale und Medaillen in eine steifgefrorene Stofftasche packte, blieb ich vorsichtshalber immer ganz nah bei ihm, nicht daß er doch noch einmal den Abflug versuchte. Nach einer Weile schaute er sich nochmals im Zimmer um.
»Hast du alles, oder fehlt noch irgendwas Wichtiges?«
»Ich denke ich hab alles. Verdammt, Danny, warum mußte uns das passieren, gerade uns?«
»Keine Ahnung, kleiner Bruder. Aber der Polizist hatte recht. Es hätte viel schlimmer kommen können. Stell dir vor, ihr wärt hier gewesen als das Feuer ausbrach. Das meiste, was hier zu Bruch gegangen ist, läßt sich ersetzen – euer Leben nicht. Und ich habe keine Ahnung, wie Mutti und ich ohne euch weiterleben sollten.«
Tim schaute mich mit tränenverschmierten Augen an. Dann fiel er mir wieder in die Arme.
»Danke, Danny. Du hast recht. Gehen wir.«
Ohne uns nochmals umzudrehen, verließen wir das Zimmer, und praktisch im gleichen Moment kamen Mutti und Reinhardt aus dem Arbeitszimmer, Reinhardt mit einer großen Stahlkassette in den Händen.
Als meine Mutter sah, in welchem Zustand sich Tim befand, stürzte sie sofort zu ihm und nahm ihn in die Arme, während ich nun seinen Vater schnell noch durch die Zimmer begleitete, die er noch nicht gesehen hatte. Als wir in Tims Zimmer angekommen waren, schüttelte er traurig den Kopf.
»War es sehr schlimm für Tim?«
»Einmal wäre er mir beinahe abgeklappt, aber ich hoffe, er ist jetzt über das Schlimmste hinweg. Und, wie siehts mit dir aus?«
»Nicht viel besser. Okay, uns ist nichts passiert, und den Schaden zahlt die Versicherung.Trotzdem hängen hier viele Erinnerungen dran. Mir wäre ein normaler Auszug lieber gewesen.«
»Schon klar.«
»Jedenfalls bin ich froh, daß wir euch beide haben. So haben wir trotzdem eine Zukunft, auf die wir uns freuen können.«
»Danke. Ich denke wir sollten los, je eher wir hier rauskommen umso besser.«
»Stimmt. Gehen wir.«
Wir sammelten auf dem Korridor die anderen beiden ein, verließen die Wohnung, verbarrikadierten den Eingang und wanderten dann runter zum Auto. Ohne Worte verständigten sich meine Mutter und ich darauf, daß sie sich hinter zu Tim setzen würde und ich auf dem Beifahrersitz platznehmen sollte.
Die Fahrt zu uns verlief sehr still, nur von hinten waren ab und an Tims Schluchzen und die beruhigenden Worte meiner Mutter zu hören. Zuhause entluden wir dann schnell das Auto, und ich half Tim dabei, seine Sachen in mein Zimmer zu bringen. Wobei es wohl besser wäre, jetzt von unserem Zimmer zu sprechen. Ich schaffte etwas Platz in meinem Kleiderschrank, und dabei kam mir das nächste Problem in den Sinn. Sowohl Tim als auch sein Vater standen jetzt plötzlich ohne Wintergarderobe da, mal abgesehen von dem, was sie auf dem Leibe trugen. In den Koffern befanden sich ausschließlich sommerliche, floridageeignete Kleidungsstücke. Gut, bei Tim konnte ich aushelfen, aber für Reinhardt gab es mit Sicherheit im ganzen Haus kein einziges passendes Kleidungsstück.
Während ich dies erledigte, lag Tim mehr oder weniger apathisch auf seinem Bett. Ich ging hin und setzte mich zu ihm.
»Halt mich fest, bitte.«
Da konnte ich nicht nein sagen, allerdings war die Konstellation – er liegend ich sitzend – dafür nicht sonderlich gut geeignet. Also schob ich ihn sanft ein wenig zur Seite und legte mich neben ihn. Dann tat ich das, worum er mich gebeten hatte, und nach etwa einer halben Stunde hatte er sich in den Schlaf geweint. Vorsichtig entwand ich mich aus seinem Griff, stand auf und ging – die Zimmertür weit offen lassend – nach unten ins Wohnzimmer, wo Mutti und Reinhardt dabei waren, die Bewältigung der Katastrophe zu planen.
»Da bist du ja. Wie geht es Tim?«
»Er schläft. Ich hab die Tür weit offen gelassen, damit er uns hören kann und weiß, daß er nicht alleine ist.«
»Gut. Reinhardt hat seine Klassenlehrerin angerufen und ihn erstmal entschuldigt. Ich werde mich auch noch für ein paar Tage vom Büro fernhalten.«
»Und was ist mit mir? Rufst du meine Schule auch an?«
»Nichts da. Du hast schon vor Weihnachten genug verpaßt. Außerdem hast du es im Unterschied zu Tim nicht so weit zu deiner Schule. Von hier aus, meine ich. Wir haben in der nächsten Woche garantiert keine Zeit, ihn jeden Tag hinzufahren und wieder abzuholen.«
Na prima. Aber gut, mußten sie halt ohne meine tatkräftige Hilfe auskommen. Sie würden schon sehen, was sie davon hatten. Reinhardt rief sodann bei seinem Versicherungsvertreter an und vereinbarte für den nächsten Tag ein Treffen in der alten Wohnung. Dann begannen wir, uns den dringlichsten Problemen zuzuwenden.
»So, das Schlafproblem ist ja gelöst. Kommen wir zum nächsten Punkt. Danny, du müßtest Tim in den nächsten paar Tagen mit Wintersachen aushelfen, bis wir genügend für ihn zusammenhaben.«
»Kein Problem, da habe ich auch schon dran gedacht. Aber was wird mit dir, Reinhardt?«
»Tja, ich werde mit dem auskommen müssen, was ich am Leibe habe. Am Montag fahren wir vormittags gleich einkaufen.«
Wir besprachen noch einige Punkte, aber viele Sachen würden sich erst an einem Werktag erledigen lassen. Also beschlossen wir, das Thema vorläufig zu beenden.
»Männer, ich werde uns jetzt erstmal Abendessen machen. Mir ist klar, daß ihr vielleicht keinen großen Appetit habt, aber für das was uns bevorsteht brauchen wir alle Kraft die wir bekommen können. Also wird gegessen.«
Wir wären schön dumm gewesen, uns dem zu widersetzen. Während Mutti nun Tiefkühlpizza und Kräuterbaguettes in den Ofen warf, deckten Reinhardt und ich den Tisch. Als das erledigt war, setzten wir uns an den Küchentisch und versuchten uns damit abzulenken, daß wir uns über Florida unterhielten. Wie dann ein gewisser Duft aus der Backröhre drang, schickte mich Mutti hoch, um Tim zum Essen zu holen. Also wanderte ich nach oben. Tim lag noch genauso im Bett, wie ich ihn verlassen hatte. Ich hockte mich wieder auf den Bettrand und schüttelte ihn sanft an der Schulter.
»Tim. He, Tim, wach auf. Essen steht auf dem Tisch.«
Ich brauchte einige Versuche, um ihn wach zu bekommen, und noch einige mehr, um ihn davon zu überzeugen, daß er auch etwas essen müsse. Als wir gemeinsam in der Küche auftauchten, waren die Teller schon bestückt. Das Abendessen verlief nicht sonderlich fröhlich, besonders Tim hatte das alles sehr mitgenommen, und unsere Versuche, ihn zumindest ein wenig aufzumuntern, zeigten keinen besonders großen Erfolg.
Dann waren die Teller und Gläser leer, und wir unterhielten uns darüber, was wir mit dem Rest des Abends anfangen sollten. Mutti und Reinhardt wollten Versicherungspolicen und ähnliche Dinge durchgehen, und Tim kündigte an, schnell zu duschen und dann sofort ins Bett zu gehen. Ich bemerkte, daß ich auch ziemlich müde war – nach dem Flug und dem restlichen Streß wohl auch kein Wunder.
»Ich schließe mich Tim an. Der Tag war lang und aufregend, und morgen werden wir genug zu tun haben.«
Tim schaute mich dankbar an, die Idee alleine zu sein, wenn auch nur für kurze Zeit, erschien ihm wohl im Moment alles andere als angenehm. Auch meine Mutter war offenbar dieser Ansicht.
»Das ist gut, da kannst du dich gleich ein wenig um ihn kümmern. Suchst du ihm bitte einen Schlafanzug von dir raus?«
»Okay.«
»Moment, Jungs, nicht so eilig! Schlafanzug, da fällt mir was ein. Das habe ich ob der ganzen Aufregung doch glatt vergessen!«
Mit einem strahlenden Gesicht, wie ich es bei ihm seit der Entdeckung des Desasters nicht gesehen hatte, war Reinhardt vom Tisch aufgesprungen und aus der Küche gestürzt. Als er wiederkam, hatte er eine seiner Reisetaschen in der Hand.
»Danny, weil du immer so frierst habe ich in Florida ein ganz besonderes Geschenk für dich gekauft. Da du es dort sowieso nicht hättest gebrauchen können, bekommst du es erst hier.«
Er wühlte in der Tasche, dann brachte er ein dunkelblaues Stoffbündel hervor und überreichte es mir.
»Bitteschön, ich hoffe, das löst all deine nächtlichen Kälteprobleme!«
Hm, da war ich ja mal gespannt. Ich entfaltete den flauschig-weichen, fleeceartigen Stoff, und dieser entpuppte sich als … als ein ganz besonderer Schlafanzug! Wer öfters mal amerikanische Filme sieht, wird solch ein Teil bestimmt schon einmal gesehen haben – wenn auch nicht unbedingt in dieser Größe. Es war ein Einteiler, vorne mit einem langen Reißverschluß zum reinsteigen. Das war ja nun schon witzig genug, aber es kam noch besser. Die Beine endeten nicht in Löchern zum durchstecken der Füße, sondern in angenähten Strumpfteilen mit genoppter Gummisohle! Ich konnte nicht anders, ich mußte loslachen und konnte nur hoffen, daß die anderen mir dies in Anbetracht der weiterhin recht besch…enen Gesamtlage nicht übelnahmen. Sah aber nicht so aus, denn kurz darauf war ich nicht mehr der einzige der lauthals lachte. Sogar Tim fiel mit ein!
»Herrlich, Danny, ich habe einen großen Bruder, der in einem Strampelanzug schläft!«
Sein Vater schüttelte leicht tadelnd den Kopf.
»Tim, das ist kein Babyanzug sondern ein ganz normaler Schlafanzug, ich habe ihn in einem ganz normalen Kaufhaus gekauft. Außerdem: lach du nicht zu früh. Schau mal, was ich hier habe.«
Reinhardt holte ein weiteres Stoffbündel – diesmal in hellblau – aus der Tasche und überreichte es seinem Sohn.
»Schließlich will ich nicht, daß du neidisch auf Danny bist.«
Jetzt guckte Tim ein wenig verdutzt aus der Wäsche – ein Anblick, der uns sofort wieder loslachen ließ.
»Nimms nicht so schwer, kleiner Bruder. Damit ist gleich ein Teil des Problems mit deinen fehlenden Klamotten gelöst, und erkälten wirst du dich nachts wohl auch so schnell nicht. Na los, gehen wir hoch.«
Ich bedankte mich bei Reinhardt und verabschiedete mich für die Nacht von ihm und Mutti, dicht gefolgt von Tim, der noch nicht so ganz wußte, was er von der Sache halten sollte. Dann wanderten wir nach oben, ich warf das Geschenk auf mein Bett und schaute dann zu Tim.
»Gehst du zuerst duschen?«
»Okay. Ich packe nur schnell noch mein Waschzeug aus.«
Während er das tat, besorgte ich noch Handtücher für ihn, und kurz darauf war er auf dem Weg ins Badezimmer.
»Vergiß nicht deinen schönen neuen Schlafanzug!«
Er lachte leise vor sich hin. Ein guter Anfang.
»Den zieh ich erst an, wenn ich dich in deinem gesehen habe.«
»Okay, wie du meinst. Dann sollte ich aber vielleicht doch zuerst unter die Dusche, sonst mußt du dich ja mehrmals umziehen.«
»Stimmt. Schieb ab, ich packe inzwischen noch ein paar Sachen aus.«
Na gut. Ich griff mir das genannte Kleidungsstück und verzog mich ins Bad, und kurz darauf stand ich unterm wohlig-warmen Wasserstrahl. Diesmal schaffte ich es sogar, mich zeitmäßig am Riemen zu reißen, und keine Viertelstunde später hatte ich meinen großen Auftritt vor Tim. Reinhardts Geschenk anzuziehen war erstmal ziemlich ungewohnt, aber schnell hatte ich den besten Weg herausgefunden, und als ich den Reißverschluß zuzog, mußte ich Tims Vater zustimmen: in dem Ding würde ich garantiert nie wieder frieren!
Wegen der Gummisohlen konnte ich auf meine normalen Hausschuhe verzichten. Ich nahm sie und meine Tagesklamotten in die Hand und verließ das Badezimmer. Draußen hatte Tim mittlerweile eine seiner Taschen ausgepackt und saß nun auf meinem Computersessel. Ich entledigte mich dessen was ich in den Händen hatte, dann stellte ich mich vor meinen Bruder und drehte mich zweimal um die eigene Achse.
»Voilá! Na, wie seh ich aus?«
Tim kicherte leise.
»Wie ein Riesenbaby.«
»Na dann mach hin, unsere Eltern werden wohl bald nochmal nach uns sehen, und dann wollen sie bestimmt zwei Riesenbabys vorfinden.«
»Okay, okay. Ich zieh das Ding an. Ist es so warm wie es aussieht?«
»Nein. Noch viel wärmer. Genau richtig für mich.«
»Warum bist du eigentlich wieder aus Florida mit uns zurückgekommen?«
»Nur wegen dir, Bruderherz, nur wegen dir.«
Ups, hoffentlich hatte ich damit nicht zuviel preisgegeben. Aber egal, wenn es ihn ein wenig aufmunterte… Und das tat es, denn das Lächeln, welches sich bei meinem Anblick in seinem Gesicht gerührt hatte, war auch weiterhin zu sehen. Viel besser als sein verweintes Gesicht von vorhin. Tim griff nun nach seinem Geschenk und wanderte ins Badezimmer, ich setzte mich an den Computer und schaltete diesen ein. Mal schaun, was sich so an eMails angesammelt hatte. Die Verbindung wurde aufgebaut, dann machten sich 308 eMails auf den Weg zu meiner Festplatte. Also entweder war da jemand sehr fleißig gewesen, oder meine Eintragung in viele Newsletter rächte sich jetzt bitterlich. Gerade als die Übertragung in den letzten Zügen lag, klopfte es an die Zimmertür, und nach einem kurzen Zögern ging diese auf und meine Mutter samt zukünftigem Ehemann betraten den Raum.
Als sie mich in meinem Sessel sitzen sahen, angetan mit Reinhardts flauschigem Geschenk, lachten beide lauthals. Ein Geräusch, welches wir wohl an diesem Tag alle bitter nötig hatten.
»Na, Danny, habe ich dir das richtige Geschenk ausgesucht?«
»Allerdings, vielen Dank.«
»Freut mich. Jetzt bin ich bloß gespannt, ob mein Sohnemann seins auch anzieht.«
»Klein-Timmy hat es jedenfalls angekündigt.«
»Huh, Klein-Timmy? Laß ihn das bloß nicht hören!«
»Was soll ich nicht hören?«
Beinahe unbemerkt war die Badezimmertür aufgegangen, und derjenige über den wir gerade gesprochen hatten, marschierte ins Zimmer. Seine Aufmachung unterschied sich nur durch das hellere Blau von der meinigen. Meine Mutter guckte ganz verzückt.
»Ach wie süüüüüüß! Wenn ich euch so sehe, könnte ich mir glatt wünschen, daß ihr beide zehn Jahre jünger wärt. Kommt zu Mutti, meine Kleinen!«
Tim und ich schauten uns an und grinsten kopfschüttelnd.
»Reinhardt, sie wollen nicht! Das ist das Schlimmste mit Kindern: irgendwann werden sie groß und selbständig. Bald werden die beiden uns nicht mehr brauchen.«
Das konnte ich natürlich nicht so stehenlassen.
»Ach Mutsch, mach dir da mal keine Sorgen. Wir werden dich immer brauchen.«
»Wirklich?«
»Na klar. Wer soll uns denn sonst das Essen kochen?«
»Du Schuft!«
»Außerdem: sollten Tim und ich dich irgendwann mal wirklich nicht mehr benötigen, dann hast du ja immer noch Reinhardt. Schon allein das Waschen seiner bekleckerten Wäsche dürfte dich ganz schön auf Trab halten.«
Jetzt lachten alle. Bis meine Mutter mit viel Mühe ein ernstes Gesicht zustande brachte.
»Ich glaube, meine Erziehung hat versagt. Jetzt sind andere Methoden angesagt. Da unsere Kinder dem Strampleralter noch nicht entwachsen sind, besteht ja noch Hoffnung. Reinhardt, so schwer mir diese Bitte auch fällt, würdest du bitte unseren Ältesten mal übers Knie legen und ihm ein wenig Benehmen einbleuen?«
Tims Vater bemühte sich um einen angemessen Gesichtsausdruck.
»Ich bin zwar nicht für körperliche Züchtigung, aber wenn kein Respekt für die eigene Mutter da ist, muß ich wohl meine Prinzipien einmal vergessen. Außerdem bist du ein schlechtes Vorbild für deinen kleinen Bruder. Ich will nicht, daß du ihn auch noch verdirbst. Junge, komm her und ertrage deine Bestrafung wie ein Mann.«
Niemals! Mit einem wilden Satz sprang ich aus dem Sessel und sprintete in Richtung Zimmertür. Das heißt, ich wollte in Richtung Zimmertür sprinten, aber leider war der Riese Reinhardt beweglicher als ich erwartet hatte und griff mich mit einer einzigen schnellen Bewegung um die Hüfte. Jetzt konnte ich strampeln soviel ich wollte, es gab kein Entrinnen. All meine Bemühungen freizukommen machten auf ihn in etwa den Eindruck eines Mückenstiches, und kurz darauf setzte er sich – mich immer noch im festen Griff haltend – auf mein Bett, und ich fand mich doch tatsächlich über seinen Knien liegend wieder, mein Hinterteil in luftige Höhen gestreckt. Ein schneller Blick in die Runde zeigte mir, daß alle Anwesenden – außer mir natürlich –, Tränen lachten. Ich schaute Reinhardt in die Augen.
»Das wirst du doch nicht wirklich tun?«
Er hob seine rechte Hand. Rechte Pranke traf es wohl besser.
»Oh doch.«
Die Hand pfiff herunter, und ich bereitete mich seelisch und moralisch auf den Einschlag vor. Kurz vor dem Aufprall jedoch stoppte Reinhardt den Schlag. Er schaute zu meiner Mutter.
»Du, Maria, ich fürchte der Bub ist noch zu klein und zu zart für eine Tracht Prügel. Ich denke, ich mache das lieber anders.«
Oh Gott, was für eine teuflische Idee hatte er jetzt ausgebrütet? Ich sollte es sofort erfahren.
»Vielleicht reicht es ja aus, wenn ich ihn mal so richtig durchkitzle. Bei Tim hat das bisher immer gewirkt.«
Und genau das tat er dann auch, und nach wenigen Sekunden war ich überzeugt, daß eine Tracht Prügel die bessere Alternative gewesen wäre. Hatte ich eigentlich schon erwähnt, daß ich extrem kitzlig bin? Ich wand mich unter seinen Angriffen hin und her, aber ein Entkommen war unmöglich. Jetzt standen auch mir die Lachtränen in den Augen, und ich war mir sicher, nicht mehr lange durchzuhalten. Japsend schrie ich meine Kapitulation heraus.
»Reinhardt, hör auf, ich … haha … ich verspreche in Zukunft auch immer brav zu … hihihi … brav zu sein!«
»Warum sollte ich aufhören, wo es gerade soviel Spaß macht?«
»Weil … hihi … weil ich mir sonst in die Hosen mache und dein schönes … hahaha … dein schönes Geschenk versaue.«
»Das ist natürlich ein Argument. Das einzige, welches ich gelten lassen kann.«
Und tatsächlich stellte er die Tortur ein. Nach Luft schnappend kam ich zur Ruhe, immer noch über seinen Knien liegend.
»Wirst du in Zukunft deine Mutter mit Respekt behandeln?«
»Ja!«
»Das reicht nicht. Versprichst du es?«
»Ich verspreche es, hoch und heilig!«
»Maria, reicht dir sein Versprechen?«
Meine Mutter konnte sich vor Lachen kaum noch auf den Beinen halten.
»Ich denke schon. Für den Anfang. Falls er diese Lektion noch einmal benötigt, stehst du doch sicherlich wieder zur Verfügung, Reinhardt?«
»Aber sicher. Also gut, dann will ich mal nicht so sein und Gnade vor Recht ergehen lassen. Tim, ich hoffe du hast genau zugesehen. Benimm auch du dich anständig, sonst passiert dir das gleiche wie deinem großen Bruder.«
Puh, überstanden. Reinhardt ließ mich allerdings noch nicht frei.
»Da war doch noch was? Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen.«
Sprachs, und im nächsten Moment sauste seine Hand tatsächlich auf mein Hinterteil.
»Autsch!«
Naja, okay, nicht autsch. Das war wohl mehr der Schreck, denn was beim Ausholen als harter, schmerzhafter Schlag begonnen hatte, endete letztendlich in einem freundschaftlichen Klaps, der noch dazu durch den dicken Stoff meines »Stramplers« gemildert wurde. Reinhardt jedoch war von meinem Aufschrei beeindruckt. Er ließ mich sofort los, und ich stand auf, mir kurz meinen Hintern reibend.
»Habe ich dir wehgetan?«
Uh, er machte ein richtig besorgtes Gesicht. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn beruhigend anzulächeln.
»Nee, nur mein Stolz ist ein wenig angekratzt.«
»Na dann ist ja gut. So ihr zwei, ab in die Betten. Morgen haben wir einiges zu tun.«
Tim und ich legten uns brav in unsere Betten (schließlich wollte ich nicht noch so eine Abreibung riskieren *g*), vorher schaltete ich noch den Computer aus, und die beiden auch wieder zu Atem gekommenen Elternteile machten die Runde und wünschten uns eine gute Nacht. Dabei geschah etwas, was ich seit ungefähr 5 Jahren nicht mehr erlebt hatte. Meine Mutter drückte erst Tim und dann auch mir einen Gute-Nacht-Kuß auf die Wange. Ob das wohl an den seltsamen Schlafanzügen lag? Zu solch einer Tat hatte sie sich seit Jahren nicht mehr hinreißen lassen. Reinhardt beugte sich auch über mich, aber er verzichtete darauf es meiner Mutter gleichzutun. Dafür flüsterte er mir etwas ins Ohr.
»Danke daß du mitgespielt hast. Entschuldigung.«
Dann verließen die beiden das Zimmer, dabei das Fenster einen Spalt öffnend, das Licht ausschaltend und die Zimmertür schließend. Wow, was für ein Tag.
Wir lagen eine Weile schweigend in den Betten, so schnell würden wir nicht einschlafen können. Dann meldete sich Tim.
»Danny, bist du noch wach?«
»Yep.«
»War es sehr schlimm?«
»Was?«
»Die Kitzelei.«
»Ehrliche Antwort?«
»Ja.«
»Es war fürchterlich. Und gleichzeitig lustig. Hat er das bei dir auch schon gemacht?«
»Ja. Allerdings hat er mich dazu nie übers Knie gelegt.«
»Passiert das häufig?«
»Höre ich da etwa Angst in deiner Stimme?«
»Nö, ich möchte nur drauf vorbereitet sein.«
»Keine Bange. Höchstens zweimal im Jahr.«
Puh, nun war ich doch etwas beruhigt.
»Ich versuch jetzt mal zu schlafen. Gute Nacht, Danny.«
»Gleichfalls.«
Ich drehte mich zur Wand. Kalte Winterluft strömte ins Zimmer, und ich kuschelte mich in mein Federbett. Leider hatte das Sandmännchen keinen Schlafsand in die Winterluft gemischt, ich konnte einfach nicht einschlafen. Die Ereignisse des Tages geisterten mir durch den Schädel, und aus den Geräuschen von der anderen Zimmerseite konnte ich heraushören, daß es Tim wohl ebenso ging. Im Gegensatz zu mir warf er sich jedoch von einer auf die andere Seite. Der Ärmste tat mir wirklich sehr leid, der Urlaub war ganz anders zu Ende gegangen, als wir es uns vorgestellt hatten.
Die Zeit verging äußerst langsam, ich versuchte krampfhaft einzuschlafen, und wurde bei jedem Glockenschlag vom Kirchtum zwar müder, aber der Schlaf wollte trotzdem nicht kommen. Irgendwann so gegen zwölf Uhr hörte ich dann ein Flüstern.
»Danny?«
Tim hatte also das gleiche Problem wie ich.
»Ja?«
»Kannst du auch nicht einschlafen?«
»Sieht ganz so aus.«
»Danny, kann ich … darf ich …«
»Was?«
»Kann ich zu dir rüberkommen?«
Oh oh. In einem anderen Zusammenhang wäre ich jetzt vor Begeisterung im Dreieck gesprungen, aber so wußte ich ganz genau, daß Tim »nur« jemandem zum Festhalten brauchte. Und in Anbetracht meiner Einschlafstörungen schien es mir ähnlich zu gehen.
»Okay, komm rüber. Das wird aber verdammt eng.«
Wir hatten ja in Florida schon ein paarmal im selben Bett geschlafen, allerdings waren das riesige Doppelbetten gewesen und nicht so ein schmales Handtuch wie das meinige. Ohne engen (sehr engen!) Körperkontakt würde es hier nicht abgehen. Mit wenigen Schritten war Tim bei mir angekommen.
»Dann mußt du mich halt gut festhalten, damit ich nicht rausfalle.«
»Okay. Möchtest du an der Wand oder lieber vorne liegen?«
»Vorne.«
Ich rutschte so weit es ging an die Wand, hob die Bettdecke, und Tim schlüpfte darunter. Im nächsten Moment lag er neben mir und tat etwas, was ich wirklich nicht erwartet hatte. Offensicht angestiftet vom Gute-Nacht-Kuß meiner Mutter preßte er seine Lippen auf meine Stirn.
»Danke, Danny.«
Dann drehte er sich von mir weg und preßte seinen Körper dicht an den meinigen. Da hatte anscheinend jemand ganz gewaltiges Vertrauen in mich. Und ich würde es garantiert nicht enttäuschen! Ich legte meinen linken Arm vorsichtig um Tims Oberkörper – schließlich wollte ich um jeden Preis vermeiden, daß er tatsächlich aus dem Bett kullerte – und kuschelte mich ins Kopfkissen. Tja, und das tat es dann wohl, wenige Minuten später erkannte ich an Tims gleichmäßigen Atemzügen, daß er eingeschlafen war, und ich folgte ihm innerhalb kürzester Zeit.
Zum ersten Mal wach wurde ich nach Auskunft des Weckers gegen sieben. Im Zimmer hatte sich eine herrlich klare, kalte Winterluft versammelt, mir jedoch war alles andere als kalt, was wohl zu gleichen Teilen an Reinhardts Geschenk und am warmen Körper des Jungen neben mir lag. Im Laufe der Nacht hatte ich mich auf den Rücken gedreht, und auch Tim hatte die Nacht nicht völlig ruhig verbracht. Er hatte sich komplett zu mir gewendet, und mittlerweile lag sein Kopf auf meiner Brust und sein rechter Arm hielt mich fest umschlungen. Mein rechter Arm lag unter Tim, eine etwas gewöhnungsbedürftige und nicht sonderlich bequeme Haltung. Aber ich würde einen Teufel tun und den Kleinen deshalb aufwecken! Mit meiner freien linken Hand strich ihm ein paar Mal sanft über den Kopf, und im nächsten Moment war ich auch wieder eingeschlafen.
Das nächste Aufwachen sollte nicht so friedlich verlaufen. Irgendwann war mir so, als hätte ich kurz die Zimmertür klappern gehört, aber ich war wohl noch zu sehr im Dusel, um dem größere Bedeutung beizumessen. Dummer Fehler!
Kurz danach blitzte es plötzlich im Zimmer, so hell, daß es durch meine geschlossenen Augenlider drang. Leise fluchend öffnete ich diese, und mit noch nicht sonderlich klarem Blick versuchte ich auszumachen, was hier passierte. Lange brauchte ich nicht zu suchen. Direkt am Zimmereingang standen Mutti, Reinhardt, und zu allem Überfluß auch noch Thomas. Reinhardt hielt seine Digiknipse in den Händen (meine war noch nicht ausgepackt) – damit war wohl auch der Blitz erklärt. Ein dickes, breites Grinsen war auf allen Gesichtern zu sehen. Ich leckte mir kurz über meine leicht ausgetrockneten Lippen, dann fühlte ich mich in der Lage, ein paar Worte herauszubringen.
»Kann man denn hier nicht einmal zum Sonntag ungestört ausschlafen?«
Mutti lachte.
»Tut mir leid, Schlafmütze, aber wir haben heute einiges zu erledigen. Also wecke deinen Bruder, und dann raus mit euch aus den Federn! Das Frühstück ist in zwanzig Minuten fertig.«
Mit diesen Worten zogen sie und Reinhardt ab, Thomas jedoch blieb da und schloß erst die Tür und dann das Fenster.
»Mensch ist das kalt bei euch. So könnte ich nicht schlafen.«
Der ganze Trubel hatte nun auch Tim geweckt, und nach einigen zaghaften Bewegungen murmelte er leicht verstimmt vor sich hin.
»Müssen wir wirklich schon raus? Wir sind doch gerade erst ins Bett.«
Erfreut vermerkte ich, daß wir wieder einmal einer Meinung waren. Trotzdem, ich konnte ihn leider nicht verschonen.
»Tut mir leid, Kleiner, aber es muß sein. Paß auf, du kannst noch ein paar Minuten liegenbleiben, ich gehe als erster durchs Bad.«
»Okay.«
Er legte seinen Kopf wieder auf meine Brust. So schwer mir das auch fiel – da konnte er nicht bleiben.
»Tim.«
»Was ist denn noch?«
»Könntest du mich eventuell rauslassen?«
Er war erst ein wenig verwirrt, dann ging ihm aber die Lage auf und er kicherte leise.
»Wenn es denn unbedingt sein muß…«
Er ließ mich los und drehte sich von mir herunter, sodaß ich nun mit ein wenig Mühe über ihn drübersteigen und das Bett verlassen konnte. Ich griff mir meine Sachen und machte mich auf den Weg ins Bad, und erst auf halber Strecke dorthin bemerkte ich, daß Thomas verdattert und wie zu einer Salzsäule erstarrt im Zimmer stand und mich groß anglotzte. Nach kurzem Grübeln wurde mir auch der Grund dafür klar. Bis eben hatten Tim und ich ja zum größten Teil unter der Decke gelegen, so daß Thomas jetzt zum ersten Mal einen vollen Blick auf meine ungewöhnliche Nachtbekleidung werfen konnte. Seine Reaktion darauf war wohl durchaus verständlich.
»Siehst du jetzt, warum es uns nichts ausmacht, bei der Kälte zu schlafen?«
Thomas erwachte aus seiner Starre.
»Hat dich das Ding warmgehalten oder Tim?«
»Sowohl als ebenfalls. Und wenn du mir jetzt bitte den Weg freigeben würdest, ich muß ins Bad.«
Er trat zur Seite, und ich konnte damit beginnen, meinen morgendlichen Verrichtungen nachzugehen. Thomas hatte jedoch keinerlei Scheu mir ins Bad zu folgen. Oder zumindest bis zur Tür, an deren Rahmen er sich nun lehnte.
»Wenn ich gewußt hätte, daß mein Bett frei bleibt, wäre ich gestern schon aufgekreuzt und hätte die Nacht hier verbracht.«
»War es wieder so schlimm?«
»Meine mittlere Schwester hat eine Pyjama-Party für ihre Freundinnen veranstaltet, das sagt ja wohl alles. Ach ja, du hättest in deinem Aufzug ganz entzückend dazugepaßt.«
»Sicherlich besser als du in deinem Nachthemd.«
»He! Der modebewußte, elegante junge Mann von heute trägt Nachthemd.«
»Wo hast du denn das her? Aus einer BRAVO von vor 100 Jahren?«
»Von Christine. Oder von Andrea? Kann auch Jeanette gewesen sein.«
»Argh, verschone mich mit deinem abwechslungsreichen Liebesleben!«
»Wieso, bist du neidisch?«
»Wäre ich vielleicht, wenn du Christian, Andreas und Jean gesagt hättest.«
»Keine Bange, die überlasse ich gerne alle dir.«
In der Zwischenzeit hatte ich das meiste was man halt so erledigen muß erledigt und stand mittlerweile in meinen Boxershorts vor dem Spiegel. Ein Blick in selbigen verriet mir, daß ich mich mal wieder rasieren müßte, also griff ich zu den notwendigen Werkzeugen. Das war für Thomas das Zeichen, daß er mir nun auch noch den letzten Rest Privatsphäre entreißen konnte, er kam ins Bad und setzte sich auf den Hocker. Dann sprach er mit gesenkter Stimme weiter.
»Sag mal, läuft da was zwischen dir und Tim?«
Ich seufzte. Tims Verhalten gab mir weiterhin Rätsel auf. Einerseits war es für einen sechzehnjährigen Jungen doch ziemlich seltsam, sich an einen anderen Jungen gekuschelt schlafen zu legen, inklusive Gute-Nacht-Kuß. Andererseits machte sich bei mir immer mehr die Ahnung breit, daß dies bei Tim nichts, aber auch gar nichts mit einer entsprechenden »sexuellen Orientierung« zu tun hatte. Ich hatte eher das Gefühl, daß Tim wegen dem, was er bezüglich seiner »Mutter« erlebt hatte, besonderen Wert auf Zuwendung, auch körperliche solche, legte – und es ihm dabei völlig egal war, was sich »den üblichen gesellschaftlichen Normen entsprechend« gehörte. Mir war das durchaus angenehm, wenn ich ihn schon nicht als »Lover« haben konnte, dann wollte ich ihn zumindest als (bruder-)liebebedürftigen kleinen Bruder. Obwohl es natürlich noch viel schöner wäre, wenn da weitergehende Möglichkeiten bestünden. Hm, warum mußte in meinem Leben nur alles dermaßen kompliziert sein?
»Nicht daß ich wüßte.«
»Und wieso finde ich euch dann wie ein Liebespaar eng aneinandergekuschelt im selben Bett?«
Offensichtlich hatte noch niemand die Zeit gefunden, Thomas in das einzuweihen, was nach unserer Rückkehr aus dem winterlosen Florida geschehen war, also übernahm ich jetzt diese Aufgabe. Als ich damit fertig war, konnte ich an seinem Gesicht sehen, daß auch er ziemlich geschockt war.
»Wow, also das ist wirklich heftig!«
»Tja, und nach all diesen Dingen konnten wir letzte Nacht beide nicht so leicht einschlafen. Tim hat dann gefragt, ob er rüberkommen dürfte, und so kam es, daß wir beide in meinem Bett gelandet sind.«
»Und dann konntet ihr schlafen.«
»Genau. Wir haben einfach jemanden gebraucht, der uns das Gefühl gab, nicht alleine zu sein. Aber mehr war da wirklich nicht – nicht daß ich etwas dagegen gehabt hätte. Also nicht unbedingt zu diesem Zeitpunkt, sondern ganz allgemein.«
Unterdessen hatte ich in meinen Sprechpausen das Rasieren hinter mich gebracht, und es war eh an der Zeit, Tim das Feld zu überlassen. Also scheuchte ich Thomas vor mir her aus dem Bad. Mein Brüderchen war wieder fest eingeschlafen, und ich mußte ihn regelrecht aus dem Schlaf reißen, so leid mir das auch tat. Begeistert war er davon nicht, und ich mußte zu den schlimmsten Drohungen greifen, um ihn zur Einsicht zu bewegen.
»Los, raus aus dem Bett, oder muß ich dir mal zeigen wie es ist, durchgekitzelt zu werden?«
Das wirkte, und in einem Affentempo sprintete er ins Bad. Thomas schaute mich fragend an.
»Durchkitzeln?«
»Insider-Witz.«
»Ah ja.«
Ich schlüpfte in meine übliche Haustracht, dann gingen wir zwei runter in die Küche, nicht ohne vorher Tim zu ermahnen, nicht zu trödeln. Dort angekommen, fanden wir meine Mutter und Reinhardt bei den letzten Handgriffen der Frühstücksvorbereitung.
»Da seid ihr ja. Dauert es bei Tim noch lange?«
»Wenn er nicht vorm Waschbecken wieder einschläft, dürfte er in ein paar Minuten hier auftauchen.«
»Gut, dann werde ich mal Brötchen in den Ofen werfen. Thomas, frühstückst du mit uns?«
»Nein, danke, ich komme gerade von einer ähnlichen Veranstaltung.«
»Aber trinken tust du doch wenigstens etwas, oder? Kaffee, Tee oder Kakao?«
»Tee, wenn es nicht zuviel Arbeit macht.«
»Blödsinn. Du weißt doch, daß ich den für Danny sowieso machen muß. Also los, setzt euch schon mal an den Tisch.«
Genau das wollten wir gerade tun, als Reinhardt mich ansprach.
»Danny, kommst du mal kurz mit ins Wohnzimmer?«
Hm, was war wohl jetzt im Busche? Ich folgte ihm, und kurz darauf saßen wir uns am Couchtisch gegenüber.
»Danny, ich weiß nicht wie ich das jetzt am besten formulieren soll, aber … Danny, ist Tim schwul?«
Wow! Mit diesem Hammer hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.
»Du meinst, weil wir im selben Bett gelegen haben?«
»Naja, ich war schon ein wenig überrascht als Thomas in die Küche gestürzt kam und meinte, daß da etwas wäre, was wir unbedingt sehen müßten.«
»Reinhardt, Tim und ich haben zusammen geschlafen. Wir haben nicht miteinander geschlafen. Und ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, ob Tim nun auf Jungs oder Mädels steht. Außerdem, selbst wenn ich das wüßte, könnte ich es dir nicht sagen. Ich glaube, Tim vertraut mir ziemlich stark, und das möchte ich nicht aufs Spiel setzen. Du mußt ihn das also selber fragen, aber ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee wäre. Zumindest im Moment sicherlich nicht, er hat zur Zeit genug Streß.«
Tims Vater sackte ein wenig in seinem Sessel zusammen.
»Entschuldige bitte. Du hast völlig recht. Tim vertraut dir bedingungslos, und ich will auf keinen Fall, daß dieses Vertrauensverhältnis durch meine Neugier auch nur den kleinsten Schaden nimmt. Und es stimmt auch, daß es sicher besser ist, wenn er den ersten Schritt tut. Wenn es einen ersten Schritt zu tun gibt. Also vergiß bitte, daß ich gefragt habe.«
»Okay. Danke.«
»Könnte ich dich trotzdem um etwas bitten?«
»Schieß los.«
»Falls er dir irgendwann etwas in dieser Richtung anvertraut, dann sag ihm doch bitte, daß dies nichts, aber auch gar nichts daran ändert, wie sehr ich ihn liebe. Er brauch keine Angst vor meiner Reaktion zu haben.«
»Okay, das werde ich im Hinterkopf behalten. Aber da brauchst du dir wohl eh keine Sorgen zu machen. Schließlich erlebt er jeden Tag, wie du mit mir umgehst. Falls da etwas in dieser Richtung in ihm vorgeht, dann hat er es dir nur deshalb noch nicht gesagt, weil er sich selbst noch nicht sicher ist.«
»Gut, akzeptiert. Noch ein anderer Punkt. Ich hoffe, du bist mir nicht mehr allzu böse wegen gestern abend.«
»Was meinst du? Weshalb sollte ich dir böse sein?«
»Na wegen deiner Bestrafung.«
»He, das habe ich nie so empfunden. Ganz im Gegenteil, das war doch lustig. Und ich denke, genau so etwas in dieser Art haben wir alle gebraucht.«
»Ich will nur sicher sein, daß du weißt, daß ich dir oder Tim niemals Gewalt antun würde.«
»Keine Bange, das ist mir schon lange klar. Du bist einfach nicht der Typ dafür, außerdem würde dich Tim dann nicht so sehr lieben wie er es tut.«
»Freut mich, das zu hören. So, ich denke wir sollten langsam zu den anderen zurückgehen.«
»Okay, ich bekomme nämlich langsam Hunger.«
»Gut. Ach ja, nur noch fürs Protokoll: sollte Tim doch schwul sein, und solltet ihr zwei … naja, du weißt schon, ein Pärchen werden, dann würde ich mich sehr für euch freuen.«
»Ich werds mir merken.«
In der Küche angekommen, fanden wir nunmehr den kompletten Rest der Gesellschaft am Tisch sitzend vor, wir kamen gerade rechtzeitig zum offiziellen Startschuß. Tim schaute uns fragend an.
»Was gab es denn so wichtiges am frühen Morgen zu bereden?«
Jetzt mußte aber ganz schnell eine Ausrede her.
»Äh, Reinhardt hat sich nur noch mal wegen seiner körperlichen Züchtigung von gestern abend entschuldigt.«
Diese Aussage weckte nun natürlich Thomas' Neugier, also erzählte Tim ihm haarklein, was ich am Tag zuvor hatte erleiden müssen. Mein guter Freund Thomas fand das wiederum dermaßen lustig, daß er beinahe eine halbe Tasse Tee prustenderweise über den ganzen Tisch verteilt hätte.
»Das muß ich unbedingt mal in echt sehen! Sagt mir doch bitte rechtzeitig Bescheid, wenn es eine Wiederholung gibt, das muß ich einfach erleben! Ich bringe dann auch gleich unsere Videokamera mit.«
Oh nein, das fehlte mir gerade noch. Einen Tag später würden Kopien des Videos auf dem Pausenhof gehandelt werden, und es würde nicht lange dauern, und Ausschnitte davon würden im Internet kursieren. Niemals!
»Keine Chance! Aber vielleicht kannst du ja Reinhardt überreden, daß er es dir mal am eigenen Leibe vorführt.«
»Dazu müßte er mir erst auch so einen Schlafanzug schenken.«
»Was meinst du, Reinhardt, kannst du das einrichten?«
Tims Vater grinste vor sich hin.
»Sicher. Im Internet findet sich bestimmt eine Quelle. Wie war das, habe ich dich richtig verstanden? Wenn du das Teil hast, darf ich dich als Demonstrationsobjekt für meinen ungehorsamen Nachwuchs verwenden? Oder war das nur ein leeres Versprechen?«
Thomas wurde abwechselnd weiß und rot. Er war ja von Mutti und mir schon einiges an Spitzzüngigkeit gewohnt, daß Reinhardt aber sofort mit einstieg, hatte er wohl nicht erwartet.
»Huh, da haben sich ja wirklich die richtigen gefunden. Ich werde wohl in Zukunft noch mehr darauf achten müssen, was ich in diesem Hause von mir gebe. Und ja, das war nur ein leeres Versprechen.«
»Schade.«
Tim sprach aus, was wir alle (außer Thomas natürlich) dachten. Dann widmeten wir uns unserem Frühstück, und Mutti fing an, die Aufgaben für den Tag zu verteilen.
»Reinhardt, Tim und ich werden nachher in die ausgebrannte Wohnung fahren und uns dort mit dem Versicherungsheini treffen. Wir nehmen ein paar große Müllsäcke mit und werden mal sehen, ob wir zumindest von der Kleidung irgendwas retten können. Tim, fühlst du dich dem gewachsen?«
»Ich werde es überleben. Nachdem ich drüber geschlafen habe, kommt es mir schon nicht mehr ganz so schlimm vor.«
»Gut. Danny, würdest du dir bitte dein Zim… falsch. Würdest du dir bitte euer Zimmer vornehmen und Platz für Tim schaffen? Du könntest zum Beispiel deine Sommersachen rüber in die Schrankwand vom Gästezimmer packen, die brauchst du eh die nächsten Monate nicht. Und vielleicht eine Ecke von deinem Schreibtisch freiräumen, ich weiß, du hast dein Computerzeugs gerne zusammen an einem Fleck, aber Tim wird auch wenig Platz für Hausaufgaben usw. brauchen.«
»Okay, ich kümmere mich darum. Der Platz wird brüderlich geteilt.«
»Sehr gut.«
»Danny, wenn du nichts dagegen hast, bleibe ich hier und helfe dir.«
Hm, mit Thomas würde es zumindest nicht langweilig werden. Ob wir allerdings groß zum Arbeiten kommen würden, war eine andere Frage. Aber was solls, mußten wir uns eben ein wenig zusammenreißen. Was ich damit meine? Tja, als Thomas mir das letzte Mal bei etwas helfen sollte, waren wir vorm Computer versumpft. Vier Stunden später waren wir zwar in unserem Simulationsspiel beträchtlich weiter gekommen, die anzubringende Gardinenleiste lag allerdings noch völlig unberührt am Zimmerboden. Auch meine Mutter guckte ein wenig skeptisch, verkniff sich jedoch jeden Kommentar.
Und so kam es, daß Thomas und ich eine halbe Stunde später unschlüssig im Kinderzimmer herumstanden (ich nenne es jetzt einfach mal so, immer zu sagen »Tims und mein Zimmer« wird mir auf Dauer zu aufwendig – was natürlich nicht bedeuten soll, daß ich mich noch als Kind betrachte!) und überlegten, womit wir am anfangen sollten. Thomas hatte als erster eine Idee, eine typische Thomas-Idee, will heißen: Arbeit für mich, Vergnügen für ihn. Okay, so schlimm war es wirklich nicht, aber manchmal hatte er tatsächlich die Angewohnheit, anfallende Arbeiten zu delegieren. Natürlich fand er immer eine gute Begründung dafür. Der geborene Politiker.
»Da du derjenige bist, der sich in den Schränken auskennt, würde ich sagen, du räumst um und ich kümmere mich um das Bild.«
Das Bild. Damit meinte er das früher am Tag durch Reinhardt geschossene Foto von Tim und mir. Der Herr Fotograf hatte uns, bevor er sich mit Mutti und Tim auf den Weg zum Brandort gemacht hatte, die Kamera in die Hand gedrückt mit dem Auftrag, mal ein paar hübsche Ausdrucke zu machen. Unter Androhung der drakonischsten Strafen, falls wir das Beweismaterial heimtückisch vernichten sollten.
»Du willst ja nur, daß du dir unbemerkt selbst einen Ausdruck machen kannst. Und morgen macht der dann in der Schule die Runde.«
»Keine Bange, er wird nicht die Runde machen. Er wird ganz still am schwarzen Brett hängen und sich nicht vom Fleck rühren.«
»Komm bloß nicht auf dumme Gedanken. Ich werde dir das Papier zuteilen, und hinterher zähle ich dann nach.«
»Mach nur. Ich schicke mir dann halt das Bild per eMail nach Hause und drucke es dort aus.«
»Dazu müßtest du Zugang zu meinem Mailprogramm haben, und das Paßwort werde ich dir bestimmt nicht verraten.«
»Kein Problem, dann verwende ich einfach den Browser und schicke das Bild über Hotmail.«
Oh Gott, ich steckte wirklich in einer Zwickmühle. Entweder müßte ich das Bild sofort löschen und mich damit Reinhardts Bestrafung aussetzen, oder ich würde damit leben müssen, keine Kontrolle darüber zu haben, was Thomas mit dem Bild anfängt. Am Ende entschied ich mich dafür, Thomas zumindest soweit zu vertrauen, daß er nichts damit anstellen würde, was mir unangenehm sein könnte. Ich meine, sonst wäre er ja nicht mein bester Freund, oder?
»Okay, okay. Du weißt ja wie alles funktioniert, also mach los.«
Während Thomas nun die verschiedenen Geräte einschaltete und es sich auf meinem Computersessel bequem machte, öffnete ich meinen großen Kleiderschrank und versuchte, mir einen Überblick über dessen Inhalt zu verschaffen. Nach einer Weile kam ich zu der Überzeugung, daß ich mit ein wenig gutem Willen reichlich Platz für Tims Sachen freiräumen konnte. Für die Sachen, welche erst wieder gekauft werden müßten.
Die nächste knappe Stunde verbrachte ich damit, Sommerhemden, T-Shirts, Badehosen, kurze Hosen und ähnliche Dinge ins Gästezimmer zu befördern, und das, was weiter im Schrank bleiben würde, so zu sortieren, daß zwei gut abgeteilte Bereiche im Schrank entstanden. Thomas ließ unterdessen den Drucker heißlaufen und schaute mir ansonsten mehr oder weniger desinteressiert bei meinen Verrichtungen zu.
»Wenn du nichts besseres zu tun hast, könntest du ja mal das Schränkchen an deinem ehemaligen Bett ausräumen.«
»Okay.«
Wenige Minuten später lag ein Haufen Zeitschriften, Bücher, Stifte und anderer Krimskrams auf dem Schreibtisch, und ich zeigte Thomas kurz, was er dem Papierkorb anvertrauen und was er in mein eigenes Nachtschränkchen umlagern sollte. Letzteres war wohl keine so gute Idee, denn als ich das nächste Mal ins Zimmer kam, hatte er ein amüsiertes Grinsen im Gesicht und zwei Dinge in den Händen, die mir doch ein wenig das Blut in den Kopf schießen ließen.
»Jetzt bin ich wirklich überzeugt, daß du mir nichts vorgemacht hast, dein Liebesleben ist tatsächlich nicht existent. Ich hatte fast schon gedacht, du würdest irgendwo einen heißen Typen vor mir verbergen, aber nein. Langsam solltest du dich aber ranhalten, die Gummis halten nicht ewig.«
Argh! Was Thomas da in den Händen hielt, gehörte zu den Geschenken, die er mir zu meinem letzten Geburtstag feierlich überreicht hatte. Wohlgemerkt während meiner Party, vor den Augen aller Gäste! Die CD von den Backstreet Boys war ja noch kein Problem gewesen, dann allerdings kam eine bunte Hochglanzzeitschrift (mußte ihn ziemliche Überwindung gekostet haben, diese im Bahnhofsbuchhandel zu erstehen) und ein Päckchen Kondome, extra stark. Das Gejohle der Party-Gesellschaft war entsprechend. Die Zeitschrift hatte ich von der ersten bis zur letzten Seite verschlungen (und sie mittlerweile auch – auf den Namen meiner hilfreichen Mutter – abonniert), die Gummis jedoch waren immer noch originalverpackt und warteten darauf, ihrer Bestimmung zugeführt zu werden. Wie ich allerdings mein Glück kannte, würden sie noch länger warten müssen.
»Ich denke, ich kann die Gummis irgendwo ganz unten in deinen Schrank packen, du brauchst sie ja eh nicht.«
»Danke, mußt du mir das auch noch unter die Nase reiben? Ich bin halt nicht so sexverrückt wie du, an dir verdienen sich die Kondomhersteller ja eine goldene Nase. Und das ist sogar noch gut so, die Vorstellung, daß plötzlich lauter kleine Thomasse durch die Gegend krabbeln, hat irgendwas sehr Beängstigendes an sich.«
»Jeder so gut er kann.«
»Und mit dreißig bekommst du dann die Quittung. Dann bist du ein völlig ausgelaugter Ex-Casanova.«
»Umso mehr muß ich zusehen, mein Leben jetzt zu genießen. Carpe diem. Außerdem bist du ja nur neidisch.«
Damit hatte er allerdings einen wunden Punkt getroffen. Nicht daß ich dermaßen aus dem Vollen schöpfen wollte wie er, mir würde schon der eine Mr. Right völlig ausreichen. Ich seufzte.
»Entschuldige, Danny, war nicht so gemeint. Du wirst schon noch den richtigen für dich finden. Vielleicht ist es ja sogar Tim.«
»Hoffentlich. Ich habe keine Lust, mein Leben als alte, in Ehren ergraute männliche Jungfrau zu beenden.«
»Och, du Ärmster, wenn ich dich so höre, könnte ich mich glatt überreden lassen, dir zumindest in der Beziehung auszuhelfen. Einmal könnte ich mich bestimmt überwinden.«
»Nichts da! Der Junge, den ich an mich ranlasse, muß gutaussehend, intelligent, lustig und in mich verliebt sein. Ich fürchte, du qualifizierst dich in keinem einzigen der genannten Punkte.«
»Also wenn du das denkst, dann solltest du wohl mal deine Ansprüche überdenken. Was besseres als mich findest du nie!«
»Gott sind wir heute wieder bescheiden. Warum hält es denn dann keine mit dir länger als eine Woche aus?«
»Äh, nur zu deiner Information, mit Christine bin ich jetzt seit über drei Wochen zusammen.«
Wow, das war wirklich neuer Rekord.
»Du wirst anscheinend alt. Oder etwa vernünftig?«
»Keine Ahnung. Sie ist halt … naja, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Seit wir zusammen sind, habe ich irgendwie kein Interesse mehr, mich nach anderen umzusehen.«
Ach du heilige, das war wirklich ganz was neues. Hatte es ihn tatsächlich dermaßen erwischt? Diese Christine mußte ich unbedingt kennenlernen.
»Wann stellst du sie mir denn mal vor?«
»Komisch daß du dieses Thema ansprichst. Ich dachte eigentlich an heute nachmittag. Wir wollen zusammen zum Schlittschuhlaufen, und ich hatte gehofft, daß du mitkommst.«
»Und ein besserer Platz als spiegelglattes Eis bei zehn Grad minus ist dir dafür nicht eingefallen?«
»Ach komm, sei nicht so eine Frostbeule. Oder hast du eine bessere Idee?«
»Wie wäre es mit der Sauna?«
»Tut mir leid, da bekommst du mich nie wieder rein, das eine Mal hat mir vollkommen gereicht. Daß du mich da hingeschleppt hast verzeih ich dir nie. Außerdem würdest du dann ständig nur nach nackten Männern Ausschau halten, ich will aber, daß du Christine kennenlernst. In die Sauna kannst du mit Tim gehen.«
Gute Idee. Seit ich vor einem halben Jahr all meinen Mut zusammengenommen hatte und – Thomas als moralische Stütze mit mir mitschleifend – zum ersten Mal die städtische Sauna betreten hatte, ging ich praktisch jede Woche mindestens einmal hin. Kein Wunder, mir konnte es ja nie warm genug sein. Ganz ehrlich: mir ging es wirklich nur um die herrliche Wärme, die nackten Männer waren nur eine willkommene Zugabe. Die meisten hatten eh weibliche Begleitung oder waren zu alt für mich. Außerdem mußte man da mit seinen Blicken ziemlich vorsichtig sein.
»Okay, okay, also werde ich dann mal meine Schlittschuhe rauskramen.«
Die hatte mir meine Mutter letztes Jahr geschenkt in einem wenig erfolgreichen Versuch mich im Winter vor die Tür zu jagen.
»Aber wenn ich mir dabei den A…h breche, bekommst du gewaltigen Ärger.«
»Du kannst dir ja ein dickes Kissen in die Hose stopfen. Aber wirst du überhaupt Zeit haben? Ihr habt doch bestimmt viel zu tun.«
»Mal sehen. Hier sind wir ja erstmal fertig, ich wüßte nicht, was wir noch groß erledigen müssen.«
»Zum Beispiel ein Stück vom Schreibtisch leerräumen.«
Ups, das hatte ich ganz vergessen. Das war allerdings leichter gesagt als getan. Sicher, ich konnte die Geräte alle noch ein wenig enger zusammenrücken, aber viel würde das vermutlich nicht bringen. Ganz bestimmt nicht genug, um ausreichend Platz für Tim zu schaffen. Ich ließ meine Blicke durch das Zimmer schweifen, und dabei kam mir die erlösende Idee.
»Thomas, greif mal mit zu. Das Grünzeug fliegt raus.«
Direkt neben dem Schreibtisch stand eine Blumenbank mit einem halben Dutzend Zimmerpflanzen, bemitleidenswerten Zimmerpflanzen um genau zu sein. Denen behagte der Wechsel zwischen kalter Nachtluft und gut geheizter Tagluft nicht sonderlich, und sie ließen ihre Blätter entsprechend hängen.
Einige Minuten später waren die Pflanzen samt Untergestell im Gästezimmer gelandet, eine schöne freie Fläche neben dem Schreibtisch hinterlassend. Jetzt fehlte nur noch ein passender Tisch, und ich würde verschiedene Computerteile darauf unterbringen können. Auch Tims Weihnachts-iMac – der zum Glück erst abgeholt werden mußte und sich nicht in der abgebrannten Wohnung befunden hatte – würde noch mehr als genug Platz haben. Aber woher solch ein Möbelstück jetzt zum Sonntag bekommen? Diesmal war es Thomas, der die passende Idee hatte.
»Sag mal, du hattest doch früher so einen kleinen Kinderschreibtisch. Hast du den noch irgendwo? Wenn ich mich richtig erinnere, müßte der doch genau hierhin passen.«
Und ob er sich richtig erinnerte.
»Komm mit, das Ding steht auf dem Boden.«
Ich eilte aus dem Zimmer und machte mich auf den Weg zur Treppe, Thomas jedoch stoppte mich.
»Moment mal, wenn das Ding auf dem Boden steht, wird es sicherlich ziemlich verstaubt sein. Wir sollten gleich einen Eimer Wasser und Lappen mit hochnehmen. Wenn wir den Tisch so dreckig runterschleppen und überall Staub verteilen, wird uns deine Mutter vierteilen.«
Hatte ich schon erwähnt, daß Thomas irgendwann einen guten Hausmann abgeben würde? Ja, ich glaube das hatte ich. Jedenfalls machten wir es genau so, wie er es vorgeschlagen hatte, und tatsächlich war eine erste Grobreinigung gleich oben am Lagerplatz dringend notwendig. Anschließend schleppten wir den Tisch ins Kinderzimmer, wo sich Thomas an die Feinreinigung machte, während ich verschiedene Teile der Computeranlage abstöpselte. Dabei fielen mir die ausgedruckten Bilder in die Hände, und Thomas hatte sich wirklich nicht lumpen lassen. Dreimal auf A4-Größe, fehlte nur noch der passende Rahmen drumherum. Dazu zwei Blätter mit jeweils vier kleineren Ausgaben darauf. Alles natürlich auf Hochglanzpapier. Hoffentlich kam Mutti nicht auf die Idee, eines der Bilder in ihrem Büro an die Wand zu hängen oder auf den Schreibtisch zu stellen. Ich legte die Bilder wieder aus der Hand, und als Thomas mit der Schrubberei fertig war, wuchtete ich die beiden Drucker sowie den Scanner auf den alten Tisch, womit auf dem großen Schreibtisch jetzt mehr als genug Platz für zwei gleichzeitig an Schularbeiten werkelnde Zimmerbewohner war.
»Okay, geschafft. Fällt dir sonst noch was auf, was ich vergessen habe?«
Thomast blickte sich im Zimmer um, dann ließ er sich auf »seinem« Bett nieder.
»Nö, ich denke das wars. Ich werde eh gleich den Abflug machen, meine Leute erwarten mich zum Mittagessen.«
Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, daß es tatsächlich schon kurz vor zwölf war. Gerade als ich mir anfang Sorgen darüber zu machen, womit ich meinen eigenen Hunger bekämpfen könnte, hörten wir ein Auto vorfahren. Ich blickte aus dem Fenster, und da stiegen die drei restlichen Familienmitglieder auch schon aus dem Chrysler. Reinhardt brachte zwei große Plastiksäcke aus dem Kofferraum zum Vorschein und folgte dann den beiden anderen ins Haus. Nach einer durch das Ablegen der Wintersachen bedingten kurzen Pause tauchten sie alle drei im Zimmer auf.
»So, da wären wir wieder. Mein Gott, ihr habt ja wirklich was getan! Ich hatte schon befürchtet, euch weltvergessen vor dem Computer vorzufinden.«
»Aber Mutti, ich hab doch versprochen, daß ich mich um das Zimmer kümmere. Hier, schau, auch der halbe Schrank steht für Tim zur Verfügung. Hat er eigentlich noch etwas zum reintun?«
Reinhardt zeigte mit einem schwer deutbaren Blick auf die Säcke.
»Wir haben die besten Sachen rausgesucht, aber außer zwei oder drei Jacken und ein paar Hosen hat es wohl keinen Sinn, großartig was zu versuchen. Wir wollen froh sein, wenn wir ein bißchen was wieder sauber bekommen. Übrigens, könntest du Tim gleich mal mit einer Hose aushelfen? Er ist in der Wohnung ausgerutscht und hat sich seine zerrissen.«
Ein genauerer Blick meinerseits zeigte tatsächlich einen langen Riß in Tims Jeans.
»Kein Problem, wir finden bestimmt was passendes.«
»Schön. Wir haben bei McDonalds angehalten und was zu Essen mitgebracht. Thomas, ißt du mit uns mit?«
»Nein, danke. Ich zwitschere jetzt lieber ab. Danny, falls du es schaffst, sei nach vierzehn Uhr an der Eisbahn, okay? Tim, du auch, wenn du Lust hast. Laß es dir von Danny erklären.«
»Mal schaun, ob ich mich überwinden kann.«
»Komm, sei nicht so, ich möchte wirklich, daß du Christine kennenlernst.«
»Schon gut, wenn ich Zeit habe, komme ich.«
Thomas verabschiedete sich reihum, und kurz darauf zeigte uns das Zuknallen der Haustür, daß er sich auf den Weg nach Hause gemacht hatte. Auch Mutti und Reinhardt verließen jetzt das Zimmer, mit dem Hinweis, daß wir uns in zehn Minuten zum Essen einfinden sollten. Tim schälte sich aus seinen Klamotten und schleuderte die zerrissene Jeans in die Ecke.
»Mistqualität. Das Ding war praktisch nagelneu.«
»Setzt es mit auf die Versicherungsliste. So, schau mal in den Schrank und such dir eine andere Hose aus. Wahrscheinlich sind dir alle ein wenig zu groß, aber das läßt sich jetzt nicht ändern.«
Tim machte sich auf die Suche und brachte kurz darauf eine schwarze Jeans zum Vorschein.
»Kann ich die mal probieren?«
»Du kannst probieren was immer dir gefällt. Nur zu. Mein Haus ist dein Haus. Oder besser gesagt, mein Schrank ist dein Schrank.«
»Danke.«
Tja, in der Theorie hörte sich das gut an, in der Praxis stolperte Tim über die zu langen Hosenbeine, und ohne Gürtel stand er in nullkommanichts wieder ohne Hose da. Die schwarze Jeans hatte ich mir gerade erst gekauft, und zu allem Überfluß auch noch etwas zu groß, da ich die Hoffnung, noch zwei oder drei Zentimeter zu wachsen, noch nicht ganz aufgegeben hatte.
»Das wird wohl nichts. Hast du eventuell etwas Kleineres, du kennst doch deine Sachen besser.«
Ich überlegte hin und her, dummerweise hatte ich zu Herbstbeginn den Kleiderschrank ausgemistet und dabei auch einige mittlerweile etwas zu klein gewordene Hosen ausgemustert. Aber halt, ich hatte nicht alle weggeworfen! Eine mußte noch irgendwo herumliegen. Ich kramte ein wenig in den Fächern die ich früher am Tag nicht angerührt hatte, und meine Suche war tatsächlich von Erfolg gekrönt. Ich drückte Tim eine ziemlich ausgewaschene, aber ansonsten noch tadellose Latzjeans in die Hände.
»Hier, probier die mal. Die ist mir zu kurz geworden. Ich wollte eigentlich die Beine abschneiden, habe es dann aber vergessen.«
Tim schlüpfte hinein, die Länge war genau richtig, und zu weit war sie auch nicht. Eher im Gegenteil, sie saß so richtig schön knackig-eng. Auch Tim schien dieser Meinung zu sein.
»Klasse, die nehme ich. Wenn du nichts dagegen hast.«
»Habe ich nicht, absolut nicht. Wenn ich sehe, wie angegossen die bei dir sitzt, ist mir klar, daß die mir nie und nimmer mehr passen würde.«
»Okay. Danke. Aber ich zieh sie jetzt erstmal wieder aus.«
Er tat, was er angekündigt hatte, dann wanderten wir nach unten in die Küche, wo die Mikrowelle mittlerweile die Mitbringsel von McD's wieder auf verzehrbare Temperatur gebracht hatte. Kurz darauf stürzten wir uns wie halb verhungerte Schiffbrüchige auf unser Essen. Es dauerte nicht lange, und zumindest die Teller von Tim und mir waren leergeputzt. Mit Ausnahme der beim Verzehr von BigMac und Co. anfallenden, unvermeidlichen Kleckerspuren. Meine Mutter schaute mich fragend an.
»Was meinte Thomas vorhin mit ›nach vierzehn Uhr an der Eisbahn‹?«
»Er will mir seine Freundin vorstellen.«
»Das hat er doch noch nie gemacht. Wäre ja auch ziemlich aufwendig, bei seinem Verschleiß.«
»Diesmal scheint es ernst zu sein. Er und Christine sind sage und schreibe seit über drei Wochen zusammen.«
»Wie bitte? Das ist ja für ihn schon eine regelrechte Langzeitbeziehung. Gab es das vorher schon mal?«
»Nicht daß ich wüßte. Er scheint diesmal direkt Wert auf meine Meinung zu legen. Als ob ich in der Beziehung sonderlich viel Erfahrung hätte.«
Tim grinste mich herausfordernd an.
»Vielleicht will er eine objektive, nicht durch irgendeine körperliche Anziehung beeinflußte Meinung.«
»In dem Fall ist er bei mir genau richtig. Mutti, wie sieht es aus, werde ich hier gebraucht, oder kann ich hin?«
»Wenn du schon mal freiwillig im Winter vor die Tür gehst, werde ich dir bestimmt keine Steine in den Weg legen. Das Zimmer ist eh umgeräumt, und heute können wir sowieso nicht mehr viel machen. Ich werde mir nachher nur mal die mitgebrachten Sachen in Ruhe anschauen und sehen, ob da was zu retten ist. Also schieb ruhig ab.«
»Okay, danke. Tim, kommst du mit?«
»Ich weiß nicht. Schließlich will er dir seine Freundin vorstellen.«
»Thomas hat auch dich mit eingeladen. Er mag dich auch, und darauf solltest du dir was einbilden. Er ist ziemlich wählerisch, wenn es darum geht, sich seine Freunde auszusuchen. Wesentlich wählerischer als bei seinen Freundinnen.«
»Er hat zumindest eine.«
»Danke, Mutsch. Danke, daß du mich noch tiefer in meine Depressionen stürzt.«
»War mir ein Vergnügen. Tim, wenn du willst, kannst du ruhig mitgehen, wir brauchen dich hier auch nicht.«
»Ich habe aber keine Schlittschuhe. Oder besser gesagt sind meine Schlittschuhe in Rauch aufgegangen.«
»Du kannst dir dort welche leihen. Oder du bekommst meine, ich habe eh keine Ahnung, ob die mir noch passen.«
»Gut, gut, ich habe verstanden. Ich komme mit.«
»Sehr schön. Also gehen wir hoch und ich probiere mal, ob mir die Schlittschuhe noch passen.«
Das taten sie natürlich nicht, dafür paßten sie Tim wie angegossen. Sah ganz so aus, als hätte ich jemanden gefunden, dem ich all meine mir zu klein werdenden Sachen vermachen konnte. Pech gehabt, kleiner Bruder.
Die Zeit bis zum Abmarsch verbrachten wir damit, Tims Pokale und Medaillen zu schrubben und dann in Regalen unterzubringen bzw. an die Wand zu hängen. So kam richtig Glanz in meine bescheidene Hütte. Kurz vor zwei zogen wir uns dann an und gingen nach unten. Tim lief vor mir her, und der Anblick seines makellosen Hinterteils in den hautengen Jeans war … naja, anregend halt. Mit Mühe konnte ich einen tiefen Stoßseufzer unterdrücken.
Unsere Eltern waren inzwischen damit beschäftigt, in der Küche die Kleidersäcke auszupacken, und ein kurzer Blick auf deren Inhalt zeigte mir, daß das wohl alles vergeblichen Liebesmüh war. Reinhardt blickt zu uns auf.
»Ah, los Tim, mach mal Modenschau.«
Der Genannte vollführte einige tänzelnde Schritte durch die Küche, drehte sich um die eigene Achse und kam dann wieder zu mir zurück.
»Sohn, da wirst du aber mächtig aufpassen müssen, daß du dich nicht wieder langlegst. Die Nähte sind eh kurz davor zu platzen.«
»Die anderen waren mir zu weit, und ich hätte ständig aufpassen müssen, sie nicht zu verlieren.«
»Wie du meinst. Also dann, viel Spaß ihr beiden.«
Meine Mutter schloß sich diesem frommen Wunsch an, und fünf Minuten später stapften wir durch den Schnee in Richtung Spritzeisbahn. Diese war nun schon seit Wochen eine sprudelnde Einnahmequelle für den Betreiber, der das auch nötig hatte, denn im Jahr zuvor hatte er kaum Gelegenheit gehabt, die Bahn ordentlich zu vereisen. Der letzte Winter war eher einer nach meinem Geschmack gewesen, mit Durchschnittstemperaturen deutlich über dem Gefrierpunkt. Allerdings schien Petrus dieses Jahr seinen vermeintlichen Fehler wieder gutmachen zu wollen.
Als wir am verabredeten Ort eintrafen, konnten wir sehen, daß auf dem Eis reger Betrieb herrschte. Hauptsächlich Leute zwischen 10 und 25 bevölkerten die glatte Fläche, darunter auch einige eng umschlungen laufende Pärchen. Hm. Anscheinend hatte sich alles gegen mich verschworen, ständig wurde mir meine noch nicht gefundene bessere Hälfte unter die Nase gerieben. Lauter glückliche Paare – argh! Langsam begann ich, um meinen Seelenfrieden zu fürchten.
Wir stellten uns an den Rand des Eises und hielten Ausschau nach Thomas – was wir uns hätten sparen können, denn im nächsten Augenblick tauchte er neben uns auf.
»Danny, Tim! Schön daß ihr kommen konntet!«
»Als ob ich dir schon jemals hätte einen Wunsch abschlagen können.«
»Machst du doch dauernd. Egal. Jungs, ich möchte euch Christine vorstellen. Na los, Christine, zeig dich mal.«
Das genannte Mädel war bis zu diesem Zeitpunkt zum größten Teil von Thomas verdeckt worden und trat nun neben ihn. Groß, schlank, blond – und mit einem herzerweichenden Lächeln im Gesicht – also herzerweichend, wenn ich Mädchen herzerweichend finden würde.
»Hallo.«
»Christine, das sind mein bester Freund Daniel und sein Bruder Tim.«
Daniel! Thomas wußte genau, daß ich meinen vollen Namen nicht gerne hörte. Das erinnerte mich immer irgendwie an familiären Streß. Aber warte nur, das Spiel können auch zwei spielen.
»Freut mich dich kennenzulernen, Christine. Und nun verrate mir mal, wie ein hübsches Mädchen wie du an einen wie Thomas-Johannes Kupfer geraten ist.«
Das, liebe Gemeinde, war das bestgehütete Geheimnis meines besten Freundes. Außer mir wußten wohl nur seine Eltern und ein paar Schul-Offizielle, daß er eigentlich einen Doppelnamen führte. Entsprechend war seine Reaktion.
»Danny, dafür bringe ich dich um! Im nächsten Sommer werfe ich dich von der Eisenbahnbrücke in den Fluß, du wirst jämmerlich ersaufen. Nein, solange warte ich gar nicht erst. Ich sperre dich nackt in den Kühlraum von Jürgens Metzgerei. Wie ich mich an deinen Qualen weiden werde!«
Christine hingegen war alles andere als geschockt.
»Heißt du wirklich so? Thomas-Johannes?«
Mit verzerrtem Gesicht, kaum festzustellen ob vor Wut oder vor unterdrücktem Lachen, nickte der Genannte mit dem Kopf.
»Also ich finde das niedlich. Irgendwie richtig romantisch. Paßt zu dir. Thomas-Johannes. Darf ich dich Tho-Jo nennen?«
Das schien Thomas etwas zu versöhnen.
»Na gut, aber nur wenn wir unter uns sind. Und Danny, wenn du es noch jemals jemandem erzählst, mache ich meine Drohung wahr. Und das gilt auch für dich, Tim.«
»Dann empfehle ich dir wärmstens, mich in Zukunft nicht als Daniel vorzustellen.«
»Okay, Deal.«
Christine war erleichtert. Da sie die üblichen Geplänkel zwischen ihrem Freund und mir nicht gewohnt war, wußte sie nicht, wie ernst (oder genauer: wie wenig ernst) die Situation gewesen war.
»Na also. Und um deine Frage zu beantworten: Ich habe Tho-Jo im Bus kennengelernt, im Dezember. Er war unterwegs, um seinem besten Freund, dem berühmten Danny, welcher gerade krank darnieder lag, die Hausaufgaben zu bringen.«
»Das heißt, ich war gleich am ersten Tag Thema eurer Unterhaltung? Ich fühle mich geehrt.«
»Allerdings. Und ich bin mächtig froh, dich endlich kennenzulernen. Thomas spricht sehr viel von dir.«
»Wovon nur das Gute stimmt – wobei er üblicherweise auch noch gewaltig untertreibt –, das Schlechte saugt er sich für gewöhnlich aus den Fingern.«
»Keine Bange, das weiß ich schon. Falls es dich interessiert: Du bist ihm wirklich sehr wichtig. Damals im Bus zu deinem Krankenlager war er selbst richtig krank vor Sorge.«
»Das war nicht die Sorge um mich. Er wußte bloß nicht, wie er die Tage ohne mich überstehen sollte. Ich meine, wer sollte ihn aus dem Schlamassel ziehen, in welchen er regelmäßig alle zwei oder drei Tage reingerät? Aber nun verrate mir mal, was du an ihm so besonderes findest.«
»Oh, wo soll ich da anfangen? Er sieht gut aus.«
Hm, naja, Geschmackssache. Für meinen Geschmack war er etwas zu athletisch.
»Er ist intelligent.«
Wie bitte? Sie kannte ihn schon drei Wochen und glaubte das immer noch?
»Er ist witzig.«
Okay, Thomas riß ständig Witze. Aber oft genug konnte niemand darüber lachen.
»Und er ist extrem mutig.«
Häh?
»Wie kommst du denn da drauf?«
»Naja, es gehört schon eine ganze Portion Mut dazu, seine Freundin einem so hübschen Jungen wie dir vorzustellen. Das könnte schließlich auch gewaltig in die Hose gehen.«
Herrlich, klasse, prima! Wenn es nicht so kalt gewesen wäre, hätten sich Thomas, Tim und meine Wenigkeit jetzt vor Lachen am Boden gewälzt. Ich hatte ja anfangs so meine Bedenken bezüglich Christine, so von wegen weiblich, blond und gutaussehend sowie dem per Vorurteil zu diesen Eigenschaften gehörendem IQ in Höhe der Zimmertemperatur. Aber sie schien tatsächlich die große Ausnahme von der Regel zu sein. Jetzt allerdings schaute sie uns ziemlich verdattert an. Der Anblick von drei Typen, die – anscheinend grundlos – vor Lachen beinahe keine Luft mehr bekamen, schien für sie nicht alltäglich zu sein.
»Könntet ihr mir mal verraten, was es da zu lachen gibt?«
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis wir dazu in der Lage waren. Irgendwie gelang es mir als erstem, meine Fassung wiederzugewinnen.
»Tut mir leid, Christine, aber falls du darauf gehofft hast, muß ich dich enttäuschen. Du wirst wohl weiterhin mit diesem Trampel hier Vorlieb nehmen müssen.«
»Ach so, du bist schon vergeben.«
Mein jetzt folgendes Lachen war eher gequält.
»Schön wärs. Du hast nicht zufällig einen gutaussehenden Zwillingsbruder?«
Christine guckte erst etwas verwirrt, dann machte sich ein verstehender Gesichtsausdruck bei ihr breit.
»Ah, du bist schwul. Ich nehme alles, was ich bezüglich dem Mut von Thomas gesagt habe, zurück. Da drohte ihm ja wirklich keine Gefahr.«
Diese Bemerkung zauberte einen leicht beleidigten Ausdruck auf Tims Gesicht, welcher von Thomas' Freundin sofort erspäht wurde.
»Entschuldige, Tim, du bist auch alles andere als häßlich, aber doch ein wenig zu jung für mich. Wie alt bist du eigentlich, fünfzehn?«
»Sechzehn.«
»Sieht man dir nicht an. Aber trotzdem, tut mir leid, für mich würdest du frühestens in einem Jahr interessant werden.«
Damit konnte Tim anscheinend leben, er lächelte schon wieder vor sich hin.
»Und Danny, tut mir wirklich leid, aber mit einem Zwillingsbruder kann ich nicht dienen, ich bin ein Einzelkind. Ich könnte dich höchstens mit meinem Klavierlehrer verkuppeln, der ist allerdings schon über fünfzig, und außerdem seit Jahrzehnten sozusagen verheiratet.«
»Der glückliche.«
»He, schau dich ein wenig auf dem Eis um, da sind einige Jungs alleine unterwegs.«
»Stimmt schon, aber sobald ich das Eis betrete, dürften wohl alle Anwesenden schwer damit beschäftigt sein, über mich zu lachen. Also werde ich es lieber gleich lassen, ich habe eh keine Schlittschuhe.«
Da hatte ich allerdings meine Rechnung ohne die drei gemacht, sie schleiften mich jetzt mit vereinten Kräften zur Bude des Schlittschuh-Verleihers, und kurz darauf war ich trotz all meiner Proteste auf der Eisfläche.
Von der nächsten Stunde verbrachte ich gut die Hälfte damit, entweder hinzufallen oder mich wieder aufzurappeln, mit Sicherheit eine Performance, die weniger für die Sportschau als vielmehr für Sendungen wie »Pleiten, Pech und Pannen« geeignet war. Hoffentlich war niemand mit einer Videokamera anwesend. Die Aufmerksamkeit eines hübschen Jungen erregte ich mit meiner Vorstellung jedenfalls nicht. Und falls doch, dann handelte es sich mit Sicherheit um einen Rettungssanitäter, der schon mal einen Blick auf seine zukünftige Kundschaft warf.
Wie auch immer. In den Zeiten, in denen ich mich krampfhaft auf den Beinen hielt, erfuhr ich einiges über Thomas' neueste Flamme. Schlechten Geschmack hatte man ihm ja nie vorwerfen können, nur einen recht häufig wechselnden solchen. Christine aber versammelte so ungefähr alle möglichen guten Eigenschaften ihrer Vorgängerinnen in einer Person, und sie hatte ganz offensichtlich auch den erforderlichen festen Willen, Thomas für längere Zeit an sich zu fesseln. Sie hatte ihn praktisch um ihren kleinen Finger gewickelt, und mir war nicht ganz klar, ob der arme Kerl überhaupt schon kapiert hatte, wie ihm geschah. Sein freies, ungebundenes Leben dürfte mit Christine ein ziemlich abruptes Ende gefunden haben. Naja, er hätte es wesentlich schlechter treffen können. Und genau das sagte ich ihm auch, als meine Qualen endlich beendet waren und Christine zusammen mit Tim in der Schlange vom Glühweinstand darauf wartete, endlich bedient zu werden. Thomas und mich hatten sie zurückgelassen, und er nutzte die Gelegenheit, mich nach meiner Meinung zu seiner Freundin zu befragen.
»Wie findest du sie?«
»Ehrliche Antwort?«
»Klar.«
»Okay. So einen Edelstein hast du gar nicht verdient.«
»Danke! Heißt das nun, daß du mit ihr einverstanden bist?«
Höchst seltsame Frage.
»Das hat dich doch bisher nie interessiert.«
»Jetzt interessiert es mich aber, okay?«
»Schon gut, schon gut. Wahrscheinlich willst du ja nur eine Bestätigung für dein Ego. Also, ich würde dir dringend empfehlen, es mit Christine nicht zu vermasseln. Eine wie sie, die gut aussieht, intelligent ist, und trotz allem was an dir findet, läuft dir bestimmt nicht so bald wieder über den Weg.«
»Soll ich sie meinen Eltern vorstellen?«
»Das hast du noch nicht getan?«
»Nein, ich wollte erst deine Meinung hören.«
»Das solltest du ganz schnell nachholen. Sie macht mir den Eindruck, daß ihr das was bedeuten würde.«
»Okay, ich frage sie gleich, ob sie nachher mit mir nach Hause kommen will.«
»Dann wähle aber deine Worte weise, nicht daß sie bei dieser Frage zu einer falschen Schlußfolgerung kommt.«
»Stimmt. Danke. Äh … du wirst es nicht glauben, aber wir … wir haben noch nicht … naja, du weißt schon.«
»WAS?!? Nach mehr als drei Wochen? So eine lange Zeit am Stück warst du ja seit Jahren nicht auf deine eigene Hand angewiesen.«
»Du sprichst ja aus Erfahrung. Aber ich will bei ihr nichts überstürzen.«
»Das ist ein guter Vorsatz. Ich glaube, sie ist es wert. So, und jetzt schließt
Dr. Sommer seine Praxis und gibt sich wieder seinen eigenen Träumereien für eine bessere Zukunft hin.«
»Danke, Danny. Ich habe es dir wahrscheinlich lange nicht so deutlich gesagt, aber deine Freundschaft bedeutet mir extrem viel.«
»Ist mir ein Vergnügen. Wenn ich jetzt noch herausbekommen könnte, warum gerade der nette Kerl immer alleine bleibt, wäre mir sehr geholfen.«
»Du bist momentan wirklich ziemlich verzweifelt in der Beziehung, oder?«
»Allerdings. Keine Ahnung woran das liegt. Vielleicht daran, daß ich um mich herum lauter glückliche Pärchen sehe?«
»Du darfst nicht verzagen. Wirst sehen, lange bist du nicht mehr solo. Vielleicht solltest du einfach mal sehen, ob es hier irgendwo eine schwule Jugendgruppe oder so was in der Art gibt.«
»Ich weiß nicht, das ist nicht unbedingt mein Stil. Ich will mich nicht selber isolieren, indem ich mich in eine Art selbstgewähltes schwules Ghetto zurückziehe. Ich bin froh, daß ich jede Menge ›normale‹ Freunde habe.«
»Das sollst du ja auch nicht ändern. Aber die Chance, jemanden für dich zu finden, dürfte dort wesentlich größer sein, als einfach so darauf zu warten, daß dir ein Freund in den Schoß fällt.«
»Hast schon recht. Ich werd mal drüber nachdenken.«
»Laß dir dafür aber nicht zuviel Zeit, ansonsten schleife ich dich höchstpersönlich am Schlafittchen dorthin. Auch wenn dann natürlich alle begehrlichen Blicke erstmal auf mir ruhen werden.«
»Träum weiter, Baby. Schwule sind wesentlich anspruchsvoller und wählerischer als deine Christine. Aber gut, wenn wir den Umzugsstreß überstanden haben, werde ich mal sehen, ob ich irgend sowas in der Nähe finde.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
»Gut. Ich brauche dich nämlich in einem guten, ausgeglichenen seelischen Zustand. Wie sollst du mir sonst mit meinen Problemchen weiterhelfen?«
»Gott, was bist du doch für ein uneigennütziger Freund. Laß das bloß nicht Christine hören. Und weil ich gerade von ihr spreche, setz dein bestes Gesicht auf, da kommen die beiden.«
Kaum hatte ich das ausgesprochen, als mir Tim auch schon einen Becher Glühwein in die Hand drückte. Genau das, was ich jetzt dringend brauchte.
Während der nächsten Minuten fragte Thomas seine Freundin, ob sie ihn zu sich nach Hause begleiten möchte, zum Zwecke des Kennenlernens seiner Familie. Christine schien sich darüber sehr zu freuen, und kurz darauf zogen die beiden Arm in Arm von dannen. Tim und mich hielt nun auch nichts mehr an der Eisbahn, also wanderten auch wir in Richtung Heimat. Dort kamen wir gerade richtig für ein leicht verspätetes Kaffeetrinken. Meine Mutter nutzte das gesellige Beisammensein, um Tim eine nicht ganz so gute Nachricht zu überbringen.
»Tim, tut mir wirklich leid, aber mit Ausnahme einer einzigen Jacke können wir alle Sachen von dir vermutlich wegwerfen.«
»Hatte ich schon befürchtet.«
»Während Danny sich morgen in der Schule vergnügt, werden wir drei eine große Einkaufstour machen. Schließlich müssen wir den ganzen Platz, den er für dich geschaffen hat, so schnell wie möglich füllen.«
»Das hat keine Eile, es reicht, wenn wir erstmal nur das Nötigste holen. Bei vielen Dingen kann mir Danny bestimmt erstmal weiterhelfen.«
»Nichts da. Du und Reinhardt, ihr sollt euch hier wohlfühlen, und dazu gehört auch, daß ihr genügend eigene Sachen habt. Also bereite dich schon mal auf eine gewaltige Anprobier-Orgie vor.«
Ich mußte grinsen. So etwas kannte ich zur Genüge, und ich war mächtig froh, diesmal nicht das Opfer zu sein. Reinhardt und ganz besonders Tim würden morgen vormittag fast ausschließlich Umkleidekabinen von innen bewundern können. Da würde ich es in der Schule vermutlich gemütlicher haben – und das will schon was bedeuten.
Der Rest des Tages verlief ohne weitere Höhepunkte, ich verbrachte einige Zeit damit, meine Schulsachen zusammenzupacken, und bereits kurz nach neun verabschiedete ich mich in Richtung Bett, wohin Tim mir eine halbe Stunde später folgte. Diesmal allerdings in sein Bett, leider. Zum Glück wiederholten sich unsere Einschlafstörungen vom Vorabend nicht, und schon nach wenigen Minuten erkannte ich an Tims gleichmäßigen Atemzügen, daß er problemlos eingeschlafen war. Das wiederum gab mir die innere Ruhe, um ihm alsbald zu folgen.
Die Nacht zum Montag verlief ruhig und ohne Störungen, wenn man mal davon absah, daß zu nachtschlafener Zeit meine Mutter ins Zimmer geschlichen kam und mich leise aufweckte, um mich zum Schulbesuch zu verdonnern. So sehr ich mich auch bemühte leise zu sein, meine folgenden Verrichtungen weckten den Schläfer im anderen Bett auf. Dieser nun grinste mich ziemlich zufrieden aus seinen Federn an.
»Grins du nur, deine Gnadenfrist ist nur kurz. Bald wirst du auch wieder das Vergnügen haben.«
»Schon klar. Aber vorerst genieße ich das, was du mir im letzten Jahr auch angetan hast. Ich schaue dir dabei zu, wie du dich für die Schule fertigmachen mußt. Wenn du weg bist, werde ich mich gemütlich auf die andere Seite drehen und voller Bedauern an dich denken.«
»Freu dich bloß nicht zu früh. Während ich nachher ruhig und gelassen in der Bank sitzen werde, wirst du den Dressman spielen müssen. Wie ich Mutti kenne, wirst du jeweils den halben Laden anprobieren dürfen. So, wer muß nun wen bedauern?«
»Anprobieren macht mir nichts aus, ich gehe sogar gerne einkaufen. Aber du solltest jetzt weniger quatschen, deine Zeit läuft.«
Was für ein Antreiber. Aber er hatte ja recht, wenn ich nicht riskieren wollte, gleich am ersten Schultag des Jahres zu spät zu kommen, würde ich mich ein wenig ranhalten müssen. Also verzog ich mich ins Bad, und als ich es eine Viertelstunde später verließ, schlummerte mein beneidenswertes Brüderchen schon wieder seelig. Ich schnappte mir meine Sachen und fand mich dann in der Küche zum Frühstück ein, wo ich mir die üblichen Erster-Schultag-nach-den-Ferien-Ermahnungen anhören durfte. So von wegen Benehmen und Mitarbeit und so weiter. Ich war über die Jahre zu der Überzeugung gekommen, daß meine Mutter diese Vergatterung nur deshalb zelebrierte, um mich so schnell wie möglich aus dem Haus und auf den Schulweg zu scheuchen. Wie üblich funktionierte dieser Trick fehlerlos. Ich kaute beinahe noch am letzten Bissen, als ich bereits in Jacke und Schuhe schlüpfte, um kurz darauf das Haus zu verlassen.
Mein fluchtartiges Verlassen der heimatlichen Gefilde hatte den unangenehmen Nebeneffekt, daß ich früher als mir lieb war vor der Schule eintraf, und dadurch länger als mir lieb war in der Kälte warten mußte. Irgendwer schien der Meinung zu sein, daß es nicht nötig sei, die Schüler allzu zeitig ins geheizte Schulgebäude einzulassen. Gerade als ich anfangen wollte, mich selbst zu bedauern, tauchte ein unangenehm fröhlicher Thomas neben mir auf – was auch nicht gerade zur Verbesserung meiner Stimmung beitrug.
»Hi Danny! Ist heute nicht ein wunderschöner Tag?«
»Könnte ich nicht behaupten. Tim liegt im warmen Bett, ich stehe hier in der Kälte, und du versprühst eine Fröhlichkeit, die dem ersten Schultag nach den Ferien alles andere als angemessen ist. Verrätst du mir, was dich dermaßen aus dem Häuschen gebracht hat?«
»Meine Eltern sind von Christine begeistert. Und Christine von meinen Eltern.«
»Und das reicht dir aus, um dich mit der Schule zu versöhnen?«
»Ich weiß halt auch die kleinen Dinge im Leben zu würdigen.«
Wenn er meinte. Nach und nach fanden sich auch die anderen Mitglieder unserer lockeren Clique ein, und von weitem sah ich, wie Ralph mir etwas verstohlen zuwinkte. Fünf Minuten später wurden wir endlich eingelassen, und ich brauchte nur etwa drei komplette Unterrichtsstunden, um wieder einigermaßen aufzutauen. Erfreulicherweise verlief diese Schultag wesentlich angenehmer als mein letzter hier verbrachter. Zumindest bis ich dann in der großen Mittagspause mit meinem Tablett an unserem Stammtisch auftauchte und in lauter grinsende Gesichter schaute. Ich setzte mich und wartete auf eine Erklärung – die jedoch nicht kam. Anscheinend wollte man mich dumm sterben lassen. Ich schaute dem Treiben einen Moment lang zu, dann wurde es mir zu bunt.
»Könnte mir mal jemand aus der fröhlichen Runde verraten, warum ihr alle grinst wie eine Herde der sprichwörtlichen Honigkuchenpferde?«
Aus dem allgemeinen Grinsen wurde allgemeines Gelächter. Dann ließ sich Katja zu einer Erläuterung herab. Oder zu dem, was sie für eine Erläuterung hielt.
»Wurde ja auch Zeit, daß du jemand findest, der dich im Bett warmhält.«
Ups, ich bekam eine fürchterliche Ahnung dessen, was hier ablief. Und diese Ahnung sollte sofort bestätigt werden. Jürgen reichte Thomas ein Stück Papier, etwa im Format A6.
»Hier, danke daß du das mit uns geteilt hast.«
Mit einem schnell Griff entriß ich Thomas das corpus delicti und identifizierte es sofort als einen der kleineren Ausdrucke des Bildes, welches Tim und mich engumschlungen im sonntäglichen Bett zeigte.
»Das ist also der Dank dafür, daß ich dir als Ratgeber in Liebesdingen zur Verfügung stehe. Hätte ich das geahnt, hätte ich dich gestern bei Christine voll auflaufen lassen.«
»Ach komm, sei nicht so. Ist doch wirklich ein einmaliges Bild.«
»Hat dieser Verräter euch wenigstens auch erzählt, unter welchen Umständen das Bild entstanden ist?«
Katja lachte.
»Hat er. Du hast mit Tim eine heiße Liebesnacht verbracht und vergessen, die Zimmertür abzuschließen. Du hast ganz offensichtlich noch ziemlich wenig Erfahrung in diesen Dingen.«
»Thomas, du bist ja dermaßen tot. Springst du freiwillig aus dem Fenster oder muß ich nachhelfen?«
Wieder brach der gesamte Tisch in lautstarkes Gelächter aus. Besonders, da ein solcher Sprung aus dem Fenster Thomas in Anbetracht der Erdgeschoßlage des Speiseraums nicht besonders weh getan hätte. Naja, und obwohl es mir lieber gewesen wäre, wenn dieses Foto privat geblieben wäre, zeigte mir die allgemeine Stimmung, daß ich wirklich verdammtes Glück mit meinen Freunden hatte. Trotzdem wollte ich die Situation noch etwas genauer erklären. Schon alleine wegen Tim, der ja demnächst auch Opfer dieser meiner sogenannten Freunde werden würde.
»Also, Leute, in Kurzfassung. Während wir in Florida waren, ist die Wohnung vom Freund meiner Mutter abgebrannt, also wohnen er und Tim seit Samstag bei uns. Und nachdem Tim sein zerstörtes Zimmer gesehen hatte, war er dermaßen fertig, daß er nicht einschlafen konnte, und mir ging es ähnlich. Also ist er irgendwann zu mir ins Bett gekommen, und wir haben uns einfach die Nacht über festgehalten. Mehr ist nicht passiert, und soweit ich Tim mittlerweile kenne, zweifle ich auch daran, daß sich das irgendwann ändern wird. Was ich übrigens aufrichtig bedaure. So, und jetzt dürft ihr euch darum prügeln, wer nach dem überraschenden Abdanken von Thomas den Job meines besten Freundes übernehmen will.«
Wieder lachten alle Anwesenden, und diesmal schaffte ich es sogar, mit einzustimmen. Dann hatte Jürgen noch eine äußerst wichtige Mitteilung für den bösen Bilderherumreicher.
»Du, Thomas, als ich vorhin mit Julia wegen der Schulzeitung beim Direx war, ist mir ein Mädel über den Weg gelaufen … einfach toll! Sie ist eine Klasse unter uns, ist wohl heute ihr erster Tag hier. Sie kennt also deinen Ruf noch nicht, vielleicht hast du ja eine Chance bei ihr.«
Der angesprochene Jäger aller Rockzipfel bekam erstmals bei solcher Gelegenheit einen roten Kopf! Daß ich das noch erleben durfte! Und sogar sein Mundwerk arbeitete nur stotternd, ohne irgendwelche relevanten Lautkombinationen hervorzubringen. Also mußte ich wieder einmal helfend eingreifen.
»Leute, ich habe eine Ankündigung anzukündigen. Wer einen Kalender dabei hat, möge ihn jetzt herausholen und den heutigen Tag mit einem roten Punkt markieren. Thomas ist verlieeeeebt! Es hat ihn ganz furchtbar erwischt – die Neue wird also wohl auf seinen Charme verzichten müssen.«
Diese Neuigkeit hatte die versammelte Runde offenbar noch deutlich mehr geschockt, als das Bild von Tim und mir. Katja brachte zum Ausdruck, was anscheinend alle dachten.
»Thomas? Verliebt? So richtig ernsthaft?«
»Allerdings. Er und seine Christine sind schon fast einen Monat zusammen.«
Die Reaktionen darauf reichten von leisen Pfiffen bis zu lautstarkem Applaus. Was den Kopf meines besten Freundes nur noch röter werden ließ.
»Hört auf, hört auf! Darf ich mich etwa nicht ernsthaft verlieben? Ist das so überraschend?«
Falsche Frage. Synchrone Antwort aus einem knappen Dutzend Kehlen:
»Allerdings!«
Alle außer Thomas prusteten los, und kurz darauf beugte er sich zu mir herüber und flüsterte mir etwas ins Ohr.
»Habe ich wirklich so einen schlechten Ruf?«
Ich flüsterte zurück.
»Naja, nicht unbedingt schlecht. Aber doch zumindest … naja, außergewöhnlich.«
»Da werde ich wohl aufpassen müssen, daß meine Christine nichts davon mitbekommt.«
»Keine Bange. So verliebt wie die dich angeschaut hat, würde sie sich davon bestimmt nicht abschrecken lassen.«
»Na hoffentl…«
Thomas' Antwort wurde von Jürgen unterbrochen.
»Was flüstert ihr denn da so? Seit wann gibt es hier denn Heimlichkeiten. Ach, übrigens, Danny, die Neue hat auch einen Bruder, der dürfte in unserer Klasse landen. Julia meinte, daß er extrem gutaussehend wäre. Nicht daß ich das beurteilen könnte, aber… Naja, jedenfalls gibt es auch für dich Frischfleisch.«
Na danke aber auch. Frischfleisch. Auf so etwas war ich nun wirklich nicht aus. Außerdem, die Wahrscheinlichkeit, daß ich bei diesem »extrem gutaussehenden« Frischfleisch Chancen haben könnte, standen ja wohl deutlich gegen mich. Aber immerhin, vielleicht ergab sich daraus zumindest ein hübscher Anblick dann und wann. Meine durch die tristen Schulräumlichkeiten nicht besonders verwöhnten Augen könnten das gebrauchen. Und träumen wird ja wohl auch erlaubt sein, oder?
»Jürgen, versprich mir bitte nichts, was du nicht garantieren kannst. Oder hatte er zufällig einen Rainbow-Sticker an der Jacke?«
»Tut mir leid, kann ich dir nicht sagen. Im Gegensatz zu dir schaue ich mir Jungs nicht so genau an.«
»Solltest du aber. Auch wenn sie dich nicht in der Art interessieren wie mich – du könntest zumindest sehen, ob sie für dich irgendeine Art Konkurrenz darstellen. Nur mal so als kleine Anregung.«
»Mist, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Danke für den Tip.«
Dann war es an der Zeit, die fröhliche Runde aufzulösen – wir konnten es leider nicht vermeiden, uns wieder in die Hände unseres meist recht langweiligen »Lehrkörpers« zu begeben. Und langweilig traf auf diesen Lehrkörper in vielerlei Hinsicht zu. Nicht ein einziger hübscher Junglehrer hatte den Weg an unser Gymnasium gefunden! Der hätte meine Leistungen und besonders meine Mitarbeit garantiert anregen können. Mein einziger Trost war, daß gleiches auch für das andere Geschlecht zutraf. Das Durchschnittsalter der Lehrerschaft lag irgendwo deutlich über vierzig. Gott, unser Geschichtslehrer unterrichtete nicht nur Geschichte, er war mehr oder weniger bereits Bestandteil derselbigen!
Die restlichen Schulstunden vergingen trotzdem relativ flott – auch wenn der angekündigte Schönling nicht auftauchte –, und schneller als erwartet steckte ich den Schlüssel ins heimatliche Haustürschloß.
»Bin da, wer noch?«
»Komm in die Küche.«
Ich zog Jacke und Schuhe aus und folgte dann der Stimme meiner Mutter. Selbige stand am Herd und rührte in irgendwelchen Töpfen herum, während Reinhardt Teller auf den Tisch beförderte.
»Hallo ihr zwei.«
Die beiden halloten zurück, und ich schaute mir meinen zukünftigen Stiefvater etwas näher an.
»Ihr wart wohl gar nicht einkaufen? Reinhardt sieht noch so munter aus, als ob er überhaupt nichts anprobieren mußte.«
Das brachte mir ein gequältes Lächeln des Genannten ein.
»Oh doch, ich habe einiges über mich ergehen lassen müssen. Ich bin nur ein guter Schauspieler. Wir sind erst vor einer halben Stunde rein.«
Da waren sie wirklich lange unterwegs gewesen, und ich bewunderte Reinhardt für die gezeigte Beherrschung. Ich wäre nach einem solchen Einsatz längst zusammengeklappt. Jetzt drehte sich Mutti zu mir um.
»Ißt du noch einen Teller Spaghetti mit?«
Das war nun eine ziemlich – 'tschuldigung – dämliche Frage. Als ob ich jemals zu etwas Eßbarem nein gesagt hätte. Auch Mutti wurde das im selben Moment klar.
»Schon gut, natürlich ißt du mit. Geh hoch und zieh die warmen Sachen aus, in fünf Minuten kannst du dann mit Tim runterkommen. Der ist gerade dabei, seine Jagdbeute im Schrank zu verstauen.«
Jagdbeute. Ob Tim das wohl auch so sah? Wenn ich einen solchen Einkaufsstreß über mich ergehen lassen mußte, bezeichnete ich hinterher die Erwerbungen (so schön und teuer sie auch gewesen sein mochten) höchstens als lausige Entschädigung für einige furchtbare Stunden. Ich verließ die Küche und erklomm die Stufen zum ersten Stockwerk. Die Zimmertür stand halb offen, und schon von weitem konnte ich einen offensichtlich hochzufriedenen Tim beim Einräumen seiner Schrankfächer sehen. Na mal schaun was er abgestaubt hatte.
»Hallo kleiner Bruder.«
»Hallo großer Bruder. Na, war die Schule schön?«
»Die Schule selbst, als Gebäude, ja. Zumindest einigermaßen. Das was darin ablief nicht so sehr.«
Und damit meinte ich weniger das Auftauchen des kompromittierenden Bildes als vielmehr das, was in den eigentlichen Schulstunden ertragen werden mußte.
»Und wie war dein Tag? Für einen Einkaufsvormittag mit meiner Mutter siehst du noch verdammt fröhlich und munter aus.«
»Ich hab dir doch schon gesagt, daß ich gerne einkaufen gehe.«
»Hat es sich gelohnt? Dir ist schon klar, daß nachher Modenschau angesagt ist.«
»Okay, wenn du willst. Und ja, es hat sich gelohnt. Ein paar Hosen, Jacken, Pullover, Hemden, Schuhe und jede Menge Kleinkram.«
»Wie gesagt, das will ich nachher alles sehen, also gib dir beim Schrankeinräumen gar nicht erst soviel Mühe. So, ich muß raus aus den warmen Klamotten, und dann können wir runter zum Nudelessen.«
»Au ja, mir knurrt gewaltig der Magen. Ich hab zwar unterwegs eine Bratwurst verdrückt, aber die hat nicht lange vorgehalten.«
Ich tat was ich angekündigt hatte, und dann stürmten wir die Treppe hinunter zur Raubtierfütterung.
Zwanzig Minuten und ein von Reinhardt höchstpersönlich mit Tomatensoße bekleckertes Tischtuch später, ließ ich mich in meinem Computersessel nieder, während Tim anfing, mir seine Errungenschaften vorzuführen. Eine Latzjeans, drei normale Jeans, einige Fleeceshirts, ein paar Hemden, zwei Winterjacken, verschiedene Schuhe und Sportschuhe – eine gute halbe Stunde verging mit der Vorführerei, und ich konnte feststellen, daß mein kleines Brüderchen einen durchaus erlesenen Geschmack bezüglich seiner Kleidung hatte. Mit ihm würde ich mich sicherlich nirgends schämen müssen.
»Gut gewählt, Tim. Die Sachen stehen dir prima.«
»Danke. Darf ich die hier trotzdem behalten, auch wenn ich jetzt eigene Sachen habe?«
Er zeigte auf die verblichene Hose, die ich ihm gestern zur Verfügung gestellt hatte.
»Klar, mir paßt sie eh nicht mehr. Dir allerdings vermutlich auch nicht mehr lange.«
»Stimmt. Aber solange sie mir noch paßt, würde ich sie halt gerne ab und an tragen.«
»Kein Problem, nur zu.«
»Danke. Ach, und übrigens …«
Jetzt lächelte er mich etwas, tja, wie soll ich sagen, verschämt an.
»Ja?«
»Du hattest leider vollkommen recht.«
»Habe ich immer. Womit?«
»Erinnerst du dich an unseren ersten gemeinsamen Nachmittag, hier bei dir im Zimmer?«
»Was genau meinst du?«
Anstelle einer Antwort nahm er etwas aus einem seiner Fächer im Kleiderschrank und hielt es mir hin. Ich faltete es auseinander und prustete los.
»Lach nicht so dreckig!«
»Genau wie ich es dir angedroht habe. Aber laß mal, du wirst dich schon daran gewöhnen.«
Ich gab ihm die blaue Strumpfhose zurück und grinste ihn an.
»Wolltest du dich nicht mit Händen und Füßen dagegen wehren, und notfalls sogar Reinhardt aufhetzen?«
»Habe ich alles versucht, aber deine Mutter ist äußerst überzeugend. Paps ist nur dadurch darum herumgekommen auch welche zu bekommen, weil es in seiner Größe keine gibt.«
»Tja, dann solltest du vielleicht ganz schnell damit anfangen, ganz viel zu wachsen.«
»Keine Bange, genau das habe ich vor. Naja, wenigstens darf ich die eine Garnitur ›normale‹ Unterwäsche solange sie mir noch paßt anziehen. Da habe ich zumindest was für Umzieh-Tage in der Schule.«
»Ich kann dir nur einen einzigen Tip zu dem Thema geben: Finde dich damit ab. Wenn du dich da dran hochziehst, bringt das überhaupt nichts. Glaub mir, ich spreche aus eigener schmerzvoller Erfahrung.«
»Stimmt vermutlich. So, jetzt erzähl mal etwas genauer, wie war es in der Schule?«
»Muß das sein? Auf dieses Thema bin ich nicht sonderlich scharf, ich bin jeden Tag froh, wenn ich die Schule bis zum nächsten Morgen vergessen kann.«
»Tut mir ja wirklich leid, aber da ich spätestens ab nächster Woche auch auf die von dir mit deiner Anwesenheit beehrte Institution gehen werde, hätte ich halt doch gern ein paar Vorabinformationen.«
»Echt? Du wechselst schon nächste Woche?«
»Yep, spätestens. Vielleicht auch schon eher. Hat ja jetzt keinen Sinn mehr, es länger herauszuschieben.«
Na das war doch mal eine gute Nachricht. Also plauderte ich ein wenig aus dem Nähkästchen und bemühte mich dabei, Tim nicht gleich von Anfang an zu verschrecken. Okay, so schlecht war meine Schule nicht, besonders nach den umfangreichen Sanierungsarbeiten der letzten Jahre, aber trotzdem. Schule blieb halt Schule. Als ich Tim vom bedauerlichen Mangel an hübschen Junglehrern berichtete, lachte er laut auf.
»Das ist für dich natürlich der größte Minuspunkt, oder?«
»Allerdings! Und bloß damit du dich nicht zu früh freust: es gibt auch keine einzige gutaussehende JunglehrerIN.«
»Das machen die absichtlich so, damit die Schüler nicht abgelenkt werden.«
»Möglich. Auf jeden Fall wirst du sehr schnell merken, daß ein Blick zur Tafel praktisch immer angenehmer ist, als einer zum jeweiligen Lehrer.«
»Klingt ja nicht sehr vielversprechend. Und wie sieht es bei den Schülern aus?«
»Also da gibt es schon einige, die einen zweiten Blick wert sind. Männlich wie weiblich. Gerade heute hat Jürgen erzählt, daß er einer neuen Schülerin begegnet ist, die nach seinen Angaben ›ganz toll‹ aussieht. Die wird übrigens vermutlich in deine zukünftige Klasse gehen.«
»Na wenigstens etwas. Da bin ich nicht der einzige Neue.«
»So neu wirst du sowieso nicht sein. Außer mir sind da ja noch eine Menge andere Leute, die du schon auf Katjas Party kennengelernt hast.«
»Das heißt, ich darf dich auch in der Schule kennen?«
»Wie meinst du das?«
»Naja, in meiner alten Klasse hatte ich einen Freund, der war für seinen großen Bruder in der Schule Luft. Und wehe wenn er auf die Idee gekommen wäre, ihn anzusprechen oder sich gar mittags an seinen Tisch zu setzen. Zuhause waren die seltsamerweise die besten Kumpel.«
»Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ja, solche Typen gibt es auch bei uns, aber in unserem ›Verein‹ gibt es solche Klassenschranken nicht.«
»Na da bin ich ja beruhigt. So, und was machen wir jetzt?«
»Keine Ahnung was du machst, ich muß mich auf meine Hausaufgaben stürzen.«
»Soll dir dein kleiner Bruder dabei helfen?«
»Nun werd mal nicht übermütig, Musterschüler. Übrigens, du warst heute bereits Gesprächsthema an unserem Mittags-Stammtisch.«
Ich erzählte Tim von dem Vorfall mit dem kompromittierenden Bild, und dieser machte sich gar nicht erst die Mühe, groß darüber nachzudenken, ob er nun lachen oder weinen sollte – er lachte einfach drauflos. Ein sonniges Gemüt hatte er, der Kleine.
In diesem Moment klopfte es an die Zimmertür, und Reinhardt trat ein.
»Jungs, wie siehts aus, wir dachten, es wäre eine schöne Abwechslung, wenn wir jetzt Tims neuen Computer abholen würden.«
Tim war natürlich hellauf begeistert.
»Prima! Ich zieh mich sofort an.«
Und schon war er aus seinen Jeans und suchte im nächsten Moment nach seinem letzten überlebenden Paar Thermounterwäsche.
»Wo hab ich nur … Mist … in der Wäsche. Na gut, was solls…«
Sprachs und griff nach der Strumpfhose, die er mir kurz vorher gezeigt hatte. Nicht ganz überzeugt schaute er sie an.
»Sag mal, Danny, wie zieht man so ein Ding an?«
Ich war natürlich nur allzubereit es ihm zu zeigen – ständig beobachtet von einem in der offenen Türe stehenden grinsenden Reinhardt. Der hatte dann auch noch eine Frage an mich.
»Kommst du auch mit, Danny?«
Hm, interessante Frage. Einerseits ein interessantes Angebot, andererseits … wenn ich an den Stapel Hausaufgaben dachte, erschien mir das mitkommen als keine so gute Idee.
»Nee, ich bleibe hier und mache mich über meine Schulsachen her. Wenn ihr wieder hier seid, bin ich bestimmt damit fertig, dann können wir zusammen aufbauen.«
»Oh, wie verantwortungsbewußt! Deine Mutter wird erfreut sein, das zu hören.«
»Tja, ich muß doch ein gutes Vorbild für meinen kleinen Bruder sein, oder?«
»Du hast es erfaßt.«
Mittlerweile war Tim wieder in seine Jeans geschlüpft und verließ alsbald mit seinem Vater das Zimmer. Ich für meinen Teil machte meine Ankündigung wahr – und bereute meine Entscheidung, nicht mitzugehen, innerhalb weniger Minuten. Schüler waren doch die bemitleidenswerteste Gesellschaftsgruppe. Wenn ich an all die Dinge dachte, die uns eingetrichtert wurden und von denen von Anfang an feststand, daß wir sie nach dem Ende der Schulzeit nie wieder brauchen würden…
Naja, wie auch immer. Nach zwei unendlich langen Stunden hatte ich die Bestrafung hinter mich gebracht, und so langsam konnten eigentlich auch die fleißigen Computerkäufer wieder auftauchen. Ich legte schonmal einige Teile zurecht, die wir zum Verbinden der Rechner benötigen würden, dann wartete ich bei einem Glas Cola (ich würde schon dafür sorgen, daß Reinhardt diesem Trinkgefäß nicht zu nahe kam) und ein paar Lebkuchen auf die Rückkehr der Einkaufstruppe. Von meinem Platz aus konnte ich die Einfahrt sehen, würde also problemlos mitbekommen, wann ich runtergehen und beim Hochtragen behilflich sein sollte. Ich hatte seit langem mal wieder das Haus für mich alleine, und so eine kurze Phase der Ruhe war auch nicht zu verachten.
Das heißt, ich dachte ich hätte das Haus für mich alleine. Umso mehr erschrak ich, als plötzlich die Zimmertür aufging und meine Mutter hereintrat. Ich hatte mich so richtig in meinen Computersessel gefläzt und die Füße auf den Tisch gelegt – etwas, was meine Mutter auf den Tod nicht ausstehen konnte. Entsprechend heftig schaltete ich in den »Ertappter-Sünder-Modus« und brachte es beinahe fertig, beim Einnehmen einer akzeptablen Sitzposition aus dem Sessel zu fallen.
»Was machst du denn hier, ich habe doch noch gar kein Auto kommen sehen!«
»Wieso Auto? Ach so. Ich bin gar nicht mitgefahren, an dem Technikkram habe ich kein so großes Interesse. Und hier gab es eh noch genug zu tun.«
»Ich habe gar nicht mitbekommen, daß da noch jemand im Haus war.«
Naja, kein Wunder, ich hatte wie üblich zu den Hausaufgaben die Stereoanlage laufen gehabt.
»Was hast du denn so gemacht?«
»Hier, schau mal, die Jacke sieht doch wie neu aus, oder?«
»Eine von Tim?«
»Ja. Ich denke, ich habe alles rausbekommen. Und aus der Jeans hier auch, hätte ich gar nicht erwartet.«
Es sah tatsächlich so aus, als wären diese beiden Dinge wieder brauchbar. Nicht daß Tim sie nach der vormittäglichen Einkaufsfahrt noch unbedingt brauchte. Da fiel mir etwas anderes ein.
»Sag mal, seine lange Unterwäsche hat den Brand wohl nicht überstanden?«
Diese Bemerkung veranlaßte meine Mutter dazu, laut aufzulachen, und mit einem fröhlichen Funkeln in den Augen schaute sie mich an.
»Nein, wirklich nicht. Aber er hat ja lauter schöne neue Sachen bekommen. Er hat sich doch nicht etwa beschwert?«
»Naja, beschwert würde ich nicht unbedingt sagen. Aber du weißt schon …«
»Tja, wenn er mit mir leben will, muß er halt damit leben können. Außerdem finde ich es nur fair dir gegenüber.«
Also da mußte mein Brüderchen wohl wirklich durch. Aber was solls, es gab schlimmere Dinge. Wobei ich es noch fairer mir gegenüber gefunden hätte, wenn ich auch hätte auf normale Thermo-Unterwäsche umsteigen dürfen. Aber das würde wohl frühestens am Tag meines Einzugs ins Altersheim klappen. Bevor ich diesen Gedanken jedoch weiter vertiefen konnte, bog hupend ein Auto auf das Grundstück ein.
»Los, Danny, gehen wir runter und helfen beim Ausladen und Hochtragen.«
Das taten wir denn auch, und eine halbe Stunde später saß ich neben einem vor Begeisterung strahlenden Tim und erledigte mit ihm zusammen die Erstinstallation seiner neuesten Errungenschaft. Nun hieß es ja eigentlich, daß der Computer uns Menschen Arbeit abnehmen sollte, und uns somit mehr Zeit für andere Dinge bleiben würde – ich hatte jedoch die Erfahrung gemacht, daß man als stolzer Computerbesitzer soviel Zeit vor dem Monitor verbrachte, daß viele andere Sachen, die einem vorher wichtig waren, ins Hintertreffen gerieten. Ganz besonders natürlich, wenn man einen neuen Rechner in Betrieb nahm. Das bestätigte sich wiedereinmal, denn kaum hatten wir uns so richtig reingearbeitet, als auch bereits der Ruf zum Abendessen erschallte. Wir faßten uns extrem kurz, und schon bald glotzten wir wieder auf den Monitor. Natürlich verloren wir völlig das Zeitgefühl, und als irgendwann unsere Eltern ins Zimmer kamen und uns zum Ausschalten der Rechner verdonnerten, waren wir völlig überrascht, daß es bereits nach 22 Uhr war.
Kurz darauf lagen wir in unseren jeweiligen Betten, und eine weitere, für mich natürlich viel zu kurze Nacht nahm ihren Lauf.
Am nächsten Morgen wiederholte sich das unangenehme Schauspiel vom Vortag, will heißen: Tim blieb im warmen Bett, ich mußte hinaus ins kalte Leben. Wenn man denn soweit gehen wollte, das was in der Schule ablief als »Leben« zu bezeichnen. Wieder einmal hatte es die halbe Nacht geschneit, und zu unser aller unbeschreiblicher Überraschung hatten die Schulgewaltigen beschlossen, uns arme Opferlämmer zeitiger ins geheizte Gebäude einzulassen! Als ich das Zimmer betrat, saß ein Großteil meiner Mitstreiter bereits auf ihren Stühlen und harrte der Dinge, die da kommen wollten. Chemie. Könnte ich problemlos drauf verzichten. Definitiv eines der Fächer, welches ich garantiert niemals wirklich brauchen würde. Ich nahm meinen Platz ein und schaute auf einen ziemlich müde wirkenden Thomas.
»Was ist denn mit dir los, hattest du eine lange Nacht mit Christine?«
»Frag mich lieber nicht.«
Na gut, wenn er nicht reden wollte, würde ich ihn nicht dazu zwingen. Mich aufzudrängen war nun wirklich nicht mein Stil. Und wenn mich die Neugier auch umbrachte! Ich drehte mich in die andere Richtung und begrüßte Jürgen und Lisa. Im nächsten Moment zupfte mich Thomas an meinem linken Arm.
»Was ist, willst du es nun wissen?«
»Ich denke, ich soll dich nicht fragen!«
»Blödmann. Ich habe die halbe Nacht in der Notaufnahme vom Krankenhaus verbracht.«
»Was?!? Was ist passiert?«
»Caren ist beim Eislaufen gestürzt, und dabei ist ihr jemand mit dem Schlittschuh in den rechten Arm gefahren. Sie hat geblutet wie ein Schwein.«
»Schei…benkleister. Wie geht es ihr?«
»Schon wieder ganz gut. Die Wunde mußte genäht werden, aber mit ein wenig Glück wird kaum eine sichtbare Narbe zurückbleiben.«
»Gott sei Dank. Sag ihr einen schönen Gruß von mir, und daß ich ihr gute Besserung wünsche.«
»Mach ich.«
»Sag mal, aber wieso warst du in der Notaufnahme? Was war mit euren Eltern?«
»Die waren zu einem Konzert, und hatten natürlich das Handy abgestellt. Ich hatte keine Ahnung wo genau sie waren, also bin ich mit ins Krankenhaus und habe dort gewartet, bis unsere Eltern zuhause eingetrudelt waren und von meinen Schwestern die guten Neuigkeiten erfahren hatten. So gegen Mitternacht war ich dann zuhause, aber ich habe um drei noch wachgelegen.«
»Dann wärst du heute vielleicht lieber im Bett geblieben.«
»Hah, schön wärs! Da spielen meine Eltern leider nicht mit.«
Kam mir irgendwie bekannt vor. Bevor meine Mutter mich aus der Schule nahm, mußte schon die Hölle zufrieren. Da ich als schwule Frostbeule laut christlicher Definition jedoch in genau dieser Hölle landen würde, legte ich keinen besonderen Wert auf deren Zufrieren. Dort sollte es ruhig gut geheizt bleiben.
Allerdings konnten wir unsere Unterhaltung nun nicht weiter vertiefen, denn just in diesem Moment betrat unsere Chemielehrerin das Zimmer. Eine ziemlich kleine, ältere Frau, bei deren Anblick uns immer der Verdacht beschlich, daß sie nach Schulschluß heimlich mit den Vorräten des Chemiekabinetts experimentierte und sich ihre Kreationen sodann als selbstgemachte Kosmetik ins Gesicht schmierte. Davon einmal abgesehen zählte sie auf jeden Fall zum besseren Teil der hiesigen Lehrerschaft, war immer für einen Witz zu haben und hielt sich mit der Lieblingsbeschäftigung vieler anderer Lehrer – Schüler nerven – wohltuend zurück. Wie immer kam sie auf den letzten Drücker, und kaum hatte sie ihre Tasche abgelegt klingelte es auch schon.
Die ersten Minuten verbrachte sie mit fröhlichem Geplapper darüber, wie sie die Feiertage verbracht hatte, dann aber verschlug es ihr ein wenig die Sprache, als sie den Projektor in Betrieb nehmen wollte und feststellen mußte, daß dieser noch in Ferienstimmung war – sprich durch nichts zum Funktionieren zu überreden.
»Mist verdammter.« Besondere Zurückhaltung bezüglich der Verwendung von Schimpfwörtern konnte man ihr nun wirklich nicht vorwerfen. »Was mach ich denn jetzt? Ich habs. Danny, lauf doch mal bitte schnell ins Physikkabinett und frage, ob du deren Projektor ausleihen kannst.«
Das hatte ich nun davon, als immer höflich und hilfsbereit zu gelten. Es war ja nicht mal so, daß ich günstig direkt an der Tür saß – nein, ich wurde regelrecht herausgepickt. Der liebe Danny macht das schon. Naja, ließ sich nicht ändern. Ich erhob mich und verließ das Zimmer. »Lauf mal schnell«, hatte sie gesagt. Das würde ich nun garantiert nicht tun. Schließlich wurde uns immer und immer wieder eingetrichtert, daß im Schulgebäude rennen nicht erlaubt war. Also schlenderte ich in aller Gemütsruhe durch die gesamte Etage ans andere Ende des Gebäudes. An der Tür des als »Schlaflabor« berüchtigten Physikzimmers angekommen (der Lehrer hieß Tröger, was ziemlich passend war: eine Stunde dröger als die andere) wollte ich gerade anklopfen, als ich mich nur noch durch einen weltrekordverdächtigen, reaktionsschnellen Sprung zur Seite davor bewahren konnte, die aufspringende Tür ins Gesicht zu bekommen. Im nächsten Moment schaute ich unserer stellvertretenden Direktorin ins Gesicht, welche offenbar nicht minder erschrocken war wie ich.
»Daniel! Mein Gott, was machst du denn hier vor der Tür? Mitten im Unterricht?«
Ich verkniff mir die Gegenfrage, was sie dazu brachte, mitten im Unterricht die Tür eines Zimmers dermaßen schwungvoll aufzustoßen, als ob sie einen dahinter befindlichen Lauscher ertappen wollte.
»Frau Kraus hat mich losgeschickt, um den hiesigen Projektor zu schnorren.«
»Ah ja. Dann will ich dich nicht weiter aufhalten, geh rein und frag Herrn Tröger.«
Hätte ich ja gerne gemacht, aber dazu wäre es doch sehr vorteilhaft gewesen, wenn sie die Tür freigegeben hätte. Das tat sie dann auch, ich wollte dies nutzen und das Zimmer betreten – und hatte prompt meinen nächsten Beinahezusammenstoß. Diesmal jedoch nicht mit einem mit Klinke versehenen Holzbrett, sondern mit einem Jungen, der mir noch nie zuvor aufgefallen war. Und der mußte wirklich neu sein, ansonsten wäre er mir garantiert schon mal aufgefallen! Blind war ich ja nun wirklich nicht. Besonders nicht in dieser Beziehung.
Schlank, ein paar Zentimeter größer als ich, hellblond, das Gesicht von keinerlei Barthaaren oder Pickeln verziert, tiefblaue Augen, die vollen, roten Lippen zu einem leichten Lächeln verzogen.
»Pardon. Ich wollte dir nicht im Weg stehen.«
»Kein Problem, ich scheine heute überall dagegenlaufen zu wollen.«
Wir schauten uns noch einen kurzen Moment lang an (der Moment war lang genug, um meine Innereien in einen vollständigen Aufruhr zu versetzen), dann wurden wir in unseren gegenseitigen Betrachtungen rüde unterbrochen.
»Philipp, kommst du, wir müssen noch weiter.«
Philipp. Was für ein passender Name für dieses göttliche Wesen.
»Sorry, ich muß los.«
Mit diesen Worten drängelte er sich an mir vorbei aus dem Zimmer, und ich wünschte unsere Stellvertretende in diesem Moment an den Platz auf dem Planeten, welcher für mich den furchtbarsten Ort überhaupt darstellte: an den Nordpol. Okay, Südpol wäre auch nicht schlecht, ich war da nicht so wählerisch.
Naja, das wars dann wohl erstmal. Ich konnte nur hoffen, daß mir der gute Philipp noch einmal über den Weg laufen würde. Ich hätte bestimmt nichts dagegen, öfter mit ihm zusammenzustoßen! Und ich meine richtig zusammenstoßen! An Jürgens Ankündigung vom Vortag einen neuen Schüler betreffend, dachte ich seltsamerweise mit keiner Silbe. Was mal wieder beweist, daß die schulische Umgebung dem Denken alles andere als förderlich ist.
Ich entschuldigte mich beim Physik-Vorbeter für die Störung, erbat und bekam den Projektor, und machte mich daran, den Rückweg zu meiner eigenen Klasse anzutreten. So bepackt konnte ich natürlich noch viel weniger rennen, also nahm ich mir alle Zeit der Welt. Vor der Tür des Chemiezimmers passierte es dann. Ich klemmte mir den Projektor so gut es ging unter den linken Arm und griff mit der rechten Hand nach der Türklinke. Ich wurde schließlich erwartet, warum also erst anklopfen? Allerdings wurde ich wohl nicht von jedem hinter der Tür erwartet. Langer Rede kurzer Sinn: wieder flog eine Tür direkt vor mir auf, und diesmal gab es keine Rettung für mich. Ich verlor jeglichen Halt unter meinen Füßen, und im nächsten Moment landete ich unsanft auf meinem Hinterteil. Während des ganzen Vorgangs hatte ich – als verantwortungsbewußter und auf das Eigentum der Schule bedachter Schüler – den Projektor fest umklammert gehalten, und ihn somit vor einem heftigen Aufprall auf den Steinboden und damit verbundener Zerlegung in sämtliche Einzelteile bewahrt. Besser wäre wohl gewesen, ihn loszulassen und mich selbst vor dem heftigen Aufprall zu bewahren! Aber das stärkste Stück kam erst noch. Wiederum war es unsere stellvertretende Direktorin, die ohne groß nachzudenken die Türe aufgeschleudert hatte! Und ihre Reaktion war der vom ersten Versuch sehr ähnlich.
»Mein Gott, Daniel! Du schon wieder! Du willst mir wohl mit aller Macht einen Herzinfarkt verschaffen!«
Okay, das wars. Zwei hinterhältige Anschläge auf mein Leben kurz hintereinander, zweimal die Verwendung meines vollen Namens, und dann auch noch so tun, als wäre ich derjenige, welcher die Zwischenfälle verursacht hatte!
»Mein Gott, Frau Möller! Sie schon wieder! Sie wollen wohl mit aller Macht erreichen, daß ich auf das Vergnügen der Teilnahme am Unterricht verletzungsbedingt verzichten muß!«
Mit dieser Erwiderung hatte sie wohl nicht gerechnet. Sie starrte einen Moment auf meine immer noch am Boden liegende Gestalt, dann zuckten ihre Mundwinkel nach oben, und dann lachte sie laut los. Schön, daß wenigstens eine Person die Situation lustig fand.
»Entschuldige, Danny, ich bin wohl heute etwas zu schwungvoll. Oder zu hektisch. Direktor Schloder hat sich ein Bein gebrochen und liegt im Krankenhaus, und jetzt bleibt die ganze Arbeit an mir hängen.«
Schlodderchen hatte sich ein Bein gebrochen? Ob sie den wohl auch über den Haufen gerannt hatte?
»Ich weiß gar nicht so recht, wo mir der Kopf steht. Aber zurück zu dir. Ist dir irgendwas passiert? Alle Knochen noch heil?«
Naja, ich mußte ihr wohl zugute halten, daß sie sich nach meinem Zustand und nicht nach dem des Projektors erkundigte.
»Ist der Projektor noch ganz?«
Zu früh gefreut. Mittlerweile war auch Frau Kraus hinzugekommen, und ich drückte ihr den Projektor in die Hand, damit ich mich – von dieser Last befreit – selbst wieder hochrappeln konnte. Zum Glück hatte ich wieder einmal einen Sturz glimpflich überstanden. Lag wohl am entsprechenden Training.
»Mir gehts gut, danke der Nachfrage.«
»Na dann ist ja gut. So, ich muß weiter. Ich habe einen Termin mit einem Herrn von der Feuerwehr, und zwar … vor fünf Minuten!«
Ohne Frau Kraus, den Projektor oder mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen, schoß Frau Möller davon, um irgendwo im Gebäude weitere Türen aufzureißen. Frau Kraus schüttelte nur noch mit dem Kopf.
»Wirklich alles in Ordnung mit dir, Danny?«
»Ja, wirklich. Kein Problem. Aber ich denke, wir sollten heute Warnschilder mit der Aufschrift ›Vorsicht, freilaufende stellvertretende Direktorin‹ an alle Türen hängen. Das nächste Mal geht es vielleicht nicht so glimpflich aus.«
Den Spruch hätte ich mir wohl bei keinem anderen Mitglied unseres Lehrkörpers erlauben können – Frau Kraus jedoch lachte darüber und fand es eine gute Idee. Allerdings, so meinte sie, sollten diese Schilder eine Dauereinrichtung sein. Von mir kam kein Widerspruch.
Nachdem nun auf diese Weise geschickt erneut »wertvolle« Unterrichtszeit verplempert war, begaben wir uns ohne weitere Verzögerungen ins Zimmer, wo sich Frau Kraus daran machte, den so hart erkämpften Projektor in Betrieb zu nehmen. Ich wanderte zurück zu meinem Platz, und beinahe hätte ich sofort wieder auf meinem Hosenboden gesessen. Saß da doch direkt in der Reihe vor mir der atemberaubende Türenblockierer von vor ein paar Minuten und lächelte mich mit funkelnden Augen an! Irgendwie schaffte ich es, trotzdem zu meinem Stuhl vorzudringen und mich hinzusetzen, aber ich wollte lieber nicht wissen, wie ich in diesem Moment aussah. (Sehr) frei nach dem Erlkönig: »Erreicht den Stuhl mit Müh und Not, und siehe da, der Kopf war rot.« Wieviel hatte der blonde Engel von meinem erniedrigenden Sturz mitbekommen? Eines stand jetzt jedoch schon fest: ich würde in seiner Gegenwart wohl noch weniger vom Lehrstoff mitbekommen als je zuvor. Es gab nur eine wirklich gute Seite an der Situation: er saß vor mir, konnte also nicht sehen, wie ich ihn mit meinen Augen förmlich verschlang. Andere waren allerdings nicht so in ihrer Sicht auf mich eingeschränkt. Jürgen grinste mich herausfordernd an.
»Na, hab ich dir gestern zuviel versprochen?«
Gott war der Kerl neugierig! Ich streckte ihm die Zunge raus und drehte mich zu Thomas. Nur um in dessen nicht minder grinsendes Gesicht zu gucken. Resignierend verlagerte ich das Ziel meiner Augen nach vorn, schaute auf einen niedlichen blonden Hinterkopf, und wurde vor weiteren inquisitorischen Fragen meiner Freunde durch den triumphierenden Aufschrei von Frau Kraus gerettet, welche endlich den Projektor in Gang gebracht hatte. Der Rest der Stunde – viel war ja nicht mehr übrig – verging quälend langsam. Trotz Frau Kraus war Chemie nun wirklich nicht mein Lieblingsfach.
Endlich hatte die Qual ein Ende. Beim Klingelzeichen konnte ich gar nicht so schnell gucken wie Philipp aus dem Zimmer stürzte. Was sollte das nun heißen? Auf jeden Fall war sein Verschwinden das Kommando für meine sogenannten Freunde, über mich herzufallen. Ich bekam gar nicht so richtig mit, wer mich da alles bestürmte.
»He, Danny, ist er nicht süß?«
»Hast du die Augen gesehen?«
»Das Lächeln!«
Natürlich hatte ich all das mitbekommen! Und jetzt bekam ich mit, daß ich nicht der einzige war, auf den der Neue einen solch gewaltigen Eindruck gemacht hatte. 10 von 12 Mädels aus der Klasse verdrehten verzückt die Augen. Was sagte mir das? Daß die anderen beiden vermutlich lesbisch waren. Und ich hatte eine höllische Konkurrenz! Aber was redete ich mir da überhaupt ein. Ich hatte ja eh keine Chance bei Philipp. Ich doch nicht. Niemals. Das würde ja vollkommen meiner bisherigen Lebenserfahrung widersprechen. Nein, nein, das war noch unwahrscheinlicher, als an diesem Tag noch ein drittes Mal von Frau Möller überrannt zu werden. Andererseits, wenn ich an den heutigen Zustand unserer Stellvertretenden dachte, war wohl alles möglich…
Naja, zumindest erfuhr ich so nach und nach all das über ihn, was ich verpaßt hatte, als ich während seiner Vorstellung in der Klasse in einem anderen Teil des Gebäudes mit Transportarbeiten beschäftigt gewesen war. Er hieß Philipp Stein, hatte eine jüngere Schwester, die auch auf unser Gymnasium ging, und war mit seiner Familie während der Ferien aus München hierher gezogen. Na sowas, hatte ich mich doch glatt in einen »Wessi« verguckt! Und der machte auf den ersten Blick überhaupt nicht den per Vorurteil festgelegten arroganten Eindruck. Na dann, auf daß zusammenwachse, was zusammengehört.
Die nächsten Stunden waren mehr oder weniger Wiederholungen der chemikalischen Erlebnisse. Ich starrte auf Philipps Hinterkopf (und befand mich mit der Starrerei in guter Gesellschaft), Philipp sagte kein Wort und glotzte nur auf den jeweiligen Wissensvermittler, sobald es zur Pause klingelte, stürzte er aus dem Zimmer und tauchte erst kurz vor dem nächsten Stundenbeginn wieder auf. Hatte er etwa schon eine heimliche Freundin gefunden? Die Idee, daß er vielleicht auf dem Wege zu seinem Schwesterlein war, kam mir natürlich nicht.
Auch zur großen Mittagspause verschwand Philipp wie der geölte Blitz aus dem Zimmer und ließ all seine Bewunderer kopfschüttelnd zurück. Naja. Es bildeten sich die üblichen Grüppchen, und fünf Minuten später saß ich mit meinem engsten Freundeskreis an unserem Stammtisch und rätselte wie jeden Tag, was das da auf dem Teller wohl darstellen mochte. Kaum hatte ich mich auf »Boulette« festgelegt – der »Koch« hatte sich alle Mühe gegeben, damit ihm das niemals nachgewiesen werden konnte – sah ich aus den Augenwinkeln heraus einen blonden Haarschopf an unserem Tisch vorbeiziehen. Also eigentlich zwei blonde Haarschöpfe. Der eine gehörte Philipp, der andere einem etwas jüngeren Mädchen. Die Familienähnlichkeit war nicht zu leugnen. Also wohl doch keine Freundin sondern nur die kleine Schwester. Mein Tag war gerettet, oder? Beide reihten sich ganz weit hinten in der Schlange derjenigen ein, die noch auf ihr »Futter« warteten, dabei ständig von mir mit gierigen Augen verfolgt. Im nächsten Moment spürte ich einen Ellenbogen in meinen Rippen.
»Au! Was soll das, Thomas?«
»Glotz nicht so, du fängst ja gleich an zu sabbern!«
»Tu ich nicht!«
»Tust du doch. Kann ich dir auch nicht verdenken. Aber du bist ein bißchen arg auffällig.«
Vermutlich hatte er recht. Der Anblick war aber auch zu hinreißend. Ich schämte mich ein wenig, weil ich darüber Tim beinahe vergessen hatte, aber … naja, was soll ich sagen. Tim war niedlich, süß, zum Verlieben – allerdings würde ich, wenn ich auf ihn warten wollte, wohl ewig warten müssen. Ich war ja mittlerweile ziemlich überzeugt, daß mein kleines Brüderchen hetero war. Ich meine, sonst hätte er doch längst versucht bei mir zu landen, oder? So unwiderstehlich wie ich bin… Also mußte ich mich anderweitig umschauen, und Philipp … tja, Philipp war definitiv einen zweiten und auch einen dritten Blick wert.
Um mich ein wenig abzulenken, fing ich an, das Essen in mich hineinzuschaufeln. Das funktionierte auch ganz gut, bis … ja, bis plötzlich jemand an den Tisch trat und fragte, ob hier noch zwei Plätze frei wären.
Mein Kopf schoß nach oben, und tatsächlich, es waren Philipp und seine weibliche Begleitung, welche in Anbetracht des ziemlich überfüllten Speisesaals ihre bisherige selbstgewählte Ausgrenzung aufgaben bzw. aufgeben mußten.
Zum Glück wurde ich einer Antwort enthoben, da gleich ein paar der anwesenden Mädels die beiden Neuen mit Feuereifer dazu aufforderten, sich hinzusetzen. Die Mädels waren es auch, die Philipp nunmehr mit ihren Fragen am laufenden Band mehr oder weniger vom Essen abhielten. Womit sie ihm in Anbetracht der »Qualität« des Essens einen Riesengefallen taten – und was mir gar nicht so ungelegen kam: ohne meine eigene Neugier preisgeben zu müssen, erfuhr ich ein paar Dinge über ihn. Er war siebzehn wie die meisten von uns, seine Schwester namens Veronika war ein Jahr jünger als er, er hatte noch einen kleinen Bruder im Kindergartenalter, in den er offensichtlich regelrecht vernarrt war. Wie ich den kleinen Bengel beneidete. Der Tisch war erfüllt von fröhlichem Geschnatter, welches allerdings nach kurzer Zeit ziemlich rüde durch einen Zwischenruf vom übernächsten Tisch unterbrochen wurde.
»Heh, Vroni, komm lieber mit deinem Bruder hierher. Solange der schwule Thom dort sitzt, ist jeder Männerarsch in Gefahr. Wenn ich mit dem in einer Klasse wäre, würde ich mir immer einen Platz ganz hinten an der Zimmerwand suchen. Man weiß ja nie.«
Totenstille. Nicht nur bei uns am Tisch, sondern im ganzen Speisesaal. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Okay, ich war ziemlich out, aber eigentlich nicht dermaßen out. Auf die Gesamtzahl der Schüler gesehen, gab es garantiert mehr die es nicht wußten als umgekehrt, besonders in den unteren Klassen. »Sicher wußten« im Unterschied zu »nur vermuteten«. Dachte ich zumindest. Und außer ein paar kleinen Sticheleien im Vorbeigehen hatte es bisher auch keinerlei größere Probleme gegeben. Das hatte sich nun wohl erledigt, jetzt wußte es die ganze Schule, inklusive Philipp. Der Verbreiter der guten Nachricht war Matthias, der sich zusätzliches Training für seine Rugby-Karriere unter anderem dadurch holte, daß er in schöner Regelmäßigkeit jüngere Schüler herumschubste. Da würde ich wohl ein scharfes Auge auf das Wohlergehen meines kleinen Bruders haben müssen. Aber zurück zur aktuellen Situation.
Alle starrten mich an. Also zumindest hatte ich das Gefühl, daß mich alle anstarrten und auf eine Reaktion meinerseits warteten. Quatsch, natürlich starrten mich alle an. Matthias war ja laut genug gewesen, um den üblichen Geräuschpegel im Speisesaal zu übertönen. Also, wie würde der immer so ruhige, gelassene, freundliche Danny auf so etwas reagieren? In diesem Moment wurden garantiert einige Wetten auf den Ausgang des Geschehens abgeschlossen. Wie eben dieser Ausgang des Geschehens aussehen würde, wußte wohl keiner so genau. Mit einer einzigen Ausnahme. Thomas zupfte mich am Ärmel und flüsterte mir etwas ins Ohr.
»Danny, halt dich zurück, der Idiot ist das nicht wert.«
Mein bester Freund wußte ganz genau, daß ich auch noch eine andere Seite hatte, eine, die nur sehr, sehr selten zum Vorschein kam – was wohl auch besser so war. Und auf deren Einsatz ich diesmal trotzdem bei aller Freundschaft nicht verzichten konnte. Oder besser gesagt: ich war einfach nicht in der Lage, mich gegen das Auftauchen dieser anderen Seite zu wehren. Anakin Skywalker wurde zu Darth Vader, die dunkle Seite der Macht gewann die Oberhand. Ich stand auf und wandte mich meinem Gegenspieler zu. Keine Ahnung wie ich das schaffte, aber meine Stimme blieb ganz ruhig und zitterfrei.
»Keine Angst, Matthias, dir droht von mir wirklich keine Gefahr. Erstens bist du doch alles andere als ein Mann, hast also gar keinen durch mich ach so gefährdeten Männerarsch. Du hast ja noch nicht mal das Zeug dazu, als anständiger Pickel auf einem echten Männerarsch durchzugehen. Und zweitens ist schon dein Gesicht dermaßen häßlich, daß ich deinen Arsch gar nicht erst sehen will. Schließlich habe ich auch ein gewisses Selbstwertgefühl.«
Ließ sich »Totenstille« eigentlich noch irgendwie steigern? Falls ja, dann war jetzt der richtige Zeitpunkt, um es mal zu probieren. Allerdings hielt diese Stille nicht lange an.
»Dich mach ich fertig, du schwule Sau!«
In echter Rugby-Manier kam Matthias angerannt und wollte sich auf mich stürzen. Die Betonung liegt auf »wollte«, denn durch eine gekonnte Ausweichbewegung ließ ich ihn ins Leere laufen. Oder ins nicht ganz so Leere. Drei Meter hinter mir befand sich eine Wand, und gegen diese krachte Matthias mehr oder weniger ungebremst. Und so sehr er auch Zusammenstöße von seinem Lieblingssport her gewöhnt war – eine solche Steinwand war erheblich unnachgiebiger als seine gewohnten Gegenspieler. Mit einem häßlichen Knacken, gefolgt von seinem lauten Aufheulen, rutschte er an der Wand hinunter und blieb dort jammernd und zusammengerollt liegen. Damit war die Vorstellung für mich beendet, und als der Adrenalinkick anfing nachzulassen, wurde mir so langsam die ganze Tragweite dessen, was da eben abgelaufen war, bewußt. Ich merkte, daß ich kurz davor stand, die Fassung zu verlieren und hysterisch zu werden, und um dies zu vermeiden (oder zumindest es vor weniger Zuschauern geschehen zu lassen), verzog ich mich fluchtartig aus dem Speisesaal. Keine Ahnung wohin ich eigentlich wollte, jedenfalls fand ich mich eine Weile später auf der Treppe vorm Schuleingang wieder. Die ansonsten so von mir gehaßte kalte Luft verhalf mir dazu, den Kopf wieder etwas klarer zu bekommen. Diese und ein wenig Einsamkeit waren genau das, was ich jetzt brauchte.
Letzteres war mir jedoch nicht vergönnt, ich spürte plötzlich eine Hand auf meiner rechten Schulter und konnte mich gerade noch bremsen, bevor ich Thomas ernsthaft wehgetan hätte. Der bemerkte auch gleich, daß es keine so gute Idee war, mich in dieser Situation dermaßen überraschend von hinten zu berühren.
»Hoh, Danny, ganz ruhig, ich bins nur, keine Gefahr.«
»Sorry.«
»Kein Grund für Entschuldigungen. Das war ziemlich heftig, nicht wahr?«
»Allerdings.«
Wir standen eine Weile schweigend nebeneinander, und ich nutzte die Stille, um zu überlegen, wie es nun weitergehen sollte.
»Danny, wir sollten wieder reingehen, sonst holst du dir in der Kälte noch den Tod. Von mir mal ganz abgesehen.«
Aber dazu war ich noch nicht bereit.
»Was ist passiert, nachdem ich den Abflug gemacht habe?«
»Nicht viel, ich bin dir ja auch gleich hinterher. Matthias hat ununterbrochen gejammert, daß du ihm die Schulter gebrochen hättest, aber jeder der da war weiß, daß das nicht stimmt.«
Jeder der da war. Also praktisch die ganze Schule.
»Als ich raus bin, kam gerade Tröger anmarschiert und hat jemanden losgeschickt, um die Möllerin zu holen.«
Na prima. Der war ich an diesem Tage schon zweimal zu oft über den Weg gelaufen. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus.
»He, keine Bange. Alle haben mitbekommen, wie der Idiot dich provoziert hat. Ich denke mal, dir droht keine Gefahr.«
»Mir bereitet ja auch die Verletzung von dem Heini keinen allzugroßen Kummer, damit kann ich leben, ohne schlaflose Nächte zu bekommen. Es stört mich einfach, daß jetzt wirklich auch der letzte hier weiß, mit wem er es bei mir zu tun hat.«
»Ach ja? Laß mich mal überlegen. Mit einem der ausgeglichensten, freundlichsten, hilfsbereitesten Typen vom ganzen Gymnasium? Mit dem besten Freund, den ich mir vorstellen kann?«
»Komm, du weißt ganz genau was ich meine!«
»Du hattest doch bisher keinen solchen Bammel bezüglich dessen, was wir über dich denken?«
»Also erstens kannst du das nur schwer einschätzen. Was glaubst du, was ich für einen Schiß hatte, bevor ich es euch nach und nach erzählt habe? Und zweitens ist das auch gleich der große Unterschied: Ich habe es euch erzählt! Denjenigen, bei denen ich mir mehr oder weniger sicher war, daß sie mich auch weiterhin akzeptieren würden. Und selbst da bin ich bei ein paar Leuten, von denen ich das nicht erwartet hatte, reingefallen. Und jetzt muß ich damit leben, daß gleich hunderte auf einen Schlag über mich bescheidwissen. Hunderte, bei denen ich keinen blassen Schimmer habe, wie sie reagieren werden!«
»Entschuldige, Danny. Stimmt, ich kann das nur schwer einschätzen. Aber ich glaube trotzdem, daß du dir zuviele Sorgen machst. Klar wird es noch ein paar Idioten vom Schlage eines Matthias geben, aber die sind garantiert in der Minderheit. Ganz gewaltig in der Minderheit.«
»Dein Wort in Gottes Gehörgang!«
»Vertrau mir einfach mal. Übrigens, falls es dich interessiert: Philipp schien gar nicht sonderlich schockiert oder gar angeekelt zu sein. Höchstens von Matthias' Vorstellung.«
Ich schaute in das grinsende Gesicht meines besten Freundes.
»Blödmann.«
»Angenehm, Kupfer.«
Okay, Thomas hatte es mal wieder geschafft, mich zum Lachen zu bringen. Gut, nicht zu einem richtigen, ausgeprägten Lachen, aber doch zumindest zu einem Lächeln. Das schien ihm für den Moment auch ausreichend zu sein.
»Na los, komm, gehen wir wieder rein, bevor wir hier wirklich noch festfrieren.«
Diesmal ließ ich mich widerspruchslos von ihm zurück in die Schule führen. Wir verzichteten auf einen weiteren Besuch im Speisesaal und begaben uns auf direktem Weg ins Klassenzimmer. Unterwegs begegneten wir einigen Schülern der verschiedensten Klassenstufen, und praktisch jeder starrte mich an. Was ich mehr fühlte als sah, denn die meiste Zeit hielt ich den Kopf gesenkt und die Augen auf den Fußboden gerichtet. Wenn ich doch mal aufsah, konnte ich jedoch feststellen, daß die meisten eher abschätzend und interessiert guckten. Nicht ein einziger machte den Eindruck, von meinem Anblick angewidert zu sein. Naja, aber das war kein Grund, sich zu früh zu freuen. Mir standen wohl ein paar sehr aufregende Tage und Wochen bevor.
Im Klassenzimmer eingetroffen war die Stimmung … naja, durchwachsen. So eine Mischung aus »bedrückt« und »aufmunternd«. Eine große Überraschung konnte mein Outing hier nicht gewesen sein, bis auf zwei oder drei Ausnahmen wußte es eh schon jeder. Und auch bei den Ausnahmen war ich mir – wenn ich es mir recht überlegte – gar nicht so sicher, ob die es nicht doch im Laufe der Zeit mitbekommen hatten. Ich hatte es ihnen zwar nicht ins Gesicht gesagt, aber wenn ich mich mit denen die es wußten unterhalten hatte und das Thema zur Sprache kam, waren wir auch nicht automatisch in den Flüstermodus verfallen. Der einzige, bei welchem ich mir bezüglich seiner Ahnungslosigkeit absolut sicher sein konnte, war also Philipp. Und der gehörte erfreulicherweise zu denjenigen, die mich bei meinem Eintritt ins Zimmer aufmunternd anlächelten. Gleiches galt natürlich für den »inneren Zirkel« meines Freundeskreises.
»Super, Danny, was für eine Vorstellung! Hätte gar nicht gedacht, daß du das draufhast. Gratuliere, den Idioten hast du so richtig abblitzen lassen.«
Jürgen war anscheinend ehrlich begeistert, was ich von mir selbst nicht behaupten konnte. Ich hatte die Beherrschung verloren. Die Beherrschung, an deren Bewahrung ich so hart gearbeitet hatte. Thomas war einer der wenigen (und in diesem Kreis der einzigste), die wußten, daß es noch einen ganz anderen Danny gab als den, der ihnen Tag für Tag freundlich grinsend über den Weg lief. Einen, der auf Angriffe und Anfeindungen nicht nach der coolen »Leck-mich-am-Arsch« Methode den Gegner einfach stehenließ.
Es hatte in meinem Leben eine Phase gegeben, wo ich wohl der unbeherrschteste und ungerechteste Typ gewesen war, den man sich vorstellen kann. Unvorstellbar nach allem, was der geneigte Leser bisher über mich weiß? Danke, ich betrachte das als Kompliment meiner guten Arbeit an mir selbst. Trotzdem, das entsprach leider voll und ganz der Wahrheit. Vermutlich war ein Grund dafür meine Erfahrungen mit Krankheit und Tod im zarten Kindesalter. Ich war überzeugt, daß sich die ganze Welt gegen mich verschworen hatte, und entsprechend behandelte ich die ganze Welt. Man nehme jetzt noch dazu, daß ich immer als leicht hyperaktiv gegolten hatte, und schon hat man ein paar Eigenschaften die – wenn zusammengeworfen – nicht unbedingt für gute Ergebnisse stehen. Mir taten meine armen Eltern und Freunde jetzt noch leid. Einmal hatte ich es sogar geschafft, beinahe mein ganzes Zimmer in einem Wutanfall in kleinste Einzelteile zu zerlegen. Tja, und dann kam einer der Ärzte, der mich während einer Chemotherapie betreute, auf die Idee, mich zu seinem Karatekurs mitzuschleifen. Als ich körperlich wieder einigermaßen hergestellt war, hatte er auch meine Eltern überzeugt, daß dies eine gute Möglichkeit wäre, mich von meinen überschüssigen Energien zu befreien – und mir gleichzeitig ein Ziel für meine Wutausbrüche zu geben. Und was soll ich sagen: es wirkte. Ich wurde ruhiger, ausgeglichener, und die Zeiten meines »Ausflippens« wurden immer seltener, bis sie nach zwei, drei Jahren gänzlich der Vergangenheit angehörten. Nach dem Tod meines Vaters hatte ich eine weitere schwierige Phase, und ich schätze, wenn ich zu diesem Zeitpunkt nicht bereits die Kunst der Selbstbeherrschung recht gut draufgehabt hätte, wäre ich wohl damals den Bach runtergegangen. Um so mehr überraschte und erschreckte es mich jetzt, daß ein solches (im Vergleich zu dem was ich bisher in meinem Leben durchgemacht hatte) nichtiges Ereigniss mich an den Rand des Kontrollverlustes gebracht hatte. Thomas schien das zu verstehen, und so langsam die ganze Tragweite dessen zu begreifen, und er führte mich in eine Zimmerecke, wo er mich in leisem Tonfall auf das Thema ansprach.
»Danny, hast du Angst, daß es wieder losgeht?«
»Keine Ahnung. Ja. Ich glaube schon. Scheiße.«
»Mach dir keine zu großen Sorgen. Du hast doch nicht überreagiert. Schließlich hast du ihm kein Haar gekrümmt, obwohl du das problemlos gekonnt hättest.«
»Trotzdem. Ich hätte einfach überhaupt nicht darauf reagieren dürfen.«
»Falsch. Das war die normalste Reaktion, die man sich vorstellen kann. Ich weiß, ich weiß, du willst nicht, daß du wieder so wirst wie damals, aber bei diesen Bemühungen darfst du auch nicht übertreiben. Bei gegebenem Anlaß mal so richtig aus der Haut zu fahren hat noch niemandem geschadet. Ganz im Gegenteil. Alles nur in dich hineinzufressen bringt auch nichts. Mann, Danny, du bist auch kein Übermensch! Und in gewisser Weise war es für uns alle gut, dich mal so zu erleben. Zeigt, daß du eigentlich ein ganz normaler Teenager bist. Dein Heiligenschein ist jedenfalls durch diese kleine Episode noch lange nicht gefährdet.«
»Na vielen Dank auch. Du meinst also, ich soll die Sache einfach vergessen.«
»Nein. Aber du sollst sie nicht überbewerten oder nur negativ sehen. Und ich verspreche dir eins: sollte ich Anzeichen für einen tatsächlichen Rückfall in alte Zeiten bei dir erkennen, werde ich dir das rechtzeitig austreiben, okay?«
»Mal sehen. Ich muß da mal etwas ausführlicher drüber nachdenken. Auf jeden Fall danke.«
»Kein Problem. Du hast mir so oft aus der Patsche geholfen, da freue ich mich fast darüber, mich mal revanchieren zu können. Also nicht daß ich mich darüber freue was vorhin vorgefallen ist! Ach Quatsch, du weißt schon.«
»Schon gut.«
Während dieser kleinen Unterhaltung waren die Zeiger der Uhr gnadenlos vorgerückt, und der Beginn der nächsten Stunde stand kurz bevor. Gerade als ich mich zu meinem Platz begeben wollte, passierte, was ich bereits befürchtet hatte: Frau Möller kam zackigen Schrittes ins Zimmer marschiert.
»Alle raus außer Daniel!«
Vermutlich war sie in einem früheren Leben mal Oberfeldwebel gewesen und hatte den Kasernenhofton in ihre nächste Inkarnation rüberretten können. Innerhalb kürzester Zeit war ich mit ihr alleine im Raum, und wir schauten einander abschätzend an. Nach etwa einer Minute kam sie zum Thema.
»Danny, was soll ich nur mit dir machen!«
»Sie könnten mir mein Abschlußzeugnis geben, und wir hätten sofort Ruhe voreinander.«
»Genau so ein Spruch hat vorhin zur Katastrophe geführt! Mein Gott, Daniel, kannst du nicht mal vorher überlegen, was du von dir gibst!«
»Sorry. Aber das vorhin war reine Selbstverteidigung. Und überhaupt, ausgelöst wurde die Sache durch ganz was anderes!«
»Ja, ja. Ich weiß. Matthias hat dich zuerst provoziert.«
»Nicht einfach provoziert! Er hat mich vor allen Anwesenden bloßgestellt.«
»Schön und gut, aber warum hast du überhaupt darauf reagiert? Es haben doch schon einige versucht, dich mal aus der Reserve zu locken, und bisher hast du das immer eiskalt von dir abtropfen lassen.«
»Keine Ahnung. Vielleicht ein Fall von ›steter Tropfen höhlt den Stein‹. Thomas meint jedenfalls, daß es mal fällig war. Nicht daß ich stolz drauf bin, aber ich konnte in dem Moment einfach nicht mehr stillhalten.«
»Matthias behauptet, du hättest ihn gegen die Wand geschleudert.«
»Matthias behauptet viel, wenn der Tag lang ist. Demnächst wird er noch behaupten, die Wand hätte ihn in Tötungsabsicht angesprungen. Jeder, der richtig hingeguckt hat, kann bestätigen, daß ich nur einen Schritt zur Seite gemacht habe. Wenn ihn überhaupt etwas gegen die Wand geschleudert hat, dann war es sein eigener Schwung.«
»Okay, das haben schon ein paar Leute bestätigt, ich wollte nur noch deine eigene Version hören. Übrigens, es ist gerade ein Arzt bei Matthias. Anscheinend hat er sich wirklich irgendwas gebrochen.«
»Sorry, aber Mitgefühl kann er von mir nicht erwarten.«
»Kann ich verstehen. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn sich so etwas nicht wiederholen würde. Ich weiß jetzt schon, daß spätestens in ein, zwei Stunden seine Eltern bei mir auf der Matte stehen werden, um die unhaltbaren, gewalttätigen Zustände an unserer Schule zu beklagen.«
»Da beschweren sich gerade die richtigen Leute. Wenn Sie mal eine Umfrage machen würden, wer schon alles einmal in dieser oder jener Form unter deren Sohn zu leiden hatte, würde dieses Zimmer nicht für alle Betroffenen ausreichen.«
»Du machst es mir wirklich nicht leicht, Danny. Bitte, versprich mir einfach, daß du versuchst, dich in Zukunft in solchen Situationen zurückzuhalten. Vor allem mit deinem Mundwerk, für das mir manchmal ein Waffenschein angebracht erscheint.«
»Okay, ich verspreche es zu versuchen. Mehr ist allerdings nicht drin.«
»Das wird mir dann wohl reichen müssen. So, und nun sag mir mal, warum du mir gegenüber nie etwas von deinem Schwulsein erwähnt hast.«
Huh, hatte ich das jetzt eben richtig gehört?
»Äh, Frau Möller, aber was erwarten Sie von mir? Daß ich aus lauter Lust und Lebensfreude zu Ihnen komme und sage ›Frau Möller, ich bin schwul. Hätten Sie eventuell einen passenden Freund für mich? Oder darf ich das zumindest am schwarzen Brett bekanntmachen?‹ Tut mir leid, aber ich wüßte nicht, was das Sie oder irgendjemand anderen angeht. Die Leute, von denen ich wollte, daß sie es wissen, wußten es auch schon vor dem heutigen Zwischenfall.«
»Du hast wirklich keine Ahnung, Danny. Stimmts?«
»Ahnung wovon?«
»Gibt es denn tatsächlich keinerlei Gerüchte an dieser Schule?«
Okay, sie hatte es geschafft. Ich war mittlerweile vollkommen verwirrt und hatte keinen blassen Schimmer mehr, wovon hier die Rede war. Zum Glück sah die Möllerin mir das an.
»Also gut. Ich hätte nicht gedacht, daß das tatsächlich noch ein Geheimnis ist. Danny, ich lebe mit einer Frau zusammen.«
So, das wars. Matthias hatte es mit all seiner körperlichen Kraft nicht geschafft mich umzuhauen – unserer stellvertretenden Direktorin glückte das mit einem einzigen Satz. Völlig ohne Zuhilfenahme irgendwelcher Türen.
»Sie … was … wollen Sie damit etwa sagen … also … Sie sind …«
»Lesbisch. Falls dies das Wort ist, wonach du so krampfhaft suchst.«
Das mußte ich jetzt erstmal verdauen. Ich hatte wirklich keine Ahnung, nicht mal eine entsprechende Vermutung gehabt. Ich konnte mich auch nicht daran erinnern, daß es diesbezüglich mal irgendwelche Gerüchte gegeben hätte. Und das hätte ich mir garantiert gemerkt!
»Gut, Danny, damit ist meine Frage von vorhin, warum du es mir nie gesagt hast, natürlich gegenstandslos. Wenn du gar nicht wußtest, daß wir praktisch im selben Boot sitzen … Naja. Übrigens wäre ich dir dankbar, wenn du es nicht unbedingt weitererzählen würdest.«
Diesen Wunsch konnte ich problemlos nachvollziehen. Schon als homosexueller (klingt irgendwie etwas hochtrabend, dieses Wort, oder?) Schüler war das Leben nicht unbedingt leicht, für einen Lehrer jedoch wäre es vermutlich noch um einiges schlimmer.
»Okay, Sie können sich drauf verlassen.«
»Danke. Aber falls du irgendwelche Probleme haben solltest, dann zögere nicht, komm zu mir, okay?«
»Okay.«
»So, anderes Thema. Ich habe vorhin mit deiner Mutter telefoniert.«
Was denn, hatte sie etwa Mutsch angerufen und ihr brühwarm vom Speisesaal-Zwischenfall erzählt? Konnte ich eigentlich kaum glauben. Jetzt nicht mehr. Frau Möller hatte offenbar meinen fragenden Gesichtsausdruck richtig gedeutet.
»Nein, nein, nicht wegen Matthias! Sie hat für morgen einen Termin gemacht, um deinen Stiefbruder hier anzumelden.«
»Ach so. Ja, der muß ja nun auch schneller wechseln als geplant war. Hat meine Mutter Ihnen erzählt, was passiert ist?«
»Allerdings. Muß ja ziemlich hart gewesen sein. Aus dem Urlaub zurückkommen und die Bude abgebrannt vorfinden. Aber, sag mal, wissen eigentlich deine Leute, daß du schwul bist? Falls nicht, solltest du es ihnen jetzt wohl lieber ganz schnell sagen, bevor sie es über unsere seit kurzem erleuchtete Schule so nebenbei mitbekommen.«
»Meine Mutter weiß es seit langem, Tim seit dem Tag, an dem wir uns kennenlernten. War zwar ein völlig ungeplantes Coming out, aber ich habe es nie bereut. Reinhardt, sein Vater, weiß es, seit ich letzten Dezember krank war und ein paar Tage in der jetzt zerstörten Wohnung verbracht habe. Übrigens, wir bevorzugen die Bezeichnung ›Bruder‹, nicht ›Stiefbruder‹.«
»Gut, werd ich mir merken. So, ich denke ich sollte mich jetzt lieber verabschieden, wir haben den Betrieb lange genug aufgehalten. Halt die Ohren steif, und wenn was ist, weißt du, wo du mich finden kannst.«
»Alles klar. Danke, Frau Möller.«
»Kein Problem. Ach so, eines noch. Ich bin ja nun wirklich nicht neugierig, aber…«
»Aber was?«
»Schon ein Freund in Sicht?«
Ich mußte grinsen.
»Ich habe einige in Sicht, aber ob die das auch so sehen?«
»Sei vorsichtig, daß du nicht mit einer Liebesoffenbarung an den falschen gerätst.«
Frau Möller hob nochmal kurz drohend den Zeigefinger, dann rauschte sie zur Tür hinaus und scheuchte die draußen wartenden Schüler plus Mathe-Lehrer mit der Bemerkung ins Zimmer zurück, daß sie endlich mit dem Unterricht beginnen sollten. Der anscheinend leicht eingeschüchterte Zahlendompteur beeilte sich, dieser Aufforderung nachzukommen, sodaß für weitere Diskussionen über das Speiseraum-Gerangel keine Zeit blieb. Was mir nur allzu recht war.
Die Stunde verging, es folgte die nächste Pause, und in dieser hetzten wir zur Turnhalle und dort in die Umkleideräume. Die dienstägliche Doppelstunde Sport stand an – und damit die interessante Frage, wie sich meine lieben Klassenkameraden nunmehr mir gegenüber verhalten würden. So bezüglich Ausziehen vor den gierigen Augen der nunmehr ganz offiziellen Schulschwuchtel. Für die meisten war es ja wie gesagt keine große Neuigkeit gewesen, aber mich interessierte natürlich ganz besonders, wie Philipp reagieren würde.
Kaum hatten wir unsere Sachen abgelegt, als unser Sportlehrer, ein ehemaliger »DDR-Profi-Amateur-Fußballer«, frohen Mutes hereinspazierte und die Bombe platzen ließ.
»Jungs, Trainingsanzüge, Straßenschuhe, Mützen und Handschuhe. Es müssen noch ein paar Wege vom Schnee freigeschippt werden, und jede Klasse muß eine ihrer Sportstunden dafür opfern. In der zweiten Stunde wird dafür nur Handball gespielt.«
Na klar. Warum auch sollte ein bisher mehr oder weniger lausiger Schultag ein gutes Ende haben. Mit Erleichterung bemerkte ich, daß ich nicht der einzige war, der verärgert aufstöhnte. Gut, Schneeschippen war so schlimm nicht, aber dafür hätten wir doch lieber eine Chemie- oder Mathestunde geopfert! Hannes, mit seinen 1.97 der Traum aller Baskettballtrainer (einer hatte ihn bereits vor Jahren für seine Mannschaft weggefangen), brachte seinen Unmut lautstark zum Ausdruck.
»Herr Breitkopf, wissen Sie überhaupt wie kalt das ist! Außerdem schneit es sowieso immer wieder, hat also gar keinen Zweck, groß was wegzuschippen.«
»Hannes, wir haben neun Grad minus, das ist doch nicht kalt! Ihr könnt ja gerne eure langen Unterhosen anbehalten. Und der Schnee muß weg, egal ob nun schon neuer unterwegs ist oder nicht. Das hat die Feuerwehr heute so von Frau Möller verlangt. Also los, hurtig, hurtig! In fünf Minuten ist Werkzeugausgabe!«
Mehr oder weniger murrend begann die Umzieherei – und erfreulicherweise gab es weder dumme Bemerkungen noch irgendwelche blöden Aktionen. Was natürlich nicht so bleiben durfte. Bei soviel Normalität konnte Thomas einfach nicht widerstehen. Mitten im Klamottenwechsel tanzte er plötzlich aufreizend – oder so wie er sich »aufreizend« wohl vorstellte – vor mir herum.
»He, Danny, den Arsch von Matthias wolltest du nicht sehen. Wie wäre es mit meinem?«
»Das flache Etwas habe ich doch schon tausendmal gesehen. Und zwar ohne schlapprige lange Kameraden drüber. Außerdem: ich bin zwar auf der Suche nach einem Freund, aber dermaßen verzweifelt bin ich nun auch wieder nicht.«
Eigentlich hatte ich erwartet, daß er mir nunmehr für den letzten Teil meiner Ansprache den Kopf abreißen würde, aber nein. Thomas verdrehte den Kopf so, daß er etwas über seine Schulter gucken konnte, und betrachtete eingehend sein Hinterteil.
»Flach? Also ich weiß nicht. Christine scheint er zu gefallen.«
Okay, also noch etwas Salz in seine Wunden.
»Stichwort Christine. Sag mal, womit erpreßt du die eigentlich? Aus freien Stücken hätte sie sich doch nie mit dir eingelassen.«
Das drang zu ihm durch.
»Danny! Dafür werde ich dir nachher eine Schaufel Schnee in den Kragen schütten, verlaß dich drauf!«
»Buh, jetzt habe ich aber Angst!«
Die anderen hatten diesen Auftritt natürlich mitbekommen und aufmerksam verfolgt. Allgemeines Gelächter war die Reaktion. Obwohl – nicht ganz allgemein. Philipp stand etwas schockiert am Rande und wußte wohl nicht genau, was er von unserer kleinen Zofferei halten sollte. Durchaus verständlich. Wer nicht wußte, daß Thomas und ich die besten Freunde waren, und solche Plänkeleien zwischen uns alltäglich, konnte sicherlich einen falschen Eindruck von dieser Szene bekommen. Und ich war nicht der einzigste, der das bemerkt hatte.
»Philipp, du darfst lachen. Die beiden machen das ständig, wer sie nicht kennt, könnte sie glatt für die erbittertsten Feinde halten. In Wahrheit lieben sie sich aber. Ein Wunder, daß man sie noch nie knutschend auf dem Schulklo erwischt hat.«
Mein lieber Jürgen, das war ein ganz, ganz großer Fehler. Nichts war besser geeignet, um Thomas und mich zusammenzuschweißen, wie ein gemeinsamer Gegner. Und zu diesem hatte sich Jürgen mit seinem Spruch selbst gemacht. Thomas und ich schauten uns an, nickten uns zu, und im nächsten Moment packten wir einen sich sträubenden Jürgen von beiden Seiten und beförderten ihn aus dem Umkleideraum hinaus. Vor der Tür setzten wir ihn ab und schlugen ihm dann selbige vor der Nase zu. Nunmehr stand er in seiner langen, weißen Feinripp-Unterwäsche samt karrierter Kniestrümpfe draußen vor der Tür und hämmerte – verzweifelt um Einlaß flehend – mit beiden Fäusten gegen diese. Verzweifelt deshalb, weil in diesem Moment die Mädels unserer Klasse ihren Umkleideraum verließen und – an Jürgen vorbeiziehend – in Richtung Sporthalle marschierten. Thomas, ich und der Rest der Truppe amüsierten uns königlich, besonders als dann das Gekicher der holden Weiblichkeit durch die Tür nach innen drang. Als dieses dann abflaute, ließen wir Jürgen wieder hinein – sein knallroter Kopf bildete einen interessanten Kontrast zu seiner weißen Unterwäsche…
»Das zahle ich euch heim! Irgendwann, wenn ihr es am allerwenigsten erwartet…«
Thomas und ich schauten uns grinsend an. So richtig ernst konnten wir diese Drohung nicht nehmen, denn obwohl Jürgen durch den familieneigenen Betrieb problemlosen Zugriff auf Schlachtebeile und Fleischermesser hatte, war er doch ein äußerst friedliebender Zeitgenosse. Er konnte keiner Fliege was zuleide tun – geschweige denn uns, seinen »besten Freunden« ;-)
»Ja, verdammt noch mal, was ist denn mit euch los! Die Mädels sind bereits komplett fertig, und ihr springt immer noch in Unterwäsche herum!«
Ob das mit den Mädels eventuell daran lag, daß diese nicht zum Schneeschippen eingeteilt waren, sondern ganz normal Sportunterricht haben würden? Wo blieb da eigentlich die vielbeschworene Emanzipation? Die gleichen Rechte wie die Jungs wollten sie haben, auf die gleichen Pflichten konnten sie leicht verzichten, oder? Trotzdem hatte keiner von uns Strafarbeitern den Nerv, dies Herrn Breitkopf aufs Brot zu schmieren.
»Nun aber Beeilung, oder ihr könnt gleich beide Stunden draußen verbringen!«
Das nenne ich einen Ansporn! Innerhalb von zwei Minuten waren wir komplett einsatzbereit und nahmen unsere Arbeitsgeräte entgegen. Kurz darauf kämpften wir gegen die weiße Pracht – und genau wie Hannes bereits befürchtet hatte, würde der stetige Schneefall all unsere Arbeit sehr bald wieder zunichte machen. Aber da es zu einer Anweisung der Lehrerschaft keine Alternative gab, taten wir brav unsere Pflicht. Das ging natürlich nicht ohne Schneeballschlachten und Balgereien ab, und bald sahen einige von uns aus wie lebendige Schneemänner. Ich selbst hielt mich so gut es ging raus und nutzte die körperliche Betätigung, um ein wenig mit mir ins Reine zu kommen. Übrigens, wenn Mutti mich hätte sehen können, wäre sie vermutlich in Lachkrämpfe ausgebrochen. Zuhause mußte sie mich immer mit der Androhung drakonischster Strafen zum Schneeschippen »überreden«. Mitten hinein in meine schönsten Grübeleien platzte dann ein Aufschrei.
»Vorsicht, Danny!«
Ich sah einen Schatten auf mich zufliegen und machte einen schnellen Schritt zur Seite. Diesmal nicht geplant wie beim Matthias-Zwischenfall, sondern rein reflexmäßig. Nur um mich sofort danach wegen dieses Zurseitetretens ein hirnrissiges Rindvieh zu schimpfen. Was da angeflogen kam, war niemand anderes als Philipp auf seinem Weg in den nächstgelegenen Schneehaufen, in welchen er nunmehr ungebremst eintauchte – zum Glück war der Schnee weich, und unser Neuer tat sich nicht weh. Ich allerdings – naja, sagen wir mal so: für Philipp hätte ich lie-
bend gerne den Prellbock gespielt. Ob solch eine Chance nochmal wiederkehren würde … ich hatte so meine Zweifel. Aber ich durfte nicht lamentieren, und ich durfte meine Gedanken möglichst nicht sichtbar werden lassen. Also griff ich zu einem altbewährten Hausmittel zurück: ich spielte Mr. Cool.
»He, ein größeres Wurfgeschoß ist euch wohl auf die Schnelle nicht eingefallen! Will mich denn heute jeder umrennen oder umwerfen?«
Heino und Lars grinsten mich und den sich wieder aufrappelnden Philipp wenig schuldbewußt an.
»Du hättest ihn ja auffangen können. Das wäre dir doch bestimmt gelegen gekommen, oder?«
Hilfe, ich war durchschaut! Oder war das nur ein Schuß ins Blaue? Lieber gar nicht erst darüber nachdenken. Ich wandte mich dem sich den Schnee von den Sachen klopfenden zweibeinigen Geschoß zu.
»Alles okay, Philipp?«
»Ja, kein Problem, war eine weiche Landung.«
Er lächelte mich an! Philipp lächelte mich an! Mich! Obwohl er über mich Bescheid wußte! Wenn ich jetzt auf der Stelle sterben würde, wäre es ein friedlicher Tod nach einem erfüllten Leben. Aber ich starb natürlich nicht, nein, ich verspürte nur einen kräftigen Stoß im Rücken und landete ebenfalls im Schnee. Wer hatte mir das nun wieder angetan? Das konnte doch nicht wahr sein! Thomas war der Übeltäter, welcher sich jetzt zu mir runterbeugte, um mir hochzuhelfen. Na warte! Gerade als ich ihm die Meinung sagen wollte, legte er den linken Zeigefinger vor seine Lippen und flüsterte mir dann etwas zu.
»Pst. Entschuldige, aber das mußte sein. Du warst gerade dabei, Philipp mit den Augen auszuziehen. Wenn nicht gar dich auf ihn zu stürzen und es tatsächlich zu tun.«
Hm, war ich denn wirklich dermaßen daneben? Okay, okay, wenn man mich des eingehenden Betrachtens hübscher Jungs bezichtigte, mußte ich mich wohl tausendfach schuldig bekennen, aber an einen solchen Blackout wie er mir offenbar soeben zum zweiten Mal bezüglich Philipp untergekommen war, konnte ich mich nicht erinnern. Ich warf einen verstohlenen Blick in die Runde um zu sehen, ob das außer Thomas noch jemand bemerkt hatte – aber die anderen waren bereits wieder mit dem Bewegen größerer Schneemengen beschäftigt und zeigten keinerlei Reaktionen. Auch Philipp hatte schon wieder zur Schaufel gegriffen und schob sie in den Schnee, schaute allerdings noch einmal kurz in meine Richtung. Immer noch lächelnd. Puh. Jetzt war wohl Erleichterung angesagt. Und ein wenig Dankbarkeit.
»Danke, Thomas. Sei so gut und hab auch weiter ein Auge auf mich. Ich bin anscheinend momentan nicht ganz zurechnungsfähig.«
»Kein Problem. Ist ganz nett, daß ich zur Abwechslung mal derjenige bin, der dir behiflich sein kann. Wenn ich das noch etwa zehn bis zwanzig Jahre lang durchziehe sind wir quitt.«
»Hm, das scheint mir in Anbetracht deiner eigenen Neigung in Schwierigkeiten zu geraten, doch arg optimistisch gedacht. Aber gut, für den Anfang war das nicht schlecht.«
»Freut mich, daß du meine Leistung so großzügig anerkennst.«
»Ist mir ein Vergnügen und innerliches Bedürfnis.«
Nun machten auch wir uns wieder daran, den weißen Massen mit Schaufeln zuleibe zu rücken, und ein Weilchen später war zumindest ein schmaler Durchgang zwischen Sporthalle und Heizhaus freigelegt. Allerdings hatte bei der ganzen Schipperei keiner auf die Uhr geschaut, und gleiches galt wohl für unseren gleich zu Anfang wieder in wärmere Gegenden verschwundenen Sportlehrer, der jetzt ziemlich abgehetzt wieder bei uns auftauchte.
»Jungs … hechel … ich habe völlig die Zeit vergessen! Tut mir wirklich leid.«
Ich schaute auf meine Uhr und sah, daß nicht nur die gesamte erste Stunde abgelaufen war, sondern wir auch schon eine gute Viertelstunden der zweiten ungeplant im Schnee verbracht hatten. Wunderbar. Ob er das wirklich nicht genau so geplant hatte?
»Handball lohnt sich jetzt nicht mehr. Vorschlag zur Güte: ihr macht noch zehn Minuten weiter, dann könnt ihr aufhören, euch umziehen und nach Hause gehen.«
Na das war doch wenigstens ein Wort! Auf diese Weise würden wir gut und gerne zwanzig Minuten früher das Schulgelände verlassen können. Also stürzten wir uns wieder auf die Arbeit, und diesmal war Herr Breitkopf pünktlich nach zehn Minuten wieder da, sammelte die Arbeitsgeräte ein und schickte uns in die Umkleidekabine. Dort hatten es logischerweise alle eilig, wieder in die normalen Klamotten zu kommen, und nur wenige Minuten später atmeten wir zwar kalte, aber freie Luft. So mußte sich ein langjähriger Knastbruder am Entlassungstag fühlen.
Langsam zerstreute sich die Meute, bis am Ende nur noch Thomas und ich übrig waren und uns auf den zum größten Teil gemeinsamen Heimweg machen wollten. Aber halt, wo war eigentlich Philipp abgeblieben? Ich schaute den verschiedenen Grüppchen hinterher, konnte ihn aber nirgends entdecken. Wobei das bei dem Meer von Mützen, Schals und dicken Jacken eh nicht so einfach gewesen wäre. Mein bester Freund bekam natürlich wie üblich immer das mit, was er nicht unbedingt mitbekommen sollte.
»Suchst du jemanden bestimmtes?«
Langsam aber sicher würde ich wohl lernen, sein süffisantes Grinsen zu hassen. Wenn ich in der Lage wäre, irgendwas an Thomas zu hassen.
»Frag nicht so blöd. Hast du ihn irgendwo gesehen?«
»Nein. Doch!«
»Ja was denn nun!«
»Dreh dich ganz unaufällig um, er kommt gerade aus dem Schultor.«
Okay, mich ganz unauffällig nach Philipp umzudrehen, war wohl etwas zuviel verlangt – was Thomas garantiert wußte. Mein Kopf ruckte herum, und tatsächlich: da kam mein neuer Traumboy ganz langsam vom Gefängnis- … äh, pardon: Schulhof geschlendert. Ganz in dunkelblau: Mütze, Schal, Jacke, Jeans, Schuhe. Keine Ahnung wie ich es überleben sollte, ihn in Zukunft tagtäglich vor mir zu sehen. Im Gegensatz zu mir, hatte der Anblick Thomas nicht die Sprache verschlagen. Was ich ihm auch geraten haben wollte.
»Wo bleibst du denn so lange, hat es dir gleich am ersten Tag so gut gefallen, daß du gar nicht wieder wegwillst?«
Wieder das Lächeln in Philipps Gesicht, diesmal in unser beider Richtung.
»Keine Angst, ich wäre lieber schon längst hier weg. Aber ich muß auf meine Schwester warten.«
»Na Gott sei dank, ich dachte schon, wir hätten uns einen Streber eingefangen.«
»Also das nun wirklich nicht. Du bist Thomas, richtig?«
»Genau. Ich nehme an, du wirst noch ein Weilchen Schwierigkeiten mit den ganzen Namen haben, oder?«
»Naja, ich gebe mir Mühe, mir alle zu merken.«
Er drehte sich zu mir.
»Danny, wenn ich mich richtig erinnere.«
Oh Gott, er hat mich angesprochen! Sich meinen Namen gemerkt! Und ich fühlte mich nicht in der Lage, auch nur ein einziges Wort als Antwort herauszubringen! Zum Glück sprang der barmherzige Samariter Thomas wieder für mich ein. Er arbeitete wohl tatsächlich daran, ein paar seiner Schulden bei mir bezüglich Rettung aus aussichtslosen Situationen abzuarbeiten.
»Stimmt. Erwarte aber jetzt keine Antwort von ihm, er ist schon länger als 90 Sekunden in der Kälte, da fängt er langsam an einzufrieren.«
Philipp lachte. Okay, ihm würde ich – ganz im Gegensatz zu Thomas – sogar verzeihen, über mich zu lachen.
»Ist er wirklich so empfindlich?«
Völlig überraschend schaffte ich es, ihm diesmal persönlich zu antworten.
»Yep. Nimm dir ein Lexikon, suche nach dem Begriff ›Frostbeule‹, und siehe da, du findest ein Bild von mir.«
Das brachte mir ein leises Lachen von Philipp sowie einen verwunderten, ja fast entsetzten Blick von Thomas ein. Letzterer hatte wohl nicht damit gerechnet, daß ich mein Sprachzentrum dermaßen schnell wieder unter Kontrolle bekommen würde. Besonders da er ganz genau wußte, daß die kurze Störung weniger auf die niedrigen Temperaturen als vielmehr auf die Anwesenheit unseres neuen Mitschülers zurückzuführen war.
»Dann wärst du das ideale Opfer für meine Mutter. Die liegt uns ständig in den Ohren, daß wir uns ja ordentlich warm anziehen sollen.«
»Danke, nicht nötig, solch ein Exemplar habe ich bereits zuhause. Wobei ich diese Art Anweisung schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb freiwillig befolge. So, nun sag mal, wie findest du es hier in unserer eigenen kleinen Vorhölle?«
Philipp überlegte kurz.
»Naja, eigentlich ganz gut. Die Lehrer sind alle ein bißchen alt, oder?«
Ha! War ich also nicht der einzige, der das bemerkt hatte. Obwohl, genaugenommen hatte wohl jeder hier schon mindestens einmal darüber gestöhnt.
»Dafür scheinen die Schüler ganz in Ordnung zu sein. Mit ein paar Ausnahmen natürlich.«
Oh, oh, ich konnte nur hoffen, daß er nicht mich zu diesen Ausnahmen zählte. Aber meine diesbezüglichen Befürchtungen wurden mir glücklicherweise schnell genommen.
»Dieser Matthias scheint ja ein echter Idiot zu sein.«
»Allerdings! Ich hoffe aber, daß er durch Dannys elegantes Ausweichmanöver für ein Weilchen außer Gefecht gesetzt ist. Der Typ hat schon versucht, mit jedem hier Ärger anzufangen. Zumindest mit jedem, von dem er glaubt, ihm körperlich überlegen zu sein. Das sind hier leider die meisten. Im Gegensatz zur geistigen Überlegenheit. Da dürfte er wohl Probleme haben, mit dem Pudel vom Hausmeister mitzukommen.«
»Also Thomas! Dieser Vergleich ist eine unverschämte Beleidigung! Für den Pudel, meine ich.«
Jetzt lachten wir alle drei lauthals, und gerade, als ich überlegte, mit welchem Thema ich das Gespräch am laufen halten könnte, kam plötzlich ein dick eingemummeltes, diesbezüglich fast schon mit mir vergleichbares, jedoch deutlich kleineres zweibeiniges Etwas auf uns zugestürzt und sprang mit einem Aufschrei unserem Zugereisten in die schnell ausgebreiteten Arme.
»Flip!«
Thomas und ich schauten uns fragend an. Flip? Der so Angeredete drehte sich rasant im Kreise und wirbelte dabei das Etwas – was sich mittlerweile als kleiner Junge herausgestellt hatte – durch die Luft. Wovon das Etwas anscheinend begeistert war, denn es kreischte fröhlich aus vollem Halse. Mittlerweile war unbemerkt noch jemand zu uns getreten.
»Hallo Philipp.«
Wir drehten uns zu der Stimme um, und vor uns stand eine große Frau, bei deren Anblick mir sofort klar wurde, woher Philipp seine blonden Haare und die blauen Augen hatte. Das mußte seine Mutter sein, und somit das gut durchgeschüttelte Etwas sein kleiner Bruder. Mit einem warmen Lächeln schaute sie auf ihre Söhne, die jetzt ihre Anwesenheit auch zur Kenntnis nahmen.
»Hallo Mutti.«
Damit war meine Vermutung bestätigt.
»Wie ich sehe, hast du wohl schon zwei neue Freunde gefunden?«
Fragend, mit leicht schiefgelegtem Kopf, seinen Bruder mittlerweile huckepack tragend, blickte Philipp zu Thomas und mir herüber.
»Ich hoffe es. Würde mich freuen.«
Was für eine Frage! Also mir brauchte die wirklich nicht gestellt zu werden. Wieder enthob mich Thomas der Notwendigkeit zu antworten.
»Klar.«
Ein erleichtertes Lächeln zeigte sich auf Philipps Gesicht.
»Mutti, das sind Thomas und Danny. Thomas, Danny – meine Mutter.«
Es wurden Hände geschüttelt, und Frau Stein schien auch erfreut zu sein, daß ihr ältester Sohn bereits Anschluß gefunden hatte. Wenn sie allerdings wüßte, was bezüglich ihres Sohnes in meinem Kopf so vorging…
Mitten hinein in diese Gedanken erklang ein quengelnder Ton, und Philipp reagierte sofort.
»Natürlich, wie konnte ich das bloß vergessen! Jungs, das ist mein Bruder, Kevy.«
»Kevin! Ich heiße Kevin, nicht Kevy!«
»Okay, Kevy.«
Der kleine Mann trommelte empört auf die Schultern seines großen Bruders. Dem schien das allerdings nicht das geringste auszumachen, er grinste nur vor sich hin. Die Sache mit den Namen erinnerte mich jedoch an etwas.
»Sag mal, habe ich vorhin richtig gehört? Flip?«
Diesmal war es Frau Stein, die erklärend in die Unterhaltung eingriff.
»Als Kevy noch klein war, also noch kleiner als jetzt, da hatte er Probleme damit, den Namen Philipp auszusprechen, und so ist halt ›Flip‹ daraus geworden. Mittlerweile könnte er Philipp sagen, tut es aber nicht, und da ist ›Flip‹ halt hängengeblieben. Sogar wir nennen ihn jetzt meistens so.«
»Danke, Mutti. Ab morgen wird mich hier wohl jeder nur noch Flip rufen.«
Warum eigentlich nicht, so schlimm war das doch nicht.
»Heh, immer noch besser als Philly, oder?«
Thomas hatte meine Gedanken gelesen. Seit wann konnte der das? Das war doch eigentlich eher meine Stärke.
»Wie wäre es mit Phil?«
Ach nee, Flip gefiel mir viel besser.
»Kommt nicht in Frage, das hört sich so alt an. Außerdem denke ich bei ›Phil‹ immer an Phil Collins – und dem siehst du nun wirklich nicht ähnlich. Zu deinem Glück.«
Und zu meinem eigenen natürlich. Gut, genannter Musikant gehörte definitiv zu meinen Lieblings-Tonerzeugern, aber vom Aussehen her konnte ich nicht das geringsten an ihm finden. Ganz im Gegensatz zu ›Flip‹. Letzterer ergab sich resignierend in sein Schicksal.
»Okay, okay. Kevy, das verzeih ich dir nie!«
Der kleine Bruder stand mittlerweile wieder auf eigenen Füßen und schien begeistert davon zu sein, daß er seinen großen Bruder in Verlegenheit gebracht hatte. Mutigerweise streckte er seine Zunge hinaus in die Kälte.
»Bäh!«
Bevor Philipp sich nun auf ihn stürzen und wer weiß was mit ihm anstellen konnte, rannte er schnell hinter seine Mutter und verbarg sich dort. Genannte Frau wiederum schaute sich etwas irritiert in der Gegend um.
»Sagt mal, wo bleibt eigentlich Veronika? Wieso trödelt die so herum nach Schulschluß?«
»Mutti, die trödelt nicht, deren Unterricht hat jetzt gerade erst aufgehört. Wir durften ein paar Minuten früher raus. Sie taucht bestimmt gleich hier auf.«
»Na dann ist ja gut. Stimmt, ich hatte mich gewundert, wieso ihr schon raus wart. Ich dachte schon, ich hätte mich in der Zeit geirrt.«
In diesem Moment öffnete sich die große Schultür, und ein Massen-Exodus setzte ein. Kurz darauf sahen wir Philipps Schwester in einer Gruppe ihrer Klassenkameraden. Als sie uns erblickte, winkte sie kurz, verabschiedete sich dann von ihrer Gruppe und wanderte zu uns herüber. Verfolgt von den Blicken der anderen, die sicherlich etwas überrascht waren, Thomas und besonders mich in Gesellschaft von ihrem Bruder zu sehen. Die Blicke waren teilweise neugierig, teilweise arrogant, amüsiert, aber auch schockiert. Interessante Mischung. Mittlerweile war Veronika bei uns eingetroffen.
»Hallo Mutti. Kevy.«
Letztgenannter heulte wieder empört los und beschwerte sich lautstark über die »Verunstaltung« seines Namens, ohne jedoch von irgendwem beachtet zu werden. Mir jedoch fiel auf, daß er seine Schwester lange nicht so begeistert begrüßte wie seinen Bruder (was ich problemlos nachvollziehen konnte ;-). Und als nächstes fiel mir auf, daß Veronika mich mit einem regelrechten Röntgenblick von oben bis unten musterte und mir am Ende fest in die Augen sah. Solch eine eingehende Musterung hatte ich noch nie erlebt, ich hatte fast den Eindruck, als wolle sie in die hintersten Winkel meiner Seele hineinschauen. Äußerst unangenehm, besonders wenn man nicht den Grund für dieses Vorgehen wußte. War das jetzt reines Interesse an dem »schwarzen Schaf«, an etwas Neuem? Oder was ging da in ihrem – zugegebenermaßen hübschen – Kopf vor? Eine Erklärung gab sie jedoch nicht ab.
»Können wir? Mir wird langsam kalt.«
Mit diesen Worten wandte sie sich ab und marschierte in Richtung Parkplatz.
»Huh, mein Töchterlein hat es aber eilig hier wegzukommen. Na gut. Also, Jungs, war nett euch kennenzulernen. Tschüß.«
Und Frau Stein folgte ihrer Tochter, Klein-Kevy an die Hand nehmend und mit sich ziehend. Blieb nur noch Philipp bei Thomas und mir zurück. Und auch der verabschiedete sich jetzt.
»Ich muß los. Ich fürchte, wir sehen uns hier morgen wieder. Ich meine, ich fürchte, daß wir uns hier wiedersehen. Nicht daß wir uns wiedersehen.«
Die Gehirne von Thomas und mir arbeiteten mal wieder im Gleichschritt, denn unsere Antwort erfolgte in Stereo.
»Bis morgen, Flip.«
Unser Gegenüber warf einen resignierten Blick gen Himmel, dann lächelte er uns noch einmal kurz an und eilte sodann seiner Familie hinterher. Das war nun auch für Thomas und mich das Zeichen, uns endlich auf den Heimweg zu machen. Zwei, drei Minuten wanderten wir schweigend nebeneinander her, dann stieß mir Thomas wieder einmal seinen Ellenbogen in die glücklicherweise dick gepolsterten Rippen.
»Gratuliere, Danny.«
»Au! Was meinst du?«
»Du hast dich gut gehalten in Philipps Gegenwart. Du hast dich nicht auf ihn gestürzt, dich ihm nicht an den Hals geworfen, hast keinen roten Kopf bekommen und sogar komplette Sätze rausgekriegt. Ich bin stolz auf dich.«
»Du hast ja keine Ahnung, wie schwer mir das gefallen ist.«
»Och, sag das nicht. Ich habe noch so eine ganz leise Erinnerung daran, wie es war, als ich mich das erste Mal in ein Mädel verguckt habe. Mir war abwechselnd heiß und kalt, ich habe gezittert und in ihrer Gegenwart kein einziges Wort herausgebracht.«
»Und, was hat deine Kindergarten-Erzieherin dazu gesagt?«
»Idiot! Kindergarten, was hältst du von mir?«
Thomas war stehengeblieben und schaute mich empört an.
»Kindergarten, also wirklich! Das war in der Kinderkrippe! Ich bin doch nicht so ein Spätzünder wie du. Aber naja, lieber spät als nie, oder?«
»Hauptsache nicht zu spät.«
»He, Philipp macht doch einen wirklich guten Eindruck.«
»Zu gut um wahr zu sein. Aber ich bin schon froh, daß er offensichtlich keine Probleme mit meinem Schwulsein hat.«
»Probleme? Mönsch, Danny, der Typ ist in dich verknallt! Vielleicht nicht ganz so heftig wie du in ihn, aber trotzdem.«
»Komm, Thomas, hör auf! Wenn ich schon kein ›Gaydar‹ habe, woher willst du es dann haben? Ich habe genau aufgepaßt, er hat keinerlei Signale gegeben. Philipp ist einfach nur auf der Suche nach Freunden an der neuen Schule.«
»Glaub was du willst. Auch ich habe genau aufgepaßt, und so wie Flip dich angeschaut hat, waren das für mich ganz eindeutige Signale. Ich seh euch zwei schon als Paar zur Abschlußfeier erscheinen.«
Hm. Ein äußerst erfreulicher Gedanke. Trotzdem. Ich war weiterhin der Meinung, daß da nichts war, was dieser Hoffnung irgendwelchen Nährboden geben könnte. Wir marschierten weiter, dann kamen wir an den Punkt, an welchem sich unsere Wege trennten.
»Danny, kann ich nachher zu euch rüberkommen? Für diese blöden Mathe-Hausaufgaben brauche ich Ruhe, und die finde ich zuhause garantiert nicht.«
»Okay, kein Problem. Willst du gleich mitkommen?«
»Nö, ich will erstmal ein paar Sachen loswerden, etwas essen und unter die Dusche springen. Ich komme dann so gegen vier, wenn dir das recht ist.«
»Klar. Also, bis dann.«
»Tschau.«
Den Rest des Weges legte ich in flottem Schritt zurück, und mir fiel auf, daß ich freiwillig eine ziemlich lange Zeit in der Kälte ausgehalten hatte. Und während wir mit Philipp zusammen waren, hatte ich diese Kälte nicht einmal gespürt! Oh Mann, was tat mir dieser Junge an!
Zuhause eingetroffen stellte ich fest, daß ich mutterseelenalleine war. Kein Tim, kein Reinhardt, keine Mutsch – niemand da. Einzig und allein ein Zettel auf dem Tisch, mit der Mitteilung, daß man einkaufen wäre. Schon wieder? Also Tims Schrankseite war eigentlich gut gefüllt. Naja, wie auch immer, ich nutzte die Zeit, um aus meinen Schulklamotten zu steigen und das zu tun, was auch Thomas angekündigt hatte: ich marschierte unter die Dusche und spülte mir den Schweiß des Tages vom Körper. Und auch dorthin verfolgten mich Bilder von unserem Neu-Sachsen – eine nähere Beschreibung der folgenden Tätigkeiten verkneife ich mir aus Gründen des Jugendschutzes…
Jedenfalls vergaß ich wie üblich unter dem warmen Wasser völlig die Zeit, und wurde dafür (ebenfalls wie üblich) bestraft. Sauber wie ein gelecktes Kätzchen und abgetrocknet verließ ich im Adamskostüm das Bad und betrat das vermeintlich leere Zimmer – ein großer Fehler, wie mir beim Anblick des in schallendes Gelächter ausbrechenden Tim sofort klarwurde.
»Haha, sag mal, Danny, du hast anscheinend doch eine exhibitionistische Ader! Oder warum zeigst du dich ständig nackt?«
Ich legte in Höchstgeschwindigkeit den Rückwärtsgang ein und schnappte mir ein Badetuch, welches ich (leider viel zu spät) um meine Hüften wickelte. Und mir wurde klar, daß ich jetzt zumindest moralisch in die Offensive gehen mußte.
»Du bist doch nur neidisch, daß du nicht so einen Modellkörper wie meinereiner hast, Tim!«
»Oh ja, das wird es sein!«
Ich beschloß das Thema zu wechseln, bevor es zu peinlich wurde.
»Sag mal, wo habt ihr euch denn heute schon wieder rumgetrieben? Einkaufen? Ich denke, ihr habt gestern alles erledigt.«
»Klamottenmäßig schon, aber Maria meinte heute, da sie jetzt drei hungrige, nimmersatte Mäuler zu stopfen hätte, müßten die Lebensmittelvorräte aufgestockt werden. Also waren wir alle zusammen im Supermarkt. Und du mußt wieder ziemlich lange unter der Dusche gestanden haben, wenn du nicht bemerkt hast, daß wir zurückgekommen sind. Wir haben nämlich eine ganze Weile gebraucht, um die ganzen Fressalien ins Haus zu schleppen und zu verstauen.«
»Okay, okay, schuldig im Sinne der Anklage.«
Ich beschloß, daß es an der Zeit wäre, das Badetuch durch etwas Angemesseneres zu ersetzen, und da ich natürlich vergessen hatte, vor meinem Ausflug unters Wasser frische Wäsche rauszusuchen, machte ich mich halt jetzt auf den Weg zum Schrank. Die Suche dort dauerte etwas länger als üblich, da durch die neue Ordnung im Schrank nichts mehr dort lag, wo es viele Jahre lang gelegen und sich mir solcherart im Gedächtnis eingeprägt hatte. Am Ende war ich doch erfolgreich, wanderte zu meinem Bett und begann, mich hausfein anzukleiden. Beim Reinschlüpfen in meine Boxershorts bemerkte ich plötzlich, daß mein Brüderchen ziemlich still geworden war. So gar nicht seine Art, zumindest, seit er sich einiges von seiner Schüchternheit abgewöhnt hatte. Auf jeden Fall beunruhigend, und ich warf einen forschenden Blick in seine Richtung. Tim saß auf seinem Bett und starrte mit ernstem Gesicht in die Luft. Höchst verdächtig.
»He, Tim, was ist plötzlich los mit dir?«
Die Antwort bestand einzig und allein aus einem tiefen Seufzer, und jetzt fing ich wirklich an, mir Sorgen um ihn zu machen. Also erhob ich mich und überwand mit wenigen Schritte die Entfernung von meinem zu seinem Bett, um mich dort dann neben ihn zu setzen.
»Tim, was ist? Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Nein.«
Ich grübelte hin und her, was so plötzlich in ihn gefahren sein könnte. Ich meine, eben scherzte er noch mit mir und lacht über mich, und jetzt auf einen Schlag hockte er völlig deprimiert in der Gegend herum. Waren das noch Nachwirkungen des Wohnungsbrandes? Konnte ich mir eigentlich kaum vorstellen, er machte in den letzten Tagen den Eindruck, als käme er ganz gut damit klar. Ich hatte also keine andere Wahl als weiterzubohren.
»Tim, ich hab dir mal gesagt, daß du mit mir über alles reden kannst. Also komm, keine Heimlichkeiten, was bedrückt dich? Du wirst sehen, wenn du drüber sprichst wird es gleich viel einfacher.«
»Das glaube ich nicht.«
»Versuch es einfach, okay?«
Tim, der bis jetzt starr aus dem Fenster gestiert hatte, drehte sich zu mir und blickte mir in die Augen. Seine eigenen waren längst nicht so funkelnd wie ich sie in den vergangen Wochen lieben gelernt hatte. Da schien wirklich etwas Heftiges in seinem niedlichen Kopf vorzugehen. Mein kleiner Bruder seufzte wieder, schien aber zu einer Entscheidung gekommen zu sein.
»Okay, wenn du meinst.«
»Na also. Schieß los.«
»Danny, erinnerst du dich noch daran, wie ich entdeckt habe, daß du schwul bist?«
»Wie könnte ich das je vergessen! Die Sache mit dem Bildschirmschoner war einer der häufigen Momente meiner geistigen Umnachtung.«
Tims Mundwinkel zuckten kurz nach oben, aber sofort wurde er wieder ernst.
»Weißt du auch noch, worüber wir uns danach unterhalten haben?«
»Ich denke schon, was genau meinst du?«
»Du hast mich gefragt … du hast mich gefragt ob ich … ob ich auch schwul bin.«
Volltreffer. Was da in Tims Kopf vorging, war wirklich von der heftigsten Sorte. Und auch durch mein Oberstübchen jagten jetzt die Gedanken. Was würde als nächstes kommen? Hatte ich etwa tatsächlich Chancen bei meinem Brüderchen?
»Stimmt. Und du hast geantwortet, daß du dir nicht sicher bist.«
»Genau.«
»Und?«
»Ich denke, ich weiß jetzt die Antwort.«
Jetzt war ich derjenige, der wie auf Kohlen saß. Egal wie die Antwort ausfallen würde, ich wollte es endlich wissen! Warum spannte er mich so lange auf die Folter?
»Danny, wärst du mir sehr böse, wenn ich nicht schwul wäre?«
Mist, falsche Antwort. Aber Tim deswegen böse sein? Okay, ein klein wenig Enttäuschung machte sich schon in mir breit, aber böse? Nein, also böse war ich ihm nun wirklich nicht. Genaugenommen war das ja eh nur die endgültige Bestätigung dessen was ich in den letzten Wochen mehr und mehr vermutet hatte.
»Mensch, Tim, wie kommst du da drauf? Warst du deswegen jetzt so down?«
»Klar! Ich meine, ich habe dich mit meiner Unsicherheit garantiert verwirrt, dir vielleicht sogar falsche Hoffnungen gemacht! Ich könnte dir nicht verübeln, wenn du jetzt wütend auf mich wärst.«
»Okay, mal ganz ruhig und zum mitschreiben. Tim, ich bin dir nicht böse, wenn du nicht schwul bist. Kein bißchen. Ich kann mir überhaupt kaum etwas vorstellen, weswegen ich dir böse sein könnte. Falls du kleiner Wirrkopf es noch nicht bemerkt haben solltest: ich liebe dich. Auch wenn es nur Liebe zu dir als Bruder sein kann.«
»Wirklich?«
»Wirklich. Tim, ich freu mich für dich. Nicht weil du nicht schwul bist, sondern weil du dir offensichtlich jetzt über dich selbst im Klaren bist.«
Kaum hatte ich das letzte Wort herausgebracht, als sich Tim auch schon in meine Arme warf.
»Danke, Danny, danke! Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Ich hatte befürchtet, du würdest mich jetzt fallenlassen.«
»Also jetzt sollte ich eigentlich schwer beleidigt sein. Hast du wirklich so eine geringe Meinung von mir?«
Das hätte ich mir lieber verkeifen sollen, denn aus den bisherigen Freudentränen wurden plötzlich richtige, traurige.
»Entschuldige bitte, ich weiß jetzt wie blöd und gemein es von mir war, das zu denken. Aber … aber ich hatte solche Angst dich zu verlieren, das hätte ich nicht überstanden!«
»Schon gut, kleiner Bruder. Ich verspreche dir, du wirst mich nie verlieren, okay?«
»Okay.«
»Gut. So, ich schlage vor du gehst ins Bad und machst dich ein wenig frisch. Ohne verheultes Gesicht siehst du nämlich viel hübscher aus.«
Endlich, da war es wieder, das schüchterne Lächeln, welches ich so an ihm mochte. Tim umarmte mich noch einmal kurz aber heftig, dann tat er, was ich ihm gesagt hatte und verschwand im Badezimmer. Was mir die Zeit gab, mich einerseits fertig anzuziehen und andererseits über das soeben geschehene nachzudenken. Mein niedliches Brüderchen stand also nicht auf Jungs. Wiedermal ein Rückschlag, was für ein Verlust. Für mich, meine ich. Für ihn sicherlich nicht. Und auch Reinhardt würde sich – trotz seiner tollen Akzeptanz mir gegenüber – darüber bestimmt nicht ärgern. Was blieb jetzt noch zu tun? Nicht viel, wenn ich es mir recht überlegte. Ich mußte es akzeptieren, und ich würde es auch akzeptieren können. Wie gesagt, eine wirkliche Überraschung war es ja nicht mehr gewesen. Okay, zumindest herrschten jetzt klare Verhältnisse, auch nicht schlecht. Auch wenn sie mir mit einem anderen Grundtenor besser gefallen hätten. Aber Schluß jetzt mit wenn und aber! Tims Rückkehr aus dem Bad riß mich passenderweise aus meinen Gedanken.
»Komm her und laß dich anschauen. Na also, so siehst doch gleich noch viel besser aus.«
Der Unterschied war wirklich sehr deutlich. Moment mal, da fiel mir etwas ein. Vielleicht sollte ich in Zukunft mit solchen Kommentaren etwas vorsichtiger sein.
»Sag mal, Tim, stört es dich, wenn ich solche Bemerkungen mache? Über dein Aussehen, meine ich.«
Jetzt lächelte er nicht mehr, jetzt lachte er!
»Nee, solange es sich um Komplimente handelt, habe ich damit keine Probleme!«
»Na dann bin ich ja beruhigt, was anderes wirst du aus meinem Munde eh nicht hören. Ich möchte bloß nicht, daß du dich irgendwie unbehaglich fühlst. Besonders wenn mir solche Dinge in Gegenwart anderer herausrutschen sollten.«
»Keine Bange. Danny, ich kann dich zwar nicht so lieben, wie du es vielleicht gerne hättest, aber ich liebe dich trotzdem als meinen großen Bruder. Und ich werde mich bestimmt nicht beschweren, wenn mir mein großer Bruder sagt, daß er mich gutaussehend findet.«
»Auch nicht, wenn er dich ›hübsch‹ oder ›niedlich‹ findet?«
»Niedlich? Also das muß ich mir erst noch überlegen. Ich bin immerhin bald siebzehn, da möchte ein Junge nicht mehr unbedingt ›niedlich‹ aussehen.«
»Tust du aber, tut mir leid. Zumindest in meinen Augen. Und ich denke mal, daß sich ab morgen noch einige Leute zur Schar deiner Bewunderer dazugesellen werden. Hauptsächlich natürlich Mädels. Was dich vermutlich nicht allzu sehr stören wird, oder?«
»He, ich weiß jetzt, daß ich auf Mädchen stehe. Das heißt aber nicht, daß ich mich gleich dem nächsten weiblichen Wesen an den Hals werfen werde!«
»Das will ich doch stark hoffen! Du bist jetzt mein Bruder, das heißt, daß alles was du tust im Endeffekt auch auf mich zurückfällt. Du mußt also nicht nur auf deinen sondern auch auf meinen guten Ruf achten. Übrigens, wie bist du eigentlich zu dem Wissen gekommen, daß du dir doch eher was aus Mädchen machst?«
»Naja, in den letzten Wochen habe ich viel darüber nachgedacht. Ich hatte dir ja erzählt, daß ich vorher eigentlich keinen Grund dazu hatte, das änderte sich als ich dich kennenlernte. Also habe ich hin- und herüberlegt, habe versucht herauszufinden ob ich lieber Mädchen oder Jungs anschaute, woran ich denke wenn ich mir … äh, naja, du weißt schon … He, grins nicht so dreckig, ich bin auch bloß ein hormongesteuerter Teenager!«
»Schon gut, schon gut! Ich lache dich nicht aus! Gerade bei dem Thema kann ich sehr gut mit dir mitfühlen.«
»Okay. Naja, so nach und nach wurde mir halt klar, daß ich mir nicht vorstellen konnte, es mit einem Jungen zu machen. Anfangs dachte ich noch, naja, vielleicht mit dir, aber später … mir wurde bewußt, daß ich dich auf eine andere Art liebe. Tja, und dann bekam ich Angst, daß du deshalb wütend auf mich sein könntest.«
»Tim, ich wäre wütend auf dich, wenn du mir zuliebe etwas tun würdest, was du eigentlich gar nicht tun möchtest.«
»Das ist mir schon klar. Jetzt. Wie auch immer. Ich weiß jetzt, was ich vom Leben will. Eine hübsches Mädchen und irgendwann eine Menge Kinder – für die du garantiert der beste Onkel der Welt sein wirst.«
»Wäre mir ein Vergnügen.«
»Tja, und dann stand ich vor der großen Gewissensfrage: sollte ich es dir sagen oder lieber nicht? Wie gesagt, ich hatte Angst, daß du mich dann ablehnen würdest, aber andererseits wollte ich vermeiden, dir vielleicht noch mehr falsche Hoffnungen zu machen. Den Rest der Geschichte kennst du.«
»Wirst du es auch deinem Vater sagen?«
»Paps? Wieso?«
»Naja, wir hatten vor ein paar Tagen ein kurzes Gespräch über dich. Nachdem wir am Sonntagmorgen zusammen im Bett vorgefunden worden sind. Er hat mich gefragt, ob du auch schwul bist.«
»Und, was hast du geantwortet?«
»Die Wahrheit: daß ich keine Ahnung habe. Und daß das etwas ist, was er lieber dich selbst fragen sollte.«
»Wie hat er reagiert?«
»Ganz cool. Er stimmte mir zu, hat sich sogar dafür entschuldigt, daß er mir überhaupt diese Frage gestellt hat. Und dann meinte er noch, daß ich dir im Falle eines Falles sagen sollte, daß er damit keine Probleme hätte und du dir keine Sorgen machen sollst.«
»Hätte ich auch nicht anders erwartet.«
»Ach ja, und noch was. Er sagte, daß er sich für uns freuen würde, wenn wir ein Paar werden würden.«
»Oh Scheiße, ich hoffe er ist jetzt nicht enttäuscht!«
»Glaube ich nicht. Ich denke, er wird im Gegenteil ganz froh sein zu hören, daß er doch auf Enkelkinder hoffen kann. Meine Mutter übrigens auch. Reinhardt wollte wohl nur klarmachen, daß wir uns auf keinen Fall Sorgen zu machen brauchen, egal was nun dabei rauskommt.«
»Na dann bin ich ja beruhigt. So, anderes Thema. Wie war dein Tag?«
»Hochgradig … interessant.«
»Positiv interessant oder negativ interessant?«
»Sowohl als ebenfalls.«
»Sprich, Pursche, und laß dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!«
»Und ich dachte immer, ich spreche mit dem Mund und nicht mit der Nase.«
»Aargh!«
»Schon gut, schon gut. In Kurzfassung: gefroren, gelangweilt, zu Sklavendienst gepreßt, Gott gesehen, Brett vor den Kopf bekommen, Hintern geprellt, erneut Gott gesehen, Hals über Kopf verliebt, vor der ganzen Schule geoutet, brutalen Angriff abgewehrt, beinahe hysterisch geworden, wieder beruhigt, in großes Geheimnis eingeweiht worden, wahre Freundschaft erlebt, erneut zu Sklavenarbeit verdonnert, mit Gott gescherzt und dann nach Hause gekommen. Den Rest kennst du.«
»Geht es eventuell ein winziges bißchen genauer? Ich habe zwar angeblich viel Phantasie, aber soviel nun doch wieder nicht.«
Also hatte ich keine Wahl, ich erzählte Tim, was ich so alles innerhalb weniger Stunden erlebt hatte. Ohne dabei jedoch meine »dunkle Vergangenheit« zu erwähnen. Irgendwann würde ich Tim sicher auch darin einweihen, aber nicht heute. Während dieser Erzählung klappte meinem Gegenüber abwechselnd die Kinnlade runter und die Augen traten aus den Höhlen. Als ich fertig war, starrte er mich groß an und wußte anscheinend nicht, was er dazu sagen sollte. Also ergriff ich selbst nochmals das Wort.
»Wie du siehst hatte ich einen aufregenden Tag. Übrigens, daß unsere Stellvertretende lesbisch ist, vergißt du bitte gleich wieder. Oder behältst es zumindest für dich, verstanden?«
»Äh, ja. Klar. Sag mal, das ist wirklich alles passiert? Du hast dir das nicht nur ausgedacht um daraus eine schöne dramatische Geschichte zu machen, zum Beispiel fürs Internet?«
»Was für eine Geschichte denn?«
Mir wurde mal wieder ein schelmisches Grinsen geschenkt. Gott war der Kleine süß! Ich würde höllisch aufpassen müssen, daß er nicht an die Falsche geriet.
»Tu nicht so, großer Bruder, ich kenne mittlerweile einige deiner Bookmarks. Nifty's Archiv, ASSGM, Nick's Stories… Muß ich noch deutlicher werden?«
»Mußt du nicht, danke! Aber um deine Frage zu beantworten, an meiner Beschreibung des heutigen Tages ist nichts gelogen und nichts dazuerfunden.«
»Okay, dann will ich dir mal glauben.«
Hm. Jetzt würde mich doch wirklich sehr interessieren, welche Webseiten er noch so besucht hatte. Oder hatte er gar meine riesige jpg-Sammlung auf der Festplatte gefunden? Naja, einen Vorgeschmack darauf hatte er ja bereits an unserem ersten gemeinsamen Nachmittag bekommen.
»So, und dieser Philipp ist wohl ganz dein Typ?«
Ich überlegte kurz was ich darauf antworten sollte, und als ich dann den Mund aufmachte wurde ich sofort unterbrochen.
»Laß, kein Wort, ich sehe es deinen Augen an. Mann, dich hat es ja erwischt! Und ich mache mir Sorgen, daß du wegen meiner Nichtverfügbarkeit in Depressionen verfällst!«
»Uh, naja, so ganz überraschend kam dein Hetero-Outing für mich nicht, ich hatte mir das schon irgendwie gedacht. Frag mich nicht warum, aber mir wurde von Tag zu Tag klarer, daß ich bei dir wohl keine Chancen haben würde.«
»Und da wirfst du dich gleich dem nächstbesten hübschen Jungen an den Hals?«
Ein schneller Blick in Tims Richtung zeigte mir, daß er diese Frage alles andere als ernst gemeint hatte.
»He, ich muß zusehen wo ich bleibe! Außerdem habe ich mich Philipp nicht an den Hals geworfen!«
»Noch nicht!«
»Genau.«
In diesem Moment wurde unser kleines Verbalgeplänkel durch die Haustürklingel unterbrochen.
»Das ist bestimmt Thomas, der will hier seine Hausaufgaben erledigen.«
»Wieso, braucht der deine Hilfe?«
»Nee, der braucht nur die hier meist herrschende Ruhe. Ich sage nur: drei jüngere Schwestern. Übrigens, nur zu deiner Information: die zu deinem Alter passende Schwester ist bereits vergeben.«
Diese Bemerkung brachte mir ein auf meinen Kopf zufliegendes Kissen ein, welches genau in dem Moment der Türöffnung durch Thomas sein Ziel erreichte. Durch eben diese Türöffnung war ich kurzzeitig abgelenkt, sodaß es für jede Ausweichbewegung zu spät war.
»Na warte!«
Ich stürzte mich auf Tim, und bedachte ihn mit der durch seinen Vater erprobten Therapie. Ich kann hier eidesstattlich versichern, daß meines Stievaters Sohn mindestens genauso kitzlig war wie ich.
Unterdessen hatte Thomas – von uns weitgehend unbemerkt und unbeobachtet, schließlich hatten wir anderes zu tun – das Zimmer betreten, und nahm die sich ihm bietende Szene in sich auf.
»Mist, und ich hatte gedacht, ich könnte hier in aller Ruhe den Mathe-Kram erledigen! Da kann ich ja eigentlich gleich wieder gehen, oder habt ihr hier noch irgendwo ein stilles Kämmerlein für mich?«
Ich beschloß, meine Attacke auf Tim zu beenden. Das war schließlich auch eine Sache, die ich bei aller Freude über die neue Familiensituation nicht vergessen durfte: Thomas war nun schon seit vielen Jahren mein bester Freund, und es wäre wirklich unfair, wenn ich ihm jetzt allzusehr meine Aufmerksamkeit entziehen würde. Klar, durch Reinhardts und Tims Auftauchen änderte sich hier im Hause einiges, und Thomas würde damit leben müssen, daß zumindest hier nicht mehr meine gesamte Aufmerksamkeit ihm gelten konnte. Aber ich würde mich bemühen müssen, einen allen gerechtwerdenden Mittelweg zu finden.
»Wir sind schon still, Thomas. Setz dich, ich komme auch gleich. Muß nur noch meine Sachen zusammensuchen.«
Mich von Tims Bett erhebend, schnappte mir meine Schultasche und was ich sonst noch brauchte, und setzte mich dann neben Thomas an den Schreibtisch, wo dieser bereits dabei war, seinen Kram auszubreiten. Ich warf einen schnellen Blick in Richtung meines Bruders.
»Sorry, Tim, aber Hausaufgaben gehen vor.«
»Kein Problem. Ich springe in der Zwischenzeit mal schnell unter die Dusche, die ganze Schlepperei heute war ziemlich anstrengend.«
»Tu das, du solltest eh raus aus den warmen Klamotten, sonst bekommt Mutsch Anfälle wenn sie dich voll bekleidet im gut geheizten Haus rumlaufen sieht.«
Ich wandte mich wieder dem Schreibtisch zu, und kurz darauf waren Thomas und ich in mathematische Probleme vertieft. Diese waren längst nicht so schwierig wie Thomas tat, aber der übertrieb bei solchen Dingen eh immer etwas. Jedenfalls waren wir zwanzig Minuten später durch und konnten uns gemütlich zurücklehnen. Alle anderen Lehrer hatten erfreulicherweise noch auf Hausaufgaben verzichtet.
»Was macht eigentlich Caren? Wie geht es ihrem Arm?«
»Es geht ihr gut genug, um alle anderen ständig auf Trab zu halten. Bring mir mal bitte dies, schalt mal bitte das ein, leg mal bitte die CD auf. Man könnte glatt glauben, sie hätte sich den Fuß und nicht den Arm verletzt. Ich bin ja einigermaßen weg vom Schuß, aber du kannst dir nicht vorstellen, was im Zimmer der Mädels abläuft! Die chinesische Idee der Ein-Kind-Familie wird mir immer sympathischer.«
»Äh, kleiner Hinweis: dann wärst du nicht auf der Welt. Wenn ich dich daran erinnern darf: du hast noch einen älteren Bruder.«
»Ja, schon, aber für so ein tolles Kerlchen wie mich hätte meine Eltern garantiert die entsprechende Strafe in Kauf genommen.«
»Naja, Einbildung ist auch 'ne Bildung. Sag mal, ist bei deinen Eltern eigentlich schon neuer Nachwuchs in Sicht?«
»Argh! Wenn sie mich endgültig von Haus und Hof vertreiben wollen – nur zu! Dann zieh ich eben bei euch ein.«
»Sorry, aber wir sind mittlerweile ausgebucht. Versuch es doch mal bei Christine. Ich denke, deren Eltern mögen dich so.«
»Klar tun sie das, wie könnten sie einem solchen Kavalier der alten Schule wie mir auch widerstehen. Aber dort einziehen? Nee, ich glaube nicht. Die haben einen riesigen Wolfshund.«
Thomas hatte panische Angst vor Hunden. Und zwar, seit er einmal von einem solchen gebissen wurde. Praktischerweise nicht etwa von einem seiner Körpergröße angemessenen, sprich: ordentlich großen Hund, nein, Thomas hatte sich einen winzigen Pekinesen ausgesucht. Mir war bis zum heutigen Tag nicht klar, wie dieses Wesen mit seiner zerknautschten Schnauze seine Minizähnchen in die Wade meines besten Freundes hatte schlagen können. Aber egal, seit diesem Tag machte Thomas um jeden Hund einen großen Bogen, egal ob dieser nun ein scharfer Schäferhund oder eine Miniausgabe à la bellendes Meerschweinchen war.
»Haha, sozusagen der Anstands-WauWau!«
»Das kannst du laut sagen. Solange der dabei ist, traue ich mich nicht einmal, Christine beim Nebeinandersitzen zu berühren.«
»Du ärmster. Was du alles für Opfer bringen mußt…«
Thomas wurde durch das Klappen der Badezimmertür einer Antwort enthoben.
»Bin wieder da!«
Während ich nun die Hefte und Bücher zuklappte, drehte sich Thomas zum wieder aufgetauchten Tim, schaute kurz auf die Uhr und dann wieder zu meinem Brüderchen.
»Du paßt wirklich gut zu Danny. Eine halbe Stunde unter der Dusche, da fehlt nicht mehr viel zu seinen üblichen Zeiten.«
»Wir sind halt ein sauberes Völkchen!«
»Ja, ja, wer's glaubt. Verratet mir mal, was ihr solange da drinnen treibt. Äh, halt, ich weiß schon…«
»Was!?!«
»Ich habe nichts gesagt! Nur … mit einem Mädel ist es schöner! Okay, Danny, für dich sicher mit einem Jungen.«
Das selbstgefällige Grinsen reichte quer über das gesamte Gesicht von Thomas. Tim, dessen Kopf kurzzeitig heftig errötet war, beschloß offensichtlich, daß es besser wäre, keinen großen Aufstand um die Sache zu machen, und kam zu uns rübergewandert.
»Na, Hausaufgaben fertig?«
»Yep.«
»Soll ich kontrollieren?«
»Haha, als ob du kleiner Wicht davon Ahnung hättest!«
Mein lieber Thomas, wenn du dich mit der Bemerkung mal nicht in die Nesseln gesetzt hast. Das kommt davon nicht zu wissen, daß man es mit einem 1,0-Schüler zu tun hat, egal ob nun ein Jahr jünger oder nicht.
»Wollen wir wetten?«
All meine subtilen Versuche, Thomas davon abzuhalten auf diesen Vorschlag einzugehen, blieben von diesem völlig unbemerkt.
»Klar! Worum wetten wir?«
»Wenn ich gewinne, also wenn ich bei dir einen Fehler finde, dann mußt du Philipp ansprechen und ihn fragen, ob er sich vorstellen kann, mit Danny auszugehen.«
Oh Gott, das meinte Tim doch nicht etwa ernst! Ich wollte doch gar nicht wetten, warum zog er mich also da mit rein?
»Tim, hör bitte auf! Wenn jemand Philipp anspricht, dann sollte ja wohl ich derjenige sein, oder?«
»Sorry, ich wollte dir nur helfen!«
»Danke, aber wie gesagt, das ist allein meine Sache, okay?«
»Okay. Also gut. Wenn ich gewinne, muß Thomas mir in der Schule zwei Wochen lang das Essen an den Tisch bringen.«
»Einverstanden. Und wenn ich gewinne, mußt du zwei Wochen lang Christine und mir den Hund abnehmen, wenn wir mit ihm Gassi gehen sollen.«
»Wie meinst du das?«
»Ganz einfach: wenn wir nachmittags zusammen losziehen wollen, müssen wir fast immer den Hund mitnehmen. Du triffst uns dann, nimmst uns für ein, zwei Stunden den Hund ab, sodaß wir unsere Ruhe haben, und bevor wir wieder einkehren, bringst du uns das Riesenviech wieder.«
»Okay. Ich liebe Hunde.«
»Ich nicht! Also los, schau dir die Sachen an und staune. Du findest garantiert keinen Fehler.«
»Wir werden sehen.«
Tim beugte sich über das Heft von Thomas und studierte aufmerksam, was wir da zusammengerechnet hatten. Naja, wenn er ein Hundefan war, konnte er ja eigentlich gar nicht verlieren. Andererseits wäre es gar nicht so schlecht, den guten Thomas mal von seiner Wolke etwas herunterzuholen. Obwohl, das würde bedeuten, daß auch ich Mist gebaut hatte. Während Tim nun alles durchforstete, wurde Thomas immer siegessicherer, bis … ja bis Tims Augen plötzlich aufleuchteten und seine Mundwinkel steil nach oben zuckten.
»Hier, die Aufgabe solltet ihr euch nochmal genauer anschauen.«
»Niemals!«
Der ungläubige Thomas, wie passend. Natürlich hatte Tim recht, wie wir nach einem kurzen Studium des Problems herausfanden. Am schlimmsten war, daß es kein Rechenfehler, sondern ein simpler Flüchtigkeits-Schreibfehler war. Aber wie auch immer, falsch blieb falsch.
»Herzlich willkommen in der Kellnerinnung, Thomas.«
»Ha, ha! Spotte du nur, du hast es ja auch nicht gemerkt. Eigentlich müßten wir uns die zwei Wochen bei der Bedienung von Tim abwechseln.«
»Nichts da! Ich habe schließlich nicht gewettet, du warst ja von der Idee so begeistert. Jetzt mußt du auch mit den Konsequenzen leben.«
»Wie siehts aus, Tim, kann ich mich da irgendwie rausreden?«
»Keine Chance.«
»Prima. Wißt ihr was, die Gegend hier ist mir zu gefährlich, ich verschwinde lieber, bevor ich mich in noch eine Blödheit reinziehen lasse.«
Die Köpfe von Tim und mir schossen hoch um zu ergründen, wie Thomas das gemeint hatte, dieser aber grinste uns an und wir waren beruhigt.
»War nicht so gemeint, Leute, aber ich muß wirklich los, sonst geht nachher wieder die Fragerei zuhause los, wo ich mich rumgetrieben habe. Wo doch meine arme Schwester todsterbenskrank darnieder liegt.«
»Was ist mit deiner Schwester? Welche überhaupt, Caren?«
»Yep, Caren. Ist eine längere Geschichte, laß sie dir am besten von Danny erzählen.«
Thomas packte seine Sachen und machte sich auf den Weg zur Zimmertür.
»Ihr braucht mich nicht runterzubringen, ich finde alleine raus. Also dann, bis morgen.«
Und weg war er.
»He, Danny, ich hoffe du bist mir nicht böse wegen der Sache mit dem Fehler.«
»Nein, wirklich nicht. War ganz lustig, ich denke, so bald wird dich Thomas nicht wieder unterschätzen.«
Ich schaltete den Fernseher ein, wir setzten uns auf mein Bett, und gerade als ich Tim fragen wollte, was wir mit dem angerissenen Tag anfangen wollten, klopfte es an die Tür, diese ging auf und meine Mutter schob einen weiteren Besucher ins Zimmer. Komisch, ich hatte die Türklingel gar nicht gehört.
»Jungs, ich habe euch jemanden mitgebracht. Ralph wollte gerade klingeln als Thomas das Haus verließ.«
»Hallo Danny, Tim. Ich hoffe, ich störe euch nicht.«
»Nö, komm nur rein, nimm Platz. Was gibts?«
»Äh, ich würde gerne mal ein paar Minuten mit Danny sprechen, wenn das okay ist.«
Ich schaute zu Tim, der zu mir, und er verstand den Wink.
»Ich geh dann mal kurz in die Küche und schau nach, ob ich was Eßbares finde.«
Jetzt mischte sich auch meine Mutter wieder ins Gespräch.
»Tim, könntest du dich da gleich mal anziehen und noch einen kurzen Weg erledigen? Ich habe gerade bemerkt, daß ich keine Milch mehr im Haus habe.«
»Kein Problem, ich muß mir bloß noch die Haare trocknen.«
»Oh, du warst wohl unter der Dusche? Dann wird das nichts mit dir, das dauert zu lange. Du bleibst hier. Ralph, kannst du das mit Danny auch unterwegs besprechen?«
»Äh, ja. Klar, kein Problem.«
»Dann los, Danny, zieh dich an. Du gehst mit Ralph zum Supermarkt.«
Also wieder raus in die Kälte, prima. Aber ich kannte meine Mutter, da gab es keine Diskussion, da mußte ich durch. Ich machte mich daran, meine Klamotten anzulegen, und schon eine halbe Stunde später war ich abmarschbereit. Na gut, ganz so lange hat es nicht gedauert. An der Haustür überreichte mir meine Mutter Geld und einen Einkaufszettel, denn natürlich war es nicht bei einem Karton Milch geblieben.
»Kann ich den Mercedes nehmen?«
»Na aber sicher! Träum weiter, Jungchen. Los, abmarsch, ich brauche die Milch! Und trödelt nicht auf dem Heimweg, nicht daß die Kartoffeln erfrieren.«
Irgendwie hatte ich das dumme Gefühl, daß ich auch nach bestandener Führerscheinprüfung niemals hinter dem Steuer ihres Lieblingsspielzeugs würde platznehmen dürfen. Also blieb Ralph und mir nur übrig, uns zu Fuß auf den Weg in den einige Straßen weiter befindlichen Supermarkt zu machen. Wir gingen ein paar Minuten schweigend nebeneinander her, einerseits hätte ich nun doch gerne gewußt, was Ralph auf dem Herzen hatte, andererseits wollte ich ihn aber auch nicht drängeln. Gerade als mir die Schweigerei zu lange dauerte und ich meinen guten Vorsatz sausen lassen wollte, fing Ralph an zu sprechen.
»Du, Danny, tut mir leid was heute in der Schule passiert ist.«
»Mir auch. Aber ich hoffe, daß es Matthias noch viel mehr leid tut.«
»Bist du mir böse, weil ich nichts gesagt habe? Ich meine, das hätte doch ein wenig den Druck von dir genommen.«
»Dir böse? Wieso? Hör mal zu: wem du es wann sagst, ist ganz allein deine Sache. Ich werde dir da bestimmt nicht reinreden. Ich weiß selber, was für eine Überwindung das kostet, und der Wunsch muß von dir selbst kommen.«
»Okay, danke. Ich weiß nicht, ob ich dazu schon bereit bin.«
»Wie gesagt, daß ist ganz allein deine Entscheidung. Aber was mich jetzt mal interessieren würde…«
»Ja?«
»Wie waren denn in deiner Klasse so die Reaktionen?«
»Unterschiedlich. Auf jeden Fall haben sich alle gefreut, daß dieser Idiot Matthias einmal an den Falschen geraten ist.«
Das konnte sich wirklich als positive Nebenwirkung herausstellen. Wie schon erwähnt hatte Matthias beinahe schon jeden an der Schule blöd angemacht, und wenn ich jetzt als derjenige gesehen wurde, der ihm einen gehörigen Nasenstüber verpaßt hatte, waren vielleicht einige bereit, über den eigentlichen Auslöser der Streiterei sprich über mein Schwulsein hinwegzusehen.
»Die Mädchen waren alle cool, wohl eher ein wenig enttäuscht, daß sie bei dir keine Chancen mehr haben.«
Aber hallo, seit wann war ich denn der große Mädchenschwarm an unserer erlauchten Lehreinrichtung? Noch dazu von Mädchen zwei Jahre jünger als ich. Hatten die sich wirklich Hoffnungen auf mich gemacht? Brrr, lieber gar nicht erst darüber nachdenken.
»Zwei oder drei Jungs haben einen auf Macho gemacht, den meisten war es aber schlicht und ergreifend völlig egal.«
Zwei oder drei potentielle Idioten pro Klasse, mit dem Schnitt konnte ich leben.
»Hört sich doch eigentlich ganz gut an. Wenn das in allen Klassen so aussieht, will ich mich nicht beschweren.«
»Hoffen wir das beste.«
Unterdessen waren wir beim Konsumtempel eingetroffen, füllten erst den Einkaufswagen, dann den Tragekorb, und schon waren wir wieder auf dem Rückweg.
»Sag mal, wie steht es eigentlich um dich und Christoph?«
»Ich fahr mit ihm und seinen Eltern dieses Wochenende zum Skilaufen.«
Ralphs Gesicht leuchtete förmlich vor Begeisterung. Naja, wer konnte ihm die verdenken. Ich hatte mal wieder eine heftige Neidattacke und konnte nur hoffen, daß mir selbige nicht anzusehen war.
»Also wirklich alles in Ordnung mit den jeweiligen Eltern?«
»Ja, alles super.«
»Und was ist mit Katja, macht die dir irgendwelche Schwierigkeiten?«
»Die traut sich nicht mal, mich oder Chris schief anzugucken. Unsere Eltern scheinen sie nach der Party voriges Jahr ziemlich zusammengestaucht zu haben.«
Geschah ihr recht. Und ich freute mich ehrlich für Ralph, daß er mit seinen alten Herrschaften solches Glück hatte. Mittlerweile waren wir wieder zuhause angekommen, wir hatten uns wie aufgetragen auf dem Rückweg besonders beeilt – naja, auch ich konnte erfrorene Kartoffeln nicht ausstehen. Und erst recht konnte ich erfrorenen Danny nicht ausstehen, und kalt war es tatsächlich mehr als mir lieb war.
»Danny, danke daß du Zeit für mich hattest, ich mach mich wieder auf den Heimweg.«
»Keine Lust, noch kurz mit reinzukommen?«
»Lust schon, aber keine Zeit. Chris kommt heute abend mit seinen Eltern zu uns, um das Wochenende abzusprechen.«
»Na dann, viel Spaß.«
»Danke! Tschüß.«
»Gleichfalls.«
Ich bog aufs Grundstück ein, öffnete die Haustür und lieferte meine Erwerbungen in der Küche ab. Gerade als ich aus der Jacke schlüpfen wollte, hörte ich einen Aufschrei, der ganz nach meiner Mutter klang.
»Danny! Hast du keine Eier mitgebracht?«
»Nein, wieso? Die standen doch nicht auf dem Zettel.«
»Mist! Ihr wart kaum weg, da sind mir die letzten drei aus der Hand gefallen. Mir war aber so, als hätte ich Eier aufgeschrieben, bist du dir sicher, daß da nichts auf dem Zettel stand?«
»Nein! Hier, ich hab ihn noch, schau nach!«
»Ja, ja, ich glaubs dir ja. Verdammt, jetzt weiß ichs wieder. Die standen auf dem Zettel von heute vormittag. Und wir haben sie genau wie die Milch vergessen.«
»Super Arbeit, Mutsch. Da schreibt ihr extra einen Zettel und vergeßt sogar das, was da drauf steht.«
»Ich weiß genau was du jetzt sagen willst, verkneif es dir lieber! Komm mir jetzt bloß nicht mit beginnender Alzheimer. Tut mir leid, aber du mußt nochmal los. Zum Abendbrot soll es Eiersalat geben, und ohne Eier klappt das nicht.«
»Du bist durchschaut! Du machst das extra, um mich in der Kälte vor die Tür jagen zu können.«
»Das würde ich dir doch niemals antun! Ich hätte euch ja noch hinterhergerufen, aber ihr wart schon zu weit weg.«
»Ausreden, Ausreden. Weißt du was, schenk mir doch ein Handy, da kannst du mich dann jederzeit erreichen. Und ich erspare mir doppelte Wege.«
»Soweit kommt das noch! Du rufst dann ständig 0190er Sexnummern an, und ich soll es bezahlen.«
»Mist, durchschaut!«
»Genau. Also los, schieb ab.«
Was blieb mir anderes übrig? Ich machte mich wieder auf den mittlerweile gut bekannten Weg. Im Supermarkt kontrollierte ich mit Argusaugen den Zustand der Eier, dann begab ich mich zur Kasse, wo mir die Kassiererin einen ähnlichen Blick zuwarf wie am Vormittag Frau Möller. Zur Erinnerung: Du schon wieder? Ich zuckte mit den Schultern und griff aus der Süßwaren-Kassenauslage noch zwei Überraschungseier für Tim und mich. Schließlich hatte Mutti mich losgeschickt um Eier zu kaufen, woher sollte ich wissen, was für Eier sie genau meinte? Ich verzichtete diesmal jedoch darauf, die »ans-Ohr-halten-und-schütteln-Probe« zu veranstalten, die ich manchmal aufführte, um den (absolut falschen) Eindruck zu vermitteln, ich wüßte was ich da tue. Kurz darauf war ich wieder unterwegs nach hause, dabei besonders auf vereiste Stellen achtend, schließlich wollte ich die zerbrechliche Fracht heil in den heimatlichen Küchentrakt bringen. Nicht daß ich etwa noch ein drittes Mal losgeschickt würde.
Alles ging trotz der Glätte glatt, und diesmal fiel meiner Mutter auch kein Grund ein, mich nochmals loszuschicken. Nachdem ich mich aus Jacke, Schal, Mütze, Handschuhen, Schuhen usw. befreit hatte, holte ich mir die erkämpften Überraschungseier, milde belächelt von meiner Frau Mama.
»Es gibt also doch noch kleine Kinder im Haus.«
»Ich sollte Eier kaufen, das habe ich gemacht.«
»Schon gut. Hast sie dir ja auch verdient. Ich hoffe, eines davon ist für Tim?«
»Allerdings. Übrigens, wo ist eigentlich Reinhardt? Sag bloß nicht, daß du den auch irgendwo vergessen hast.«
»Also ganz so vergeßlich bin ich nun wirklich nicht! Er ist bei einem Bekannten und holt sich die BackUp-Daten von seinem Computer.«
Stimmt, irgendsowas hatte er mal angedeutet. Zum Glück war Reinhardt schlau genug gewesen, die Resultate seiner Arbeit nicht nur der heimischen, durch den Brand gut gelöschwässerten Festplatte anzuvertrauen, und hatte einen zweiten Datensatz sicher ausgelagert. Der Verlust des Computers war zu verschmerzen, mit den Daten wäre es ein ganz anderes Kaliber gewesen.
»Er müßte eigentlich bald hier auftauchen.«
»Sag mal, warum hast du ihn eigentlich nicht angerufen und ihn gebeten, die Einkäufe auf dem Heimweg zu erledigen? Er hat schließlich ein Handy!«
»Sei nicht so, Reinhardt hat genug um die Ohren. Außerdem hättest du dann nicht diese beiden Schokoeier.«
»Stimmt. Reinhardt hätte Tim und mir viel mehr mitgebracht.«
»Es reicht, Danny. Schieb ab, bevor ich dich zum Küchendienst einteile.«
Das war nun allerdings ein Argument. So schnell war ich noch nie aus der Küche geflüchtet und die Treppe hinaufgerannt. Ich riß die Zimmertür auf und erschreckte auf diese Weise einen am Computer beschäftigten Tim.
»Was ist denn mit dir los, du siehst ja aus, als wäre der Leibhaftige hinter dir her!«
Womit mein kleines Brüderchen gar nicht so weit daneben lag.
»Hier, ich hab dir was mitgebracht.«
Ich drückte Tim das Überraschungsei in die Hand, und irgendwie schien meine Mutter recht zu haben: er freute sich tatsächlich wie ein kleines Kind. Wenn es so einfach war ihm eine Freude zu machen, konnte er das gerne täglich haben.
Auch ich machte mich daran, mich überraschen zu lassen, und kurz darauf waren wir damit beschäftigt, billigstes Spielzeug zusammenzubasteln. Der Rest des Tages verging sehr ruhig, bald tauchte Reinhardt auf, es gab Abendbrot, ich gönnte mir nach des Tages kalten Lasten ein ausgiebiges heißes Bad, und kurz nach zehn lagen Tim und ich in den Federn. Der folgende Tag versprach wieder interessant zu werden, und ich freute mich ein wenig darüber, daß nunmehr auch Tim nicht mehr darum herumkommen würde, die heiligen Hallen meiner Lehranstalt aufsuchen zu müssen. Überraschenderweise konnte ich trotz der Ereignisse des Tages schnell einschlafen, dabei nur geschlagen von Tim, der anscheinend in der Lage war, sich einfach hinzulegen und im nächsten Moment fest einzuschlummern. Zumindest wenn sein Geist nicht durch irgendwelche Katastrophen belastet war.
Neuer Tag – neues Glück. Mittwoch. Das bedeutete einen verplanten Nachmittag, denn dieser Wochentag wurde vor allen Dingen durch mein wöchentliches Karatetraining geprägt. Was dummerweise mit Tims Schwimmtraining zusammenfiel. Warum dummerweise? Ganz einfach: keine Möglichkeit für den großen Bruder, den kleinen Bruder vom Training abzuholen und bei dieser günstigen Gelegenheit gierige Blicke auf leichtbekleidete, atemberaubende Wasserratten zu werfen. Meine Kampfkunst-Kollegen waren diesbezüglich … naja, da ich niemandem zu nahe treten möchte, verkneife ich mir eine genauere Beschreibung. Vielleicht sollte ich mal diesbezügliche Werbung unter den Schönheiten der Umgebung machen. Eventuell hatte ja Philipp Interesse… Träum weiter, Danny. Oder besser gesagt: wach auf, Danny!
Diesmal folgte auf das Wecksignal und meine üblichen Morgenverrichtungen im Unterschied zu den Vortagen die erfreuliche Möglichkeit, Tim aus den Federn zu schmeißen. Was dieser mit deutlichem Gegrummel quittierte – was ich wiederum mit deutlichem Entzücken quittierte. Moment mal, habe ich gerade »Entzücken« gesagt? Mein Gott, wie schwul! Wie auch immer. Kurze Zeit später saß ich am Frühstückstisch, und als ich gerade fertig war, meinen Energiebedarf zumindest ansatzweise zu befriedigen, tauchte auch mein Brüderchen in der Küche auf – nicht viel munterer als eine Viertelstunde zuvor meine Wenigkeit.
»Danny, ich hasse dich! Wie konntest du mich nur aus dem schönsten Traum reißen!«
»Darf ich das Kompliment weitergeben? Mutti, ich hasse dich! Wie konntest du mich nur aus dem schönsten Traum reißen!«
»Hilfe, muß das sein! Es war schon schlimm genug, einen frühmorgens in die Gänge und auf den Schulweg zu bringen, Tim, du jetzt nicht auch noch!«
»Genau, Mutti hat recht. Ich denke, du magst die Schule.«
»Ja, aber erst wenn ich dort bin. Das Aufstehen mag ich überhaupt nicht.«
»Dann beschwer dich bei der Schulleitung und beantrage einen späteren Unterrichtsbeginn. Ich kann nichts dafür, und dein Bruder auch nicht.«
»Schon gut, schon gut. Ich werde mich in Zukunft zusammenreißen.«
Ich stürzte den letzten Schluck Tee die Speiseröhre hinunter, dann schaute ich zu meiner Mutter, die wiedereinmal mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen die Essensmengen beobachtete, die sich Tim auf den Teller schaufelte. Und die sich nicht sonderlich von den Mengen unterschieden, die ich nur wenige Minuten vorher bereits ihrer Bestimmung zugeführt hatte.
»Mutsch, wann habt ihr heute eigentlich den Termin mit Frau Möller?«
»Halb zehn.«
»Kommt Reinhardt auch mit?«
»Ja, der will sich natürlich auch mal das Höllenloch anschauen, in welches sein Sohn eingewiesen wird.«
Oh, sie war lernfähig! Meine gute Frau Mama benutzte bereits die von mir eingeführte Terminologie. Ob das allerdings Tims ersten Tag in eben diesem Höllenloch einfacher machen würde, wagte ich zu bezweifeln. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte mir jedoch, daß ich keine Zeit hatte, das Thema weiter zu vertiefen, also stand ich auf und marschierte in den Korridor, wo ich in der üblichen mühsamen Prozedur meine Winterklamotten anlegte. Fertig zum Start kehrte ich nochmals in die Küche zurück, warf ein »Bis nachher« in den Raum, mauste mir von Tims Teller ein frisch geschmiertes Marmeladenbrötchen und verließ unter lautstarkem Protest des Bestohlenen und ebenso lautstarkem Gelächter meiner Mutter Küche und Haus.
Auf dem Weg zur Schule kamen wieder die Erinnerungen an das, was am Vortag abgelaufen war, in mir hoch, und natürlich beschloß mein pessimistisch eingestelltes Unterbewußtsein, mir alle möglichen und unmöglichen unschönen Situationen vorzuspielen, die eventuell eintreten könnten. Wunderbar. Zum Glück war der Schulweg nicht zu lang, ansonsten wäre ich wohl völlig deprimiert am Ziel der Latscherei angekommen. Der Schulhof war leer, die große Tür stand leicht offen, also rettete ich mich so schnell es ging ins warme Gebäude. Als erste Stunde war heute Physik angesagt, was nicht unbedingt meine Bemühungen munter zu werden unterstützen würde. Am Veranstaltungsort eingetroffen, sah ich, daß bereits einige Mitsträflinge anwesend waren, und ich begrüßte diese. Was ganz normal ablief, kein Unterschied zu der Zeit vor dem großen Matthias-Knall festzustellen. Kaum hatte ich meinen Platz neben Thomas eingenommen, da kam auch schon Lisa ins Zimmer gestürzt und stand einen Augenblick später vor uns.
»Hallo Leute.«
Sie japste ja regelrecht. Sie war doch nicht etwa gerannt? Im Schulgebäude! Das paßte nun so gar nicht zur ansonsten so braven Lisa. Wobei ich »brave Lisa« eigentlich in Anführungszeichen setzen sollte. Was hiermit geschehen ist.
»Hört mal, der blöde Matthias hat sich gestern das Schlüsselbein gebrochen!«
Na aber hallo! Die Bausubstanz unserer altehrwürdigen Schule schien doch tatsächlich noch in besserem Zustand zu sein, als der erste Anblick vermittelte. Aber Lisa war noch nicht am Ende mit ihren Neuigkeiten.
»Seine Eltern haben einen Riesenaufstand gemacht. Erst sind sie zur Möllerin, aber die hat ihnen erzählt, wie es sich wirklich abgespielt hat, und sie somit abblitzen lassen. Damit waren die aber ganz und gar nicht einverstanden, also sind sie noch zum Schulrat – nur um sich dort die nächste Abfuhr einzufangen.«
Die gute Lisa war wie immer ein sprudelnder Quell von schulischen Insiderinformationen. Keiner von uns wußte, woher sie diese Einblicke hatte, aber diese trafen eigentlich immer genau ins Schwarze. Es gab keine bekannten verwandtschaftlichen Verbindungen zwischen Lisa und irgendeinem Schulangestellten, also war Lisas Wissen eines der großen ungelösten Rätsel unserer Zeit.
»Und, zu wem gehen sie jetzt? Zum Kultusminister?«
Mir hüpfte das Herz quer durch die Brust. Der Fragesteller war kein geringerer als Philipp.
»Bring die lieber nicht auf dumme Gedanken. Unser lieber Danny dürfte so schon nervös genug sein.«
»Ich? Nervös? Du solltest mich eigentlich besser kennen, Thomas.«
»Sorry, stimmt. Du bist natürlich nicht nervös sondern nur völlig hysterisch vor Angst.«
»Hysterisch und Angst. Im Gegensatz zu dir gibt es diese Worte in meinem Sprachschatz überhaupt nicht. Ich mag vielleicht die Hosen voll haben, aber ich bin weder hysterisch, noch habe ich Angst.«
»Jetzt wo du es sagst: es riecht hier wirklich etwas seltsam.«
Das nun folgende Gejohle wurde erst durch das Eintreten von Herrn Tröger unterbrochen. Dieser versprühte seinen üblichen »Elan«, diesmal zu allem Überfluß auch noch verbunden mit schlechter Laune.
»Hinsetzen, aber ein bißchen plötzlich! Wie üblich, die Herren Kupfer und Thom. Daniel, hast du gestern nicht schon genug Schaden angerichtet, könntest du dich nicht wenigstens jetzt mal etwas zurückhalten!«
Was hatte denn olle Tröger heute gestochen! Er sah mir anscheinend meine Verwunderung an.
»Wegen dir hat die Rugby-Mannschaft von meinem Sohn ihren besten Spieler verloren!«
Tröger hatte einen Sohn? War zur Zeugung nicht wenigstens ein Mindestmaß an Energie notwendig? Hätte ich der ollen Trantüte gar nicht zugetraut. Ach was, der Junge war bestimmt adoptiert. Aber halt, was hatte der gerade gesagt? Das konnte ich nun wirklich nicht unkommentiert stehenlassen.
»Was kann ich dafür, wenn sich Matthias an die Wand ranschmeißt. Hat sie wohl mit seiner Freundin verwechselt. Obwohl, da fällt mir ein, er hat ja gar keine Freundin. Woran das wohl liegen mag.«
»Ich … ich … Du weißt ganz genau, was ich meine! Und jetzt Schluß, holt eure Bücher raus, wir können es uns nicht leisten, noch mehr Zeit zu verplempern.«
Ich nutzte das nun folgende allgemeine Gekrame in den verschiedensten mitgeführten Taschen, um einen kurzen Blick in die Runde zu werfen – und erblickte überall grinsende Gesichter. Thomas zeigte mir den hochgereckten Daumen – viel interessanter war jedoch das Victory-Zeichen, welches mir Flip zugedachte. Tja, Tröger null, Danny eins.
Der Rest der Stunde verging wie üblich ziemlich langsam, allerdings waren die ganze Zeit überall hochgezogene Mundwinkel zu sehen, was den Herrn Lehrer alles andere als erfreute. Aber je wütender dieser wurde, umso mehr amüsierte sich die Zuhörerschaft. Am Ende kam es soweit, daß immer wenn er sich zur Tafel drehte leises Gekicher zu hören war. Keine Ahnung wie das noch weitergegangen wäre, vielleicht wäre selbst die Schlafpille Tröger irgendwann explodiert, aber bevor dies passieren konnte, wurden wir alle von der Pausenklingel erlöst. Normalerweise waren in solchen Situationen die Schüler diejenigen, die fluchtartig den Raum verließen – diesmal war es jedoch der Lehrer, der gar nicht schnell genug aus unserer Gegenwart verschwinden konnte. Mit dem Ergebnis, daß in dem Moment, in welchem die Tür hinter ihm zufiel, aus dem leisen Gekicher lautstarkes Gelächter wurde. Im nächsten Augenblick spürte ich einen heftigen Schlag auf den Rücken.
»Gut gemacht, Danny! Noch ein paar solche Bemerkungen, und Tröger ist reif für die Irrenanstalt.«
Naja, also so was Besonderes hatte ich ja nun wirklich nicht von mir gegeben. Daß das so einen großen Eindruck auf Tröger gehabt haben sollte, konnte ich mir nicht so richtig vorstellen. Da mußte wohl noch irgendwas anderes vorgefallen sein. Ich beschloß, mich zukünftig ihm gegenüber ein wenig zurückzuhalten – nicht aus Mitleid mit ihm, sondern aus Mitleid mit seinen potentiellen Mitinsassen ;-)
Der Schultag ging so weiter wie er begonnen hatte. Alles in allem schien sich durch mein erzwungenes Coming Out nicht viel für mich geändert zu haben, zumindest auf den ersten Blick. Davon abgesehen, daß ich das Gefühl hatte, von allen angestarrt zu werden, gab es vorläufig keinerlei Reaktionen der versammelten Schülerschaft. Auch keiner der Lehrer sprach die »Sache« an. So richtig wußte ich nicht, was ich davon halten sollte. Sollte ich mich nun darüber freuen? Oder war das nur ein Zeichen vorübergehender Verdrängung, stand der große Knall noch bevor?
Aber Moment mal, ich machte mir doch tatsächlich wieder viel zu viele Sorgen über die falschen Dinge. Ich sollte lieber darüber nachdenken, wie ich Philipp »erobern« könnte. Kleiner Scherz, leider. Ich konnte hochzufrieden sein, daß er mich ganz offensichtlich als Freund akzeptierte. Andererseits … was wenn Thomas richtig gelegen hatte? Blöderweise hatte meine Fähigkeit, die Gedanken anderer Leute zu lesen, gerade immer im entscheidenden Augenblick Aussetzer.
In der Pause vor der Englischstunde hielt ich Ausschau nach meiner geliebten Familie, und tatsächlich entdeckte ich Tim und unsere beiden alten Herrschaften, wie sie den Weg zum Sekretariat zurücklegten. Genaugenommen entdeckte ich hauptsächlich Reinhardt, der die zwischen uns herumlaufenden Schüler wie ein Feuerwachturm überragte. Ich bahnte mir meinen Weg zu ihnen und begrüßte mein Brüderchen in der Schule, die auch für ihn auf absehbare Zeit sein Schicksal darstellen würde. Und ich konnte mir nicht helfen, so wirklich begeistert schien er mir trotz aller gegenteiliger Beteuerungen nicht zu sein.
Wir unterhielten uns noch kurz, dann schaute meine Mutter auf die Uhr und drängte zum Aufbruch.
»Tim, wir müssen los, sonst kommen wir zu spät. Danny, du mußt doch bestimmt auch zu deiner nächsten Stunde.«
Und weg waren sie. Ich marschierte wieder in Richtung meiner eigenen Klasse. Das heißt, ich wollte dorthin marschieren, wurde aber unterwegs aufgehalten, indem man mich von hinten an der Schulter festhielt.
»He, Danny, kennst du den Typen?«
Na das war ja mal interessant! Da hatte Tim wohl gleich bei seinem ersten kurzen Auftritt für Aufsehen gesorgt. Und es kam noch besser, das Mädchen, welches da so großes Interesse an meinem Brüderchen hatte, war niemand anderes als die kleine Schwester von meinem großen Interesse! Da taten sich ja einige Möglichkeiten auf.
»Tim ist mein Bruder. Wieso?«
Jetzt zeigte sich, daß nicht nur ich rot werden konnte. Die gute Veronika schien dafür auch etwas anfällig zu sein.
»Äh … nichts, schon gut.«
Ich zuckte mit den Schultern und wollte meinen Weg fortsetzen, aber Flips Schwester rang sich dazu durch, doch noch etwas Neugier zu zeigen.
»Warte mal, Danny. Ist dein Bruder, äh … du sagst er heißt Tim? Gut. Ich meine, ist er … ist er auch … naja, du weißt schon!«
Das wurde immer besser. Beinahe wie bestellt. Jetzt war die große Frage, ob ich Tim gleich an seinem ersten Tag hier verkuppeln sollte.
»Tim steht auf Mädchen, falls es das ist, was du wissen möchtest. Auf welchen Typ er genau steht, kann ich dir allerdings nicht sagen, also auch nicht, ob du bei ihm eine Chance hättest.«
»Quatsch! Ich … ach laß mich doch in Ruhe!«
Das sagte wohl alles. Falls sie bei meinem Bruder landen sollte – und ich bei ihrem Bruder – dann standen uns wohl wirklich ziemlich komplizierte Familienverhältnisse ins Haus. Um ehrlich zu sein, würde es mich nicht wundern, wenn es zwischen Tim und Veronika »funken« würde, schließlich waren beide alles andere als häßlich.
Aber jetzt wurde es wirklich langsam Zeit, daß ich mich wieder dem schulischen Alltag zuwendete, also grinste ich Philipps Schwester noch einmal herausfordernd an, dann verzog ich mich in Richtung Englischunterricht.
Der Rest des Schultages verlief ereignislos, wenn man mal davon absah, daß Flip mehr oder weniger ständig in der Nähe von Thomas und mir zu finden war. Mir wollte es allerdings nicht gelingen, den genauen Grund dafür herauszufinden. War er einfach froh, ein paar neue Freunde gefunden zu haben, oder ging sein Interesse tatsächlich weiter als das? In der Mittagspause saßen wir wieder alle gemeinsam an unserem Stammtisch, nur Veronika hatte sich heute zu ihren eigenen Klassenkameraden gesetzt. Das gab mir die willkommene Gelegenheit, ihren Bruder darüber zu informieren, daß sie ein ziemlich großes Interesse an Tim gezeigt hatte.
»He, Flip, ist Veronika sehr hinter den Jungs her?«
»Nein, wieso?«
»Naja, sagen wir mal so: deine kleine Schwester zeigte heute ein ziemlich großes Interesse an meinem kleinen Bruder.«
»Was? Ich denke, dein Bruder wird heute erst hier angemeldet?«
»Genau, und dabei ist er deiner Schwester über den Weg gelaufen. Und als sie mitbekommen hat, daß ich ihn kenne, hat sie mich anschließend gleich zur Seite genommen und versucht über ihn auszufragen. Allerdings war sie doch etwas erschrocken, als sie hörte, daß Tim mein Bruder ist.«
»Ist ja interessant. Um deine Frage zu beantworten: normalerweise ist sie eher zurückhaltend. Sie ist einmal gewaltig reingefallen, und seitdem ist sie besonders vorsichtig. Dein Bruder muß einen ziemlich guten ersten Eindruck bei ihr hinterlassen haben.«
»Das kann ich gut nachvollziehen, hat er bei mir auch.«
»Wie meinst du das?«
»Sagen wir mal so, ich habe mir eine Zeit lang auch Hoffnungen auf ihn gemacht.«
»Auf deinen eigenen Bruder?«
Ups, stimmt ja, so weit waren wir ja bisher in meine Familiengeschichte nicht vorgedrungen. Das sollte ich wohl lieber ganz schnell nachholen, bevor der gute Philipp mich noch für einen inzestiösen Perversling hielt.
»Tim ist genaugenommen nur mein Stiefbruder, wobei ich dich bitten würde, das so schnell wie möglich wieder zu vergessen. Er ist mein Bruder, Punkt. Aber ich habe ihn erst vor ein paar Wochen kennengelernt, und meine erste Reaktion auf ihn war derjenigen deiner Schwester ziemlich ähnlich.«
»Ach so, alles klar. Aber er ist hetero, oder?«
»Yep, hoffnungslos richtigrum. Naja, je nachdem von welchem Standpunkt aus betrachtet. Für mich ist er leider falschrum.«
»Solo?«
»Zur Zeit ist er zu haben, ja. Wieso, willst du die beiden verkuppeln?«
»Naja, wenn die beiden sich mögen, wäre das nicht schlecht. Veronika könnte dringend einen Freund gebrauchen, nach dem Fiasko mit Frank hat sie sich diesbezüglich ziemlich in sich selbst zurückgezogen.«
Hm, ich könnte auch dringend einen Freund gebrauchen. Aber da war noch eine Frage bezüglich unserer jüngeren Geschwister zu klären.
»Sag mal, du scheinst ja ziemlich überzeugt davon zu sein, daß ihr mit Tim kein solches Fiasko droht, und dabei kennst du ihn noch gar nicht.«
»Hm, ich habe einfach mal vom großen Bruder auf den kleinen geschlossen.«
Na aber hallo! Deutete ich da jetzt zuviel hinein, oder versuchte Flip mit mir zu flirten?
»Allerdings habe ich da nicht bedacht, daß ihr ja nicht zusammen aufgewachsen seid und daher schwer zu vergleichen.«
»Stimmt. Aber ich kann dir versichern, daß Tim kein Risiko für Veronika darstellt. Er ist selbst ziemlich schüchtern und unsicher, und ich glaube, das schlimmste, was er sich vorstellen kann, ist jemand anderem wehzutun.«
»Gut das zu wissen. Und wie steht es diesbezüglich um seinen großen Bruder?«
Ich schaute meinen Gegenüber durchdringend an, konnte aber immer noch nicht feststellen, worauf genau er hinauswollte. Okay, vielleicht war es ja tatsächlich an der Zeit, etwas mehr preiszugeben.
»Sein großer Bruder ist nicht ganz so schüchtern, nicht ganz so unsicher, und wenn es notwendig ist, tut er auch mal jemand anderem weh. Es gibt aber eine Sache, in der es dem großen Bruder ganz genau so wie dem kleinen Bruder geht.«
»Und die wäre?«
»Auch der große Bruder ist noch zu haben.«
Das provozierte ein Lächeln auf Philipps Gesicht, und wer weiß was noch passiert wäre, wenn … ja wenn es nicht blöderweise Zeit gewesen wäre, zur nächsten Stunde aufzubrechen, was Katja in diesem Augenblick lautstark verkündete. Also blieb uns nichts anderes übrig, als die so vielversprechend ablaufende Unterhaltung zu unterbrechen und uns wieder den Niederungen des Schulalltags hinzugeben. Und wir kamen auch nicht mehr dazu, an diese Unterhaltung anzuknüpfen, die Pausen waren zu kurz und zu hektisch, und nach Schulschluß mußte ich die Beine in die Hand nehmen, um pünktlich erst nach Hause und dann zum Training zu kommen. Außer einer schnellen Verabschiedung unter den Augen vieler Klassenkameraden ergab sich keine Gelegenheit mehr, mit Philipp zu sprechen. Das Leben konnte schon grausam sein… Aber zumindest machte es den Anschein, als ob ich auf dem richtigen Weg wäre … Moment mal, ich werde doch hier nicht etwa zum Optimisten mutieren?
Naja, wie auch immer. Ich stürzte Richtung Heimat und schwang mich dann aufs Fahrrad und fuhr zum Training – jaja, Danny im Winter auf dem Fahrrad, allein beim Gedanken daran fing ich an zu frieren. Aber das war die einzige Möglichkeit, rechtzeitig im Dojo zu erscheinen. Das Training selbst war anstrengend und diesmal ziemlich schmerzhaft. Irgendwie waren meine Gedanken nicht so ganz bei der Sache, und das rächte sich mehrfach mit durchkommenden gegnerischen Aktionen – was lauter überraschte Gesichter hinterließ. Weder meine »Gegner« noch der Lehrer waren solche »Ausfälle« bei mir gewöhnt, und ich stand kurz davor, aus der Sitzung rauszufliegen. Gerade noch rechtzeitig riß ich mich zusammen, obwohl ich trotzdem nicht in der Lage war, mein normales Niveau zu erreichen. Am Ende war ich froh, als das Training vorbei war – und das kam bei mir nun wirklich selten vor.
Und wie hieß es so schön? Wer den Schaden hat braucht für den Spott nicht zu sorgen. Unter den Duschen fing die Frotzelei an.
»He, Danny, was war denn heute los mit dir? Hast du plötzlich alles verlernt?«
»Quatsch, der war nur mit den Gedanken ganz woanders. Wie heißt denn die Kleine?«
Ich war begeistert und versuchte, so schnell wie möglich fertig zu werden – leider nicht schnell genug, um den weiteren Kommentaren zu entgehen. Nicht daß diese irgendwie böse gemeint waren, wir verstanden uns alle ganz gut – wenn auch nicht so gut, daß ich meinen Kollegen erzählte hatte, daß ich auf Jungs stehe. Wer weiß, wie es dann bei der Duscherei abgelaufen wäre. Daß keiner von ihnen meinem Typ vom Traumboy entsprach, war in dieser Beziehung sehr hilfreich, peinliche Situationen in nackter Runde waren bisher glücklicherweise stets ausgeblieben.
»Niklas, ich glaube, du hast recht. Unser Karatemeister ist verliebt!«
»Genau. Sprich, ist sie blond, braun, groß, klein, älter oder jünger?«
Ich stöhnte auf. Die würden wohl nicht eher Ruhe geben, bevor ihre Neugier befriedigt war.
»Hellblond, blaue Augen, etwa so groß wie ich, so alt wie ich – und vermutlich völlig ahnungslos, daß ich interessiert bin.«
»Ooch, ist unser Danny etwa schüchtern?«
»Mach dich ran, Danny!«
Zum Glück hatte ich es endlich geschafft, und verließ in hohem Tempo den Duschbereich, zog mich an und machte mich daran, das Dojo zu verlassen – und wurde prompt von unserem Chef aufgehalten.
»Danny, komm doch bitte mal ins Büro!«
Ich tat wie mir aufgetragen, trat ein und … sah mich einem bekannten Gesicht gegenüber! Bevor ich noch irgendwas sagen konnte, sprach der Trainer weiter.
»Das hier ist Danny Thom, einer unserer besten Schüler. Zweimaliger Stadtjugendmeister und Dritter bei den letzten Landesmeisterschaften.«
Naja, mit meiner heutigen Leistung hätte ich das garantiert nicht geschafft.
»Obwohl das bei der Art, wie er heute rumgestolpert ist, schwer zu glauben ist.«
Ah ja. Na gut, das und den damit verbundenen durchdringenden, verständnislosen Blick hatte ich mir wohl redlich verdient.
»Danny, das ist Frau Stein. Sie ist gerade erst hierhergezogen und wird demnächst bei uns das Training für die Kindergruppe übernehmen.«
Ich mußte schlucken und stand kurz davor abzukippen. Die Mutter der Flamme meines Herzens war Karatelehrerin, noch dazu in meinem Verein! Ich würde wohl noch viel vorsichtiger in Bezug auf Flip sein müssen, als ich mir je vorgestellt hatte.
»Wir kennen uns schon. Hallo Danny, schön dich so schnell wiederzusehen.«
Wie sagt man so schön? Unverhofft kommt oft.
»Guten Tag, Frau Stein.«
»Sie kennen Danny schon?«
»Ja, mein Sohn und er gehen in die gleiche Klasse, und ich habe ihn gestern nach der Schule getroffen.«
»Na das paßt doch wunderbar! Danny, hast du ein bißchen Zeit, um Frau Stein ein wenig herumzuführen? Ich muß mal für eine halbe Stunde weg.«
Was war das größte Dilemma im Teenagerleben? Ganz einfach: daß man keinem Erwachsenen einen Bitte abschlagen konnte, ohne sofort als unhöflich dazustehen. Anderen mochte das ja nichts ausmachen, ich jedoch war wohl zu gut erzogen, um das so einfach zu riskieren.
»Oh, aber ich möchte mich wirklich nicht aufdrängen! Danny, wenn du keine Zeit hast, kann ich auch später wiederkommen.«
Okay, das wars endgültig. Ich zappelte am Haken, keine Chance mehr davon loszukommen. Und erst recht nicht bei dieser Erwachsenen, diese durfte ich nun auf gar keinen Fall irgendwie gegen mich aufbringen. Ich hatte ja keinen blassen Schimmer, was sie bisher über mich wußte und von mir dachte, aber es war auf jeden Fall besser, sie in jeder Hinsicht zu befriedigen. Okay, nicht in jeder Hinsicht *g*.
»Kein Problem, ich habe Zeit.«
»Danke, Danny. So, Frau Stein, dann überlasse ich Sie vorübergehend seiner Obhut, wir sehen uns dann später wieder. Danny wird Ihnen mein Büro zeigen, dort können Sie auf mich warten. In spätestens einer Dreiviertelstunde bin ich wieder hier. Tschüß!«
Sprachs und ließ mich mit Philipps Mutter alleine. Ein nicht sonderlich komfortables Schweigen machte sich breit, und bevor das ausufern konnte, beschloß ich lieber, mit der Führung zu beginnen. Ich zeigte ihr die Einzelheiten des Komplexes, zu dem neben der Karate-Abteilung auch noch ein Fitnessbereich gehörte. Während ich dies tat, versuchte ich, durch geschickte Konversation ein paar Informationen aus der mir Anvertrauten herauszukitzeln.
»Wird Philipp hier auch trainieren?«
»Flip? Nein, ganz sicher nicht. Der kann zwar die Grundzüge von Karate, hat aber kein Interesse an irgendeinem ernsthaften Training.«
So ein Mist. Was war denn das für eine Mutter, war selber Trainerin und konnte nicht einmal den eigenen Sohn von ihrem Sport begeistern!
»Veronika allerdings ist mit Leib und Seele bei der Sache, und auch Kevy will so früh wie möglich anfangen.«
Oh weh! Veronika trainierte Karate? Konnte ich Tim einer solchen Gefahr aussetzen, oder sollte ich lieber versuchen, sie von ihm fernzuhalten?
Nach gut zwanzig Minuten hatte Frau Stein alles gesehen und ich brachte sie ins Büro vom Chef.
»Tja, das wars. Haben Sie noch irgendwelche Fragen, Frau Stein?«
»Nein, danke, du bist ein sehr guter Fremdenführer.«
»Freut mich, danke.«
»Ah, sag mal … funktioniert der Kaffeeautomat draußen vor der Tür?«
»Ja. Soll ich Ihnen einen Becher holen?«
»Das wäre sehr nett. Und bring für dich auch einen mit. Hier ist Geld.«
Ich nahm die Münzen und marschierte zum Automaten, wo ich einen Becher Kaffee für Flips Mutter und einen Becher Zitronentee für mich abzapfte. Wieder im Büro eingetroffen, stellte ich den Kaffee vor der zukünftigen Trainerin auf den Tisch.
»Danke, Danny. Hast du noch einen Moment Zeit? Ja? Sehr schön, setz dich doch bitte.«
Ich hatte ein ziemlich komisches Gefühl bei der Sache, aber was konnte ich anderes machen, als ihrer Bitte nachzukommen.
Frau Stein schaute mich mit einem unergründlichen Blick an, nahm einen Schluck aus dem Kaffeebecher, seufzte leise und fing dann an zu sprechen.
»Danny, dich vorhin hier zu sehen, war ein kleiner Schock für mich.«
Was sollte ich denn da erst sagen?
»Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht so richtig, was ich von dir halten soll. Seit ich Philipp und seine Schwester gestern von der Schule abgeholt habe, hat der Junge fast nur noch von dir gesprochen.«
Spätestens jetzt hatte sie meine volle Aufmerksamkeit. Zumindest redete sie nicht groß um den heißen Brei herum.
»Danny dies, Danny das – so ging das die ganze Zeit.«
Ich war sprachlos. Das hatte ich nun wirklich nicht erwartet. Und was bezweckte Frau Stein mit diesem Gespräch?
»Ich habe dann in einer ruhigen Minute auch Veronika gefragt, was das mit dir auf sich hat, und sie erzählte eine ziemlich interessante Geschichte über eine Prügelei im Speisesaal.«
Jetzt mußte ich doch mal eingreifen und die Sache richtigstellen.
»Frau Stein, es hat nie eine Prügelei gegeben. Jemand wollte sich mit mir prügeln, es ist allerdings gar nicht erst dazu gekommen. Und ich habe ihn nicht ein einziges Mal angerührt.«
»Okay, Prügelei war wohl etwas übertrieben, das habe ich auch mitbekommen. Trotzdem bin ich ziemlich durcheinander, auch weil da noch eine andere Sache im Raum steht.«
Ich hatte eine dumpfe Ahnung was jetzt kommen würde.
»Stimmt es, Danny, bist du schwul?«
Was sollte ich darauf jetzt antworten? Daß es sie nichts anging? Wäre kein Problem gewesen, wenn … ja wenn es sich nicht dummerweise gerade um die Mutter des Jungen handeln würde, auf den ich ein Auge geworfen hatte. Es von mir zu weisen, wäre genauso blöd gewesen, schließlich hatte es jede Menge Zeugen gegeben, darunter nicht zuletzt ihre eigenen Kinder. Also blieb mir wohl nur übrig, die Wahrheit zu sagen.
»Ja.«
»Gut.«
Huh? Hatte sie gerade »gut« gesagt? Wie sollte ich denn das nun wieder verstehen! Also irgendwie war dieses Gespräch hochgradig verwirrend.
»Ich verstehe nicht ganz…«
»Das glaube ich dir gerne, ich verstehe es ja selbst nicht so richtig. Danny, mein Mann und ich, wir machen uns Sorgen um Philipp.«
Na los, weiter im Text. Was für Sorgen? Hatten sie Angst, ich könnte ihren lieben kleinen Sohn verführen? Ihn fürs andere Ufer abwerben? Kommen Sie schon, lassen Sie mich nicht mit meinen Befürchtungen herumzappeln.
»Flip hat sich in den letzten Jahren verändert, und wir wissen nicht mehr, wie wir an ihn herankommen sollen. Oh ja, nach außen ist er fröhlich, zugänglich und
nett – aber ab einem bestimmten Punkt ist Feierabend, er schottet sich ab.«
Konnte ich mir gar nicht so recht vorstellen, aber wenn es seine eigene Mutter sagte, mußte es wohl stimmen. Blieb nur noch die Frage, warum sie das erzählte, gerade mir erzählte.
»Hast du eine Ahnung, wie froh ich gestern war, als ich sah, daß Philipp gleich am ersten Tag Freunde in der neuen Schule gefunden hatte? In München hatte er von Jahr zu Jahr weniger, selbst die, mit denen er früher beinahe vierundzwanzig Stunden am Tag herumgehangen hatte, tauchten immer seltener auf. Und wenn man sie fragte warum, meinten sie, es läge nicht an ihnen sondern an Flip.«
Das war ja alles ganz interessant, aber ich fände es doch ganz gut, wenn sie jetzt endlich mal zum Kern der Sache kommen würde.
»Als mein Mann und ich dann zuhause mehr über euch, speziell mehr über dich, hörten, war das irgendwie eine Art Augenöffner. Ich meine, irgendwie paßt plötzlich alles zusammen. Das sich Abkapseln, das Auf-Stur-Schalten wenn wir ihn fragen was mit ihm los ist. Seine Schwester hatte schon einige feste Freunde – ich denke, du verstehst was ich meine – Philipp jedoch hat uns noch nie eine Freundin vorgestellt, und auch noch nie darüber gesprochen, daß er eine hätte.«
Die Dinge wurden langsam klarer vor meinem inneren Auge. Wenn jetzt das kam, was ich erwartete, dann wäre schon mal eine meiner Hoffnungen erfüllt.
»Und gestern plötzlich ist der Junge wie ausgewechselt! Kein aufgesetztes Lächeln mehr, nein ein echtes! Und eins, welches er den ganzen Rest des Tages nicht mehr losgeworden ist. Er hat sich regelrecht auf den nächsten Schultag gefreut! Und er redet nur noch über seine neuen Freunde. Nein, falsch, über einen seiner neuen Freunde. Und zufällig ist dieser spezielle Freund homosexuell und steht dazu. Mein Mann und ich, wir haben uns die halbe Nacht unterhalten und sind uns jetzt ziemlich sicher, daß Philipp schwul ist.«
Danke, lieber Gott, danke! Das hörte sich tatsächlich ganz so an, als ob die gute Frau Stein da richtig lag.
»Was meinst du, Danny, ist er es?«
Was hatte ich nur böses angestellt, um ständig mit solch schwerwiegenden Fragen bombardiert zu werden? Was sollte ich darauf antworten? ›Ja, Frau Stein, ich hoffe doch sehr‹? Sollte ich ihr sagen, daß ich den Eindruck hatte, ihr Sohn würde mit mir flirten? Oder sollte ich ihr erzählen, was Thomas von ihm dachte? Was erwartete sie jetzt von mir? Was genau wollte sie hören? Eine Bestätigung, oder doch lieber ein deutliches Nein?
»Äh, Frau Stein, das läßt sich so nicht sagen. Ich meine, für all das was Sie mir da erzählt haben, gibt es viele mögliche Erklärungen, und nur eine davon wäre, daß er schwul ist.«
»Aber Danny, du bist es doch selbst!«
»Stimmt, aber das heißt noch lange nicht, daß ich es jedem ansehe, der es auch ist. Wenn das so wäre, mein Gott, dann wäre ich bestimmt schon längst in festen Händen! Keine Ahnung, ob es sowas wie ›Gaydar‹ wirklich gibt, aber wenn, dann funktioniert es bei mir jedenfalls nicht.«
Flips Mutter machte einen ziemlich verzweifelten Eindruck, aber was hätte ich denn anders machen können? Ich war schließlich kein ausgebildeter Psychoklempner.
»Vielleicht hast du recht, Danny, es ist nur … ich hatte gehofft, daß du uns vielleicht weiterhelfen, etwas Klarheit verschaffen könntest…«
»Frau Stein, ich kann Ihnen nur sagen, daß ich auch ähnliche Phasen hatte, während ich so langsam herausfand, daß ich anders bin. Ich habe ziemlich lange gebraucht, bis ich bereit war, es jemandem anzuvertrauen – und fühlte mich gleichzeitig mies dabei, es vor den Menschen die mir nahestanden zu verheimlichen.«
»Und, was sollen wir jetzt tun? Ihn darauf ansprechen?«
»Nein, das wäre wohl keine so gute Idee. Zumindest nicht die direkte Methode.«
»Was meinst du mit direkter Methode?«
»Frau Stein, wie ist ganz allgemein ihr Verhältnis zu Philipp? Ich meine, gibt es viele Geheimnisse und so weiter?«
»Nein, eigentlich nicht. Zumindest früher war es so, daß wir uns alles erzählt haben. Heute allerdings…«
»Dann würde ich sagen, ihn beschäftigt etwas so großes, daß er noch nicht bereit ist, es ihnen zu erzählen. Das könnte sein, daß er schwul ist. Ihn dann einfach zu stellen und auf den Kopf zu zu fragen ob er es ist, könnte mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen.«
»Schon klar, aber was sollen wir machen?«
»Ich hoffe, ich bin nicht zu neugierig, aber…«
»Schieß los, ich sage dir schon, wenn du zu neugierig wirst.«
»Naja, was hälte Ihre Familie, was halten Sie und Ihr Mann eigentlich von Homosexualität?«
»Hm, also ehrlich gesagt haben wir darüber noch nie groß nachgedacht.«
»Ich meine verschiedene Dinge. Wie reagieren Sie, wenn im Fernsehen Schwule auftreten? Was sagen Sie, wenn schwule Themen in der Zeitung stehen? Lauter solche Sachen. Lästern Sie darüber, zeigen Sie keinerlei Interesse, verfluchen Sie lautstark die ›scheiß Homos‹?«
»Danny, das mußt du mir glauben, sowas hat bei uns nie jemand gesagt, und bestimmt auch nicht gedacht. Also ich auf keinen Fall!«
»Okay.«
»Also ich kann mich eigentlich nicht daran erinnern, daß es bei solchen Gelegenheiten bei uns je irgendwelche Diskussionen gegeben hätte. Es betraf uns einfach nicht, und damit hatte sich die Sache erledigt. Was andere Leute mit ihrem Leben anfangen, was sie im Bett anstellen, hat uns nie interessiert. Jeder soll sein eigenes Leben führen, solange er keinem anderen dabei schadet, ist uns egal wie er es führt.«
Das hörte sich doch so schlecht gar nicht an.
»Gut so. Ich denke, Sie sollten in Zukunft noch genauer darauf achten. Eine einzige unbedachte Bemerkung kann für jemanden, der sich selbst angesprochen fühlt, verdammt schmerzhaft sein.«
Das hatte ich höchstselbst herausfinden müssen, als meine Mutter in Vor-
Coming-Out-Zeiten regelmäßig über Alfred Biolek oder auch Hape Kerkeling gelästert hatte. Nicht daß ich diese Leute nun sonderlich verehrt hätte, aber daß Mutti sie wegen ihres Schwulseins fertigmachte, fand ich nicht so toll. Zum Glück hatte dieses Verhalten nach meinem Coming Out ihr gegenüber sofort aufgehört.
»Und du meinst wirklich, wir sollten ihn nicht direkt danach fragen?«
»Nein, zumindest jetzt noch nicht. Sie sagten doch, daß er gestern plötzlich ganz anders gewesen sei, oder?«
»Allerdings, er war wie ausgewechselt. Er hat gelacht, mit uns gescherzt, und soviel mit uns gesprochen, wie sonst in einer ganzen Woche nicht.«
Und laufend über mich, ich weiß. Aber warum? Dafür gab es mehrere mögliche Erklärungen, selbst wenn man als Grundlage mal davon ausging, daß Philipp tatsächlich schwul war. Natürlich könnte er sich auf Anhieb in mich verliebt haben. (He, man wird doch wohl noch träumen dürfen!) Oder aber, er war einfach froh zu sehen, daß er mit seinem Schwulsein nicht alleine war, auch das konnte einem eine gewaltige Last von den Schultern nehmen, auch sowas was ich aus eigener Erfahrung kannte. Aber halt, seine Mutter wartete darauf, daß ich auch wieder was sagte.
»Also eine Wende zum Besseren? Sehr gut. Dann würde ich sagen, lassen Sie ihm noch ein wenig Zeit. Wenn wir davon ausgehen, daß Flip schwul ist, dann könnte man das, was gestern bei Ihnen zuhause abgelaufen ist, ja fast schon als eine Art Mini-Coming-Out betrachten, oder? Vielleicht hat er ja auch ein wenig testen wollen, wie Sie darauf reagieren, daß er sich einen schwulen Freund gesucht hat. Wie haben Sie eigentlich darauf reagiert, wenn ich fragen darf?«
»Ich denke ganz normal, ich meine, so wie wir auf jeden anderen Freund auch reagiert hätten. Wir haben uns einfach mit ihm gefreut, daß er jemanden gefunden hat, den er gerne zum Freund hätte. Daß dieser jemand – entschuldige bitte die blöde Formulierung – daß du schwul bist, darüber ist überhaupt nicht diskutiert worden. Wir haben es einfach zur Kenntnis genommen. War das falsch?«
»Falsch wohl nicht. Naja, vielleicht hätten Sie ja die Gelegenheit nutzen können, ganz allgemein was zu dem Thema zu sagen. So von wegen, daß Sie mit ›unsereins‹ keine Probleme haben oder so. Aber wenn Ihnen erst später dämmerte, daß der eigene Sohn ja vielleicht in der gleichen Situation stecken könnte wie ich, dann hatten Sie ja zu dem Zeitpunkt noch gar keinen Grund daran zu denken.«
»Hm, ich sehe schon, die ganze Sache ist noch komplizierter als ich gedacht hatte. Trotzdem, Danny, vielen Dank. Du hast mir, beziehungsweise uns, doch sehr weitergeholfen.«
»Freut mich. Aber das ist noch eine Frage, die ich Ihnen stellen möchte. Sie brauchen diese Frage nicht sofort zu beantworten, aber Sie sollten auf jeden Fall gründlich darüber nachdenken. Zusammen mit Ihrem Mann.«
»Schieß los, mich kann nichts mehr erschüttern.«
»Okay. Was wenn Philipp tatsächlich schwul ist? Wie stehen Sie dazu? Wie würden Sie reagieren, wenn er heute abend zu Ihnen kommen und es ›beichten‹ würde? Würde sich etwas an Ihren Gefühlen zu ihm ändern? Können Sie mit einem schwulen Sohn leben?«
»Heh, sagtest Du nicht was von einer Frage?«
»Sorry, ich hoffe ich bin nicht zuweit gegangen.«
»Nein, nein, so habe ich das nicht gemeint. Du hast vollkommen recht. Wir haben zwar darüber gerätselt, ob er nun schwul ist, schwul sein könnte oder nicht, aber wir haben bisher nicht darüber nachgedacht, was das für uns alle bedeuten würde, wenn er es wirklich wäre.«
»Glauben Sie mir, so einfach ist das nicht. Ich meine, Eltern machen sich doch so ihre Gedanken über die Zukunft ihrer Kinder, und so ein Coming Out wirft da doch einiges durcheinander. Meiner Mutter ist es auch schwer gefallen, zu akzeptieren, daß sie keine Enkelkinder von mir haben wird, also zumindest keine leiblichen.«
»Gott, was da so alles dranhängt! Sag mal, was meinst du, wäre deine Mutter eventuell bereit, mal mit meinem Mann und mir über das Thema zu sprechen? Falls es tatsächlich bei uns akut werden sollte, meine ich.«
»Möglich. Ich kann sie ja mal fragen.«
»Das wäre sehr nett …«
Genau in diesen Satz hinein platzte unser Chef, der völlig außer Atem in das von uns okkupierte Büro gehechelt kam.
»Ich muß mich … puh! … ich muß mich entschuldigen, Frau Stein, Danny. Aber diese Bankheinis haben die Bürokratie neu erfunden.«
»Kein Problem, Herr Schroth. Danny war ein sehr zuvorkommender Gastgeber, und wir haben uns gut unterhalten.«
»Na da bin ich aber erleichtert. Vielen Dank, Danny, da wollen wir dich nicht länger aufhalten.«
Ich schaute auf die Uhr, tatsächlich war fast eine ganze Stunde seit dem Ende meiner eigenen Trainings-Session vergangen. Ich verabschiedete mich von den beiden Erwachsenen, eine Gelegenheit, die Flips Mutter nochmals nutzte, um sich bei mir zu bedanken. Ich war drauf und dran, mich auch bei ihr für die erlangten Informationen zu bedanken, dann aber erschien mir das doch als keine so gute Idee. Die gute Frau hatte mit der Möglichkeit, daß ihr ältester Sohn vielleicht schwul war, genug zu verdauen, da brauchte ich nicht noch den (begründeten) Verdacht in ihr zu wecken, daß ausgerechnet der Typ, den sie um Rat gebeten hatte, in eben diesen Sohn verknallt war.
Auf jeden Fall war das ein sehr ereignisreicher und informativer Nachmittag gewesen, und hochzufrieden trotz meiner Aussetzer beim Training selbst radelte ich nach Hause – und diesmal sogar, ohne die Kälte wahrzunehmen! Tja, so ist es wohl wenn einem warm ums Herz ist…
Zuhause wurde ich bereits ungeduldig erwartet, bisher hatte ich es meiner Mutter nicht austreiben können, stets wissen zu wollen wo ich mich so herumtrieb.
»Da bist du ja endlich, Danny! Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt, dein Training ist doch schon längst zuende?«
»Herr Schroth hat mich gebeten, noch eine neue Trainerin herumzuführen, und das hat halt ein Weilchen gedauert.«
»Hättest Du nicht wenigstens anrufen können? Ich habe mir Sorgen gemacht.«
Ich kam mir vor wie im deutschen Fernsehen. Sehen Sie jetzt auf vielfachen Wunsch die Wiederholung der achtundsiebzigsten Folge unserer beliebten Serie ›Mutter ist die Beste‹. Oder auch ›The same procedure as every year, James‹. Ich stöhnte innerlich auf.
»Mutti, ich bin siebzehn, ich stehe quasi kurz vor der Rente! Wie lange soll ich denn noch an deinem Rockzipfel hängen?«
»Ja, ja, ich weiß. Trotzdem bist du noch mein Sohn, und da mache ich mir halt ein paar Gedanken.«
»Sollst du doch auch. Aber du weißt doch auch, daß ich gut auf mich selbst aufpassen kann, oder?«
»Schon gut, schon gut. Ich werde versuchen, mich in Zukunft etwas mehr zurückzuhalten.«
Ob sie das wirklich schaffen würde? Also ich hatte so meine Zweifel. Aber halt, vielleicht ließ sich da ja doch noch Nutzen draus ziehen?
»Wenn du wirklich immer in der Lage sein willst mich zu erreichen, dann solltest du mir vielleicht doch ein Handy schenken…«
»Ha, du gibst wohl nie Ruhe in dieser Sache, oder?«
Zumindest nicht, solange sie sich nicht breitschlagen ließ.
»Kommt überhaupt nicht in die Tüte, junger Mann. Wozu braucht ein Teenager eigentlich ein Handy, kannst du mir das mal erklären? Um nach der Schule die Leute anzurufen, mit denen er vorher stundenlang gemeinsam im Unterricht gesessen hat? Das ist doch alles nur Geldschneiderei, herbeigeredet von ein paar schlauen Marketingstrategen. Aber da spiele ich nicht mit. Wenn du wirklich mal von unterwegs anrufen mußt, dann hast du deine Telefonkarte, das muß reichen. Von mir bekommst du jedenfalls kein Handy, wenn du unbedingt eins brauchst, dann kauf dir selbst eins wenn du achtzehn bist. Oder kauf dir jetzt so eins mit Prepaid-Karte, aber jammere hinterher nicht über die Kosten. Von mir jedenfalls bekommst du keinen Cent für diesen Quatsch.«
Das war auch so eine Unterhaltung, die wir mit schöner Regelmäßigkeit führten. Naja, den Versuch war es wert gewesen. Zumindest war sie jetzt von meiner »unentschuldbaren« Verspätung abgelenkt…
»Sag mal, Mutti, wo sind eigentlich Tim und Reinhardt?«
»Reinhardt holt Tim vom Training ab, die beiden müßten eigentlich auch bald hier auftauchen.«
Ob sie die wohl auch fragen würde, wo sie sich solange herumgetrieben haben? Naja, zumindest konnte ich die Situation nutzen, um noch ein anderes Thema zur Sprache zu bringen.
»Du, Mutti, kannst du dich noch an die Zeit erinnern, kurz nachdem ich dir gesagt habe, daß ich schwul bin?«
»Wie könnte ich das je vergessen. Der wohl einzige Punkt, an welchem ich als Mutter völlig versagt habe.«
»Ah, komm, ganz so schlimm war es nun auch wieder nicht. Das war schließlich auch ein ziemlich heftiger Brocken, den ich dir da an den Kopf geworfen hatte.«
»Trotzdem, ich hätte besser damit umgehen sollen. Du hast mich gebraucht und ich habe dich abgewiesen.«
»Schon, aber du hast noch rechtzeitig die Kurve bekommen, und alles ist gut ausgegangen.«
»Ich weiß, aber ich mache mir immer noch Vorwürfe deswegen. Aber warum sprichst du das jetzt eigentlich an, so aus heiterem Himmel? Ist irgendetwas passiert? Sag jetzt bloß nicht, daß demnächst Tim eine ähnliche Bombe platzen lassen wird.«
»Wäre das so furchtbar? Aber ich kann dich beruhigen, Tim steht auf Mädels.«
Was natürlich durchaus auch zum Platzen einer Bombe führen konnte. Mädels haben ja bekanntlich die Angewohnheit, schwanger zu werden. Aber naja, so weit war mein Brüderchen ja nun wirklich noch nicht. Hoffte ich zumindest. Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, demnächst den Onkel für ein kreischendes Minibalg spielen zu müssen. Nichts gegen Kinder, aber könnten die nicht wenigstens als Zehnjährige auf die Welt kommen? So etwa ab diesem Alter konnte man mit ihnen wenigstens schon was anfangen. Und kommt jetzt bloß nicht auf dumme Gedanken, was ich mit »anfangen« meinen könnte! Ich bin schwul, aber nicht pervers – auch wenn bestimmte große und kleine Sekten da anderer Meinung sind.
»Ich habe das nicht so gemeint, Danny. Selbstverständlich wäre das nicht furchtbar. Aber ich wundere mich halt, daß du so überraschend in der Familiengeschichte kramst.«
»Sag mal, hätte es dir damals geholfen, wenn du dich mit einer anderen Mutter hättest unterhalten können, welche die ganze Coming-Out-Geschichte mit ihrem Sohn schon durch hat?«
»Ich denke schon. Genaugenommen habe ich das auch gemacht, allerdings nicht in persönlichen Gesprächen, sondern eher durch Lesen in Büchern und im Internet. Viel später habe ich dann herausgefunden, daß es bei uns auch eine Art Selbsthilfegruppe für Eltern homosexueller Kinder gibt, da habe ich sie allerdings nicht mehr gebraucht. Und ich weiß nicht, ob ich mich damals hätte überwinden können, zu einem Treffen von denen zu gehen. Vielleicht zu einer Unterhaltung unter vier Augen, ja, ich denke das wäre die beste Lösung gewesen. Aber warum fragst du?«
»Ich kenne da eine Frau, die glaubt, daß ihr Sohn schwul ist. Sie ist ziemlich durcheinander und weiß nicht, wie sie damit umgehen soll, und ihrem Mann geht es wohl ähnlich. Könntest du dich eventuell dazu durchringen, mal mit den beiden zu sprechen?«
»Danny, Danny, das ist eine ziemlich große Bitte, oder? Ist es jemand den ich kenne?«
»Nein. Die Leute sind gerade erst hierher gezogen. Derjenige welcher geht in meine Klasse, und die Mutter ist die neue Trainerin, von der ich vorhin erzählt habe.«
»Und du hast mit ihr über ihren Sohn gesprochen, darüber, daß er vermutlich schwul ist?«
»Nicht ich habe mit ihr darüber gesprochen, sie hat mit mir darüber gesprochen. Sie war ziemlich überrascht mich beim Training zu treffen, naja, und dann ergab eins das andere, und sie hat mir mehr oder weniger ihr Herz ausgeschüttet. Ich schätze, ich konnte ihr ein wenig helfen, aber besser wäre es wohl, wenn sie auch mal mit dir sprechen könnte. So von Mutter zu Mutter.«
»Naja, okay, ich habe ja eigentlich etwas gutzumachen wegen früher. Aber sag mal, wenn die so neu in der Gegend sind, wieso kannte sie dich dann schon? Und woher wußte sie, daß du schwul bist?«
»Mutti, ich habe dir doch gerade erzählt, daß ihr Sohn in meine Klasse geht. Ist doch logisch, daß er zuhause vom berühmten Matthias-Zwischenfall berichtet hat. Und sie kannte mich bereits, weil wir uns gestern nach der Schule begegnet sind, als sie ihren Sohn und seine Schwester abholte.«
»Und jetzt möchte sie gerne mit mir sprechen. Das beste Vorbild bin ich ja nun wirklich nicht, aber zumindest kann sie von mir lernen, welche Fehler sie lieber nicht machen sollte.«
»Komm schon, hör auf, dir wegen der ollen Kamellen noch Vorwürfe zu machen. Ich mache es doch auch nicht. Habe ich eigentlich nie, wer weiß, wie ich an deiner Stelle reagiert hätte.«
»Schon gut, schon gut. Und, wie kann ich Kontakt mit der Frau aufnehmen? Hast du vielleicht eine Telefonnummer für mich?«
»Sch…immelkäse! Irgendwas mußte ich ja vergessen. Aber ich kümmere mich drum.«
»Ein Gedächtnis wie ein Sieb. Mir scheint, du wirst langsam alt, mein Sohn.«
»Bedeutet das, daß ich in Zukunft dein Auto fahren darf? Bin ich jetzt endlich alt genug?«
»Da ist das Gesetz anderer Meinung. Und selbst wenn du in ein paar Monaten alt genug bist – das Auto ist es auch dann noch nicht. Aber keine Angst, sobald du deinen Führerschein hast, werden wir schon einen schönen, billigen Uralt-Golf für dich finden. Einen, bei dem eine Beule mehr auch nicht mehr auffällt.«
»Schön endlich zu wissen, was ich dir wert bin. Kann ich mich wenigstens darauf verlassen, daß die Heizung funktioniert?«
»Das wird sich bestimmt einrichten lassen.«
»Wie großzügig.«
»Finde ich auch.«
Bevor ich mit dem Geplänkel fortfahren konnte, hörte ich, wie die Haustür aufgeschlossen wurde, und kurz darauf erschienen mein Brüderchen und sein Vater in der Küche, in welcher sich das gesamte soeben geschilderte Geschehen abgespielt hatte.
»Hallo ihr beiden, da sind wir wieder.«
Als ob irgendwer Reinhardt übersehen könnte.
»Na, Tim, wieder trocken hinter den Ohren?«
»Aber sicher. Ich habe dir übrigens was mitgebracht.«
Oh, wunderbar, ich liebe kleine Mitbringsel.
»Komm, sag schon! Was ist es?«
»Ein Eimer Wasser.«
Hilfe! Das Bürschlein wurde von Tag zu Tag selbstbewußter, was ja einerseits eine äußerst positive Entwicklung war, andererseits: mußte denn nun unbedingt ich als Opfer herhalten?
»Ich dachte eigentlich, daß du mich mittlerweile besser kennst. Ein Eimer Kohlen wäre passender gewesen.«
»Sorry, aber damit kann ich nun wirklich nicht dienen.«
Während dieser Frotzelei begrüßte ich Reinhardt, dann zog ich mich mit Tim nach oben in unser Zimmer zurück. Durch diesen genialen Schachzug wurde in der Küche Platz geschaffen – und es bestand durchaus Hoffnung, daß meine Mutter dies als Wink mit dem Zaunspfahl in Richtung des vorzubereitenden und von mir sehnsüchtig erwarteten Abendessens verstehen würde. Und ich war mir ziemlich sicher, daß auch mein Bruder nach seinem garantiert anstrengenden Training hungrig war.
Der Rest des Tages lief ab wie so viele Schulwochentags-Abende zuvor. Ich »amüsierte« mich mit den glücklicherweise gerade noch so überschaubaren Schulaufgaben, irgendwann gab es tatsächlich Abendbrot, und relativ zeitig lagen dann Tim und ich in den Betten. Einschlafen konnten wir jedoch noch nicht sofort, also nutzte ich die Zeit, den nichtsahnenden Herzensbrecher darüber zu informieren, daß er ohne es selbst zu wissen bereits bei seinem ersten Auftritt an seiner neuen Schule einen weiblichen Kopf verdreht hatte. Tim reagierte auf diese Enthüllungen ziemlich ungläubig.
»Sag mal, stimmt das alles was du mir da erzählst?«
»Allerdings. Das ist übrigens genau die neue Schülerin, von der ich dir schon am Montag erzählt habe. Sie hat dich sofort aus der Menge herausgepickt. Nicht daß ich ihr das verdenken könnte…«
»Danke, danke. Komplimente höre ich immer gerne.«
Und mittlerweile glaubte er sie einem sogar. Was für eine Veränderung im Vergleich zu dem völlig in sich zurückgezogenen Kerlchen von vor ein paar Wochen.
»Und? Jetzt hast du sie ja mit eigenen Augen gesehen. Wie sieht sie aus?«
Ich grinste im Schein der Nachttischlampe zu Tim hinüber. Der wurde kurz rot und grinste dann zurück.
»Sorry, da habe ich dir wohl eine ziemlich blöde Frage gestellt.«
»Eigentlich nicht, Bruderherz. Ich bin schwul. Nicht blind.«
»Na dann los, spann mich nicht auf die Folter.«
»Hm, wie sage ich das am besten. Ah ja, ich weiß: Veronika ist für Philipp das, was du für mich bist.«
»Sein kleiner Bruder? Sorry, aber wie du weißt steh ich auf Mädels.«
»Blödmann! Du weißt ganz genau was ich meine! Sie ist seine kleine Schwester. Und außerdem scheint das gute Aussehen in deren Familie zu liegen.«
»Das hört sich ja so schlecht nicht an. Aber um ehrlich zu sein habe ich keine Ahnung, ob ich so schnell mit irgendeiner was anfangen will.«
»Das überlasse ich ganz alleine dir. Ich wollte dich nur ein wenig vorwarnen, wer weiß, nicht daß du morgen völlig überrascht wirst. Vielleicht stürzt sie sich ja mit wildem Kriegsgeschrei auf dich.«
»Na hoffentlich nicht! Also wenn sie dermaßen rangeht, dann hat sie es bei mir sofort verschissen. Sorry, aber ich stehe nicht auf solche Sturmangriffe.«
»Tja, dann müssen wir wohl beide hoffen, daß die liebe Vroni sich ein wenig in Zurückhaltung übt.«
»Daß ich das hoffen muß ist klar, aber warum du auch?«
»Ganz einfach, wenn mein Bruder und Philipps Schwester sich verkrachen, dann wäre das gar nicht so gut für meine Aussichten bei Flip.«
»Na vielen Dank, daß du mir eine solche Verantwortung auflädst! Jetzt muß ich wohl um deinetwillen notfalls gute Miene zum bösen Spiel machen…«
Ein schneller Blick durch den Raum zeigte mir glücklicherweise, daß Tim vor sich hingrinste und diese Bemerkung ganz offensichtlich nicht so ernst gemeint hatte. Trotzdem mußte ich das klarstellen.
»Tim, ich erwarte von dir nur eines: tu das, was du möchtes, was du für dich möchtest. Bitte tu nichts, was du eigentlich gar nicht willst, bloß weil du denkst, daß das für mich besser wäre. Denk zur Abwechslung mal an dich, okay?«
»Wenn du meinst. Soll ich wenigstens versuchen herauszufinden, ob der gute Flip überhaupt für Jungs empfänglich ist?«
»Mach dir darüber keine Sorgen, diese Sache ist bereits in Arbeit.«
»Ach ja? Wie stehen die Chancen?«
»Auf jeden Fall besser als bei dir, Kleiner. Bezüglich der Empfänglichkeit für Jungs, meine ich.«
»Na dann, toi toi toi. Ich würde es dir wirklich wünschen.«
»Ich mir auch. So, aber ich denke wir sollten jetzt langsam mal versuchen, eine Mütze Schlaf zu erhaschen. Der Wecker klingelt früher als uns lieb sein wird.«
»Okay. Also dann, gute Nacht.«
»Gleichfalls.«
Es dauerte nicht lange und ich schlief ein, diesmal vermutlich sogar vor Tim. Und obwohl man ja angeblich den Inhalt seiner Träume meist vergißt, bin ich mir trotzdem ziemlich sicher, wovon oder besser von wem ich geträumt habe. Ich denke, mehr brauche ich dazu nicht zu sagen, oder?
Und wieder eine viel zu kurze Nacht, ein viel zu früher Morgen, ein viel zu kalter Schulweg und eine viel zu langweilige Schule. (Nur um die Sache ein wenig abzukürzen, wäre doch Blödsinn, das alles jeden Tag erneut zu beschreiben, oder?) Der einzige Punkt in dem sich das ganze Prozedere von den bereits zur Genüge durchgekauten Vortagen unterschied war, daß sich an diesem denkwürdigen Donnerstag Tim gemeinsam mit mir auf den Weg zur Schule machte um dort erstmalig ganz regulär den Unterricht über sich ergehen zu lassen. Und wenn jetzt jemand, denkt, daß ich Mitleid mit ihm gehabt hätte – Fehlanzeige! So weit ging die Bruderliebe nun auch wieder nicht!
Das Schulgebäude zeichnete sich mal wieder dadurch aus, bei unserem Erscheinen noch verschlossen zu sein. Ganz prima. Naja, zumindest hatte ich jetzt die Möglichkeit, mein Brüderchen im Kreise meiner Freunde herumzuzeigen, viele kannten ihn zwar schon von Katjas Party, aber es gab auch noch einige, die ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekamen. Zum Beispiel Philipp, der Tim ein wenig argwöhnisch von oben bis unten musterte. Durchkommender Beschützerinstinkt seiner kleinen Schwester gegenüber? Da stellte sich allerdings die Frage, wer vor wem beschützt werden müßte. So von wegen Karate.
Nicole, die meinen kleinen Bruder bisher nur von dem gemeinerweise durch Thomas verteilten, heimlich aufgenommenen Foto kannte, grinste mich frech an und flüsterte mir etwas ins halberfrorene Ohr.
»Danny, jetzt kann ich verstehen, daß du dich im Bett so an ihn gekuschelt hast.«
Ich spürte förmlich, wie mir wieder einmal das Blut zu Kopfe stieg, und ein kurzer Blick zu Tim zeigte mir, daß Nicoles Flüstern nicht so leise gewesen war, wie sie es vermutlich beabsichtigt hatte, denn auch Tim war fleißig dabei heftig zu erröten.
Ich nahm all meine Liebenswürdigkeit zusammen und lächelte unsere kleine Möchtegern-Punkerin an.
»Neidisch?«
Nicole fuhr sich mit beiden Händen durch die buntgefärbten Haare und schaute anzüglich in Richtung meines Bruders.
»Na aber klar. Mit der richtigen Frisur und ordentlichen Klamotten ließe sich aus dem Kleinen was machen.«
»Laß das bloß nicht deinen Rocky hören, sonst reißt der dir bei vollem Bewußtsein den Nasenring raus.«
»Autsch! Du hast recht, ich sollte mich wohl lieber etwas zurückhalten.«
Sowohl Nicole als auch ihr Freund Rocky (der eigentlich den für sein Image natürlich viel zu spießigen Namen »Rudolf« trug) waren wohl die beiden auffallendsten Schüler unserer ehrwürdigen Lehranstalt. Das fing damit an, daß sie jeden Metalldetektor am Flughafen zur Verzweiflung bringen konnten. Anhänger, Ringe, Piercings – überall Metall. Ich wollte lieber gar nicht erst wissen wo überall. Okay, ich hatte wirklich und ernsthaft auch schon einmal über Ohrstecker nachgedacht, mir gefiel die Idee eigentlich ganz gut. Was mir weniger gefiel, war die Idee, daß da jemand meine zarte Haut dazu durchstechen mußte. Nicole und Rocky aber? Ohren, Nase, Augenbrauen, Zunge – Rocky hatte sich selbst zu Weihnachten sogar Brustringe geschenkt! Und da gab es tatsächlich noch Leute die sagen, Schwule wären pervers… Wenn dieses seltsame Pärchen durch die Schulkorridore wanderte, konnte man sich ganz leicht in ein Spukschloß versetzt fühlen – so von wegen Kettengeklapper.
Dazu gesellte sich die bereits kurz angesprochene Haartracht. Nicht nur, daß die beiden aussahen, als ob sie mit den Köpfen einem Maler in die Farbpalette gefallen wären – nein, Rocky hatte auch noch die Angewohntheit, einen sehr ausgeprägten Scheitel zu ziehen. Will heißen: eine Seite des Schädels war glatt geschoren, auf der anderen wuchsen die Haare so lang, daß man davon ausgehen konnte, daß sie seit Jahren keine Schere mehr gesehen hatten.
Den krönenden Abschluß der »Gesamtkunstwerke Nicole und Rocky« bildeten dann die Klamotten, welche meist aussahen wie frisch aus der Altkleidersammlung »entliehen«. Bitte nicht falsch verstehen, die beiden liefen immer sehr sauber herum, die Zusammenstellung der Kleidungsstücke stellte jedoch eine ziemlich heftige Beleidigung für jedes ästhethisch angehauchte Auge dar. Zu allem Überfluß zeigte Nicole deutlich mehr nackte Haut, als einem schwulen Teenager lieb sein konnte. Ich meine, gut, einem Hetero mochte es ja gefallen, wenn vor ihm ein halber nackter Mädchenhintern aus der zerrissenen Jeans herausfiel – aber wie wäre es mit ein wenig Rücksichtnahme mir gegenüber? Das einzige, was mich an diesem Bild bewegte, war die Frage, wie die gute Nicole das bei der Kälte durchhalten konnte…
Um den Gedankenkreis wieder zu schließen: ich konnte mir sehr gut vorstellen, daß Tim die Idee, daß dieses Mädel sich an ihn heranmachen könnte, eiskalte Schauer über den Rücken laufen ließ. Wobei jedoch zu sagen war, daß unsere beiden »bunten Hunde« in Wirklichkeit völlig harmlos und sehr verläßliche Freunde waren – obwohl sie genau in das Bild von den Typen paßten, vor denen Eltern ihre Kinder immer zu warnen pflegen. Ich hatte schon so manches Rentnerpärchen vorsichtshalber die Straßenseite wechseln sehen, wenn sie aus der Ferne Nicole und Rocky auf ihrem Fußweg ausmachten.
Unterdessen war der übliche morgendliche Gedankenaustausch im Gange, alle schnatterten vor sich hin, als ob es das letzte Mal wäre, daß man in dieser Runde zusammenkommt. Ich nutzte die Gelegenheit und schob mich zu Flip.
»Guten morgen.«
»Gleichfalls.«
»Sag mal, hat deine Schwester gestern noch irgendetwas über meinen Bruder erzählt?«
»Könnte ich nicht sagen, allerdings ist sie mit ziemlich verträumtem Blick durch die Gegend gelaufen.«
Das wiederum könnte durchaus eine auf mich gemünzte Beschreibung sein. Dermaßen verträumt, daß ich mich beim Training von Leuten verprügeln ließ, die normalerweise keine zehn Sekunden gegen mich aufrecht geblieben wären.
»Was meinst du, sollen wir versuchen, die beiden zusammenzubringen?«
»Und wie?«
»Tim ist heute den ersten Tag hier und kennt sich nicht aus. Wir könnten ihn in die Obhut deiner Schwester geben.«
Philipp grinste mich an.
»Oller Kuppler. Aber die Idee gefällt mir. Tim scheint okay zu sein, und Veronika könnte ein wenig Aufschwung in ihrem Liebesleben gebrauchen. Aber ob dein Bruder überhaupt interessiert ist?«
»Das dürfte sich recht schnell herausstellen, aber große Sorgen würde ich mir da nicht machen. Deine Schwester sieht gut aus, und mein Bruder ist auch nur ein von seinen Hormonen getriebener Teenager.«
»Okay, versuchen wirs. Wie stellen wir das an?«
»Ich greife mir Tim, und dann gehen wir drei gemeinsam zu deiner Schwester.«
»Einverstanden. Aber wir sollten uns beeilen, die werden wohl bald die Schultür aufschließen.«
»Dann mal los.«
Gesagt, getan. Ich packte Tim, der gerade dabei war, sich mit Thomas zu unterhalten, am linken Arm und zog ihn mit mir mit.
»He, was soll das?«
»Komm einfach mit, ich will dir jemanden vorstellen.«
Mit Tim im Schlepptau schlug ich die Richtung zur morgendlichen Klassenversammlung von Philipps Schwester ein, was mein Bruder natürlich nach wenigen Schritten mitbekam.
»Wo willst du mit mir hin?«
»Vertrau mir einfach. Nicht daß ich dich loswerden wollte, aber ich denke, du solltest dich mal bei deinen eigenen zukünftigen Klassenkameraden sehen lassen. Das Mädchen in dem roten Anorak ist übrigens Veronika, soviel ich weiß ist sie ganz begierig darauf, dich kennenzulernen…«
Na da hatte ich aber was gesagt! Sofort begann Tim, seinen Widerstand zu verstärken und zischte mich an.
»Spinnst Du?«
Mir fiel der alte Erwachsenenspruch ein »Auch wenn du es heute noch nicht verstehst, eines Tages wirst du mir dankbar sein.«, aber ich konnte mir gerade noch verkneifen, ihn laut auszusprechen. Tims Bemühungen, sich von mir zu lösen, waren allerdings sehr schnell zum Scheitern verurteilt, denn ein grinsender Philipp griff sich nunmehr den anderen Arm meines Bruders, und gemeinsam schoben und zerrten wir den sich weiterhin sträubenden Meisterschwimmer zu unserem Ziel. Dort übernahm dann mein Mitverschwörer das Kommando.
»Hallo zusammen. Das hier ist Tim, Dannys Bruder. Er geht ab heute in eure Klasse. Veronika, vielleicht kannst du dich ja ein wenig um ihn kümmern.«
Was las ich da seiner Schwester von den Lippen ab? »Ich hasse dich?« Also wirklich, diese Jugend! Mußte man denn heute wirklich jeden zu seinem Glück zwingen?
Jetzt war die Zeit für einen taktischen Rückzug gekommen, Flip und ich ließen Tim vom Haken und wandten uns zum Gehen. Es war eh langsam an der Zeit, die Schule zu betreten. Im Weggehen hörten wir noch, wie die versammelte Mannschaft Tim begrüßte, und als ich mich unauffällig umschaute konnte ich sehen, wie die beiden frisch Verkuppelten abwechselnd auf ihre Füße und ins Gesicht des anderen schauten. Ich stieß meinen Begleiter in die Seite.
»Dreh dich mal vorsichtig um. Sieht doch ganz vielversprechend aus, oder?«
Philipp folgte meinen Blicken, und sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
»Na ich bin ja mal gespannt ob das was wird. Ein hübsches Paar geben sie jedenfalls ab.«
Da konnte ich ihm nur zustimmen. Was ich nicht wußte war, daß mein bester Freund im selben Moment genau das gleiche über Philipp und mich dachte…
Die ersten Unterrichtsstunden ließen mir dann keine Zeit, länger über irgendwelche potentiellen Pärchen gleich welcher Zusammensetzung nachzudenken. Irgendwie hatten auf einen Schlag sämtliche Lehrer beschlossen, daß es nunmehr an der Zeit wäre, im neuen Jahr endlich mit richtiger Arbeit anzufangen. Da wurden dann Hausaufgaben verteilt, Klassenarbeiten angedroht, bitterböse Kommentare über mangelnden Lerneifer losgelassen – ja mein Gott, was war denn in die gefahren? Stand eine große Inspektion vom Bildungsminister persönlich bevor? Jedenfalls rauchten nach ein paar Stunden allen Beteiligten die Köpfe. Halt, falsch. Natürlich nicht allen Beteiligten. Nur denjenigen auf der falschen Seite vom Lehrertisch. Was ja in einer Schule für die überwiegende Zahl der Anwesenden gilt. Die wiederum wurden bekanntlicherweise nicht gefragt, was sie für eine Meinung dazu hatten. Eigentlich seltsam, ich dachte immer, wir leben in einer Demokratie. Irgendwie mußte ich da wohl etwas falsch verstanden haben…
In den Pausen hetzten wir von Zimmer zu Zimmer, beinahe einziges Gesprächsthema war der in der Lehrerschaft ausgebrochene Aktionismus, ich kam gerade noch dazu, ein paar Gedanken an Philipp zu verschwenden (blöde Wortwahl, natürlich war kein Gedanke an diesen Traumtypen verschwendet) – an unsere kleine Kuppelaktion vom frühen Morgen dachte ich längst nicht mehr.
All dies setzte sich auch in der Mittagspause fort, in welcher sich dann jedoch unsere morgendlichen »Taten« eindrucksvoll in Erinnerung brachten. Gerade hatte ich begonnen, mich über eine Bratwurst samt Kartoffelmus herzumachen, als ich schon einen Ellenbogen in den Rippen spürte. Okay, ich war begierig darauf von Flip berührt zu werden, aber ein wenig zärtlicher dürfte es schon sein!
»Au! Was ist los?«
»Schau mal zwei Tische weiter.«
Ich tat wir mir geheißen, und – da saßen unsere beiden jüngeren Geschwister sich friedlich gegenüber. Das alleine wäre ja noch nichts Besonderes gewesen, schließlich hatte ich keine Befürchtungen gehabt, daß sich die beiden gegenseitig an die Gurgel springen würden. Aber was ich sah, ging doch schon etwas weiter als bloßes gegenseitiges Tolerieren. Die zwei hatten nur Blicke für ihren jeweiligen Gegenüber, die Welt um sie herum schienen sie gar nicht wahrzunehmen.
Mittlerweile hatte auch Thomas unsere Blicke bemerkt und schaute ebenfalls mit offenem Mund auf Tim und Veronika.
»Ich glaubs ja nicht! Ich dachte, ihr macht euch nur einen Spaß mit den beiden!«
»Dachte ich mehr oder weniger auch. Aber wenn das so gut funktioniert, werde ich mich bestimmt nicht beschweren. Ich würde es Tim auf jeden Fall gönnen.«
»Der Sache muß ich doch gleich mal auf den Grund gehen. Ihr entschuldigt mich bitte, okay?«
Das konnte ich nun wirklich nicht zulassen. Thomas würde sicher in seiner unnachahmlichen Art zwischen die beiden platzen, und wer weiß, ob das zarte Pflänzlein der Zuneigung zwischen Tim und Veronika das überstehen würde.
»Du bleibst schön hier und läßt die beiden in Frieden! Die können dich jetzt garantiert nicht gebrauchen.«
»Spielverderber. Na gut, dann muß ich mich eben um dein Liebesleben kümmern.«
»Untersteh dich.«
»Ach, und was willst du dagegen unternehmen?«
»Ich könnte zum Beispiel eine schriftliche Beschwerde bei deiner Christine einreichen. Was wird die wohl dazu sagen, daß ihr Liebster bei seinem besten Freund intrigiert?«
»Du würdest mich wirklich bei ihr verpetzen?«
»Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt.«
»Okay, okay, du hast mich überzeugt. Ich darf mich halt einfach nicht erwischen lassen.«
»Äh, das wird dich vielleicht überraschen, aber du bist nicht gerade ein Meister in Unauffälligkeit. Komm also bloß nicht auf dumme Gedanken, ich komme sowieso dahinter.«
Damit war das Thema Liebe und Liebesdienste für diesmal abgeschlossen, und wir wandten uns wieder anderen Dingen zu. Kurz darauf mußten wir uns unerfreulicherweise auch erneut solchen Nebensächlichkeiten wie dem Unterricht widmen, und schon etwa 48 Stunden später war der Schultag endlich vorbei, und ich verließ zusammen mit Thomas, Flip und einigen anderen das Schulgebäude. Mein Brüderchen war nirgends zu sehen, das gleiche galt für Philipps Schwester.
»Und, was machen wir nun mit dem angerissenen Tag?«
»Ich weiß ja nicht was du machst, Thomas, ich jedenfalls werde mich mit den Hausaufgaben vergnügen. Mit ein wenig Glück bin ich irgendwann nächste Woche damit fertig.«
»Stimmt, die Pauker scheinen ja wirklich durchgeknallt zu sein. Aber ich mache heute nur das, was wir für morgen brauchen, der Rest bleibt fürs Wochenende.«
»Du hoffst ja nur, daß bis dahin andere mit dem Zeug fertig sind und dich abschreiben lassen.«
»Pssst! Mußt du alles verraten! Jetzt habe ich vermutlich auch bei unserem Neuen hier keine Chance.«
»Du hättest sowieso bei mir nie eine Chance gehabt, also mache Danny keine Vorwürfe.«
Wie herrlich doppeldeutig und mißverständlich sich Flip ausdrückte. Wie konnte ich das verstehen? Hatte ich eventuell eine Chance bei ihm? Alle weiteren Grübeleien in dieser Richtung wurden mir jedoch sofort ausgetrieben, denn plötzlich übertönte eine laute Frauenstimme alle Gespräche um uns herum.
»Huhu! Danny! Daniel Thom! Hier bin ich! Huhu!«
Um jetzt mal ein Zitat aus einer der von mir geliebten klassischen Krimiserien zu bringen (kleiner Tip: Higgins, Magnum):
Oh mein Gott!!!
Ohne mich zum Ursprung der Stimme umschauen zu müssen, wußte ich sofort, wer da nach mir verlangte. Die Schwester meines Vaters. Tante Helga. Sehr passender Name übrigens. Wer die Comics »Hägar der Schreckliche« kennt, der kennt auch die Ehefrau von diesem Hägar. Eben Helga – zu welcher der Zusatz »die Schreckliche« besser paßte als zu ihrem Mann. Groß, kräftig, laut – wandelnder Terror auf zwei Beinen. Allerdings, wie mein Vater immer bemerkt hatte, eine Seele von Mensch. Auch ich konnte mich nie über sie beschweren, sie brachte immer irgendwelche Geschenke mit und hatte tolle Geschichten aus ihrem doch recht aufregenden Leben auf Lager. Was mich an ihr immer etwas abgeschreckt hatte, war ihr in meinen Augen doch etwas sehr kumpelhaftes, burschiköses Verhalten – unter dem gerade ich oft genug zu »leiden« hatte.
Es war fast zwei Jahre her, daß ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Weder meine Mutter noch ich wußten, wo sie sich in dieser Zeit herumgetrieben hatte. Tante Helga hatte gut geheiratet und sich noch besser scheiden lassen. Okay, der Typ war ein Ekelpaket gewesen, aber dafür hatte sie ihn bei der Scheidung auch gnadenlos ausgenommen. Naja, zumindest hatte es keine Kinder gegeben, die darunter hätten leiden können. Und kaum war sie reich geschieden, als auch schon Fortuna bewies, daß sie auf beiden Augen blind ist und ihr einen gewaltigen Lottogewinn zuschusterte – sie war eine der ersten, die nach Einführung des Jackpot-Systems groß abräumte. Im Ergebnis hatte sie viel Geld und noch mehr freie Zeit, und sie nutzte beides bis zur Neige aus. Mal verbrachte sie ein ganzes Jahr auf einer Schaffarm in Neuseeland, dann wieder zog sie monatelang durch Indien um sich selbst zu finden. Arme Inder. Zwischen diesen Abenteuern pflegte sie dann, uns mit unangemeldeten, kurzen aber heftigen Besuchen zu beglücken. Bitte nicht falsch verstehen, ich mochte Tante Helga, ehrlich, aber ich wußte genau, was mich jetzt erwartete. Ich wandte mich leise an Thomas.
»Paß auf, wenn sie mir diesmal die Rippen bricht, dann rufe bitte den Notarzt.«
»Versprochen. Mein Beileid.«
Es war an der Zeit, mein breitestes Lächeln aufzusetzen und mich meinem Schicksal zu stellen, also drehte ich mich zu Tantchen um und ging langsam auf sie zu.
»Danny, da bist du ja! Komm her, mein Junge! Gott, bist du groß geworden!«
Mit diesen beinahe rituellen Worten umarmte sie mich und drückte mich an sich. Jetzt war ich sogar glücklich darüber, daß sie im Winter aufgetaucht war und nicht im Sommer, so schützten mich die dicken Klamotten wenigstens etwas gegen ihren Klammergriff. Aber wirklich nur etwas, und bald mußte ich mich sanft aber bestimmt ihren Armen entwinden, ansonsten wäre ich an Ort und Stelle erstickt.
»Tante Helga, hör bitte auf, du erdrückst mich noch!«
»Ach komm, ein richtiger Junge, ach, was sage ich: ein richtiger junger Mann wie du wird doch die Umarmung seiner alten Tante ertragen!«
Immerhin eine alte Tante, der ich zutraute, einen Kampfstier mit bloßen Händen auf die Bretter zu legen. Zum Glück schien sie aber endlich mein Flehen zu erhören und entließ mich zumindest teilweise aus der Umklammerung, um mich nunmehr mit ausgestreckten Armen festzuhalten und von oben bis unten einer ausgiebigen Musterung zu unterziehen.
»Oh ja, du bist wirklich ein ganzes Stück gewachsen. Wenn ich dich so ansehe – du kommst ganz nach deinem Vater. Mein Bruder wäre so stolz auf dich!«
»Danke, Tante Helga. Aber sag mal, wo kommst du so plötzlich her?«
»Von deiner Mutter, wieso?«
»Das meine ich nicht! Wo warst du die letzten zwei Jahre?«
»Ach so. Ich war in Brasilien, ob du es glaubst oder nicht!«
Warum sollte ich ihr das nicht glauben? Bei Tante Helga war alles möglich.
»So, und wo ist nun dieser neue Neffe von mir?«
Ah ja, sie kannte also schon die neuen Familienverhältnisse. Aber wie stand sie dazu, daß ihr verstorbener Bruder in gewisser Weise »ersetzt« worden war? Ich schaute ihr genau in die Augen, konnte aber außer kaum verhohlener Neugier nichts entdecken.
»Er müßte eigentlich bald hier auftauchen.«
»Na hoffentlich, ich kann es kaum noch erwarten ihn kennenzulernen.«
Das klang ja doch sehr erfreulich, ich hatte mir für kurze Zeit doch ein wenig Sorgen gemacht. Diesen Moment, in dem ich endlich wieder völlig frei neben der »schrecklichen Helga« stand, nutzten Thomas und Philipp, um sich von mir zu verabschieden, und kurz darauf war ich mit meiner Tante alleine. Bevor ich sie aber etwas mehr über ihre Brasilien-Geschichte ausquetschen konnte, sah ich Tim aus der Schule kommen – zusammen mit Veronika. Das machte tatsächlich langsam einen ziemlich ernsten Eindruck.
»Da kommt Tim.«
»Wo? Der Junge mit der schwarzen Mütze?«
»Genau der.«
In der Zwischenzeit hatten die beiden die Distanz zu unserem Standort überbrückt, und bevor ich Tim noch irgendwie hätte warnen können, wurde ihm die gleiche stürmische Begrüßung zuteil, wie mir nur wenige Minuten zuvor. Im Unterschied zu mir wußte der arme Kerl aber überhaupt nicht, wie ihm geschah: plötzlich stürzte sich eine gewaltige Frau, die ihn um gut einen Kopf überragte, auf ihn, und schien ihn zerquetschen zu wollen. Er warf mir einen halb erschrockenen, halb fragenden Blick zu, den ich nur mit einem hilflosen Schulterzucken beantworten konnte. Eine »Tante-Helga-Begrüßung« war vergleichbar mit Naturereignissen wie Erdbeben und Vulkanausbrüchen – genauso gewaltig, und genauso unaufhaltsam. Man konnte nur abwarten, bis sie ganz von selbst ein Ende fand – zu Tims Glück dauerte es bei ihm nicht ganz so lange wie bei mir. Schuld daran war vermutlich Tante Helgas Neugier, denn jetzt unterzog sie Tim einer noch viel strengeren Musterung als mich zuvor.
»So so, du bist also Tim. Laß dich mal anschauen. Hm, nicht schlecht, gar nicht schlecht. Treibst du Sport?«
Noch wie unter Schock stehend beantwortete Tim die Frage ganz mechanisch.
»Ich schwimme.«
»Habe ich mir fast gedacht. Und das, ist das deine Freundin?«
Jetzt lächelte mein Bruder in Richtung Veronika – und diese lächelte zurück.
»Ah ja, ich sehe schon, du brauchst gar nicht zu antworten! Gratuliere, du hast einen guten Geschmack.«
Tante Helgas Aufmerksamkeit richtete sich jetzt vollständig auf Veronika. Tim nutzte diese Zeit, um mich flüsternd zu dieser »Verrückten« zu befragen.
»Danny, wer zur Hölle ist das?!?«
»Das ist unsere liebe Tante Helga, die Schwester meines Vaters.«
»Ist die immer so?«
»So oder schlimmer. Du mußt dich dran gewöhnen, ändern kannst du an ihr nichts.«
Unterdessen war auch die Musterung von Philipps Schwester beendet, offensichtlich zur vollsten Zufriedenheit unserer Tante.
»So, ich hasse es zwar, das junge Pärchen auseinanderzureißen, aber Jungs, wir sollen eure Mutter abholen und dann Reinhardt im Café treffen. Also, Tim, verabschiede dich von deinem Mädel, und dann ab ins Auto mit euch beiden!«
Wir ergaben uns in unser Schicksal, verabschiedeten uns leicht entschuldigend von Veronika und folgten Tante Helga zu ihrem Auto – einem blauen Range Rover. Dieses Auto paßte so richtig zu ihr.
Auf der Fahrt nach Hause plauderte Tante Helga von ihrer Rückfahrt nach Deutschland – sie war nicht etwa geflogen, sondern auf einem Frachtschiff als Passagier mitgefahren! So verging die Zeit recht flott, wir luden Mutti ein, und ab ging es zum Treffen mit Reinhardt – zum ersten Treffen zwischen ihm und seiner neuen Schwägerin. Ich war fast ein wenig überrascht, wie locker sie damit umging. Aber vielleicht hatte sie sich ja schon länger Gedanken darüber gemacht, daß meine Mutter nicht auf immer und ewig alleine bleiben würde.
Wir landeten in einem kleinen Café und suchten uns einen Tisch. Reinhardt war noch nicht da – ein Kundentermin schien ihn aufzuhalten. Im Nachhinein war das wohl auch besser so. Tante Helgas Mundwerk war – wie so oft – nicht zu stoppen.
»Stell dir vor Maria, deinen Tim mußte ich doch glatt den Armen seiner Freundin entreißen! Ein hübsches Mädchen übrigens.«
Mutti zog fragend und lächelnd die Augenbrauen nach oben. Der arme Tim tat mir richtig leid, sein Liebesleben hatte momentan ein äußerst überwältigendes Tempo drauf.
»Ja, ja, er ist ein richtiger kleiner Casanova. Tut mir leid, daß du sie wegen mir für heute ziehenlassen mußtest.«
»Ist nicht so schlimm. Danny mußte seinen Philipp ja auch ziehenlassen.«
Ein Plautz, dann Grabesstille. Der Plautz stammte von der ledergebundenen Speisekarte, die Tante Helga bei Tims Worten hatte fallenlassen.
»Was sagst du da?«
Damit dürfte klar sein, daß Tante Helga nicht zu denjenigen zählte, die bereits in mein Schwulsein eingeweiht waren. Genau das schien auch Tim in diesem Moment klarzuwerden.
»Scheiße.«
»Maria, soll das heißen, daß dein Sohn eine Schwuchtel ist?«
Meine Mutter schaute gequält zu mir herüber, in ihren Augen konnte ich einen fragenden Ausdruck erkennen. Was sollte sie darauf antworten? Zu verbergen war ja wohl eh nichts mehr, also nickte ich ihr leicht zu – mit einem äußerst unangenehmen Gefühl im Bauch.
»Nein, Helga, das soll heißen, daß Danny schwul ist.«
»Und das sagst du so einfach? Du weißt davon und sitzt hier so ruhig mit ihm am Tisch?«
»Ja und?«
Tante Helga sprang vom Tisch auf, ihr Kopf hochrot, beinahe hatte sie Schaum vor dem Mund. Was für eine Veränderung innerhalb kürzester Zeit! Noch nie hatte ich sie so zu Gesicht bekommen – und hätte mir es jemand vorher erzählt, hätte ich es garantiert nicht geglaubt. Das paßte so gar nicht zu der Tante Helga die ich kannte.
»Nur gut, daß mein armer Bruder das nicht mehr erleben muß! Sein Sohn ein Schwanzlutscher! Das hätte ich nie von ihm gedacht – und von dir, Maria, hätte ich erwartet, daß du dagegen vorgehst! Wenn mein Bruder das wüßte, würde er sich im Grabe umdrehen!«
Damit war sie bei meiner Mutter allerdings an die falsche geraten.
»Das würde er allerdings, Helga! Er würde regelrecht rotieren! Nicht wegen Danny, sondern wegen deines Auftritts hier! Wie kannst du nur deinen eigenen Neffen so beleidigen!«
»Ha! Dieser Neffe selbst ist eine Beleidigung, eine Beleidigung für unseren guten Namen! Und du … du stehst dabei als wäre das alles keine große Sache!«
»Ist es auch nicht. Überhaupt nicht. Nur du versuchst eine große Sache draus zu machen.«
»Na wunderbar, nun bin ich noch daran schuld, daß es jetzt schon Perverse in der eigenen Familie gibt! Aber bloß daß ihr es wißt: ihr seid für mich gestorben. Alle miteinander. Eigentlich wollte ich euch bei meinem Besuch sagen, daß ich Da…, daß ich diese Tunte als meinen Alleinerben eingesetzt habe, aber das hat sich natürlich erledigt! Gleich morgen gehe ich zum Notar und mache das Testament rückgängig. Lieber spende ich alles dem Tierschutzverein.«
»Das, Helga, ist deine Entscheidung. Meine Entscheidung ist es, dir zu sagen, daß du in unserem Hause nicht mehr willkommen bist. Sag mir einfach, wo wir dein Gepäck hinschicken sollen, dann brauchen wir uns nie mehr wiederzusehen.«
»Das Zeug kannst du wegschmeißen, ich will nichts mehr mit Dingen zu tun haben, die mal in eurem … eurem schwulen Bordell waren!«
Dann wandte sie sich Tim zu.
»Junge, du tust mir leid. Ich hoffe bloß, daß dich dieses perverse Stück Dreck nicht ansteckt! Viel Glück, und leb wohl!«
Mit diesen Worten stürmte sie aus dem Café, den ihr entgegenkommenden Reinhardt dabei fast über den Haufen rennend.
Wir drei am Tisch waren für einen Moment wie benommen, keiner rührte sich, keiner brachte ein Wort heraus. Im nächsten Augenblick erreichte bereits Reinhardt unsere stille Runde, völlig perplex und im Dunkeln darüber, was eben geschehen war.
»Hallo ihr drei. Habe ich gerade was wichtiges verpaßt?«
Reinhardts Worte lösten unsere Erstarrung, und im nächsten Moment war es sein Sohn, der wortlos aufsprang, dabei seinen Stuhl umwarf und zum Ausgang stürmte. Das verwirrte Reinhardt natürlich noch mehr, und er wollte Tim nacheilen. Ich hatte allerdings eine ziemlich gute Ahnung, weshalb dieser davongerannt war, und hielt es für besser, wenn ich es war der ihm folgte.
»Laß dir alles von Mutti erzählen, ich kümmere mich um Tim. Wir treffen uns zuhause, es kann eine Weile dauern. Tschüß.«
Ich stand auf, griff mir meine Jacke vom Garderobenständer, dazu noch die von Tim, die dieser völlig vergessen hatte, und rannte (dabei meine Jacke anziehend) meinem Bruder hinterher. Bei der Gelegenheit nahm ich aus den Augenwinkeln wahr, daß das Geschehen an unserem Tisch ziemlich viel Aufmerksamkeit erregt hatte, die Augen aller Anwesenden waren auf meine herausstürzende Gestalt gerichtet.
Auf der Straße angekommen, warf ich schnelle Blicke in alle möglichen Richtungen. Hoffentlich war der Kleine nicht blind für alles um ihn herum davongerannt! Aber zu meiner großen Erleichterung sah ich ihn fünfzig Meter weiter am Auto seines Vaters lehnen, mit zur Straße gesenktem Kopf, wie ein Häuflein Elend. So schnell mich meine Füße tragen konnten ging ich zu ihm.
»He, Tim, alles okay?«
Er hob den Kopf und blickte mich aus tränenverschmierten Augen an.
»Laß mich einfach in Ruhe! Ich weiß sowieso nicht, wie du es mit mir aushältst. Alles mache ich kaputt!«
Hm, das nannte ich einen Rückschlag. Oder besser einen Rückfall in ein Verhalten, wie ich es von ihm kannte, als wir uns vor Wochen kennenlernten. Jetzt war nichts mehr von dem zwischenzeitlich gewonnenen Selbstvertrauen bei ihm zu sehen. Verdammt, Tante Helga, du hast ja keinen blassen Schimmer, was du angerichtet hast!
Hier stand mir wohl einiges an Arbeit bevor, um Tim wieder einigermaßen aufzubauen. Seufz. Wo sollte ich anfangen? Aber halt, das Wichtigste zuerst.
»Hier, Kleiner, zieh dir erstmal deine Jacke an, nicht daß du dir hier noch den Tod holst.«
»Wäre vielleicht besser so. Eine ordentliche Lungenentzündung, und keiner braucht sich mehr wegen meiner Blödheit Sorgen zu machen.«
Okay, mit sanften Worten war hier wohl nicht viel zu erreichen, erst mußte ich Tim einmal aus seiner Selbstgeißelung herausreißen. Ich griff zum strengsten Ton den ich herausbringen konnte – etwas, was mir nun wirklich keinen Spaß macht, aber wie sagt der Nordseeindianer so treffend: Wat mut, dat mut.
»Zieh die Jacke an! Und dann komm mit.«
Tim war wohl ähnlich überrascht wie ich selbst darüber, diesen Ton von mir zu hören, aber das war ganz gut so, jedenfalls zog er sich wie in Trance die Jacke an, und somit war zumindest seine körperliche Gesundheit nicht mehr so stark gefährdet. Wie es um die geistige Gesundheit bestellt war, würde sich noch zeigen müssen. Als ich sah, daß er fertig angezogen war, stiefelte ich los durch, den mittlerweile einsetzenden Schneefall. Erst dachte ich, Tim würde stehen bleiben, aber nach einigen Schritten hatte er mich eingeholt und marschierte schweigend neben mir her. Nachdem wir zwei Querstraßen überquert hatten, meldete er sich mit einer Frage.
»Wohin gehen wir?«
Wenn ich das wüßte. So gern ich mich um Tim kümmerte, ich mußte mich jetzt auch ein wenig um mich selbst kümmern. Klar mußte ich ihm helfen, mit dem Geschehen klarzukommen, aber erst mußte ich mal meine eigenen Gedanken wieder auf die Reihe bekommen. Dieses Treffen mit Tante Helga war ganz und gar nicht so abgelaufen, wie ich es mir gewünscht hatte!
»Keine Ahnung. Ich muß ein wenig nachdenken.«
»Okay, ich halte meine Klappe.«
Hm, ich hatte wohl abweisender geklungen als ich es geplant hatte. Aber ich war nicht in der Stimmung, das sofort richtig zu rücken.
So wanderten wir, ohne ein weiteres Wort zu wechseln, eine Viertelstunde durch die Stadt, und während ich versuchte, ein wenig Ordnung in meinen Kopf zu bekommen, verschlug es uns langsam aber sicher auf wundersame Weise zum Hauptbahnhof. Naja, was man so Hauptbahnhof nennt. Das Leipziger Exemplar war seit einem großen Umbau vor einiger Zeit eigentlich kein Bahnhof mehr sondern – trotz der vielen Gleise – eigentlich nur noch ein riesiges Einkaufscenter mit Gleisanschluß. Jedenfalls nicht das, was ich mir unter einem Bahnhof vorstellte. Auf jeden Fall gab es dort aber einige Futterquellen, und das kam mir ob eines aufkommenden Hungergefühls gerade recht. Ich führte Tim zu einer Bäckerei mit angeschlossenem Café.
»Such dir was zu essen und zu trinken aus.«
»Nein, danke, mir ist jetzt nicht danach.«
»Komm schon, wenn ich alleine was nehme und du nur zuguckst, komme ich mir blöd vor.«
Fünf Minuten später saßen wir mit riesigen Tassen heißer Schokolade und verschiedenen Kuchenstücken in der hintersten Ecke des Cafés. Ich schlang meinen Kuchen hinunter und gönnte mir einen großen Schluck aus meiner Tasse. Dann lehnte ich mich zurück und schaute zu, wie Tim lustlos an seinem Kuchen herumstocherte. Das war der richtige Zeitpunkt für einen weiteren tiefen Seufzer. Nun denn, länger zu warten hatte keinen Sinn.
»Tim, warum bist du so einfach weggerannt?«
Ohne mich anzuschauen, den Blick starr auf den Teller vor sich gerichtet, brachte Tim in niedergeschlagenem Ton seine Antwort heraus.
»Weil ich weiß, daß du mich jetzt haßt. Du mußt mich einfach hassen! Weil ich nicht weiß, wann ich lieber den Mund halten sollte, habe ich dich bei deiner Tante geoutet. Und nun will sie nichts mehr mit euch zu tun haben, sie hat dich sogar enterbt! Verdammt, ich hasse mich ja selber…«
»Du solltest dich nicht hassen. Ich tue es auch nicht. Okay, ich habe mich über dich geärgert. Ich meine, du weißt, was gerade erst in der Schule passiert ist, du weißt, daß dies ein Thema ist, bei welchem man mit seinen Worten etwas vorsichtiger sein sollte, besonders Leuten gegenüber, die man nicht kennt und von denen man keine Ahnung hat, ob sie schon eingeweiht sind. Aber…«
Mein Gegenüber ließ mich nicht ausreden.
»Siehst du, du sagst es selbst, ich bin an der ganzen Katastrophe schuld!«
»Nein, das sage ich nicht, Tim. Du hast sie ausgelöst, aber du bist nicht dran schuld. Jedenfalls nicht alleine.«
»Das kapier ich jetzt nicht.«
Ach, wie sollte ich ihm das am besten erklären?
»Schuld bin ich, weil ich es Tante Helga nicht früher gesagt habe. Schuld ist sie selbst, weil sie völlig irrational reagiert hat. Schuld ist die Intoleranz, die immer noch weit verbreitet ist. Und es muß noch irgend etwas geben in Tante Helgas Vergangenheit, diese Reaktion paßt so überhaupt nicht zu ihr. Tim, zu dem großen Knall wäre es über kurz oder lang sowieso gekommen, eher über kurz, denn ich denke, ich hätte es ihr in den nächsten Tagen auf jeden Fall erzählt. Mir wäre es zwar wesentlich lieber gewesen, wenn es zu meinen Bedingungen passiert wäre und nicht mitten in einem Café vor lauter wildfremden Menschen, aber das läßt sich nicht mehr ändern. Deine unbedachte Bemerkung war nur der letzte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen gebracht hat. Ich hasse dich deshalb wirklich nicht. Vor allem weil ich weiß, daß es dir nur so rausgerutscht ist, ich bin mir ziemlich sicher, daß du nichts absichtlich tun würdest, was mir wehtun könnte.«
»Das könnte ich wirklich nicht, niemals, das mußt du mir glauben!«
Mit einem Gesichtsausdruck, der sich zu etwa gleichen Teilen aus Hoffnung und Furcht zusammensetzte, schaute mich mein kleiner Bruder über den Tisch hinweg an.
»Ich weiß, ich glaube es dir, Timmy.«
Ich konnte gar nicht so schnell gucken, schon war er aufgesprungen, auf den Stuhl neben mir gerückt und fiel mir um den Hals.
»Danke, Danny, danke! Ich hatte solche Angst, daß du jetzt wirklich nichts mehr von mir wissen willst.«
»Keine Angst, dazu müßtest du schon ganz andere Dinge anstellen.«
So gut ich konnte zerzauste ich Tims Haare und drückte ihn fest an mich, bis er sich – vermutlich aus Atemnot – aus meiner Umklammerung befreite.
»Bist du mir noch böse, Danny?«
Ich schaute ihm ins Gesicht, was mit Ausnahme der Spuren der Tränen fast schon wieder so hübsch wie immer aussah.
»Naja. Noch ein ganz kleines bißchen vielleicht. So, und jetzt ab mit dir zur Toilette, wasch dir das Gesicht.«
Tim lächelte wieder! Gott sei dank…
»Da solltest du aber mitkommen.«
»Wieso, traust du dich nicht alleine?«
»Komm einfach mit, ich zeige dir was ich meine.«
Also marschierten wir gemeinsam zum genannten Ort, und dort wurde mir klar, warum ich Tim begleiten sollte. Sein Gesicht war nicht das einzige, welches die Nachwirkungen von Heulerei zeigte, auch auf meinem waren Spuren von Tränen zu sehen. Allerdings nicht ganz so frisch wie bei Tim, das mußte völlig unbewußt irgendwann unterwegs passiert sein. Wir machten uns ein wenig frisch, dann kehrten wir an unseren Tisch zurück, wo sich Tim jetzt mit einer ganz anderen Einstellung seines Kuchens annahm!
»Noch was, Tim. Merk dir das ein für allemal. Ich könnte dich nie hassen. Punkt. Wenn ich hier jemanden hasse, dann ist das meine Ex-Tante Helga.«
»Darf ich sie auch hassen?«
»Ganz wie du möchtest.«
»Okay. Dann hasse ich sie auch. Mann war ich erschrocken, als die explodiert ist! Ich hatte gerade angefangen sie zu mögen…«
»Ich fand sie eigentlich auch immer prima, aber das hat jetzt ein ziemlich plötzliches Ende gefunden.«
Einige Minuten später waren unsere Teller und Tassen leer, und wir lehnten uns einigermaßen zufrieden zurück.
»Danny, was machen wir jetzt? Gehen wir nach Hause?«
Interessante Frage. Eigentlich hatte ich dazu noch keine wirkliche Lust. Dort würde eh nur das nächste unvermeidliche Gespräch zum Thema auf uns warten.
»Nein. Ich zeige dir jetzt eine Original-Danny-Nervenberuhigungs-Strategie.«
»Und die wäre?«
»Frust-Shoppen.«
»Frust-Shoppen?«
»Genau. Wenn ich mich wieder ein wenig aufbauen will, dann hilft es mir ungemein, mir ein paar Dinge zu kaufen, die ich mir lange verkniffen habe. Ich sorge sozusagen für ein kleines innerliches Erfolgserlebnis.«
»Hört sich gut an. Und woran dachtest du da so?«
»Keine Ahnung, aber wir haben ja hier eine riesige Auswahl an Geschäften. Irgendwas wird mir schon über den Weg laufen. Ein paar CDs, Bücher oder was auch immer. Einverstanden?«
»Klar! Komm, ziehen wir los!«
Und so machten wir für die nächste Stunde alle möglichen Läden unsicher, und so langsam füllte sich meine Einkaufstüte im gleichen Umfang, wie sich meine Geldbörse leerte. 2 CDs, eine DVD, dazu noch zwei Bücher. Ich würde wohl um eine Taschengelderhöhung bitten müssen, oder zumindest um einen Vorschuß…
Auch Tim konnte am CD-Regal nicht widerstehen, und so ganz langsam besserte sich auch unsere Stimmung noch ein bißchen weiter. Dann war es an der Zeit, uns auf den Heimweg zu machen. Gerade hatten wir den richtigen Weg zur Straßenbahnhaltestelle gefunden, da hielt mein Brüderchen mich auf.
»Danny, warte mal, guck, hier hat ein neuer Laden aufgemacht!«
Tatsächlich, in einer Ecke der Promenaden waren zwei Schaufenster mit riesigen Schildern verziert, die über die Neueröffnung informierten und mit Sonderangeboten lockten. Allerdings, ob das die richtige Jahreszeit war, um einen T-Shirt-Shop neu aufzumachen? Länger darüber nachdenken konnte ich nicht, denn schon zog mich Tim mit aller Macht in den Laden hinein.
Die Auswahl war gigantisch. Zusätzlich zu den Unmengen fertiger T-Shirts konnte man sich auch aus Katalogen eigene Kreationen aussuchen und diese direkt auf
T-Shirts aufdrucken lassen. Tim durchstöberte einen Ständer mit lauter Hundemotiven, und auch ich stürzte mich ins Baumwoll-Paradies. Eine halbe Stunde später hatte ich mir ein paar Sachen herausgesucht: ein T-Shirt zeigte einen riesigen Wolfskopf mit aufgerissenem Fang, ein zweites irgendwelche indianischen Stammessymbole, und das dritte war zum Beispiel für Lehrer gedacht, die immer meinten, der liebe Danny würde ihnen jederzeit hilfreich zur Seite stehen. Auf diesem T-Shirt waren zwei gekreuzte M16-Sturmgewehre zu sehen, dazu in großen Buchstaben der Spruch »No more Mr. Nice Guy«. Ob diese Botschaft ankommen würde?
Auch Tim trug mehrere Bügel mit T-Shirts mit sich herum, darunter irgendeines mit einem großen Hundkopf und eines mit der Aufschrift »Shit happens« – das dazugehörige Bild zu beschreiben verkneife ich mir in dieser Runde lieber… Eigentlich wollte ich jetzt zur Kasse gehen, Tim jedoch zog mich zu einem der Tische mit den ausliegenden Katalogen.
»Sieh mal, wäre das hier nicht was für dich?«
Er blätterte eine Seite auf und tippte auf ein Motiv. Es zeigte eine Regenbogenflagge, dazu den Text »Thank God nobody knows I'm gay!«.
»Oder lieber das hier?«
Ich mußte grinsen. Da stand »I'm not gay, but my boyfriend is«.
»Tim, das Problem ist, daß ich keinen boyfriend habe. Noch nicht. Leider.«
»Okay, dann bekommst du das andere.«
»Nanu, wieso?«
»Als kleine Wiedergutmachung. Und sag jetzt bloß nicht, ich müßte nichts wiedergutmachen. Ich mag nicht müssen, aber ich will, okay?«
Da schien ja jemand sehr entschlossen zu sein. Na gut, ich würde ihm den Spaß nicht verderben.
»Okay. Danke.«
Tim griff sich erst ein passendes weißes T-Shirt und dann eine Verkäuferin.
»Könnten Sie hier bitte die Nummer 398 draufdrucken?«
»Kein Problem!«
Die nächsten Minuten schauten wir der Verkäuferin dabei zu, wie sie die richtige Motivfolie raussuchte, das T-Shirt vorbereitete und dann bedruckte. Als es fertig war, zeigte sie es uns zur Begutachtung.
»Einverstanden?«
Wir bejahten und marschierten mit unseren Erwerbungen zur Kasse, legten alles auf dem Kassentisch ab und warteten darauf, abkassiert zu werden. In diesem Moment hörten wir, wie hinter uns jemand ziemlich laut lossprach.
»Fehlt bloß noch, daß diese Schwuchteln in aller Öffentlichkeit rumknutschen!«
Wie vom Schlag getroffen drehten wir uns in die Richtung, aus der die Worte gekommen waren. Ein Mann um die vierzig, klein, mit dicker Brille, äußerst lichtem Haupthaar und ganz allgemein der Prototyp vom verbeamteten Sesselfurzer, sah uns angewidert an, einen Arm bei einer Frau vom Typ graue Maus eingehängt. Natürlich hatte der Ausspruch auch die Aufmerksamkeit aller Umstehenden auf uns gezogen – warum mußte das ausgerechnet heute passieren!? Gerade hatte ich mich nach der Tante-Helga-Affäre wieder einigermaßen gefangen, und nun das.
Jetzt hätte ich Thomas gebrauchen können, der hatte in solch spannungsgeladenen Situationen immer einen lockeren Spruch auf der Zunge. Aber Tim war eine gute Vertretung. Er lächelte den Beamtentyp freudig an.
»Vielen Dank für den guten Vorschlag!«
Im nächsten Augenblick drehte sich Tim zu mir, umarmte mich, flüsterte mir »Spiel einfach mit!« ins Ohr und drückte sodann seine Lippen auf die meinigen! Also da brauchte ich nicht groß zu schauspielern! Ich lehnte mich in ihn hinein und beschloß, dieses Ereignis ausgiebig zu genießen. Von sonderlicher Zurückhaltung war Tim nicht getrieben, alsbald öffneten sich seine Lippen und seine Zunge verlangt Einlaß in meinen Mund. Das ging über mein rationelles Begriffsvermögen hinaus, ich hätte nie gedacht, daß ich meinen ersten Zungenkuß mit meinem erklärtermaßen heterosexuellen Bruder austauschen würde! Aber beschweren würde ich mich garantiert auch nicht ;-)
Der ganze »Vorgang« dauerte vielleicht eine Minute (vielleicht auch nur zehn Sekunden, oder auch zehn Minuten, ich verlor jegliches Zeitgefühl), und war nach meinem Geschmack viel zu schnell zu Ende. Ich sah Sterne, Englein und was weiß ich nicht alles. Läuteten da in der Ferne Hochzeitsglocken? Als Tim den Kuß und dann die Umarmung löste, hatte ich gewaltige Schwierigkeiten, wieder von Wolke sieben herunterzukommen – die Umgebungsgeräusche halfen mir jedoch dabei, mich wieder in der Realität zurechtzufinden. Da war erst einmal der Auslöser der ganzen Aktion, der mit puterrotem Kopf vor sich hinstammelte.
»Das … das ist doch … also was sagt man denn dazu! Das ist doch unmöglich! Keine Moral mehr … die Jugend von heute … pervers …«
Und so wäre es wohl noch weitergegangen, wenn er nicht von etwas anderem übertönt worden wäre. Vom Beifall der übrigen Umstehenden, durchsetzt mit ein paar offensichtlich anerkennend gemeinten Pfiffen! Tim grinste fröhlich in die Runde und verneigte sich (ganz ehrlich, aus dem sollte einer schlau werden, bei dem wechselten die Stimmungen ja ständig!), ich selbst dürfte einen etwas anderen Anblick geboten haben. Der größte Teil meines Blutes hatte sich in diesem Moment in meinem Kopf versammelt – der Rest wegen des Kusses und der engen Umarmung in einem anderen Körperteil…
Aufgelöst wurde die Situation durch die Kassiererin, die uns den Preis für unserer Erwerbungen nannte. Wir bezahlten, dann verließen wir den Laden, der mir garantiert für immer in Erinnerung bleiben würde. Kaum waren wir draußen, als Tim auch schon anfing laut loszulachen.
»Haha, hast du das Gesicht von dem Typen gesehen? Der war so schockiert, ich dachte der fällt gleich tot um!«
»Äh, ganz ehrlich, ich war genauso schockiert.«
Tim wurde sofort ernst.
»Ich hoffe, das war nicht wieder falsch, was ich da gemacht habe. Ich hatte irgendwie das Gefühl, daß das die richtige Antwort wäre.«
»Die war es allerdings! Aber glaub mir, ich hätte mir das von mir aus nie getraut. Du überrascht mich immer wieder.«
»Überraschungen machen das Leben interessant.«
Das konnte er laut sagen. Wir wanderten flotten Schrittes zur Straßenbahnhaltestelle und hatten das Glück, gerade die richtige Linie ohne Wartezeit zu erwischen. Sogar zwei Sitzplätze nebeneinander waren frei! Unsere Einkäufe mußten wir allerdings auf den Schoß nehmen, aber da waren sie wenigstens vor unbefugten gierigen Händen sicher.
»Du, Danny.«
»Ja.«
»Ich wollte nur sagen … naja … ich stehe trotzdem auf Mädchen. Der Kuß war toll, aber ich hoffe, daß ich dir nicht wieder falsche Hoffnungen gemacht habe.«
Ah ja. Damit war mein Brüderchen der Frage, die mir auf den Nägeln brannte, zuvorgekommen. Naja, hätte mich auch sehr gewundert – auch wenn es schön gewesen wäre, wenn es ein Ausdruck seiner geänderten Meinung gewesen wäre. Zu schön um wahr zu sein. Ich nutzte die Gelegenheit, um mir einzugestehen, daß ich noch nicht ganz über Tim als potentiellen »boyfriend« hinweg war.
»Schon okay. Ich nehme, was ich kriegen kann.«
Ich grinste ihn an, und Tim antwortete mit einem Gesichtsausdruck gut gespielter Empörung.
»Außerdem betrachte ich es als Übung für den wirklichen Mr. Right. Wer immer das sein mag.«
Ich hatte da ziemlich konkrete Vorstellungen und Hoffnungen, aber da ich mir eine Enttäuschung wie bei Tim ersparen wollte, verzichtete ich darauf, mich allzusehr in die Idee mit dem Namen Philipp reinzusteigern…
Als wir vor unserer Haustür ankamen, waren beinahe drei Stunden seit dem Zwischenfall im Café vergangen – und ich hatte eine gewisse Ahnung, was uns jetzt erwarten würde. Ich hatte kaum den Schlüssel ins Schloß der Haustür gesteckt, als diese auch schon aufgerissen wurde und meine Mutter sich im Türrahmen aufbaute.
»Daniel, da bist du ja endlich! Hast du Tim gefunden?«
Ich trat ein wenig zur Seite, so daß sie meinen kleinen Bruder sehen konnte.
»Gott sei Dank, wir haben uns solche Sorgen gemacht! Na los, kommt rein! Wo wart ihr denn bloß die ganze Zeit? Was habt ihr gemacht?«
Vor ein paar hundert Jahren hätte meine Mutter jederzeit ein Jobangebot von der spanischen Inquisition annehmen können. Wir drängelten uns ins Haus, und Tim schwenkte seine Einkaufsbeutel vor der Nase der neugierigen Mutterpersönlichkeit.
»Wir waren Frust-Shoppen!«
»Oh weh, das wird bestimmt teuer!«
Mit diesen Worten betrat nun auch Reinhardt die Bühne.
»Komm, Maria, laß die beiden erstmal in Ruhe ins Haus. Du kannst sie nachher immer noch ausquetschen.«
Die Angesprochene schaute ihn kurz an, dann nickte sie und verschwand in Richtung Wohnzimmer. Reinhardt machte Anstalten ihr zu folgen, drehte sich jedoch noch einmal kurz zu uns um.
»Jungs, zieht die warmen Klamotten aus und kommt dann ins Wohnzimmer. Und bringt eure Einkäufe mit, wir wollen wissen, womit ihr euren Frust bekämpft habt und was es uns kosten wird.«
Hm, das war besser gelaufen als ich erwartet hatte. So ein Mann im Haus, mit kühlem Kopf, hatte doch seine Vorteile. Besonders, wenn er einer überbesorgten Mutter ein wenig den Wind aus den Segeln nahm. Tim und ich stiegen gemächlich die Treppe zu unserem Zimmer hinauf. Oben angekommen, entledigten wir uns der dicken Wintersachen, erfrischten uns kurz im Bad und erledigten dort auch noch gleich ein paar andere Dinge, deren Erledigung uns auf dem Hauptbahnhof mit 1 Euro zu unverschämt teuer gewesen war, dann gingen wir wieder nach unten. Im Wohnzimmer saßen unsere alten Herrschaften und lauerten – die eine mehr, der andere weniger – auf unser Erscheinen. Die eine ließ uns natürlich kaum Zeit, uns gemütlich auf die Couch zu setzen.
»Daniel, Tim, seid ihr in Ordnung? Mein Gott, wo wart ihr denn nur die ganze Zeit? Warum habt ihr euch nicht gemeldet?«
»Mutti, ich habe dir doch gesagt, daß ich mich um Tim kümmere. Und ich habe dir auch gesagt, daß es länger dauern kann. Uns geht es gut, es ist nichts passiert, wir haben viel geredet und alles was zu klären war geklärt. Stimmts, Tim?«
»Genau. Kein Grund zur Sorge. Tut mir leid, daß ich vorhin einfach davongestürmt bin, aber ich war nicht ganz beieinander. Maria, es tut mir leid, daß du dich wegen mir mit deiner Schwägerin gestritten hast. Glaubst du, daß sich das wieder einrenkt?«
»Keine Ahnung. So wie sich Helga benommen hat, bezweifle ich es allerdings sehr. Ich habe keinen blassen Schimmer, was in sie gefahren ist! Aber Tim, ich mache dir keinen Vorwurf deswegen, und ich hoffe, mein Herr Sohn auch nicht.«
Ich schüttelte verneinend mit dem Kopf.
»Gut. Ich bin jedenfalls sehr froh, daß ihr endlich hier seid und es euch gut geht. Aber hättet ihr nicht wenigstens von unterwegs mal anrufen können? Und Daniel, komm mir jetzt bloß nicht wieder mit dem Thema Handy!«
»Tut mir leid, wir waren mit den Gedanken woanders. Soll nicht wieder vorkommen.«
Meine Mutter seufzte leise aber offensichtlich erleichtert vor sich hin, und jetzt mischte sich auch Reinhardt, der bisher der hochnotpeinlichen Befragung nur als Zuschauer beigewohnt hatte, ins Gespräch.
»So, dann erzählt uns mal, was ihr die ganze Zeit so angestellt habt.«
Uns abwechselnd und ergänzend gaben wir jetzt die Geschichte des Nachmittags zum Besten. Als sie erfuhr, daß ich freiwillig zwanzig Minuten lang durch die Kälte gestapft, war runzelte meine Mutter bedeutungsschwer die Stirn. Sowohl ihr Gesicht als auch das von Reinhardt zeigte deutliche Anspannung, die sich allerdings beim Bericht über die Versöhnung zwischen Tim und mir zum größten Teil löste. Als wir beim Thema »Frust-Shoppen« angekommen waren, war es wieder Reinhardt, der den Redefluß unterbracht.
»Dann los, Jungs, zeigt uns mal. womit ihr euch da aufgemuntert habt.«
Wir breiteten nach und nach unsere Erwerbungen auf dem Couchtisch aus, die T-Shirts hoben wir natürlich bis zum Schluß auf. Ganz besonders das eine T-Shirt… Mir fiel auf, daß Tim in seiner Erzählung das Hauptereigniss des späten Nachmittags mit keiner Silbe erwähnte – also verkniff auch ich mir darauf einzugehen. So sehr es mich auch innerlich danach drängte, mit meinem allerersten Zungenkuß anzugeben ;-) Als ich dann das letzte T-Shirt hervorholte, wurde erst gestaunt, dann gelacht.
»Sag mal, Danny, willt du das tatsächlich anziehen?«
Gott sei Dank! Ich war für meine Mutter wieder Danny! Die kritische Situation war endgültig zu den Akten gelegt.
»Klar. Überall. Gleich morgen in der Schule.«
Alle drei anderen schauten mich mit großen Augen an.
»Unter dem Pullover.«
Verstehen und auch ein wenig Erleichterung machten sich breit. Dann wandte sich Reinhardt an seine Zukünftige.
»Was meinst du, Maria, die T-Shirts sind doch Kleidung, und damit gehören sie zu den Dingen, die wir den Jungs normalerweise bezahlen. Sollen wir ihnen das Geld dafür zurückgeben?«
Die Angesprochene schien in einer großzügigen Laune zu sein, vielleicht deshalb, weil sie Tim und mich heil zurückbekommen hatte.
»Okay. Was habt ihr bezahlt?«
Wir sagten ihr was jeder von uns ausgegeben hatte, wobei ich bemerkte, daß Tim das Wiedergutmachungs-T-Shirt nicht mit nannte.
»Gut. Reinhardt, erledigst du das Finanzielle?«
Genau das tat er dann auch, und sowohl Tim als auch ich bekamen in einem von meiner Mutter unbeobachteten Moment noch einen Zehner zusätzlich zugesteckt. Mit diesem feierlichen Akt war die Zusammenkunft beendet, wir packten unsere Sachen wieder ein und wollten verschwinden. Als ich schon halb aus dem Wohnzimmer raus war, hielt mich meine Mutter jedoch zurück.
»Danny, hast du dich um die Telefonnummer von dieser Mutter gekümmert? Die mit dem eventuell schwulen Sohn?«
Wußte ich doch, daß ich da noch irgendwas vergessen hatte…
»Sorry, da habe ich überhaupt nicht drangedacht.«
»Zum Glück ist dein Kopf fest mit deinem Körper verbunden, sonst würdest du den auch noch vergessen!«
Ja, ja, spottet nur. Ganz überraschend mischte sich nun mein Brüderchen ein.
»Maria, ich habe die Telefonnummer. Soll ich sie dir aufschreiben?«
Mutti war baff. Sie nickte nur, und erst als Tim bereits die komplette Nummer auf einem Zettel vermerkt hatte, fand sie die Sprache wieder.
»Sag mal, Tim, wo hast du denn die Nummer her?«
Der jedoch ließ sich diese Information nicht entlocken und verschwand flinken Fußes aus der Reichweite der Verhörführerin. Diese wiederum schaute nun mich fragend an, aber auch ich lächelte nur wissend zurück und folgte meinem Bruder. Ich hatte so eine dumpfe Ahnung, wie er an diese Telefonnummer gekommen war. Oben angekommen, warf Tim sich auf sein Bett und gab ein offensichtlich erleichtertes Stöhnen von sich.
»Puh. Überstanden. Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt. So mit Vorwürfen und Hausarrest oder so.«
»Oder mit Kitzelstrafe?«
»Oder das…«
Wir mußten beide lachen.
»Ganz im Ernst, Tim. Das letzte Mal Hausarrest hatte ich mit dreizehn.«
»Und, was hattest du da angestellt?«
»Okay, ich erzähle es dir. Liegst du sicher und fest? Nicht daß du mir aus dem Bett fällst und dir was brichst. Gut. Damals lebte mein Vater noch. Es war Sommer, und er hatte sich vorgenommen, mir endlich ordentlich das Schwimmen beizubringen.«
»Sehr gute Idee.«
»Fand Mutti auch. Ich weniger. Ich habe gebettelt und gefleht, aber er hatte kein Mitleid mit mir. Ein paar Wochen später wollten wir Urlaub an der Nordsee machen, und bis dahin sollte ich sicher schwimmen können. Meine Eltern hatten Angst, daß mir sonst etwas passieren könnte – oder daß sie mich keinen Augenblick aus den Augen lassen könnten. Als ob ich freiwillig in die Nähe vom Wasser gegangen wäre!«
»Das glaube ich dir gerne. Wie hast du denn nur diesen Urlaub überlebt?«
»Es kam nicht mehr dazu. Eine Woche vor Urlaubsbeginn ist mein Vater mit dem Flugzeug abgestürzt.«
»Sorry. Entschuldige, ich wollte keine alten Wunden aufreißen.«
»Schon gut, ich habe ja selber damit angefangen. So, wo wollte ich eigentlich mit der ganzen Rederei hin?«
»Du wolltest erzählen, wofür du damals Hausarrest kassiert hast.«
»Stimmt. Also, ich hatte auf jede mögliche Weise versucht mich zu drücken, behauptet, daß ich krank bin, daß ich wichtige Schulaufgaben zu erledigen hätte usw. usf. Hat alles nicht geholfen. Also habe ich an dem Tag, an dem es ernst wurde, alles was man so brauchte in meine Sporttasche gepackt. Alles außer der Badehose. Der Plan war, meinem Vater am Strand mitzuteilen, daß ich sie leider vergessen hätte, und uns somit zur Umkehr zu zwingen.«
»Und dein Vater hat dich durchschaut. Dafür hast du dann den Hausarrest aufgebrummt bekommen.«
»Unter anderem.«
»Unter anderem? Gab es noch andere Strafen?«
»Klar. Die schlimmste war, daß der Plan überhaupt nichts gebracht hat. Er ging einfach ein Stück weiter am See entlang, weg vom offiziellen Strand, und hat mir ein Angebot gemacht. Entweder zwei nackte Schwimmstunden am wilden FKK-Strand, dazu eine Woche Hausarrest für den Stunt mit der ›vergessenen‹ Badehose, oder ab nach Hause und dazu Hausarrest bis zu den Sommerferien plus noch zwei Wochen in den Ferien. Und natürlich am nächsten Tag der nächste Anlauf zum Schwimmunterricht, und er würde dafür sorgen, daß ich diesmal keine Ausrede hätte.«
»Wofür hast du dich entschieden?«
»Rate mal. Das war gut drei Wochen vor den Ferien, und ins Wasser hätte ich am nächsten Tag sowieso gemußt.«
»Also hast du auf die Badehose verzichtet.«
»Yep. Die Ecke vom See war relativ leer, und ich habe es überlebt.«
»Und seitdem bist du FKK-Fan.«
»Gott bewahre! Nie wieder, ganz so zeigefreudig bin ich nun wirklich nicht.«
Selbst in meiner hochverehrten Sauna war ich ein großer Fan des Handtuchs.
»Wir werden sehen…«
»Wie auch immer. Um mal das Thema zu wechseln: woher hast du denn vorhin so plötzlich die Telefonnummer von den Steins gezaubert?«
»Muß ich diese Frage wirklich noch beantworten?«
»Kann ich also davon ausgehen, daß das kleine Komplott von Flip und mir heute früh funktioniert hat? Seid ihr jetzt ein Pärchen?«
»Also so weit würde ich nun wirklich noch nicht gehen. Ich finde Veronika nett, sie ist lustig, intelligent, …«
»… sieht gut aus…«
»Ja, auch das, ich gebe es zu! Aber im Moment sind wir nur Freunde. Ich mag sie, und ich möchte sie gerne noch besser kennenlernen. Ob und was dann daraus wird, wer weiß.«
»Ach, da mache ich mir keine Sorgen, welches Mädchen könnte schon meinem kleinen Bruder widerstehen!«
»Und welcher schwule Junge…«
»Genau! Übrigens, ich denke du mußt damit rechnen, daß dieses Thema heute nochmal aufkommt. Schließlich hat Mutti vor dem großen Knall im Café so ganz nebenbei von deinem neuesten Spezialinteresse erfahren.«
»Ich weiß, ich habe mich schon ein wenig gewundert, daß sie es nicht angesprochen hat.«
»Vielleicht wollte sie sich nicht vor Reinhardt verplappern.«
»Meinst du, sie hat es ihm noch nicht erzählt?«
»Weiß nicht. Aber keine Bange, wenn sie es noch nicht getan hat, werde ich das erledigen!«
»Was? Du willst mich verraten?«
»Tja, Rache ist Blutwurst. Und überhaupt, da hast du nichts zu befürchten. Dein Vater wird eher begeistert darüber sein, daß du dich in ein Mädchen verguckt hast.«
»Gut, gut. Aber laß es mich selber erzählen, okay? Wenn nicht Maria von alleine anfängt, werde ich beim Abendessen was sagen.«
»Einverstanden. Ich will mal nicht so sein.«
»Danke.«
Die nächste Stunde verbrachten wir mit Schulaufgaben, allerdings war ich nach all dem Erlebten des Nachmittags nicht so richtig bei der Sache. Naja, sollte ich mir irgendwelche schlechten Noten einfangen, war noch ein wenig Zeit sie notfalls wieder auszubügeln. Irgendwann rief auch Thomas an und wollte wissen, wie der Tanten-Nachmittag abgelaufen war. Ich hatte allerdings kein gesteigertes Bedürfnis, so schnell alles nochmals durchzukauen, also gab ich ihm nur eine Kurzfassung und versprach, bei Gelegenheit den Rest zu erzählen.
Dann war es an der Zeit zum Abendbrot anzutreten, welches wie üblich in der Küche zelebriert wurde. Mutti bekräftigte nochmals, daß es ihr leid tue, wie Tante Helga reagiert hatte, daß sie voll hinter mir stünde, und daß genannte Tante eine blöde Kuh wäre.
»Und, Danny, ganz wichtig, das mußt du mir einfach glauben: egal was Helga sagt, dein Vater wäre stolz auf dich, wenn er dich heute sehen könnte! Und ich bin es auch.«
»Ich auch.«
»Schließe mich an.«
Okay, das wars, zum wiederholten Male an diesem Tag waren ein paar Tränen fällig.
»Danke, Leute.«
Bevor das Geschehen jetzt zu sehr in Richtung Soap Opera abrutschen konnte, wechselte meine Mutter das Thema.
»Sag mal, Tim, was meinte Helga überhaupt von wegen einer Freundin? Das muß doch eine ganz neue Entwicklung sein, oder bist du bloß gut darin, es geheim zu halten?«
»Das konnte ich noch gar nicht erzählen, das ist nämlich wirklich ganz neu. Ich habe sie – sie heißt übrigens Veronika – erst heute früh in der Schule kennengelernt. Ich mag sie, aber ob sie schon meine Freundin ist? Ist vielleicht noch etwas zu früh, das zu sagen.«
»Erzähl, wir wollen alles über sie wissen!«
Und da hieß es immer, Frauen wären neugierig! Also Reinhardt stand der holden Weiblichkeit da kaum nach. Naja, der war wohl doch etwas froh und erleichtert darüber, daß sein geliebter Tim nicht auch andersrum war.
»Schon gut, schon gut, ich erzähle ja! Also, sie ist blond, hat herrliche blaue Augen, ist so groß wie ich, so alt wie ich, hat einen tollen Sinn für Humor, ist sportlich und ganz nebenbei noch Philipps kleine Schwester.«
»Moment. Philipp. Das ist doch der Name, der heute alles ausgelöst hat, oder? Danny, sag bloß du bist jetzt auch in festen Händen?«
»Schön wärs. Tim wollte nur einen kleinen Scherz machen, er konnte ja nicht ahnen, daß der nach hinten losgeht. Übrigens, Philipp ist derjenige, dessen Mutter dich gerne mal sprechen möchte.«
»Na he, und da sagst du ›schön wärs‹! Wenn sie recht mit ihrer Vermutung hat, dann könnte da ja tatsächlich was draus werden! Oder könnt ihr zwei euch nicht leiden?«
»Die können sich so gut leiden, daß sie Veronika und mich heute früh eiskalt miteinander verkuppelt haben.«
»Kleiner Bruder, du wirst dich doch nicht etwa beschweren wollen? Ich denke, du magst Vroni?«
»Tu ich auch, aber die Situation war doch ein klein wenig peinlich.«
Mittlerweile hatte meine Mutter alles was sie gehört hatte zusammengezählt.
»Ha, jetzt weiß ich auch, wieso Tim die Telefonnummer von Dannys neuer Karatelehrerin hatte! Mein Gott, das sind ja Verwicklungen wie in der Politik.«
So ging es noch ein Weilchen weiter, die Stimmung war gelöst und mir gelang es immer besser, die Ereignisse des Tages ein wenig in den Hintergrund zu drängen. Nach dem Essen verzog ich mich mit Tim auf unser Zimmer, wir beschäftigten uns ein Weilchen mit dem Computer, und ziemlich zeitig beendeten wir den Tag damit, (getrennt) zu duschen. Daß ich anschließend lange nicht einschlafen konnte, brauche ich wohl nicht noch groß zu erzählen, mehr als vier, fünf Stunden Schlaf bekam ich in dieser Nacht jedenfalls nicht. Zum Glück stand das Wochenende kurz vor der Tür.
Endlich Freitag. Also falls mir mal eine gute Fee über den Weg laufen und mir ein paar Wünsche gestatten würde, dann wäre einer davon garantiert die Umkehrung des schlecht gewählten Verhältnisses zwischen Wochentagen und Wochenende. Ich meine, andersrum wäre es doch viel angenehmer, oder? Bei fünf Tagen Wochenende würde ich über zwei Schultage durchaus mit mir reden lassen.
Tim und ich brauchten realtiv lange, um nach der wenig erholsamen Nacht in die Gänge zu kommen, aber irgendwann fanden wir uns doch in der Wisseneintrichterungsanstalt wieder. Dort gingen wir dann unserer Wege, und wann immer wir uns in den Pausen begegneten, fiel mir auf, daß dort wo Tim war auch Veronika nicht fehlen durfte. Und umgekehrt. Was hatte Tim gesagt? Nur Freunde? Na klar. Und demnächst beginne ich wieder damit, an den Weihnachtsmann zu glauben.
Und ich? Wer war ständig in meiner Nähe zu finden? Philipp! Allerdings … nicht Philipp alleine. Irgendwie ergab sich keine Gelegenheit, ihn mal aus der Gruppe herauszulösen und nur für mich zu haben – naja, wahrscheinlich war ich auch bloß zu feige, einfach für eine solche Gelegenheit zu sorgen. Jedenfalls waren wir immer mindestens zu dritt, und unsere Gespräche drehten sich um die ganz normalen Themen eines Schultages.
Nach Schulschluß blieben wir kurz am Tor stehen. Thomas schaute uns an.
»Und, was habt ihr so heute noch vor?«
»Ich gehe nachher mit Kevy ins Kino. Ich habe ihm versprochen, mit ihm den neuen Disney-Trickfilm anzuschauen. Hat jemand Lust mitzukommen?«
Ich hätte ja durchaus Lust etwas mit Flip zu unternehmen, aber die Aussicht, mit lauter kleinen Kindern in einem Kino zu sitzen, schreckte mich doch eher ab. Außerdem waren am Vortag einige Hausaufgaben liegen geblieben, die ich eigentlich noch vor dem richtigen Wochenende abarbeiten wollte.
»Sorry, keine Zeit. Thomas?«
»Ich weiß noch nicht, meine jüngste Schwester will den Film auch unbedingt sehen. Wann wollt ihr denn gehen?«
»In die Vier-Uhr-Vorstellung. Ich hole Kevy direkt vom Kindergarten ab und gehe dann von dort aus mit ihm zum Kino.«
»Wann mußt du zuhause los?«
»So kurz nach drei.«
»Okay, gib mir mal deine Telefonnummer. Wenn ich mit meiner Schwester mitkomme, rufe ich dich rechtzeitig an, einverstanden?«
»Einverstanden. Würde mich freuen, wenn du mitkommst, da bin ich nicht alleine mit lauter Minis.«
Philipp gab Thomas eine Art Visitenkarte mit seiner Telefonnummer.
»Danny, möchtest du auch Philipps Telefonnummer?«
Da mischte sich doch wieder jemand in mein Beziehungsleben ein. Flip schaute mich erwartungsvoll an.
»Danke, nicht nötig, die habe ich schon.«
»Woher? Ich habe sie dir doch noch gar nicht gegeben?«
»Deine Schwester hat sie meinem Bruder gegeben, und so kenne ich sie auch schon.«
»Das sieht wirklich ernst aus mit den beiden, oder?«
Unsere jüngeren Geschwisterchen hatten unverdienterweise eine Unterrichtsstunde weniger als wir und waren daher längst zuhause.
»Ich denke schon, auch wenn Tim gestern meinte, daß sie im Moment nur Freunde wären. Noch.«
Wir gratulierten uns noch ein wenig gegenseitig zu unserem offensichtlich erfolgreichen Kuppelversuch, dann verabschiedete sich Flip und machte sich auf seinen Heimweg. Und auch ich schlug zusammen mit Thomas jetzt die Richtung in heimatliche Gefilde an. Als wir ein paar Meter zurückgelegt hatten, stellte Thomas die Frage, auf die ich schon den ganzen Tag gewartet hatte.
»So, und jetzt erzähl mal, was gestern noch so mit deiner Tante abgelaufen ist. Du warst am Telefon ziemlich geheimnisvoll. Ist irgendwas schlimmes passiert?«
Ich seufzte. Wieder wurde das so mühevoll in den Hintergrund gedrängte Geschehen nach vorne geholt. Den Rest des Heimweges verbrachte ich damit, Thomas alles in allen Einzelheiten zu erzählen – in fast allen Einzelheiten. Auch ihm gegenüber verschwieg ich den Kuß zwischen Tim und mir. Keine Ahnung warum, eigentlich hatten wir keine Geheimnisse voreinander.
Thomas war sehr mitfühlend, und auch sehr überrascht über die Wendung, die Tante Helga genommen hatte. Auch er hatte sie ja in den vergangenen Jahren mehrmals in voller, damals noch friedlicher Aktion erlebt.
Dann war es an der Zeit uns zu trennen. Wir machten noch aus, daß ich am Samstag bei Thomas anrufen würde, dann gingen wir unserer eigenen Wege.
Zuhause angekommen, erwischte ich gerade noch Tim, der sich auf den Weg machte, um sich mit seiner Vroni zum Eislaufen zu treffen.
»Paps weiß bescheid. Er ist vor ein paar Minuten weg zu einem Kunden und wird erst gegen sechs wieder zurück sein. Und Maria hat auch angerufen, sie trifft sich mit Vronis Mutter. So, ich bin weg.«
»Okay, zieh ab, nicht daß deine kleine Freundin auf dich warten muß.«
Tim warf mir einen grimmig-belustigten Blick zu, dann zog er ab. Ich gönnte mir eine kleine Stärkung, erledigte dann ein paar eMails, und als es sich nicht mehr länger herauszögern ließ, »amüsierte« ich mich mit ein paar Hausaufgaben zum Thema Chemie. Diese Beschäftigung war dermaßen »mitreißend«, daß ich darüber glatt ein wenig die Zeit vergaß, und erst durch Sturmgeläut an der Haustür aufgeschreckt wurde. Ein schneller Blick zur Uhr: dreiviertel fünf. Ich flitzte die Treppe hinunter (heh, das konnte schließlich ein Geldbriefträger sein! ;-) und riß die Haustür auf. Was ich dort vorfand, war mir allerdings noch lieber als ein Geldbriefträger.
»Hi Flip! Was machst du denn hier? Komm rein!«
Irgendwas schien da nicht so ganz zu stimmen. Eigentlich sollte er ja jetzt im Kino sitzen, mit Kevy. Aber nein, er drängelte sich an mir vorbei ins Haus.
»Kevin, komm endlich her!«
Ah ja, damit war auch diese Frage beantwortet. Der genannte Dreikäsehoch schob sich ebenfalls ins Haus. Da ich keine Ahnung hatte, was ich mit dieser Situation anfangen sollte, tat ich das, was mir am klügsten erschien. Ich schloß die Haustür, nahm meinen Gästen die Jacken ab und führte sie in mein Zimmer. Dort stürzte sich Kevin gleich auf meinen Computer, dem ich zum Glück vorübergehend den verräterischen Bildschirmschoner abgewöhnt hatte.
»Toll! Kann ich spielen?«
Ich schaute zu Philipp, der schaute zurück, und in seinem Blick glaubte ich sowohl Wut als auch Verzweiflung zu erkennen. Immer noch gab er kein einziges Wort von sich – vielleicht wollte er ja vor seinem Bruder nicht darüber reden, was ihn so fertigmachte. Ich zuckte mit den Schultern und startete ein passendes Spiel. Bei der Gelegenheit fiel mir etwas auf.
»Sag mal, Philipp, der Stift ist ja völlig durchnäßt! Was hat der denn angestellt?«
»Der ist auf dem Weg hierher ständig im Schnee rumgetobt. Ist es wirklich so schlimm?«
»Allerdings! Und ich kann leider nicht mit trockenen Sachen in seiner Größe dienen.«
»Mist. Wenn Kevy sich erkältet, bekomme ich Ärger. Das war eine blöde Idee hierher zu kommen, am besten wir machen, daß wir wieder nach Hause kommen.«
»Das wäre auch eine blöde Idee, in den nassen Klamotten kann er nicht wieder raus in die Kälte.«
»Und was soll ich jetzt machen?«
Obwohl Philipp ehrlich besorgt um seinen kleinen Bruder war – da war ein Unterton in seiner Stimme, eine Nuance in seinem Verhalten, die mir überhaupt nicht gefiel. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Aber das Wichtigste zuerst.
»Wir stecken ihn in die Badewanne, in der Zwischenzeit werfen wir seine Sachen in den Trockner.«
»Okay. Danke.«
»Keine Ursache. Los, komm mit, du mußt mir im Bad helfen.«
Was natürlich nicht stimmte, aber es würde uns Gelegenheit geben, unter vier Augen zu sprechen. Ich schob Philipp ins Bad, folgte ihm und schloß die Tür hinter uns. Kevin war unterdessen dermaßen mit dem Computerspiel beschäftigt, daß er gar nicht mitbekam, was wegen ihm für ein Aufriß veranstaltet wurde. Als nächstes drehte ich das Wasser in der Wanne auf, schüttete etwas Schaumbad hinein, und dann kam der Moment der Wahrheit.
»So, und jetzt erzähl mir was hier los ist! Solltet ihr nicht im Kino sein?«
»Als ob du das nicht wüßtest! Darauf hast du doch voll spekuliert, und wenn die Vorstellung nicht aus technischen Gründen ausgefallen wäre, dann wäre ich dir nie dahintergekommen!«
Mußte ich noch extra erwähnen, daß ich völlig im Nebel stand? Ich hatte keinen blassen Schimmer, worauf Flip hinauswollte.
»Verdammt, sprich nicht in Rätseln! Was meinst du!«
»Tu doch nicht so. Ich fange gerade an, mit mir selbst ins Reine zu kommen, wobei du übrigens sehr geholfen hast, und dann das! Mußtest du deine Mutter vorschicken, um meine Eltern über mich auszuquetschen? Das hätte ich nie von dir erwartet! Ich dachte, du wärst mein Freund, ich wollte eh bald mit dir reden, ich war drauf und dran dir alles anzuvertrauen. Daß ich schwul bin. Daß ich dich mag. Und jetzt hast du alles zerstört! Ich hasse dich!«
Oh Scheiße! Da war wohl einiges völlig schiefgelaufen. Das hatte man nun davon, daß man helfen wollte.
»Philipp, hör zu, da muß es ein riesiges Mißverständnis geben. Erstmal nur soviel: ich habe meine Mutter nicht vorgeschickt, das mußt du mir glauben! Aber jetzt ist erstmal dein Bruder dran, die Wanne ist voll. Holst du ihn?«
»Okay.«
Er ließ mich alleine mit meinen Grübeleien, und ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Irgendwie mußte ich das alles aufklären und wieder auf die Reihe bringen. Eigentlich hätte das der glücklichste Moment in meinem Leben sein können, ich meine, mein Traumtyp hatte mir soeben gesagt, daß er mich mag! Genau das war es doch, was ich mir immer erhofft hatte. Aber all das stand jetzt völlig auf der Kippe, und die nächsten Minuten würden einiges für meine Zukunft entscheiden.
Die Tür ging auf, und Philipp trug seinen Bruder, der bereits im Adamskostüm war, herein.
»Na, Kevy, bereit für dein Bad?«
»Ich heiße Kevin!«
Ups, das hatten wir doch schonmal, oder?
»Okay, okay. Bist du bereit für dein Bad, Kevin?«
»Ja!«
»Na dann rein mit dir!«
Vorsichtig deponierte Flip das ausgekühlte Energiebündel im Wasser, wo sofort eine gewaltige Planscherei anfing.
»Philipp, können wir ihn für ein paar Minuten alleine lassen?«
»Wenn dir eine Überschwemmung im Bad nichts ausmacht…«
»Wird schon so schlimm nicht werden. Komm mit. Und Kevin?«
»Ja?«
»Hab ein wenig Mitleid, matsche nicht zu sehr, okay?«
»Okay!«
Wir verließen das Badezimmer, ich schnappte mir die durchweichten Sachen von Philipps Bruder und ging mit ihm im Schlepptau zum großen Bad im Erdgeschoß, wo sich die ganze Waschtechnik befand. Die Sachen wanderten in den Trockner, ich schaltete diesen ein, dann wandte ich mich wieder Philipp zu.
»So, nun erzähl mir mal aus deiner Sicht was passiert ist, und was dich so wütend auf mich gemacht hat.«
»Na gut, du willst es ja nicht anders. Ich hatte ja schon erzählt, daß der Film ausgefallen ist. Wir sind also wieder nach Hause, und was glaubst du, wen wir da vorgefunden haben? Bei meinen Eltern im Wohnzimmer saß eine gewisse Frau Thom. Zumindest habe ich das aus dem, was ich mitgehört habe, schließen können. Und worüber unterhalten die sich? Über mich. Und worüber genau? Darüber, daß ich vermutlich schwul bin. Ganz wunderbar. Wie kommst du eigentlich dazu, deine Mutter loszuschicken und meine Eltern über mich zu befragen!«
»Ich habe sie nicht deswegen losgeschickt!«
»Nicht deswegen! Also gibst du zu, daß du sie losgeschickt hast! Aus welchem Grunde denn dann?«
»Okay, der Reihe nach. Du weißt, daß ich Karate trainiere?«
»Ja.«
»Gut. Dann stell dir mal vor, wie überrascht ich war, als mir dort plötzlich deine Mutter über den Weg lief. Ich sollte sie herumführen, das habe ich auch getan, und dann…«
»Was dann?«
»Dann hat sie mich wegen dir angesprochen. Verstehst du, sie hat mich angesprochen.«
»Warum?«
»Sie hat sich Sorgen um dich gemacht, dein Vater übrigens auch. Sie sagte, daß du dich über längere Zeit sehr verändert hättest, und irgendwie kam sie auf die Idee, daß du vielleicht schwul sein könntest. Naja, und durch dich wußte sie von mir, also dachte sie wohl, ich wäre der ideale Informationsgeber.«
Das mußte Flip wohl erstmal verdauen. Er starrte mich groß an, und man konnte förmlich sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete.
»Und wie kommt jetzt deine Mutter ins Spiel?«
»Deine Mutter hat mich gefragt, wie meine Mutter auf mein Schwulsein reagiert hat. Ich habe es ihr erzählt, und dann hat sie gefragt, ob ich sie eventuell überreden könnte, mal mit ihr und deinem Vater über das Thema zu reden. Nur für den Fall, daß ihre Vermutungen tatsächlich zutreffen sollten. Das habe ich dann auch eingerührt, und genau das meinte ich damit, daß ich sie losgeschickt habe!«
»Ganz ehrlich? Du hast sie nicht geschickt, um Informationen über mich zu besorgen?«
»Flip, welche Informationen denn? Deine Eltern wissen doch selbst noch gar nichts! Sie wollten nur ein paar Tips, wie sie sich verhalten sollen, falls Du schwul bist und es ihnen irgendwann mal sagst. Und wenn du es genau wissen willst: ich habe deiner Mutter gesagt, daß sie dich in der Beziehung in Ruhe lassen sollen, daß du von ganz alleine zu ihnen kommen wirst, wenn du dazu bereit bist.«
Armer Philipp. Da hatte er sich alles so schön und genau zusammengereimt, und jetzt mußte er hören, daß er völlig daneben gelegen hatte. War sein Gesicht vor ein paar Minuten noch rot vor Wut, so war es jetzt weiß wie Kalk. Da mußte er wohl ziemlich viel auf einmal verarbeiten. Er brauchte mehrere Anläufe, um wieder klare Worte herauszubringe.
»Da habe ich mich jetzt wohl voll zum Robert gemacht, oder?«
»Naja, du hast aus den vorhandenen Daten einfach die falschen Schlüsse gezogen. Aber wenigstens hast du mir Gelegenheit gegeben alles aufzuklären. So, ich denke mal, wir sollten nachschauen, was dein Bruder im Bad veranstaltet.«
»Du bist mir nicht böse?«
»Ein bißchen traurig bin ich. Daß du mir das alles, was du dir zusammengereimt hast, wirklich zugetraut hast.«
»Es tut mir leid, wirklich. Es paßte halt einfach alles so gut. Kannst du mir nochmal verzeihen?«
Komisch, diese Frage bekam ich in letzter Zeit öfters zu hören.
»Kommt ganz drauf an.«
»Worauf?«
»Ob du das, was du zu Anfang gesagt hast, wirklich so meinst.«
»Was?«
»Daß du mich magst…«
Für einen langen Moment schaute Philipp mich durchdringend an.
»Danny, täte ich das nicht, dann wäre mir dieser vermeintliche Vertrauensbruch nicht so nahe gegangen.«
»War das eben ein ›Ja‹?«
»Blödmann, na klar!«
»Ich denke, daß ich dir unter dieser Voraussetzung noch ein allerletztes Mal verzeihen kann.«
Wir schauten uns tief in die Augen, und dann…
»Mein Gott, nun küßt euch endlich und vertragt euch! Wie lange soll ich denn noch hier rumstehen und darauf warten, daß ihr endlich zu Potte kommt!«
Flip und ich sprangen regelrecht in die Höhe, und sämtliche eventuell soeben noch in der Luft liegende Romantik war auf einen Schlag verflogen.
»Tim! Was machst du hier? Wie lange belauscht du uns schon?«
»Lange genug um mitbekommen zu haben, daß ihr euch beide mögt. Also macht gefälligst was draus. Und was ich hier mache? Ja wie lange sollten Vroni und ich denn noch übers Eis flitzen, es ist schon halb sechs!«
Da hatte er recht, die Zeit war während der Aufklärung der ganzen Verwicklungen ziemlich schnell vergangen.
»Übrigens, Philipp, deine Schwester ist oben. Was glaubst du, wie überrascht sie war, als wir den Geräuschen aus dem Bad nachgegangen sind und dabei ihren kleinen Bruder fröhlich um sich spritzend vorgefunden haben?«
»Mist, den haben wir völlig vergessen!«
»Naja, es schien ihm Spaß zu machen. Aber ich denke, du wirst Vroni einiges erklären müssen. Und ich möchte auch genau wissen, was hier abgelaufen ist.«
Es war wirklich an der Zeit, daß wir uns wieder nach oben begaben. Kevins Sachen waren allerdings noch nicht ganz trocken, also würden wir für ihn erstmal noch eine andere Lösung finden müssen.
»Gehen wir. Kevin bekommt vorerst irgendeinen Bademantel oder so.«
Wir machten uns auf den Weg, unterwegs fiel mir allerdings noch etwas ein.
»Sag mal, Philipp, weiß deine Schwester, daß du schwul bist?«
»Ja, sie ist die einzige.«
Er kicherte leise vor sich hin.
»Naja, jetzt wohl nicht mehr. Aber Kevin hat natürlich keine Ahnung.«
»Also keine Knutscherei vor dem Kleinen, ihr zwei.«
Ah ja. Jetzt spielte Tim plötzlich den großen Bruder. Weiter diskutieren konnten wir das aber nicht, denn in diesem Moment hatten wir unser Zimmer erreicht. Dort angekommen erblickten wir Veronika, die gerade mit Kevin aus dem Bad kam, den Jungen in einem großen Badetuch eingewickelt. Bevor wir irgendetwas sagen konnten, verpaßte sie uns eine Standpauke, an die wir uns wohl noch lange erinnern würden. So von wegen Verantwortungslosigkeit usw. usf.
»Typisch Jungs. Ihr quatscht rum und vergeßt darüber völlig, daß hier ein kleines Kind ganz alleine in der Wanne sitzt. Was da alles hätte passieren können!«
So ging es noch ein Weilchen weiter, bis Philipp endlich eine kurze Pause im Monolog seiner Schwester nutzte, um auch mal zu Wort zu kommen.
»Es reicht, Veronika. Okay, wir waren vielleicht ein wenig zu lange weg, aber Kevy badet zuhause auch alleine!«
Das nahm ihr ein wenig den Wind aus den Segeln, trotzdem gab sie so schnell nicht auf.
»Ja, zuhause. Aber das ist hier ein völlig fremdes Haus.«
»Schon gut, schon gut, kommt nicht wieder vor. Ist doch auch nichts passiert.«
»Da habt ihr wirklich Glück gehabt. So, was ist mit Kevys Sachen?«
»Die sind noch nicht ganz trocken, das dauert vielleicht noch zwanzig Minuten.«
»Wieso sind seine Sachen naß? Ach egal. Habt ihr irgendetwas für ihn zum anziehen? Na los, macht hin.«
Hilfe, Diktatoren-Alarm! Ich warf einen Blick in den Kleiderschrank, aber natürlich gab es dort nichts in so kleiner Größe. Zu guter letzt griff ich mir ein warmes Sweatshirt und gab es Veronika.
»Hier, geht das?«
Sie schaute sich das Shirt kurz an, nickte und zog es dann ihrem kleinen Bruder über den Kopf. Für den war es natürlich eher wie ein bodenlanges Kleid, aber er steckte erstmal wieder warm. Die paar Minuten, bis seine eigenen Sachen wieder trocken waren, würde das ausreichen. Veronika betrachtete ihren Auftritt allerdings noch nicht als beendet.
»Sag mal, Philipp, was macht ihr zwei eigentlich hier?«
»Das ist eine lange Geschichte, die damit angefangen hat, daß der Film im Kino ausgefallen ist. Den Rest erzähle ich dir nachher in aller Ruhe, okay?«
Sie schaute erst zu Flip, dann zu mir, sah unser beider leicht verlegenes Grinsen, schaute wieder zu Flip, und endlich zuckten auch ihre Mundwinkel leicht nach oben.
»Aha, ich verstehe. Okay. Aber verlaß dich drauf, ich werde dich nachher nach allen Einzelheiten ausquetschen!«
Das konnte ich mir lebhaft vorstellen. War diese Veranlagung zur Verhörführung eigentlich irgendwo in den weiblichen Erbanlagen verankert? Aber jetzt hatte ich auch mal eine Frage an Philipp.
»Flip, woher wußtest du eigentlich wo ich wohne?«
Jetzt war er eindeutig leicht amüsiert.
»Eine gewisse Veronika fragte mich heute, wo die Bahrunstraße ist, und als ich sie fragte, warum sie das wissen wollte, brabbelte sie irgendetwas von einem Tim, der da wohnen würde. Danny, kennst du irgendeinen Tim aus der Bahrunstraße?«
Nun durften die anderen beiden mal etwas verlegen in der Gegend herumstehen. Was Philipp und mir jedoch erspart geblieben ist, mußten Veronika und Tim jetzt über sich ergehen lassen. Kevin, der bis dahin alles ruhig über sich hatte ergehen lassen, meldete sich jetzt zu Wort.
»Vroni liebt Tim! Vroni liebt Tim! Vroni liebt…«
»Es reicht, Kevy!«
»Kevin!«
»Ja, ja, schon gut.«
Da hatte wohl jemand den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich überlegte kurz, ob ich die beiden noch ein wenig damit aufziehen sollte, sagte mir dann aber, daß das wohl keine so gute Idee wäre. Passenderweise hörten wir in diesem Moment, wie unten die Haustür aufgeschlossen wurde. Kurz darauf tauchte meine Mutter im Zimmer auf.
»Nanu? Was ist denn das hier für eine Versammlung? Wer seid ihr denn alle?«
»Ich bin Kevin!«
»Aha. Und wer ist Kevin?«
»Mutti, das sind Veronika, Philipp und ihr kleiner Bruder Kevin.«
»Aha, die berühmte Veronika.«
»Und der berühmte Philipp.«
Nachdem er das gesagt hatte, schaute Flip auf den Boden und trat von einem Fuß auf den anderen. Meine Mutter schaute ihn an, dann zu mir, ich nickte leicht und sie verstand, daß da irgendetwas vorgefallen war.
»Tim, könntest du mit Veronika und Kevin mal nach unten ins Wohnzimmer gehen?«
Tim zuckte mit den Schultern, gleiches tat Philipps Schwester, dann verließen sie tatsächlich das Zimmer, die Tür hinter sich schließend. Vorher rief ich ihnen aber noch hinterher.
»Tim, Kevins Sachen müßten jetzt eigentlich bald trocken sein, schaut doch mal nach.«
Dann waren sie verschwunden, und Mutti übernahm das Kommando.
»So, ihr zwei. Also wenn ich mit allem gerechnet hätte – damit dich, Philipp, hier zu finden, ganz bestimmt nicht. Dann erzählt mal schön.«
Sie setzte sich auf einen der Schreibtischstühle, Philipp und ich nahmen mein Bett in Beschlag. Wir schauten uns an, dann begann er damit, die Geschichte des Nachmittags zu erzählen…
»Naja, es fing damit an, daß der Kinobesuch mit Kevy ins Wasser gefallen ist…«
Und so ging es weiter. Als er an der Stelle angekommen war, wo er ungewünschter und unfreiwilliger Zeuge elterlicher Unterhaltungen wurde, war es für meine Mutter an der Zeit blaß zu werden.
»Ich glaubs ja nicht. Wieviel hast du mitgehört?«
»Genug. Dachte ich jedenfalls. Erst als ich bei Danny in so ungefähr jedes erreichbare Fettnäpfchen getreten war, stellte sich heraus, daß ich eben nicht genug gehört hatte.«
»Ah ja. Jetzt kommt wohl die Erklärung dafür, daß hier ein halbes Familientreffen der Steins stattfindet. Los, weiter im Text.«
Also fuhr Philipp mit seiner Erzählung fort. Die nächste Unterbrechung gab es, als er erzählte, wie er mich für meine Missetaten herunterputzte. Diesmal war Mutti jedoch weniger geschockt als vielmehr amüsiert.
»Ha, und ich nehme an, mein armer Sohn stand da wie ein begossener Pudel.«
»Mutti, das war gar nicht so lustig! Eben hatte ich noch die Wunderwelt der Chemie im Kopf, und plötzlich fand ich mich mitten in solch einem Drama wider.«
Philipp sprang vom Bett und kniete sich vor mir auf den Boden.
»Sorry, sorry, sorry – Danny, wie oft soll ich mich noch bei dir entschuldigen?«
»Schon gut, alles vergeben und verziehn. Erhebe er sich.«
Kurz darauf saß Flip wieder neben mir auf dem Bett, und diesmal deutlich näher als zuvor. Was natürlich meiner Mutter nicht entging.
»Sagt mal… Wieso habe ich das Gefühl, daß in dem Bericht noch irgendein entscheidender Punkt fehlt? Könnte es sein, daß ihr mir noch etwas zu sagen habt?«
Könnte es sein? Vermutlich schon. Bisher hatte Philipp jedenfalls nichts von den Dingen erwähnt, die mir am wichtigsten waren. So von wegen seinem Schwulsein, und daß er mich mochte. Die Frage war nun, ob er bereit war, damit herauszurücken. Ich würde mich in der Beziehung lieber erstmal zurückhalten. Die Fettnäpfchen, in die Flip vorhin getreten war, standen bestimmt noch irgendwo in der Gegend herum und warteten auf ein neues Opfer.
»Äh … Frau Thom … ich …«
»Stop! Philipp, für dich gilt das gleiche wie für Danny. Du mußt mir gar nichts erzählen. Ich werde jetzt einfach meine Neugier vergessen und euch in Ruhe lassen.«
Philipp starrte einen Moment nachdenklich vor sich hin, dann schien er eine Entscheidung getroffen zu haben.
»Meine Eltern glauben also, daß ich schwul bin?«
»Naja, sie halten es jedenfalls für eine plausible Erklärung für dein Verhalten in der letzten Zeit.«
Flip seufzte leise auf.
»Es stimmt. Ich bin schwul.«
»Danke, Philipp.«
»Huh? Danke? Wofür?«
»Dafür, daß du mir genug vertraust mir das zu sagen.«
»Naja, ich habe das dumpfe Gefühl, daß da eh nicht mehr viel zu verraten war, oder?«
»Ich denke, es hat dich trotzdem ziemliche Überwindung gekostet.«
»Ja. Äh, Frau Thom, da ich ja nur viel zu wenig von Ihrem Gespräch mit meinen Eltern mitbekommen habe: was habe ich denn von dort zu erwarten?«
»Oh, Junge, ich denke, da brauchst du dir überhaupt keine Sorgen zu machen! Wir haben ziemlich lange zusammengesessen und geredet. Deine Eltern machen einen sehr netten Eindruck, und sie waren ehrlich interessiert an den Dingen, die ich ihnen zu erzählen hatte. Wenn du es ihnen sagst – und ich nehme an, du fragst mich danach weil du es ihnen sagen möchtest – dann werden sie zwar noch ein Weilchen brauchen, um sich daran zu gewöhnen, aber sie werden dich noch genauso liebhaben wie bisher.«
»Sie glauben, meine Eltern werden damit klarkommen? Ehrlich?«
»Ganz ehrlich. Sie hätten sich sonst gar nicht die Mühe gemacht, erst mit Danny und dann mit mir zu reden.«
Ein extrem erleichterter Philipp ließ sich neben mir entspannt ins Federbett zurücksinken. Naja, und ich war zugegebenermaßen auch erleichtert. Schließlich bedeutete dies, daß ich mir Hoffnungen auf ein harmonisches Verhältnis zu den potentiellen Schwiegereltern machen konnte. Falls Flip nun tatsächlich mit mir wie man so schön sagt »gehen wollte«.
»Da … da ist noch etwas, Frau Thom. Etwas, was ich so auch Danny noch nicht gesagt habe.«
Nun war ich aber gespannt.
»Danny, ich hab dir gesagt, daß ich dich mag.«
Ja?
»Das trifft die Sache nicht ganz. Ich … ich habe … ich habe mich in dich verliebt! So, jetzt ist es raus!«
Allerdings. Es war raus. Und obwohl das ja genau das war, was ich hatte hören wollen, obwohl ich Flip jetzt meine eigene Liebe schwören sollte, obwohl ich ihm um den Hals fallen sollten – tat ich gar nichts. Ich war nicht dazu fähig, auch nur ein einziges Wort herauszubringen, geschweige denn, irgendetwas anderes zu tun. Ich saß einfach dumm in der Gegend herum und starrte Philipp mit weit aufgerissenen Augen an…
Keine Ahnung wielange das andauerte, aus meiner Starre riß mich letztendlich meine Mutter.
»Danny. Danny! Daniel Thom! Nun wach mal wieder auf! Ich denke, Philipp würde sich über eine Antwort freuen!«
»Wie … was … äh … ja! Flip, meinst du das ernst? Wirklich?«
»Absolut und hundertprozentig.«
Zum Glück versetzte mich diese Antwort nicht wieder in eine Starre, und endlich schaffte ich es, eine angemessene Reaktion hervorzubringen.
»Flip, ich habe mich auch in dich verliebt. Gleich am ersten Tag, an dem du mir über den Weg gelaufen bist.«
Im nächsten Moment lagen wir einander in den Armen, und alle Anspannung fiel von mir ab. Das war es, wovon ich so lange geträumt hatte. Wie oft hatte ich darauf gehofft, und wie oft war ich enttäuscht worden. Das alles schien jetzt ein Ende gefunden zu haben, ein sehr glückliches Ende.
»Philipp, heißt das, daß wir jetzt zusammen sind?«
»Ja. Wenn du mich haben willst…«
»Dummkopf, klar will ich Dich haben! Dich und keinen anderen!«
»Ähem, Jungs, tut mir ja sehr leid euch unterbrechen zu müssen, aber ich glaube es wird Zeit, daß wir uns wieder zu den anderen begeben. Kevin muß bestimmt auch langsam nach Hause, oder?«
Das stimmte allerdings, die Zeit war gnadenlos vergangen. Eines war allerdings noch zu klären.
»Philipp, sollen wir es irgendwem verraten?«
Ich weiß. Fürchterlich rational und unromantisch in einer so wunderbaren Situation. Aber wir mußten uns den Realitäten stellen…
»Daß wir zusammen sind?«
»Genau das. Ich richte mich da ganz nach dir.«
»Ich … ich denke, Tim weiß es eh schon. Und Veronika habe ich bisher auch immer alles erzählt. Wir können es ihnen also auch ruhig sagen.«
»Aber was ist mit deinem Bruder? Der wird zwar sicher noch nicht verstehen worum es überhaupt geht, aber was, wenn er sich vor euren Eltern verplappert?«
»Du hast recht, Kevy würde es eh nicht verstehen, hat also gar keinen Sinn, es ihm direkt zu sagen. Wenn er fragt, werden wir weitersehen. Und was meine Eltern angeht… Ich glaube, ich werde es ihnen sagen. Heute noch.«
»Bist du dir sicher? Das ist ein großer Schritt!«
»Ich weiß. Aber ich will es endlich hinter mich bringen. Schließlich hat deine Mutter gute Nachrichten mitgebracht…«
»Okay. Wenn du es wirklich willst. Soll ich mitkommen?«
Philipp überlegte kurz.
»Nein. Ich schaffe das schon. Aber danke für das Angebot.«
»Okay. Rufst du mich hinterher an? Ich möchte gerne wissen, wie es gelaufen ist.«
»Versprochen. Aber jetzt sollten wir wirklich nach den anderen sehen.«
Wir machten uns also auf den Weg nach unten, wo der ganze Rest der Versammlung bereits auf uns wartete. Kevin steckte wieder in seinen eigenen Sachen, und seine Schwester hatte auch schon die dicken Jacken parat gelegt.
»Da seid ihr ja. Philipp, wir müssen los, sonst machen sich unsere Eltern noch Sorgen.«
»Okay, ich bin auch soweit. Machen wir los.«
Während jetzt auch Philipp seine Jacke anzog, konnten wir beide die Augen nicht voneinander lassen. Ich hatte irgendwie das Gefühl, daß es uns kaum gelingen würde, unsere neugefundene Beziehung großartig geheimzuhalten. Die fragenden Blicke von Flips Schwester bestätigten meine Vermutung.
Die drei »Steine« verabschiedeten sich und machten sich auf den Heimweg, und ich schaute ihnen noch ein Weilchen hinterher. Als ich wieder zurück in die Küche kam, grinsten mich sowohl Mutti als auch Tim fröhlich an.
»Herzlichen Glückwunsch!«
Und das in Stereo… Aber ich denke, die Glückwünsche waren wirklich angemessen.
»Danke, danke, nur keinen Neid.«
»Warum sollten wir neidisch sein? Tim hat seine Veronika, und ich habe Reinhardt. Alle Familienmitglieder unter der Haube – was kann man mehr erwarten?«
Da hatte sie allerdings recht.
»Ich sehe das doch richtig. Ich meine, bei Danny weiß ich, daß er und Philipp ein Paar sind. Und bei dir, Tim, ist es doch auch ernst. Oder?«
Mein kleiner Bruder errötete leicht, dann nickte er.
»Na wunderbar. So, Jungs, ab ins Wohnzimmer. Ich denke, es ist an der Zeit für eine Flasche Sekt.«
Na das waren ja ganz neue Töne! Es schien für Mutti tatsächlich ein ganz besonderer Tag zu sein, zu solchen Mitteln griff sie nur zu ganz herausragenden Anlässen.
»Und was ist mit deinem Liebsten? Wollen wir nicht auf den warten?«
»Keine Angst, der taucht spätestens auf, wenn die Flasche offen ist. Aber … äh, was ich ganz vergessen habe… Tim, von dir ahnt er es ja mehr oder weniger schon. Aber Danny, möchtest du ihm sagen, daß du auch vergeben bist? Er würde sich bestimmt für dich freuen.«
Ich brauchte da nicht lange zu überlegen.
»Ich möchte es ihm sagen.«
»Na dann ist ja alles klar. Danny, kümmerst du dich um die Gläser?«
»Okay.«
Wir zogen ab ins Wohnzimmer, wo ich die besten Sektgläser, die wir im Hause hatten, hervorholte. Kurz darauf tauchte Mutti mit der geöffneten Flasche auf. Und kaum war das erste Glas eingegossen, als die Haustür aufging und Reinhardt hereinspaziert kam.
»Bin wieder da!«
»Leg ab und komm ins Wohnzimmer, wir haben was zu feiern!«
Während er sich nun aus dem Mantel schälte, goß Mutti die restlichen Gläser ein, und pünktlich als das erledigt war marschierte Reinhardt ins Zimmer hinein.
»Sekt? Zum Freitag? Was ist denn hier los?«
Wir überließen es Mutti, ihren Liebsten in die Gründe der Feierlichkeiten einzuweihen.
»Reinhardt, unser Großer ist verliebt!«
Tims Vater schaute mich an.
»Erfolgreich oder hoffnungslos?«
Bevor ich antworten konnte, sprach er schon weiter.
»Ich sehe schon, bei deinem strahlenden Gesicht ist die Antwort klar. Und wer ist der Glückliche?«
»Philipp.«
Reinhardt zog ein wenig die Stirn in Falten.
»Philipp? Den Namen habe ich doch schon einmal gehört… Ist das nicht der Junge, zu dessen Eltern du heute gehen wolltest, Maria?«
»Genau der. Die Ereignisse haben sich ein wenig überschlagen. Aber im Endeffekt ist alles gutgegangen.«
»Na dann: Herzlichen Glückwunsch!«
»Danke.«
Jetzt wollte Reinhardt zu seinem Glas greifen, aber Mutti hielt ihn auf.
»Moment, der Herr! Das war erst die halbe Geschichte.«
»So? Noch mehr zu feiern – an einem Tag?«
»Naja, was sich gestern schon angedeutet hat, das hat sich heute bestätigt. Auch unser Kleiner ist in festen Händen.«
»Ach? Die Veronika, von der gestern die Rede war?«
Reinhardts Reaktion war logischerweise weniger überrascht als bei den Neuigkeiten über mich, aber trotzdem sehr erfreut.
»Ja, Paps.«
»Na das sind ja Neuigkeiten… Also dann, ich gratuliere natürlich auch Dir, Tim!«
»Danke, Paps!«
Ich hatte Reinhardt während dieses Wortwechsels sehr genau beobachtet. Ich wollte seine Reaktion auf die letzte Bestätigung dafür sehen, daß sein geliebter Tim mit einem Mädchen zusammen war, und sich somit seine Fragen und eventuellen Befürchtungen bezüglich Tims sexueller Orientierung erledigt hatten. Ich erwartete ein wenig Erleichterung, ganz egal wie sehr er mich akzeptierte, hier ging es schließlich um seinen leiblichen Sohn. Aber nein. Alles was ich sah, war offene, ehrliche Freude, und als Reinhardt sich wieder mir zuwandte, konnte ich sehen, daß diese Freude mir genauso galt wie Tim. Das war wirklich ein Tag zum feiern!
»So, wie ist das nun, können wir jetzt anstoßen, oder gibt es vorher noch ein paar solche Neuigkeiten zu verkünden?«
»Nein, Reinhardt, das wars für den Moment. Reicht ja auch erstmal, oder?«
Dem konnten wir nur zustimmen, und kurz darauf stießen unsere Gläser aneinander. Anschließend setzten wir uns in die Couchecke, und abwechselnd erzählte jeder das, was die anderen nicht selbst miterlebt hatten. Das brauchte natürlich einige Zeit, und ich wurde langsam etwas unruhig. Wie war es Flip in der Zwischenzeit ergangen? Hatte er seinen Eltern schon alles erzählt? Wie hatten die auf diese Neuigkeiten reagiert? Auf Dauer blieb diese steigende Nervosität nicht unbemerkt.
»Danny, was ist, warum bist du so unruhig?«
»Warum ruft Philipp nicht an? Er wollte mir sofort erzählen, wie es bei ihm zuhause gelaufen ist.«
»Keine Bange, Danny, mach dir keine Sorgen. Es wird alles gutgehen, glaub es mir. Das dauert halt seine Zeit, es gibt eben viel zu besprechen.«
»Meinst du, Mutti?«
»Klar. Warts ab, er wird dich nachher anrufen. Und wir essen erstmal was.«
Keine so schlechte Idee. Zum Brummen meines Schädels ob der Ereignisse des Nachmittags hatte sich jetzt das Knurren meines Magens gesellt. Wir gingen in die Küche, wo wir alsbald einige frische Brötchen mit Wurst und Käse ihrer Bestimmung zuführten.
»Übrigens, ich habe heute mit Ludwig telefoniert. War gar nicht so einfach, seine Telefonnummer herauszubekommen, aber am Ende habe ich es geschafft.«
Ludwig, Ludwig … Welcher Ludwig? Ich kramte in meinen Erinnerungen, wurde aber nicht fündig. Auch Tim und Reinhardt waren ratlos, was Mutti zum Glück bemerkte.
»Onkel Ludwig. Der Ex-Mann von Helga.«
Jetzt machte es bei mir Klick. Onkel Ludwig, der reiche Typ, mit dem Helga für eine kurze Zeit verheiratet gewesen war.
»Ich wollte wissen, ob er irgendeinen Grund kennt, warum Helga dermaßen ausgeflippt ist.«
»Und?«
Reinhardt stellte die Frage, die uns allen auf den Lippen brannte.
»Anfangs war er sehr abweisend und wollte nicht mit der Sprache rausrücken. Aber ich habe bemerkt, daß er etwas wissen mußte, also habe ich weiter gebohrt. Und dann hat er ausgepackt. Danny, weißt du eigentlich, warum sich die beiden damals scheiden ließen?«
»So genau nicht. War da nicht irgendwas, daß er sie betrogen hatte?«
»Genau. Sie hat ihn quasi auf frischer Tat ertappt. Und jetzt kommts: mit einem Mann!«
Drei Kinnladen klappten herunter und schlugen auf der Tischplatte auf.
»Tja, Ludwig ist bisexuell und hatte schon ewig einen Liebhaber. Helga hat er geheiratet, weil es aus gesellschaftlichen Gründen besser aussah.«
Das erklärte natürlich einiges, wenn nicht gar alles. Sie hatte eine enorm schlechte Erfahrung mit »einem von uns« gemacht, und das dann auf alle anderen übertragen. Verstehen konnte ich ihren Schock durchaus, aber nicht das, was sie daraus aufgebaut hatte und wie sie mich, ihren eigenen Neffen, behandelt hatte. Und Mutti natürlich auch. Das – und da war ich mir ziemlich sicher – würde ich ihr kaum jemals verzeihen können. Und ich glaubte außerdem auch nicht daran, daß sie ihre eigene Einstellung jemals ändern würde. Das Kapitel »Tante Helga« war für mich mehr oder weniger erledigt.
Ich verkniff mir jeden Kommentar zu diesen Neuigkeiten, eigentlich wollte ich davon nichts mehr hören und nicht mehr darüber nachdenken.
Brauchte ich auch nicht, denn in diesem Moment klingelte das Telefon, und ich brach bei meinem Sprint zu diesem im Wohnzimmer liegenden Gerät sämtliche Kurzstreckenweltrekorde.
»Flip?!?«
»Äh, ja, der bin ich. Danny?«
»Genau.«
»Du hast eine komische Art, dich am Telefon zu melden.«
Jetzt wo er es sagte…
»Sorry, ich habe halt schon die ganze Zeit auf deinen Anruf gelauert.«
»Schon okay. Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat, wir hatten viel zu besprechen.«
»Und? Nun sag schon, wie ist es gelaufen?«
»Du bist ja ziemlich ungeduldigt! Kann es sein, daß du noch nervöser warst als ich?«
»Schon möglich. Und wenn du jetzt nicht bald anfängst zu erzählen, dann komme ich persönlich durch die Leitung gekrochen und kitzele aus dir heraus!«
»Das klingt für mich eher nach einem Versprechen als nach einer Drohung. Aber okay, ich will mal nicht so sein. Alles ist prima gelaufen. Meine Eltern haben es ziemlich locker aufgenommen, sie waren zwar überrascht, daß ich es ihnen so schnell gesagt habe, aber daß ich schwul bin, hat sie wohl nicht mehr so geschockt.«
Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Der erste Teil von Philipps großer Beichte war erfreulich verlaufen.
»Sie werden noch ein Weilchen brauchen, um sich ganz daran zu gewöhnen, aber sie haben mir gesagt, daß das wichtigste für sie ist, daß ich glücklich werde.«
Na also, was sollte man mehr verlangen!
»Super, ich freue mich für dich!«
»Und ich mich erst. Mir hatten doch ein wenig die Knie gezittert. Aber deine Mutter hat wirklich gute Arbeit geleistet. Kannst du ihr einen schönen Gruß ausrichten? Sowohl von mir als auch von meinen Eltern? Und unseren Dank?«
»Klar, sie wird sich bestimmt auch freuen zu hören, daß alles gutgegangen ist.«
»Naja, und dann habe ich meinen Leuten erzählt, daß ich mit dir zusammen bin.«
»Und? Komm schon, laß mich nicht so zappeln!«
»Was soll schon sein? Ich darf dich nie wieder sehen, muß die Schule wechseln, und wenn du dich jemals in meiner Nähe blicken läßt, dann werden dich meine Eltern wegen Verführung Minderjähriger anzeigen.«
»Was???«
»Just kidding. Entspann dich wieder.«
»Du spielst mit meinem Leben, Flip! Bei einem alten Mann wie mir kann sowas schnell zum Herzinfarkt führen.«
»Alter Mann, soso. Da muß ich mir die ganze Sache wohl doch nochmal gründlich überlegen. Wenn schon so ein kleiner Scherz dich an den Rand des Herzinfarkts bringt, dann würdest du eine Beziehung mit mir wohl kaum lange überleben…«
»Och, nein, ich werde mich zusammenreißen.«
»Na hoffentlich. Nicht daß ich am Ende derjenige bin, der Ärger bekommt. So von wegen Seniorenmißbrauch.«
»Schon gut, schon gut. Jetzt aber mal ernsthaft. Was haben deine Eltern zu dem Thema gesagt?«
»Also meine Mutter ist ziemlich begeistert von dir, du hast sie bei eurem Treffen im Dojo ein wenig beeindruckt. Sie meint, ich hätte es kaum besser treffen können. Und mein Vater verläßt sich da ganz auf ihr Urteil. Ganz allgemein vertrauen sie mir da völlig und haben nicht vor, sich in mein Leben einzumischen. Aber…«
Aha, jetzt kam es also.
»Aber was?«
»Aber ich mußte mir gleich eine Lektion in Sachen Safer Sex anhören.«
Das kam mir irgendwie bekannt vor.
»Die habe ich auch schon hinter mir. Aber Philipp, ganz ehrlich, ich habe da keine Eile. Ich glaube nicht, daß ich schon soweit bin.«
»Danny, mir geht es genauso. Ich freue mich wirklich, daß wir da auf einer Wellenlänge liegen.«
»Ich bin froh, daß ich dich erstmal habe. Ich sehe keinen Grund, jetzt irgendwas zu überstürzen.«
»Sehe ich auch so.«
»Anderes Thema. Hast du morgen schon was vor?«
»Nein. Wieso, hast du eine Idee? Mir ist eigentlich alles recht, solange wir zusammen sind.«
Wie das doch mein vor kurzem noch so einsames Herz erwärmte!
»Ich wollte ein wenig durch die Kaufhäuser ziehen. Jetzt nach Weihnachten ist vieles billiger geworden, und ich brauche noch verschiedene Sachen.«
»Okay, gute Idee. Holst du mich zuhause ab?«
»Klar. Wann soll ich da sein?«
»So gegen neun, halb zehn. Oder ist das zu spät?«
»Nein, kein Problem. Wir schwingen uns dann in die Straßenbahn, da brauchen wir nur ein paar Minuten bis in die Stadt.«
»Gut. Also dann…«
»Also dann. Flip, vielen Dank für deinen Anruf. Bis morgen?«
»Ja, bis morgen.«
Kurzes Schweigen in der Leitung.
»Und Danny?«
»Ja?«
»Ich liebe dich.«
»Ich dich auch, Philipp. Ich bin dermaßen glücklich…«
»Ich auch.«
Wieder Schweigen.
»Dann Tschüß bis morgen, Flip.«
»Tschüß, Danny.«
Trotz der Verabschiedung brachte ich es nicht fertig aufzulegen. Und da ich kein Klicken in der Leitung hörte, ging es Philipp wohl genauso.
»Flip, bist du noch dran?«
»Ja.«
»Okay, paß auf. Ich zähle jetzt bis drei, dann legen wir beide auf, einverstanden?«
»Einverstanden.«
»Gut. Eins … zwei … drei.«
Überraschenderweise schaffte ich es tatsächlich, auf den Knopf zu drücken, der die Verbindung beendete. Vorsichtig legte ich das Telefon zur Seite, dann war es um meine Kontrolle geschehen.
»Yippiiieeeeeeh!«
Der von mir aufgeführte Freudentanz hätte wohl jedem indianischen Medizinmann alle Ehre gemacht. Mein lauter Freudenschrei hatte den Rest der Familie angelockt, und dieser Rest beobachtete nun staunend meinen Auftritt. Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, blickte ich in drei grinsende Gesichter.
»Dürfen wir davon ausgehen, daß bei deinem Philipp alles gut gelaufen ist?«
»Ja!«
»Na also, habe ich dir doch vorhin schon gesagt.«
»Ich weiß, Mutti, ich weiß. Ich sollte dir viel mehr vertrauen.«
»Na endlich gibst du das mal zu. So, wie gehts jetzt mit euch beiden weiter?«
»Wir wollen morgen vormittag zusammen die Innenstadt unsicher machen.«
»Macht das, du weißt ja, daß du eh noch ein paar Sachen für die Winterferien brauchst.«
Mußte sie mich unbedingt daran erinnern? Unsere Klasse würde eine ganze Woche in einem Winterferienlager verbringen. Im Erzgebirge. Zum Skifahren! Ich wollte mich eigentlich darum drücken, aber das hatte Mutsch nicht zugelassen. Naja, wenn jetzt Flip auch mitkommen würde – und das wollte ich doch sehr hoffen! – dann würde ich auch das überleben.
Der Rest des Tages verging in allgemeiner fröhlicher Stimmung, ich zog Tim mit seiner Veronika auf, er mich mit meinem Philipp, und unsere Eltern uns beide mit den jeweiligen Liebesinteressen. Kurz nach elf lagen Tim und ich in den Federn, und kurz darauf schlief ich den Schlaf der Gerechten.
Ich verbrachte eine sehr ruhige, angenehme Nacht – keine Ahnung wovon ich geträumt habe, aber es muß was sehr schönes gewesen sein. Trotzdem erwachte ich für meine Verhältnisse sehr zeitig – es war gerade mal halb acht, als ich es im Bett nicht mehr aushielt. Seit um sieben hatte ich wach gelegen und nochmal die Ereignisse der letzten Tage im Geiste durchgespielt. Ziemlich durchwachsene Ereignisse, längst nicht alle so, wie ich sie gerne gehabt hätte, aber das Endergebnis entschädigte für alles.
Wie gesagt, es war halb acht, und ich setzte mich im Bett auf. Ein Blick zur anderen Zimmerseite zeigte mir, daß mein kleiner Bruder noch selig schlummert. Und wohl wirklich selig – wenn man das Lächeln in seinem Gesicht zur Bewertung heranzog. Zum Glück hatte ich jetzt keinen Grund mehr ihn zu beneiden – schließlich hatte auch mein Brüderchen es mehr als verdient, mal ein wenig Freude im Leben zu haben.
Auf den leisen Sohlen meines US-Einteilers schlich ich zum Fenster und schloß es, dabei einen Blich auf das Außenthermometer werfend. Neun Grad minus – der Winter hatte uns weiter fest in seinem Griff. Mein nächster Weg führte zur Heizung, welche ich auf Tageswerte einstellte. Alsdann ging es ins Bad, wo ich in aller Ruhe den morgendlichen Verpflichtungen huldigte. Erst ging es unter die Dusche, dann vor Waschbecken und Spiegel. Ich nahm mir viel Zeit, schließlich wollte ich für Philipp perfekt aussehen! Obwohl es eigentlich noch nicht nötig gewesen wäre, griff ich zum Rasierzeug und beseitigte ein paar einzelne, vorwitzige Bartflusen. Die Zähne putzte ich mindestens doppelt solange wie notwendig, und das Mundwasser nahm ich dermaßen konzentriert, daß es fast schon wieder unangenehm war. Ein wenig Aftershave, etwas Deo, meine Haare brauchten zum Glück nicht allzuviel Aufmerksamkeit.
Als ich alle Amtshandlungen erledigt hatte, warf ich per Spiegel einen langen, ausgiebigen Blick auf meinen nackten Körper. Okay, ich war kein Modellathlet, aber alles in allem konnte ich wohl mit mir zufrieden sein. Die letzten Reste vom Babyspeck waren längst verschwunden, andererseits war ich auch nicht so dürr, daß man meine Rippen hätte zählen können.
»Ich sollte wohl wirklich froh sein, daß du schwul bist. Ansonsten müßte ich mir ernsthafte Sorgen darum machen, daß dich Veronika mir vorzieht.«
Bei den ersten Worten von Tim zuckte ich heftig zusammen. Übers ganze Gesicht grinsend stand er in der Badezimmertür – von deren Öffnung ich bei meiner eingehenden Selbstbetrachtung nichts mitbekommen hatte.
»Mein Gott, mußt du mich so erschrecken?«
»Ja. Ich muß nämlich mal aufs Klo, und wenn ich noch lange darauf warten muß, daß du endlich fertig wirst, dann mache ich mir in die Hosen.«
»Okay, okay, ich verschwinde ja schon. Bin eh fertig.«
Ich schnappte mir meinen Schlafanzug, und in diesem Moment wurde mir erst so richtig klar, daß ich mal wieder splitterfasernackt vor meinem Bruder herumlief. So langsam bekam ich den Eindruck, daß ich wohl tatsächlich eine Art verkappter Flitzer war.
Ich überließ Tim sich selbst und wanderte zurück in unser Zimmer, wo ich mich in die erste Lage Klamotten hüllte. Es war kurz nach acht, alles in allem war ich gar nicht so lange im Bad gewesen wie ich befürchtet hatte.
Der nächste Weg führte mich in die Küche, wo Mutti bereits dabei war, das Frühstück vorzubereiten.
»Morgen, Mutti.«
»Guten Morgen, Danny. Na, gut geschlafen?«
»Ja, danke, sehr gut.«
»Woran das wohl gelegen hat…«
Eine Antwort darauf konnte ich mir sparen.
»Hunger?«
»Klar, immer.«
Kurz darauf stand ein Teller mit Brötchen und eine Tasse dampfender Tee vor mir – und ich machte mit beidem kurzen Prozeß.
»Daniel…«
Oh, oh. Daniel. Was hatte ich denn jetzt schon wieder angerichtet?
»Ja?«
»Danny, ich will dir wirklich nicht zu nahe treten, aber … naja, ich möchte bloß sichergehen. Gut, wir hatten so ein Gespräch schonmal, aber trotzdem. Ich möchte dich bloß bitten, mit Philipp nichts zu überstürzen. Laßt euch Zeit, und wenn ihr zwei … naja, du weißt schon … wenn ihr intim werdet, dann denke bitte an das Thema Sicherheit, okay? Kondome hast du doch noch, oder?«
Hätte ich jetzt einen Spiegel gehabt, dann hätte ich sehen können, daß mein Kopf aussah wie ein Bremslicht bei einer Notbremsung.
»Mutti, ich frühstücke gerade!«
»Tust du nicht, ich habe extra gewartet, bis du fertig bist. Ich werde auch nie wieder damit anfangen, aber ich bin halt deine Mutter, und da mußte ich einfach sichergehen.«
»Schon gut, schon gut. Aber mach dir keine Sorgen. Soweit sind wir eh noch lange nicht, und wenn es irgendwann mal passiert, dann werden wir aufpassen. Versprochen.«
»Das wollte ich nur bestätigt haben. So, wann und wo wollt ihr euch denn treffen?«
»Ich hole Flip zuhause ab, so nach neun haben wir ausgemacht.«
»Weißt du wo er wohnt?«
Hm, natürlich nicht. Die Telefonnummer kannte ich mittlerweile zwar auswendig, nicht jedoch die Adresse. Aber dafür hatte ich meine geliebte Frau Mutter.
»Nein. Schieß los, wo muß ich hin?«
»Dörrenstraße 7. Du weißt, wo das ist?«
»Ja, kein Problem. Dorthin brauche ich höchstens zehn Minuten.«
Ich schraubte mich von meinem Stuhl hoch.
»Wann soll ich eigentlich wieder zuhause sein? So von wegen Mittagessen.«
»Vor um eins essen wir nicht, Reinhardt und ich wollen auch mal weg. Wenn du das nicht schaffst, dann rufe bitte an und hinterlaß eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter.«
»Okay, kein Problem.«
»Und hier ist etwas Geld. Du weißt ja, was du brauchst.«
Das wußte ich allerdings. Beim Griff zu den Geldscheinen wurden meine Augen groß – was Mutti natürlich auch bemerkte.
»Das heißt aber nicht, daß du das alles ausgeben mußt! Nur so zur Vorsicht.«
Schade. Glatte dreihundert Euro hatte ich zur Verfügung.
»Danny, Reinhardt und ich haben gestern abend noch etwas besprochen. Ein Teil von dem Geld ist für ein Handy.«
Jaaaaa! Endlich!
»Freu dich nicht zu früh, das ist kein Freibrief zum Geldverschwenden. Du holst dir so ein Prepaid-Paket, und du bekommst von uns dann jeden Monat fünf Euro Zuschuß für Gesprächsgebühren. Alles, was darüber hinausgeht, mußt du selber bezahlen – und glaube bloß nicht, daß du nur zu uns kommen brauchst, wenn dein Taschengeld nicht reicht. Verstanden?«
»Verstanden! Danke. Aber wieso der plötzliche Sinneswandel?«
»Nach dem, was in den letzten Tage so alles passiert ist, denken wir halt, daß es doch besser wäre, wenn du immer erreichbar bist oder notfalls Hilfe holen kannst. Bedanke dich bei Reinhardt, der hat mich endgültig überzeugt.«
Das würde ich mit Sicherheit bei Gelegenheit tun.
»Okay. Was ist mit Tim, bekommt der auch eins?«
»Darüber werden wir mit ihm noch sprechen, bisher hat er kein gesteigertes Interesse daran gezeigt.«
»Woran habe ich bisher kein gesteigertes Interesse gezeigt?«
Wenn man vom Teufel (oder vom Engel?) spricht… Wachablösung am Frühstückstisch.
»Brüderchen, ich bekomme…«
»Guten Morgen allerseits!«
Jetzt erschien auch das letzte, noch fehlende Familienmitglied in der Küche. Wir grüßten zurück, dann wandte sich Tim wieder mir zu.
»Was bekommst du?«
»Ein Handy.«
»Hast du es endlich geschafft…«
Ich grinste fröhlich und hochzufrieden vor mich hin.
»So, ich mache mich langsam fertig und verschwinde dann. Tim, was hast du eigentlich vor?«
»Ich treffe mich mit Veronika und Kevin zum Eislaufen. Aber erst so gegen zehn.«
Warum überraschte mich diese Auskunft eigentlich nicht? Aber ich gönnte es ihm ja.
Ich marschierte hoch in unser Zimmer und begann mit der schwierigen Aufgabe, eine dem freudigen Anlaß angemessene Garderobe herauszusuchen. Am Ende landete ich beim eher konservativen Stil: Bluejeans und karriertes Sweatshirt waren die Wahl des Tages. Ich schaute auf die Uhr, es war immer noch Zeit herumzubringen, aber ich war viel zu ungeduldig dafür. Ich hielt es einfach nicht mehr aus, ich mußte zu Philipp! Also zog ich mich komplett an, ging wieder hinunter, fügte noch Jacke, Stiefel, Mütze und Handschuhe zu meiner Ausstattung hinzu, verabschiedete mich von den drei noch am Frühstückstisch sitzenden Familienmitgliedern und machte mich auf den kurzen Fußweg zum Hause der Familie Stein.
Zu sagen, daß ich zu Philipp lief, wäre falsch. Ich schwebte eher wie auf Wolken, und acht Minuten später stand ich vor der Haustür mit der Nummer 7. Noch ein kurzes, leicht nervöses Zögern, dann drückte ich auf den Klingelknopf.
Lange mußte ich nicht warten, dann ging die Haustür auf und das Gesicht von Frau Stein erschien im Türspalt.
»Danny! Hallo. So zeitig hatten wir dich noch gar nicht erwartet.«
Es war tatsächlich erst kurz nach halb neun.
»Sorry. Wenn ich ungelegen komme, kann ich auch nochmal gehen.«
»Quatsch, Junge, komm erstmal rein ins Warme.«
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, und jetzt begrüßte ich auch erstmal Flips Mutter.
»Guten Morgen, Frau Stein. Tut mir wirklich leid, daß ich zu früh bin.«
»Kein Problem. Hast es wohl nicht mehr ausgehalten?«
Ein wissendes Lächeln spielte um die Lippen meiner Gastgeberin. War ich tatsächlich so leicht zu durchschauen?
»Äh…«
»Brauchst nichts zu sagen, Danny. Ist schon gut. Auf Philipp wirst du aber noch ein Weilchen warten müssen, den habe ich gerade erst geweckt. Nach dem gestrigen Tag hatte er ein wenig Probleme mit dem Einschlafen, und da haben wir ihn etwas länger schlafen lassen.«
»Kein Problem.«
»So, gib mir erstmal deine Jacke. Und zieh bitte die Schuhe aus, ja?«
Das tat ich natürlich, dann wurde ich von Frau Stein ins Wohnzimmer gelotst, wo sich bei meinem Eintreten ein mittelgroßer, blonder Mann mit Lachfältchen um die Augen erhob.
»Heiner, das ist Danny Thom, Philipps Freund. Danny, das ist mein Mann.«
Mein Herz begann Sonderrunden einzulegen und klopfte dermaßen schnell und laut, daß man es eigentlich im ganzen Raum wahrnehmen mußte. Ich musterte Flips Vater und versuchte auszumachen, was ich von ihm wohl zu erwarten hätte. Meine Fähigkeit, Gesichtsausdrücke zu lesen, versagte jedoch kläglich, alles was ich erkannte war ein interessierter, abwägender und auf mich gerichteter Blick aus tiefblauen Augen. So standen wir uns für einige Sekunden schweigend gegenüber. Dann war es an der Zeit, das Urteil zu verkünden.
»Soso, du bist also derjenige, der unserem Ältesten den Kopf verdreht hat!«
Ich wurde immer nervöser. Auch aus der Stimme war nicht herauszulesen, was im nächsten Moment wohl passieren würde. Wie meinte er das mit dem »Kopf verdreht«? Doch hoffentlich nicht im Sinne von »zum Schwulsein verführt«.
»Ich habe dir nur ein paar Worte zu sagen.«
Oh weh, jetzt kam es. Offensichtlich war hier doch nicht alles so im Lot wie Philipp mir am Telefon erzählt hatte.
»Herzlich willkommen in der Familie!«
Was? Hatte ich gerade richtig gehört? Ich hob meine gerade erst in Richtung Boden heruntergewanderten Augen wieder nach oben und schaute in ein jetzt freundlich lächelndes Gesicht!
»Heiner, mußte das sein! Du bringst den armen Jungen ja ganz durcheinander!«
»Entschuldigung, das konnte ich mir einfach nicht verkneifen. Danny, mach dir keine Sorgen. Wir haben in den letzten Tagen lange darüber nachgedacht, was es für uns bedeuten würde, wenn Philipp schwul wäre. Am Ende sind wir uns einig gewesen, daß nur eines für uns zählen darf: daß unser Sohn glücklich wird. Wenn er das mit dir wird, dann soll es so sein, und du wirst hier stets willkommen sein. Aber ich muß dich warnen: brich sein Herz, und es wird keinen Platz auf der Welt geben, an dem du dich vor mir verstecken könntest!«
Damit war alles gesagt. Und wegen der letzten Drohung brauchte ich mir keine Sorgen zu machen.
»Herr Stein, ich habe nicht vor, Ihrem Sohn das Herz zu brechen oder in irgendeiner Form wehzutun. Es ist mir mit ihm verdammt ernst, ich liebe ihn.«
»Das will ich dir auch geraten haben! Ansonsten würde nichts von dir übrigbleiben, woran Vati seine Drohung wahrmachen könnte. Ich würde dich nämlich noch vor ihm finden, und dann gnade dir Gott!«
Also in dieser Familie schien der Beschützerinstinkt wirklich extrem ausgeprägt zu sein! Jetzt drohte mir sogar schon Philipps kleine Schwester!
»Hallo Veronika. Du kannst dich drauf verlassen, ich werde deinem Bruder niemals wehtun, zumindest nicht absichtlich oder wissentlich.«
»Dann ist ja gut. Wo ist Flip überhaupt?«
»Dein Bruder ist gerade erst aufgestanden, der hatte eine kurze Nacht. Danny, wenn du willst, geh ruhig hoch in sein Zimmer. Treppe rauf, die zweite Tür links.«
»Soll ich? Ich will ihn nicht drängeln.«
»Mach nur, manchmal hat er es ein wenig nötig, sonst trödelt er zu sehr.«
Ich zuckte mit den Schultern, dann machte ich mich auf den Weg zu meinem Liebsten. Treppe rauf, erste Tür, zweite Tür. Eine völlig schmucklose Tür, keine Aufkleber, kein gar nichts. Ich klopfte an, lauschte, aber es kam keine Reaktion. Ein zweiter Klopfversuch – mit dem gleichen Ergebnis. Also nahm ich meinen Mut zusammen, griff nach der Türklinke und ließ mich selbst hinein. In ein völlig leeres Zimmer. Also völlig leer im Sinne von Personen, Möbel waren schon vorhanden! Weit und breit aber kein Philipp in Sicht.
Ich nutzte die Zeit, um mich ein wenig im Zimmer umzuschauen. Eigentlich ein typisches Teenager-Zimmer. Nicht sonderlich ordentlich, das Bett nur oberflächlich nach der Nacht hergerichtet, auf dem Schreibtisch ein leichtes Chaos von Schulsachen neben einem Computer. Mehrere Bücherregale, vollgestopft mit Krimis und ScienceFiction. In einer Zimmerecke ein großer Kleiderschrank. Aber etwas fiel auf. Keinerlei Bilder, Poster oder Plakate zierten die Wände. Komisch, ich hatte gerade erst ein neues B3-Poster an die Wand geklebt, Tim ein neues Lara-Croft-Poster als Ersatz für das beim Brand verloren gegangene. Bei Philipp aber? Gar nichts. Kein Filmplakat, kein Musikposter, kein Sportbild. Danach würde ich ihn bei Gelegenheit mal fragen müssen.
»Danny!«
Ups, da war ich wohl mal wieder dermaßen tief in Gedanken gewesen, daß ich nicht einmal bemerkt hatte, wie der eigentliche Grund meines Hierseins das Zimmer betreten hatte. Schnell drehte ich mich zur Zimmertür, und dort stand Philipp in voller Schönheit. Leider durch die lange Unterwäsche fast völlig verhüllt, aber trotzdem atemberaubend. Und dann zog ein besonderes Detail meine Aufmerksamkeit auf sich. Flip hatte eine Brille auf! Und die stand ihm verdammt gut, betonte sein hübsches Gesicht noch zusätzlich. Ich konnte mich gar nicht an ihm sattsehen – und schon wieder schaltete mein Bewußtsein völlig ab.
»Danny! Was ist denn los mit dir?«
Und wieder unsanft geweckt…
»Äh … sorry! Hallo Flip!«
»Hallo zurück. Was war denn eben mit dir los?«
»Tut mir leid, ich habe dich halt bloß noch nie mit Brille gesehen.«
»Mist!«
Ich konnte gar nicht so schnell gucken wie Philipp sich die Brille von der Nase gerissen hatte, sie in seiner linken Hand verbarg, daß ich beinahe Angst bekam, er würde sie zerquetschen, und anschließend mit zum Boden gesenktem Kopf stehenblieb.
»Warum nimmst du sie ab? Sah doch wirklich gut aus.«
Das brachte ein leichtes Anheben des Kopfes und einen zweifelnden Blick.
»Meinst du das ehrlich?«
»Ja, absolut. Warum zweifelst du daran?«
Ha! Ein leichtes Lächeln spielte um die Lippen meines Gegenübers.
»Naja… Als ich vor ein paar Jahren eine Brille brauchte, haben ein paar Leute mich als Brillenschlange runtergemacht. Und das ist wohl hängengeblieben, sobald das ging bin ich auf Kontaktlinsen umgestiegen. Die Brille trage ich nur noch zuhause, oder wenn ich aus irgendwelchen Gründen mal keine Linsen mag.«
»Das müssen ja ziemliche Idioten gewesen. Philipp, glaub mir, die Brille steht dir wirklich gut!«
»Heißt das, daß ich die jetzt immer tragen soll?«
»Das soll heißen, daß es mir egal ist. Du gefällst mir mit und ohne Brille, trag einfach, wonach dir jeweils der Sinn steht.«
Ich machte zwei Schritte auf Philipp zu, sodaß ich ihm jetzt direkt gegenüber stand. Ich nahm seine Hand mit der Brille.
»Darf ich?«
Er nickte, und ich nahm ihm die zum Glück ganz gebliebene Brille aus der Hand, klappte sie auf und setzte sie ihm vorsichtig wieder auf.
»So, jetzt kannst du mich wenigstens wieder richtig sehen.«
»Und das ist auch gut so.«
Im nächsten Moment lagen wir uns in den Armen, und nach kurzer Zeit fanden unsere Lippen einander. Und jetzt war es soweit, ich konnte die mit meinem kleinen Bruder erworbenen Kenntnisse zum Thema Zungenkuß anwenden ;-) Leider, als wir gerade so richtig in Stimmung kamen und ich vorschlagen wollte, den Einkaufsbummel abzusagen, wurde unsere traute Zweisamkeit auf äußerst harsche Weise unterbrochen. Kinderfüße kamen herangetrampelt, und wir konnten uns gerade noch rechtzeitig voneinander lösen, als auch schon Kevin im Schlafanzug ins Zimmer gestürmt kam und seinem großen Bruder in die Arme sprang.
»Flip!«
»Guten morgen, Kevin.«
Philipp warf den kleinen Störenfried zweimal in die Luft und fing ihn natürlich auch wieder auf, was der Kleine mit freudigem Gekicher quittierte. Während dieser Flugeinlagen entdeckte er auch, daß er nicht mit seinem Bruder alleine im Zimmer war.
»He du!«
»Hallo Kevin.«
»Was machst du hier?«
»Ich hole deinen Bruder zum Einkaufen ab.«
»Prima! Kann ich mitkommen?«
Wir schauten beide Philipp an, der schüttelte leicht mit dem Kopf.
»Nein Kevy, du willst doch heute mit Vroni und Tim zum Eislaufen gehen.«
»Stimmt! Ich will eislaufen!«
»Na dann solltest du dich jetzt waschen gehen, und dann schön warm anziehen. Denk dran, Mutti wird dich kontrollieren.«
»Bäh. Will keine Strumpfhose anziehen.«
Ich mußte leicht grinsen.
»Dann kannst du auch nicht mit zum Eislaufen.«
»Na gut…«
Und schon war er genauso schnell wie er hereingestürmt war auch wieder verschwunden. Philipp stand plötzlich wieder ganz alleine da und lächelte vor sich hin.
»Sag mal, ist der Kleine immer so hyperaktiv?«
»Nein, nicht immer. Meist ist er noch viel schlimmer.«
»Flip?«
»Ja?«
»Du glaubst gar nicht, wie ich dich in den letzten Stunden vermißt habe.«
»Ich dich auch.«
Und wieder lagen wir uns in den Armen, diesmal schafften wir es aber, uns nach relativ kurzer Zeit selbst auseinander zu dividieren.
»Du bist ziemlich zeitig, Danny.«
»Ich weiß, ich habe es einfach nicht mehr länger zuhause ausgehalten.«
»Hat dir schonmal jemand gesagt, daß du süß bist?«
»Nö. Hast du das vorhin mit deiner Zunge geschmeckt?«
Jetzt lachte Philipp schallend.
»Das auch. So, ich werde mich auch mal fertig anziehen.«
»Wenn es denn sein muß…«
Noch ein strahlendes Lächeln in meine Richtung, dann griff der blonde, göttliche (B)engel, in den ich bis über beide Ohren verliebt war, zu seinen Sachen und verhüllte seinen Körper mit einer weiteren Schicht Textilien. Hellblaue Jeans und ein weißes Fleeceshirt. Also wenn Klamotten sich schon nicht vermeiden ließen, dann waren diese zumindest an Flips Körper schön anzusehen. Besonders natürlich, weil die Jeans ziemlich körperbetonend waren. Und er hatte einen Körper, der es wert war, betont zu werden!
»Aber jetzt wechsle ich doch lieber zu Kontaktlinsen.«
»Wieso?«
»Weil ich keine Lust habe, immer mit völlig beschlagener Brille im Finstern zu stehen, wenn wir in einen gut geheizten Laden kommen.«
War das so? In dieser Sache hatte ich nun wirklich keinerlei Erfahrung. Philipp verschwand nochmal kurz in Richtung Bad, und kurz darauf erschien er mit dem Nasenfahrrad in der Hand.
»So, erledigt. Jetzt noch ein ordentliches Frühstück und es kann losgehen.«
Also ab nach unten, und auch in dieser Familie war es offensichtlich üblich, das Frühstück in der Küche zu sich zu nehmen.
»Da seid ihr ja endlich. Was hat euch denn so aufgehalten? Oder halt, ich ziehe die Frage zurück…«
»Brauchst du nicht, Mami. Kevy kam reingeplatzt, als ich mich gerade anziehen wollte.«
Ah ja. Als er sich gerade anziehen wollte. Interessante Umschreibung dessen, was wirklich abgelaufen war. Aber ich glaube nicht, daß Flips Eltern das so genau wissen sollten oder wollten.
»Na dann setzt euch, Frühstück ist fertig. Danny, du ist doch was mit, oder?«
»Also eigentlich habe ich zuhause schon gefrühstückt…«
»Eigentlich gilt nicht. Ihr seid Jungs im Wachstum, ihr braucht ordentlich zu essen.«
Wer konnte dieser Logik widerstehen? Und als ob ich jemals was zu Essen abgelehnt hätte…
Eine Viertelstunde später waren wir beide abgefüttert, und es war an der Zeit, daß wir uns auf den Weg in die Stadt machten. Noch ein kurzer Abschied von der versammelten Stein-Familie, und schon waren wir unterwegs. Die Götter des Öffentlichen Nahverkehrs waren mit uns, wir brauchten nicht lange auf eine »Bimmel« zu warten, die uns zehn Minuten später in der Innenstadt wieder ausspuckte.
»So, da wären wir.«
»Wonach willst du eigentlich gucken?«
»Das wichtigste zuerst. Ein Handy.«
»Du mußt ja Geld haben…«
»Sponsored by Mom and Dad. Lange genug habe ich ja auch gebettelt.«
»Na dann los.«
Eine halbe Stunde später war ich den ersten 75-Euro-Schein los und dafür in Besitz eines Mobiltelefons – über dessen Typ und Netz ich hier nichts sagen werde. (Vielleicht meldet sich ja ein Hersteller oder Netzbetreiber, der hier gerne verewigt sein würde? Gegen einen angemessenen Obulus – für einen noch festzulegenden wohltätigen Zweck natürlich ;-)
»Und was brauchst du jetzt noch?«
»Erstmal deine Hilfe.«
»Gerne, schieß los.«
»Du kommst doch aus Bayern…«
»Ja mei, na kloar!«
»Dann kannst du doch bestimmt skilaufen, oder?«
»Wer kann das nicht.«
»Ich zum Beispiel.«
»Und jetzt willst du das wohl ändern?«
»Von wollen kann keine Rede sein. Hast du schon von unserer Klassenfahrt im Februar gehört?«
»Ja, da war irgendwas. Wieso, geht es in die Alpen?«
»Nee, nicht ganz so hoch. Aber hoch genug zum Skilaufen, und da werde ich mich garantiert nicht drücken können.«
»Und jetzt brauchst du Ski und was sonst noch dazugehört.«
»Eher was sonst noch dazu gehört, Ski und Schuhe können wir vor Ort ausleihen.«
»Also brauchst du noch einen Skianzug und Handschuhe.«
»Genau. Und ich hoffe, du kannst mir da ein paar Tips geben.«
»Klar, also los.«
Hatte ich schon erwähnt, daß ich kein großer Fan von Klamottenkäufen bin? Ich glaube schon. Besonders die Anprobiererei ging mir mächtig auf den Senkel, und so war es auch dieses Mal. Nur die Anwesenheit von Philipp verhinderte, daß ich flüchtend die Sportabteilung des größten Kaufhauses am Platz verließ. So aber hatten wir nach einer Weile die Auswahl auf zwei Stücke reduziert, genaugenommen sogar auf eines, denn es handelte sich um zwei Teile aus derselben Serie. Einmal eine Kombination aus Latzhose und Jacke und einmal der passende Overall. Anprobiert hatte ich beides.
»Was meinst du, Flip, was soll ich nehmen?«
»Nimm den Overall.«
»Das war ja eine schnelle Entscheidung! Irgendwelche besondere Gründe, Herr Berater?«
»Ja. Ich finde ihn für Anfänger günstiger, und du bist halt ein Anfänger.«
»Stimmt. Aber warum?«
»Wenn du dich in den Schnee schmeißt – und das wird oft genug passieren – kann dir kein Schnee zwischen Jacke und Hose geraten.«
»Klingt logisch. Noch was?«
»Ja. Der Overall sieht besser aus. So von wegen Betonung der Figur.«
Oha, da hatte wohl vorhin jemand meine Gedanken bezüglich seiner Jeans gelesen.
»Okay, der zweite Grund überzeugt mich.«
»Wußt ichs doch…«
Wir suchten noch ein paar Handschuhe aus, dann wechselte wieder etwas Geld den Besitzer.
»Danke, Flip. Bei solchen Sachen kenne ich mich nicht so aus. Will ich um ehrlich zu sein auch gar nicht.«
»Komm, das wird bestimmt lustig. Ich helfe dir auch beim Lernen.«
»Jaja, lustig. Für dich bestimmt, wenn ich ständig vor dir auf die Knie falle. Bei mir bin ich mir da nicht so sicher.«
»Wir werden sehen. So, und jetzt hätte ich gerne mein Beratungshonorar.«
»Und an was hättest du da so gedacht?«
Philipp warf einen schnellen Blick in die Runde, und im nächsten Moment zog er mich in einen leeren Aufzug, drückte ein paar Knöpfe, die Türen schlossen sich, und er begann damit sein Honorar zu kassieren. In Naturalien. Nicht daß ich mich beschweren würde ;-) Allerdings hätte ich nie gedacht, daß mein frisch geouteter Liebster dermaßen rangehen würde! Nach leider nur kurzer gegenseitiger Zungenmassage machte es »Kling«, wir waren im Erdgeschoß angekommen, und die Aufzugtüren gingen auf. Widerstrebend lösten wir uns voneinander, aber ich fand, daß Flip doch etwas unterbezahlt weggekommen war. Also fand mein rechter Zeigefinger den Weg zum »Schließen-Knopf« der Türen – gerade noch rechtzeitig, bevor mehrere Omis den Aufzug betreten konnten.
»Sorry, schon voll!«
Und schon waren wir wieder auf dem Weg nach oben – der »Bezahlvorgang« wiederholte sich. Im obersten Stockwerk angekommen klappte es leider nicht so gut – eine junge Mutti mit Kinderwagen war so schnell in den Aufzug gestürmt, daß uns keine Zeit für irgendwelche Abwehrmaßnahmen blieb. Die Türen schlossen sich, und es ging erneut abwärts.
»Wegen mir könnt ihr ruhig weiterknutschen, tut euch nur keinen Zwang an.«
Ups, da hatten wir wohl bei der Ankunft im vierten Stock nicht schnell genug reagiert und waren durch die sich öffnenden Aufzugtüren beobachtet worden! Und wieder waren zwei knallrote Köpfe fällig. Andererseits… Wenn man uns so nett aufforderte…
Aufgeschreckt wurden wir durch ein Räuspern.
»Jungs, wir sind unten, die Türen gehen gleich auf.«
Wir ließen voneinander ab, und mit einem leicht verschämten aber dankbaren Lächeln in Richtung unserer Mitfahrerin verließen wir den Aufzug und anschließend auch gleich das Kaufhaus.
»Und, Danny, was machen wir jetzt?«
Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, daß es bereits halb zwölf war.
»Wirst du zum Mittagessen erwartet?«
»Unbedingt erwartet nicht. Entweder ich bin da oder nicht. Wieso?«
»Hast du Lust, bei uns mitzuessen?«
»Ich weiß nicht. Ich will niemandem zur Last fallen. Erst recht nicht so unangemeldet.«
»Du fällst bestimmt niemandem zur Last. Mutti freut sich garantiert, und mein Stiefvater möchte dich auch mal kennenlernen. Schließlich habe ich dem schon so viel von dir erzählt…«
»Oh Gott, ist das jetzt eine Drohung? Was hast du denn alles über mich erzählt?«
»Da ich nur Gutes von dir weiß, kann ich ihm auch nur das erzählt haben.«
»Alter Schmeichler.«
»Ich sage nur die Wahrheit!«
»Hm. Werdet ihr überhaupt genug zu essen haben, um mich auch noch mit durchzufüttern?«
»Heute gibt es Kartoffelsuppe mit Bockwurst, da wird eh immer ein Riesentopf gemacht. Ist auch schon alles fertig und muß nur noch warmgemacht werden.«
»Okay, wenn das so ist… Dann sollte ich aber lieber bei meinen Leuten anrufen und denen das mitteilen. Nicht daß die eine Vermißtenanzeige wegen mir aufgeben.«
»Gut, auf nach Hause, von dort aus kannst du auch anrufen.«
Wir machten uns auf den Heimweg – und wurden bei der Gelegenheit in der Straßenbahn beinahe zerquetscht. Wie schon die Kaufhäuser war auch die Bimmel mächtig voll – da hatten wohl doch ziemlich viele Leute mit dem Geldausgeben auf nach Weihnachten gewartet. Leicht zerzaust erreichten wir kurz nach zwölf Uhr die angenehme Wärme des Hauses.
Erwartet wurden wir dort … von niemandem. Alle Mitglieder meiner Familie glänzten noch durch Abwesenheit, nur auf dem Küchentisch lag ein Zettel:
»Wer immer zuerst da ist: Tisch decken!«
Wer konnte schon so einer freundlichen Bitte widerstehen? Jedenfalls nicht so ein braver Sohn wie ich.
»Flip, das Telefon ist im Wohnzimmer. Ruf bei dir an, ich kümmere mich inzwischen um das Futterwerkzeug.«
»Soll ich dir dabei nicht helfen?«
»Nee, laß mal, nicht nötig. Ich weiß wo alles steht, das geht ganz schnell.«
»Okay.«
Es dauerte auch nicht lange und schon war der Tisch gedeckt – fehlte nur noch der Inhalt für die Teller. Hoffentlich ließ uns Mutti nicht allzulange warten…
»So, alles geklärt. Ich brauche erst zum Kaffee wieder aufzutauchen. Allerdings…«
»Allerdings?«
»Dann bist du eingeladen.«
»Zum hochnotpeinlichen Verhör?«
»Ich glaube nicht, daß du dir da Sorgen zu machen brauchst. Sie wollen dich bloß noch besser kennenlernen.«
»Na hoffentlich. So, gehen wir hoch?«
Flip nickte zustimmend, und kurz darauf machten wir es uns bei ein wenig ruhiger Musik auf meinem Bett gemütlich. Nein! Nicht so gemütlich! Ich sagte auf dem Bett, nicht im Bett… Es war alles noch absolut jugendfrei. Mir reichte erstmal das Gefühl, eng aneinandergekuschelt mit Philipp zusammen zu sitzen völlig aus – und ihm schien es ähnlich zu gehen. Gut, gut. Ein wenig Zungenakrobatik kam auch noch ins Spiel ;-)
Aber irgendwann muß jeder mal ausgiebig Luft holen, und diese Gelegenheit nutzte Flip zu einer Frage.
»Du, Danny … ich …«
»Was ist?«
»Naja … ich finde das herrlich. Hier so mit dir. Aber … ich weiß nicht, ob ich zu mehr schon bereit bin. Ich möchte dich aber auch nicht enttäuschen. Das ist alles verdammt neu für mich!«
Gut, das war sicherlich ein ziemlich blöder Moment, aber ich mußte lachen. Aber zumindest schaffte ich es das Gelächter leise zu halten.
»Lachst du mich jetzt an oder aus?«
»An. Flip, der letzte Satz hätte von mir sein können. Für mich ist das alles genauso neu.«
»Was? Ich dachte…«
»Philipp, ganz ehrlich. Du bist mein erster Freund. Und auch der erste Junge überhaupt, zu dem ich mich dermaßen hingezogen fühle. Klar, ich habe mich schon in einige verguckt, aber du? Schon bei unserer ersten Begegnung hat es mich beinahe umgehauen.«
»Mann, und ich dachte ich blamiere mich bis auf die Knochen, weil ich keinerlei Erfahrung in diesen Dingen habe! Ich habe noch nie vorher jemanden geküßt, geschweige denn mehr getan.«
»Also für einen Anfänger küßt du super. Wenn ich das mal mit all meiner Erfahrung sagen darf.«
»Welche Erfahrung? Hast du nicht gerade gesagt, du hättest keine?«
Also erzählte ich meinem Liebsten von Tims Überfall-Kuß im T-Shirt-Laden.
»Tim? Sag mal, muß ich mir da Sorgen machen? Oder sollte ich sogar eifersüchtig sein?«
»Oh nein, wirklich nicht! Tim ist absolut hetero, darauf kannst du dich verlassen. Außerdem würde er da mit deiner Schwester mächtig Ärger bekommen!«
»Wann würde ich Ärger mit Veronika bekommen?«
Von uns beiden unbemerkt war mein genanntes Brüderchen ins Haus und dann auch ins Zimmer gekommen und hatte meine letzten Worte erhascht.
»Wenn du dich nochmal an meinen Boyfriend ranwirfst. Aber keine Angst, Veronika könnte dir gar nichts tun. Erst wäre ich nämlich dran, und da würde für meine Schwester nichts übrigbleiben.«
Uh, mein lieber Flip war ja ganz schön besitzergreifend! Und ich fand das herrlich!
»Philipp, ich schwöre dir hoch und heilig, daß ich keine weitergehenden Interessen an Danny habe. Ich liebe ihn – aber nur als großen Bruder. Nur in Anführungszeichen.«
»Gut das zu hören.«
»Bei deiner Schwester sieht das allerdings schon wieder ganz anders aus…«
»Ist sie auch hier?«
»Nein, sie ist mit Kevin nach Hause. Also wirklich, der Stift hat uns geschafft! Wie haltet ihr den eigentlich aus? Sieben Tage in der Woche! Das würde ich nicht durchstehen.«
»Ein kleiner Vorgeschmack auf deine zukünftigen eigenen Kinderchen, kleiner Bruder.«
»Ich weiß gar nicht, was du hast. Kevy ist der artigste, ruhigste kleine Bruder den ich mir vorstellen kann…«
»Tut mir leid, Schwager in spe, aber das spricht nicht gerade für dein Vorstellungsvermögen.«
»Sag mal, Danny, muß ich als dein Boyfriend mir das von deinem Bruder gefallen lassen?«
»Äh … ja. Ich muß ihm nämlich leider zustimmen.«
»Dann bin ich wohl überstimmt.«
»Allerdings!«
»Ihr habt ja recht, manchmal ist der Stift wirklich nervtötend. Trotzdem würde ich ihn nicht gegen einen anderen eintauschen wollen.«
»ANTRETEN ZUM ESSENFASSEN!«
Ha! Genau das, was ich jetzt hören wollte! Und nach den begeisterten Blicken der anderen zu urteilen, war ich nicht der einzige, der so dachte.
»Wer zuletzt unten ist muß abwaschen!«
Wie üblich bei solchen »Vorschlägen« war derjenige, der es vorschlug, im Vorteil gegenüber den überraschten anderen – und in diesem Falle war ich derjenige, der das Rennen angeregt hatte. Flip mit mir mitziehend, stürmte ich aus dem Zimmer, Tim auf diese Weise den undankbaren letzten Platz überlassend. Aber da ich schon den Tisch gedeckt hatte, war es nur recht und billig, daß er sich um den Abwasch kümmerte. Wobei Abwasch bei uns eh nur bedeutete, den Geschirrspüler zu bestücken – Tim würde es also überleben.
Kurz darauf fielen wir in die Küche ein, wo Mutti und Reinhard gerade damit beschäftigt waren, die von mir strategisch günstig plazierten Teller mit Kartoffelsuppe zu füllen.
»Da seid ihr ja. Wie ich sehe in voller Besetzung. Ist Veronika auch da?«
»Nein, die ist nach Hause. Kann Philipp bei uns mit essen?«
»Klar, kein Problem.«
Ob das kein Problem war, würde sich noch herausstellen, vielleicht war er ja noch ein »schlimmerer« Esser als Tim und ich.
Die nächsten Minuten vergingen damit, daß nun auch Reinhardt seinen potentiellen Schwiegersohn kennenlernte – und ganz nebenbei wurde natürlich gegessen, was in unserem Hause nie ein stilles Ereignis war. Nach einer Weile war es dann auch Tims Vater, der Philipp und mich dazu brachte, hochgradig zu erröten.
»Danny, du hast wirklich einen guten Geschmack, daß muß man dir lassen.«
Wir brachten erstmal kein Wort heraus, gut, alle Anwesenden wußten schon vor diesem gemeinsamen Mittagessen bescheid, trotzdem war diese Situation, dieses direkte Aufeinandertreffen Grund genug, zumindest etwas nervös zu sein. Daß unsere Beziehung anscheinend voll akzeptiert wurde, war natürlich erleichternd, trotzdem würde es eine Weile brauchen, bis zumindest ich mich wieder vollkommen komfortabel fühlen würde. Zum ersten Mal den Eltern einen Partner vorstellen – wer da behauptet, das alles ganz locker zu sehen, dem glaube ich das in etwa so, wie ich einem Politiker glauben würde, daß er seine ganze Kraft ausschließlich für das Volk einsetzt. Das war jetzt kein Kompliment…
Zum Glück wechselte Mutti jetzt das Thema.
»So, Danny, warst du denn bei der Einkauferei erfolgreich?«
»Ja! Übrigens, danke nochmal, wegen dem Handy. Auch dir, Reinhardt, ich habe gehört, daß du die treibende Kraft dahinter warst.«
»Naja, ich denke, wir fühlen uns einfach alle etwas wohler, wenn wir wissen, daß du so ein Ding dabeihast. Nach dem Zwischenfall in der Schule und der Sache mit deiner Tante wollen wir lieber kein Risiko eingehen.«
»Wie auch immer, danke.«
»Tim, wie ist es mit dir, brauchst du auch eins?«
»Also wenn ihr mich so fragt… Nein, muß nicht sein. Ich habe keine Lust, ständig so ein Ding mit mir rumzuschleppen, und wenn ich es nicht mit mir rumschleppe, dann brauche ich es auch gar nicht erst.«
»Wie du meinst. Wir wollten es dir nur anbieten.«
Logisch, schließlich wollten sie bestimmt vermeiden, daß sich einer von uns irgendwie dem anderen gegenüber benachteiligt vorkommt.
»Und ansonsten? Hast du ein paar Sachen für die Klassenfahrt bekommen?«
»Klar! Ich habe mir doch extra einen bayerischen Lederhosen-Sepp mit Alpenerfahrung als Berater geangelt!«
Ein schneller Seitenblick zu Philipp zeigte mir, daß er mir diese Bezeichnung nicht übel nahm.
»Berater, so so. Solche Berater wollen ja normalerweise gut bezahlt werden, glaubst du, daß du dir Philipps Honorar leisten kannst?«
Jetzt brachen sowohl Flip als auch ich in schallendes Gelächter aus, sehr zur Überraschung der anderen Anwesenden.
»Also ich fand zwar Reinhardts Frage ganz lustig, aber trotzdem habe ich das Gefühl, daß die nicht der alleinige Auslöser für diese Prusterei sein kann.«
»Sagen wir mal so, ich habe bereits eine nicht unerhebliche Anzahlung geleistet. Und keine Angst, das bringt mich nicht an den Bettelstab.«
Vielsagende Blicke wurden zwischen Mutti und Reinhardt gewechselt, die hatten wohl beide zumindest ansatzweise eine Vorstellung, von welcher Währung hier die Rede war.
»Na dann los, Modenschau. Wie ich sehe, sind wir ja alle fertig mit der Esserei.«
Keine Chance da herumzukommen. Ich machte mich auf den Weg nach oben, und kaum war ich im Zimmer angekommen, als es auch schon klopfte und Mutti ihren Kopf hereinsteckte.
»Kann ich reinkommen?«
»Nur zu.«
»Na dann zeig mal was dein Schatzilein für dich rausgesucht hat. Schließlich muß ich wissen, ob sich das Beratungshonorar auch gelohnt hat.«
»Hehe, ist ja nicht so, als ob du es bezahlen müßtest!«
»Trotzdem, schließlich trage ich ja auch eine gewisse Verantwortung für dich.«
»Okay, hier, sieh dir das an.«
Ich zeigte ihr den roten Overall mit den schwarzen Absätzen.
»Hm, sieht ganz gut aus. Aber los, ich muß sehen, wie das mit dir darin aussieht.«
Also verpackte ich mich und stolzierte dann vor Muttis Augen durchs Zimmer.
»Ah ja. Jetzt weiß ich auch, warum dein Philipp dir das Teil empfohlen hat.«
»Gefällt es dir nicht?«
»Oh doch! Es scheint ja auch schön warm zu sein, und so ein Overall ist bestimmt auch ganz praktisch für so einen Flachlandtiroler wie dich. Du wirst dich ja eh die meiste Zeit im Schnee herumrollen.«
»Danke vielmals. Du hast es wirklich drauf, mein Selbstvertrauen zu stärken.«
»Als ob du das nötig hättest.«
Naja, ab und an ein paar Streicheleinheiten für die Seele würde ich ganz bestimmt nicht ablehnen.
»Daniel?«
Ach nö, bitte nicht jetzt auch noch ein »Daniel-Gespräch«!
»Danny, es geht mich eigentlich nichts an, aber trotzdem. Ihr seid beide alt genug um zu wissen was ihr wollt und was ihr tut. Wir haben zwar gestern schonmal kurz darüber gesprochen, aber ich mache mir halt so meine Gedanken. Seid vorsichtig, okay? Hier, ich habe dir heute noch schnell was besorgt.«
Was sie mir nun in die Hand drückte, ließ mir erneut das Blut in den Kopf schießen. Ein Päckchen Kondome und eine Tube Gleitcreme.
»Das soll nicht heißen, daß ihr das Zeug innerhalb der nächsten Stunden benutzen sollt. Ich möchte nur, daß ihr von Anfang an ordentlich … äh … ordentlich ausgerüstet seid.«
»Mutti … Philipp und ich, wir haben auch schonmal kurz darüber gesprochen. Wir sind beide noch nicht soweit wie du zu glauben scheinst. Das ist für uns alles ganz neu, und wir werden uns garantiert viel Zeit nehmen und nichts überstürzen.«
Sie schaute mich doch einigermaßen erleichtert an.
»Okay. Danke, daß du so aufrichtig zu mir bist. So, und jetzt werde ich dich nicht länger aufhalten, flitz runter und zeige dich den anderen. Dir wird es bestimmt langsam auch zu warm in dem Ding, oder?«
Da mußte ich ihr zustimmen, aber das war ja eigentlich ein gutes Zeichen. Die Chancen, daß ich auf der Klassenfahrt zumindest nicht frieren würde, standen ganz gut. Daß ich mich auf den Brettern vermutlich tödlich blamieren würde, stand auf einem anderen Blatt.
Ich erledigte meine Dressman-Pflichten, erntete zustimmende (und in Flips Fall eher bewundernde ;-) Blicke, dann konnte ich wieder eine angemessenere Hausgarderobe anlegen. Oben im Zimmer saß Mutti mittlerweile auf einem der Schreibtischstühle und schaute etwas verloren in der Weltgeschichte herum.
»Mutsch? Was ist los?«
»Ach nichts, Danny. Es ist nur … naja … mir wird so langsam klar, daß mein kleiner Junge erwachsen wird. Ich wußte ja, daß das irgendwann passieren würde, aber trotzdem… Nicht mehr lange, und du bist endgültig flügge, dann nimmst du dir mit Philipp zusammen eine eigene Wohnung und ziehst hier aus. Und bei Tim wird es auch nicht viel länger dauern. Das Schicksal einer Mutter…«
Ich hatte mich erst halb aus dem Overall geschält, trotzdem setzte ich mich erstmal neben sie auf den Nachbarstuhl.
»Ach, Mutti, soweit ist es wirklich noch nicht, ich bleibe dir bestimmt noch ein ganzes Weilchen erhalten. Und selbst wenn es mal irgendwann passiert, dann bedeutet das doch nicht, daß ich aus deinem Leben verschwinde.«
»Ich weiß das alles, Danny, trotzdem, das kam jetzt alles irgendwie alles sehr plötzlich. Ich hatte mir nie ernsthaft Gedanken darüber gemacht, hatte es bisher immer verdrängt, und jetzt war es halt wie eine geballte Ladung.«
Ein ähnliches Gespräch hatten wir ja schon einmal kurz vor ein paar Tagen, diesmal aber schien es sie etwas ernster erwischt zu haben. Es war wirklich ein wenig erleichternd zu wissen, daß sie durch Reinhardts Einstieg in unsere Familie auch dann nicht alleine sein würde, wenn ich mal nicht mehr bei ihr wohnen würde. Wobei ich um ehrlich zu sein vorläufig noch keinerlei Pläne hatte, die Bequemlichkeiten von »Hotel Mama« aufzugeben.
»Naja, dann werde ich wohl in Zukunft Reinhardt bemuttern müssen. Und später dann vielleicht ein paar Enkelkinder.«
»Für die wird allerdings Tim sorgen müssen.«
»Wer weiß? Vielleicht kannst du in ein paar Jahren zusammen mit Philipp ein Kind adoptieren? Oder willst du keine Kinder?«
»Also Muttsch, darüber habe ich mir nun wirklich noch keine Gedanken gemacht!«
»Hast ja recht. Okay, ich werde mich jetzt mal ein wenig zusammenreißen.«
»Übrigens, ich bin bei Flip zum Kaffee eingeladen.«
»Ah ja. Ich nehme an, dort wirst Du genauso ausgequetscht werden wie dein Flip vorhin bei uns.«
»Das befürchte ich allerdings auch. Aber bei unserem kurzen Aufeinandertreffen heute früh lief eigentlich alles ganz locker, ich habe wahrscheinlich nicht viel zu befürchten.«
»Denke ich auch. Falls sie dich doch etwas zu sehr löchern, dann denke bloß immer daran, daß das für Philipps Eltern eine noch wesentlich neuere Situation ist als für uns. Nimm ein wenig Rücksicht darauf.«
»Keine Angst, ich habe eh nicht vor, es mir mit meinen potentiellen Schwiegereltern zu verderben.«
»Gut. So, ich werde mal wieder abwandern und dir deinen Flip hochschicken.«
Mit diesen Worten ließ sich mich alleine, und ich befreite mich endgültig von meiner Skibekleidung. Beim Zusammenlegen ging die Zimmertür wieder auf und sowohl Philipp als auch Tim kamen ins Zimmer hinein.
»Na, Danny, sieht so aus als hätte meine Beratung funktioniert, deinen Leuten hat es jedenfalls gefallen.«
»Okay, okay, du bekommst noch einen kleinen Honorarnachschlag.«
»Oh, das hört man gerne. Na dann los, ich warte!«
»He ihr beiden, Hetero im Raum!«
»Höre ich da etwa Neid, Brüderchen?«
»Nein! Aber müßt ihr jede freie Minute herumknutschen? Nehmt mal ein wenig Rücksicht auf die Jugend.«
»Schon gut. Flip, kannst du noch ein Weilchen warten?«
»Wenn ich später entsprechend Zinsen bekomme…«
»Darüber läßt sich reden. Übrigens, Tim, du wirst mir doch nicht behaupten wollen, daß du mit Veronika ständig nur keusch und züchtig nebeinenander sitzt, oder?«
»Bei allem Respekt, und unter Berücksichtigung der Anwesenheit von Vronis großem Bruder, verweigere ich in diesem Punkt die Aussage.«
»Soso. Naja. Keine Aussage ist auch eine Aussage. Was meinst du, Flip?«
»Schuldig im Sinne der Anklage, würde ich sagen.«
»Um mal ganz unauffällig auf ein anderes Thema zu kommen: was habt ihr heute noch so vor?«
»Danny ist bei uns zum Kaffee eingeladen, ich denke, wir sollten uns so gegen drei auf den Weg machen. Keine Ahnung was wir danach anstellen. Und ihr? Ich nehme doch an, daß du dich wieder mit Veronika triffst, oder?«
»Ja, aber erst später. Wir gehen ins Kino, in die 19 Uhr-Vorstellung, sie will unbedingt diesen neuen Film mit Brad Pitt sehen. Wollt ihr mitkommen?«
»Mal sehen, vielleicht. Wir sprechen noch darüber.«
Die folgende Zeit verbrachten wir mit Musik hören und ein wenig Surfen im Internet, und wie geplant machten wir uns dann gegen 15 Uhr auf den Weg zu Philipps Eltern. In der Zwischenzeit war auch der Akku vom Handy aufgeladen, die Karte war auch schon aktiviert, also konnte ich von nun an stets erreichbar durchs Leben stiefeln. Worauf mich Mutti bei der Verabschiedung auch gleich hinwies und darum bat, anzurufen wenn es später am Abend werden sollte. Was ich natürlich als dankbarer, handyversorgter Sohn ihr auch versprach.
Bei Steins wurden wir bereits erwartet, und bald saßen wir alle gemeinsam an der Kaffeetafel. Also nicht alle gemeinsam. Veronika und Tim hatten Kevin am Vormittag dermaßen müde gespielt, daß er seit dem Mittagessen im Bett lag und schlief. Diese Taktik würde ich mir merken müssen, wenn ich mit seinem großen Bruder zusammen war, dann würde es früher oder später dazu kommen, daß wir gemeinsam babysitten mußten.
Die Gespräche am Kaffeetisch waren ganz erträglich, ich mußte zwar einige Fragen zu mir beantworten, aber alles in allem hielt es sich in Grenzen. Dann kam allerdings auch hier der Punkt, wo es etwas arg persönlich wurde. Nur daß Philipps Mutter sich nicht darauf beschränkte diesen Punkt in einer Unterhaltung unter vier Augen anzusprechen…
»Jungs, mir ist klar, daß wir euch nichts verbieten und euch nicht wirklich kontrollieren können. Wir wollen auch gar nicht so genau wissen, was in euren Zimmern vor sich geht. Und egal wie schnell ihr die Sache angehen wollt, irgendwann wird es dazu kommen. Wir möchten, daß ihr beim Sex vorsichtig seid. Also benutzt Kondome und was man sonst noch braucht, da kennt ihr euch bestimmt besser aus als wir.«
Das alles wohlgemerkt nicht nur in Gegenwart von Philipp und mir, nein, auch sein Vater und seine kleine Schwester saßen weiterhin mit am Tisch!
»Danny, aus deinen verdrehten Augen schließe ich, daß dieses Thema bei dir auch schonmal zur Sprache gekommen ist, oder?«
»Ja, Frau Stein, und das ist keine drei Stunden her.«
»Gut, dann wird es ja hoffentlich Wirkung zeigen. Philipp, du weißt es vermutlich nicht, aber vor ein paar Monaten, als du die Magenprobleme hattest, wurde dir ja Blut abgenommen, und dabei wurde auch gleich ein HIV-Test durchgeführt. Er war negativ, und falls du in der Zwischenzeit nicht irgendwelchen unsicheren Sex hattest, dann dürftest du heute clean sein.«
»Mutti!«
»Das soll wahrscheinlich heißen, daß es nichts in der Art gegeben hat. Danny, wie ist das bei dir?«
Und ich hatte gedacht meine Mutter wäre schlimm gewesen…
»Ich hatte den letzten Bluttest im Dezember, und da wurde auch gleich ein HIV-Test mitgemacht. Ich bin auch clean.«
»Sehr schön. Ich hoffe, ihr nehmt mir das Thema nicht übel, aber … naja, wir wissen ja, daß das meiste was wir bisher darüber gedacht haben, auf Vorurteilen basierte, aber trotzdem wollen wir halt ganz sicher sein, daß Flip nichts passiert.«
»Mutti, ich hoffe bloß, daß ihr Veronika und Tim die gleichen Fragen stellen werdet!«
»Darauf könnt ihr euch verlassen, aber das tun wir, wenn ihr Freund auch dabei ist. Da Vroni das jetzt alles mitbekommen hat, kann sie sich ja schonmal auf dieses Gespräch vorbereiten.«
Und damit war die große Fragestunde inklusive Sicherheitsvergatterung überstanden, und wir durften uns in Flips Zimmer zurückziehen. Dort machten wir es uns gemütlich.
»Was meinst du, Flip, sollen wir mit den beiden Youngstern ins Kino gehen?«
»Ob die uns wirklich dabeihaben wollen?«
»Tim hat es immerhin angeboten. Und überleg mal: Brad Pitt.«
»Mir reicht eigentlich Danny Thom.«
»Danke, danke. Also gehen wir nicht?«
»Ich weiß nicht. Was könnten wir denn sonst machen?«
Genau in diesem Moment brachte sich die moderne Technik in Erinnerung. Und zwar in Gestalt meines klingelnden Handys. Wobei man bei den Dingern ja eigentlich nicht mehr von »klingeln« reden konnte – die gaben ja alle möglichen Töne von sich, bloß kein wirkliches Klingeln.
»Thom.«
»Und hier ist Thom-as.«
»Hi! Sag mal, wo hast du denn schon diese Telefonnummer her?«
»Deine Mutter hat sie mir gegeben, als ich bei euch angerufen und dich gesucht habe. Nun verrate mir bloß, wie du sie dazu gebracht hast, dir ein Handy zu kaufen. Oder hast du es selbst bezahlt?«
»Du wirst lachen, sie kam von ganz alleine darauf. Mit ein wenig Nachhilfe von Reinhardt.«
»Reinhardt scheint ja eine ideale Ergänzung für die Familie zu sein.«
»Allerdings. So, was kann ich für dich tun? Muß ich dich mal wieder irgendwo herausboxen?«
»Also wirklich, so schlimm bin ich nun auch nicht.«
»Du erlaubst, daß ich anderer Meinung bin…«
»Und wäre es nicht so, dann würdest du dich tödlich langweilen! Aber diesmal stecke ich nicht in Schwierigkeiten. Allerdings … allerdings könntest du mir wirklich bei etwas helfen. Hast du die Chemie-Hausaufgaben schon erledigt?«
»Hab ichs doch geahnt.«
»Komm schon, du weißt, daß ich mit dem Kram nichts anfangen kann. Hilfst du mir?«
»Wann?«
»Ich hatte gehofft, daß du vielleicht in einer Stunde bei mir vorbeikommst. Dann erledigen wir den Chemiekram, und hinterher spendiere ich eine Pizza und wir machen uns einen gemütlichen Videoabend. Christine kommt später auch, und wir haben sturmfreie Bude, meine Leute sind zu Verwandten gefahren.«
»Falls ich ja sage, und ich betone das ›falls‹ – kann dann Philipp auch mitkommen?«
»Ah, du läßt wohl nicht locker bei dem Kerlchen!«
»He, ich befolge nur deinen eigenen Rat.«
»Klar, sollst du ja auch. Natürlich kann er mitkommen, kein Problem. Vielleicht hat der noch mehr Ahnung von Chemie als wir beide zusammen.«
»Okay, plane uns erstmal ein. Wenn es aus irgendeinem Grund doch nicht klappt, dann rufe ich dich an. Ansonsten sind wir in einer Stunde bei dir.«
»Du bist mein Retter, danke!«
»Ja, ja. Wie üblich. Also dann, bis nachher. Tschüß.«
Damit beendete ich das Gespräch und wandte mich Philipp zu.
»Flip, das war Thomas. Er ruft um Hilfe wegen der Chemie-Hausaufgaben.«
»Habe ich mitbekommen. Die muß ich auch noch erledigen.«
»Hast du Lust, das bei Thomas zu machen? Hinterher sind Pizza und Videos angesagt. Seine Freundin kommt auch.«
»Klar, warum nicht. Aber sag mal, schwirren da nicht lauter kleine Schwestern herum?«
»Der komplette Rest seiner Familie ist ausgeflogen, von der Seite droht keine Gefahr.«
»Na dann ist ja gut, mir ist nämlich eher nach einem ruhigen Abend.«
»Hast du dir schonmal überlegt, ob und wem du von uns erzählen willst? Ich richte mich da voll nach dir, aber es wäre gut zu wissen, ob du da schon einen Plan hast.«
»Naja, bisher wissen es nur unsere Familien, und viel mehr brauchen es vorerst auch nicht zu werden. Aber du meinst konkret, ob wir es Thomas sagen sollen, oder?«
»Ich will dich nicht drängen, aber er ist mein bester und ältester Freund. Wir haben eigentlich keine Geheimnisse voreinander.«
»Wenn wir es ihm sagen, wird er es dann für sich behalten?«
»Wenn wir ihn darum bitten auf jeden Fall. Thomas kann Dinge auch ernst nehmen – man muß ihm nur sagen, wenn man das von ihm erwartet.«
»Können wir das auf uns zukommen lassen? Ich meine, gehen wir erstmal hin und warten ab. Wenn alles gut läuft und ich mir nicht vor Nervosität in die Hosen mache, dann gebe ich dir ein Zeichen, einverstanden?«
»Einverstanden. Wie gesagt, das ist deine Entscheidung. Übrigens, als ich ihn fragte, ob du mitkommen kannst, forderte er mich auf, bei dir nicht locker zu lassen.«
»Wie meinte er das?«
»Naja, er hat mir in den letzten Tagen angemerkt, daß ich in dich verschossen bin, und hat mich ein wenig damit aufgezogen. Aber auch ermuntert, nicht von Anfang an pessimistisch an die Sache heranzugehen.«
»Da werde ich mich wohl am Ende noch bei ihm bedanken müssen.«
»Bloß nicht! Dann wird er eines schönen Tages herumerzählen, daß wir es nur ihm zu verdanken hätten, daß wir zusammengefunden haben.«
»Danke für die Warnung, das muß nun wirklich nicht sein.«
»War mir ein Vergnügen. So, wenn wir in einer Stunde bei Thomas sein sollen, dann müssen wir uns langsam aufraffen. Du mußt dein Chemiezeug zusammensuchen, dann müssen wir bei mir vorbei und meins abholen.«
»Okay. Ist es weit bis zu Thomas?«
»Ein bißchen weiter als von dir zu mir. Und das alles bei Schnee und Eis…«
»Kann es sein, daß du den Winter nicht magst?«
»Ich verweigere die Aussage.«
»Reiß dich zusammen, Danny. Ich liebe den Winter.«
»Hilfe! Soll das heißen, daß du mich demnächst ständig vor die Tür schleifst?«
»Genau das. Es geht doch nichts über Bewegung an frischer Luft, auch im Winter.«
Na da hatte ich mir ja einen passenden Freund angelacht!
»Okay, Flip, aber nur unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Daß du hinterher auch mal mit mir in die Sauna kommst.«
»Warum nicht? Ich probiere alles mal aus.«
Diese Aussichten waren doch schon wieder erfreulicher. Nach wenigen Minuten waren wir abmarschbereit, meldeten uns bei Philipps Eltern ab, taten kurze Zeit später das gleiche bei meinen Leuten, und standen dann ziemlich pünktlich nach einer Stunde bei Thomas vor der Tür. Der allerdings ließ uns ziemlich lange warten, ich mußte dreimal klingeln bis er endlich die Tür öffnete.
»Da seid ihr ja schon!«
»Wieso schon? Ich habe gesagt eine Stunde, und es ist gut eine Stunde vergangen.«
»Was? Wirklich? Ich habe gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen ist.«
»Schön, schön. Wie wäre es, wenn du jetzt erstmal die Tür freigibst damit wir reinkommen können. Ansonsten erfriert mein Gehirn endgültig, und dann mußt du zusehen, wer dir bei dem Chemiekram hilft.«
»Oh, sorry, klar, kommt rein.«
Das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Im Hausflur befreiten wir uns von Schuhen, Mützen und Jacken, dann ging es in das Zimmer von Thomas. Als einziger Junge unter lauter weiblichem Nachwuchs hatte er das Glück, ein eigenes Zimmer zu haben, während seine Schwestern teilen mußten.
»Ich habe extra den Schreibtisch freigeräumt, damit wir genügend Platz haben. Übrigens, schön daß du mitkommen konntest, Philipp.«
»Ich habe die Chemieaufgaben auch noch nicht erledigt, da kam mir der Vorschlag ganz gelegen.«
»Okay, dann setzt euch schon mal. Bevor wir anfangen: kann ich euch irgendwas zu trinken anbieten?«
Wir einigten uns auf Cola, Thomas verschwand um die Getränke heranzuholen.
»Hier, setz dich, Flip.«
»Äh, vorher … naja, ich müßte mal … du weißt schon. Kannst du mir einen Tip geben wo hier das Örtchen ist?«
»Kein Problem. Raus aus dem Zimmer, rechts rum, ganz am Ende an der Stirnseite des Korridors.«
»Danke. Bin gleich wieder da.«
Lange alleine blieb ich im Zimmer jedoch nicht, denn schon tauchte Thomas mit einem Tablett voller Flaschen und Gläser auf.
»Hier, nimm mal bitte die Einzelteile ab. Wo ist denn dein geliebter Philipp hin?«
»Der besichtigt die Örtlichkeiten.«
»Hast du ihm gesagt, wo er fündig wird?«
»Klar.«
»Ich hoffe bloß, daß das Kerlchen dich nicht allzu sehr bei der Arbeit ablenkt. Kannst du mit deinem verdrehten Kopf überhaupt noch klar denken?«
»Haha. So schlimm bin ich nun wirklich nicht.«
»Na hoffentlich. Und, hast du schon irgendwelche Fortschritte bei ihm gemacht?«
»Sorry, aber das werde ich dir nicht auf die Nase binden.«
»Na dann muß ich mir wohl meine eigene Meinung bilden.«
»Meinung worüber?«
Flip hatte wohl seine »Geschäfte« erledigt und war genau im richtigen Moment wieder ins Zimmer gekommen.
»Äh … über nichts besonderes. So, wollen wir anfangen?«
Genau das taten wir dann auch, und da ich das ganze Spiel am Vortag schon einmal durchexerziert hatte, kamen wir ganz gut voran. Wobei ich mich – alle Lehrer in der werten Leserschaft seien beruhigt – zurückgehalten habe und nur Tipps gab und keine kompletten Lösungen. Diese hätte höchstens Flip alleine bekommen, nicht aber Thomas. Bei aller Freundschaft… ;-)
Ziemlich gegen Ende der Strapaze riß uns die Türklingel aus der Arbeit.
»Das ist bestimmt Christine. Danny, kannst du sie mal reinlassen? Bis ihr hier seid, sind wir wahrscheinlich auch fertig.«
»Kein Problem.«
Ich machte mich auf den Weg zur Haustür, griff zur Klinke, drückte sie hinunter, zog die Tür auf … und fand mich in wilder Umarmung wieder! In wilder Umarmung eines dick in Wintersachen verpackten Mädchens! Brrrrr!
»Na endlich! Ich war schon kurz davor festzufrieren.«
»Äh … sorry … schneller ging es nicht. Aber kann es sein, daß du mich mit jemandem verwechselst?«
»Was? Oh Scheiße! Danny, tut mir leid, ich hatte eigentlich gedacht, daß Thomas aufmacht. Aber da habe ich mich in der treulosen Tomate wohl getäuscht. Kannst du mir noch mal verzeihen? Ich hoffe, es war nicht zu furchtbar von einem Mädchen umarmt zu werden.«
»Ich werde es überleben, zum Glück hast du ja nicht noch angefangen mich abzuküssen.«
»Spätestens dann hätte ich es aber gemerkt, garantiert.«
»Wer weiß, vielleich hättest du hinterher von Thomas nichts mehr wissen wollen. Ich meine, von mir geküßt, was würdest du dann noch an Thomas finden? Der sitzt übrigens noch mit Philipp am Schreibtisch und erledigt die Chemie-Hausaufgaben. Nur deshalb war ich derjenige, der dir die Tür aufgemacht hat.«
»Und dafür werde ich dir ewig dankbar sein. Ich habe heute schon lange genug in der Kälte gestanden.«
Ich nahm Christine die Jacke ab, verstaute sie an der Garderobe, dann folgte ich ihr zurück in Thomas' Zimmer.
»He, du Faulpelz, hast du keine Zeit, deine Freundin zu begrüßen? Wegen dir mußte der arme Danny meine blinde Umarmung über sich ergehen lassen!«
»Was? Du hast dich auf Danny gestürzt?«
»Klar, schließlich konnte ich nicht ahnen, daß du deine Besucher dazu verdonnerst, häusliche Pflichten zu erledigen.«
»Danny, ich hoffe du kannst mir das verzeihen. Das muß ja wirklich ein ein furchtbares Erlebnis für dich gewesen sein.«
»Ich habe schon Christine gesagt, daß ich es überleben werde. Aber wie wäre es, wenn du dich jetzt endlich bequemst sie ordentlich zu begrüßen?«
Das tat Thomas dann auch ausgiebig – und als toleranter Mensch schaute ich großzügig über diese öffentliche Zurschaustellung heterosexueller Verirrung hinweg. Dafür schaute ich zu Philipp, mehr oder weniger neidisch auf die offene Art von Christine und Thomas. Flip schaute etwas nervös zurück, da kämpften wohl zwei Seelen in seiner Brust.
»So hatte ich mir die Begrüßung vorgestellt! Also, Jungs, wie sieht es aus? Seid ihr mit der Arbeit fertig? Und wer ist das überhaupt dort am Schreibtisch? Dich kenne ich noch nicht.«
»Das ist Philipp, er geht seit ein paar Tagen in unsere Klasse. Flip, das ist meine Freundin Christine.«
»Schön dich kennenzulernen.«
»Gleichfalls.«
»Und, seid ihr nun fertig?«
»Ja, wir können zum gemütlichen Teil des Abends übergehen. Ich schlage vor, wir gehen ins Wohnzimmer, dort haben wir mehr Platz, und der Fernseher ist auch größer.«
Da wir das ganze Haus für uns alleine hatten, war das wirklich die beste Lösung. Thomas und Christine gingen in Richtung Zimmertür – und mein hinterhältiger Geist machte Überstunden.
»Geht ihr schonmal vor, Philipp und ich packen noch unser Zeug zusammen, damit wir nicht nachher nochmal anfangen müssen.«
»Okay. Wir bestellen auch gleich die Pizza. Was wollt ihr?«
Ich schaute Flip an.
»Für mich Salami.«
»Und ich nehme Hawaii.«
»Komisch, Danny, das überrascht mich überhaupt nicht. Okay, kommt dann rüber wenn ihr fertig seid.«
Ob Thomas ahnte, daß es mir weniger um die Ordnung in unseren Schulsachen ging als um das, worauf wir in Gegenwart von Thomas und seiner Freundin verzichtet hatten? Philipp jedenfalls schien meinen Gedankengängen problemlos folgen zu können, denn sobald sich die Tür hinter Thomas geschlossen hatte, fiel er mir auch schon um den Hals, und unsere Lippen fanden einander. Eine Übung, an die ich mich problemlos und gerne gewöhnen könnte…
Da wir aber irgendwann im Wohnzimmer erwartet werden würden, mußten wir uns etwas kürzer fassen als uns beiden lieb war. Widerstrebend lösten wir uns viel zu früh wieder voneinander.
»Du, Danny, es tut mir leid.«
»Was?«
»Daß ich dich so habe hängenlassen, vorhin, als die beiden sich geküßt haben. Ich habe gemerkt, daß du das am liebsten mit mir auch gemacht hättest, und es war auch eine ideale Situation, aber ich habe es einfach nicht geschafft.«
»He, Flip, das braucht dir nicht leid zu tun. Ich habe dir gesagt, daß ich dir alle Zeit lasse die du brauchst – und das habe ich auch so gemeint.«
»Wirklich? Du bist mir nicht böse?«
»Wie könnte ich diesen Augen böse sein.«
»Danke.«
»Kein Problem. Aber jetzt sollten wir unser Zeug zusammenpacken und uns dann zu den anderen gesellen.«
Genau das taten wir dann auch, alles wurde gut verpackt, anschließend verließen wir das Zimmer, und ich führte Flip in Richtung Wohnzimmer. Gerade wollten wir reingehen, als mich irgendwas daran hinderte. Nennt es eine Eingebung, jedenfalls hielt ich meinen Liebsten vom Betreten des Zimmers ab. Dort drin unterhielt sich gerade unser Gastgeber mit seiner Freundin – laut und deutlich genug, um beide gut verstehen zu können, ohne daß sie uns bemerken konnten.
»Sag mal, Tho-Jo, sind die beiden ein Paar? Ich finde, sie passen super zusammen!«
»Schön wärs. Danny ist total verknallt in Philipp, aber ein Paar sind sie nicht. Leider.«
Und dann passierte es. Mich damit total überraschend, zog Flip mich am Arm ins Wohnzimmer, die beiden dort Anwesenden durch unser abruptes Auftauchen erschreckend.
»Doch, sie sind ein Paar. Äh, ich meine, wir sind ein Paar.«
Mit allem hätte ich gerechnet, aber damit nicht. Ich hoffte bloß, daß Flip sich tatsächlich aus eigenem Entschluß heraus outete und das nicht nur tat, um mir einen Gefallen zu tun.
In der Zwischenzeit hatten sich auch die beiden anderen von ihrem Schock erholt, und als erster wandte sich Thomas mit ungläubigem Staunen an mich.
»Stimmt das, Danny?«
Taten sagten bekanntlich mehr als Worte. Ein schneller Blick zu Flip, der nickte mir lächelnd zu. Also wiederholten wir vor den Augen von Thomas und Christine das, was wir in Thomas' Zimmer vorher heimlich geübt hatten.
»Wow!«
Da mußte ich Thomas aus vollem Herzen zustimmen. Und der Anblick seines total überraschten Gesichts mit den weit aufgerissenen Augen war noch eine erfreuliche Zugabe zum Kuß von Philipp.
»Siehst du, Tho-Jo, ich hab doch gesagt, daß die zwei ein tolles Paar abgeben. Weibliche Intuition! Herzlichen Glückwunsch!«
Wir bedankten uns artig bei Christine und amüsierten uns über den immer noch nicht völlig wieder aus seinem Schock herausgerissenen Thomas.
»Wie … wie lange geht das schon so? Ich meine, wie lange seid ihr schon Freunde? Also Freunde im Sinne von … na ihr wißt schon!«
»Seit gestern nachmittag, seit fast genau 24 Stunden.«
»Was? Und die ganze Zeit hast du es nicht fertiggebracht, es mir zu erzählen?«
»Sorry, Thomas, das ist meine Schuld. Ich habe Danny gebeten, daß wir es noch ein wenig für uns behalten.«
»Warum?«
»Gott bist du heute wieder schwer von Begriff! Flip ist außer bei seinen und meinen Eltern – und jetzt bei euch – noch völlig ungeoutet! Er hat gerade mal akzeptiert, daß er schwul ist, da braucht er nicht unbedingt noch eine offizielle Verlobungsanzeige in der Tageszeitung.«
»Schon gut, schon gut. Es ist also eine Art Ehre für uns, daß ihr euch entschieden habt, es uns überhaupt schon zu sagen.«
»Genau. Und es war Philipps Entscheidung, also bedankt euch bei ihm.«
»Alles klar. Danke, daß du uns das anvertraut hast, Philipp.«
»Kein Problem, es erschien mir die richtige Entscheidung zu sein. Aber, ich bitte euch, behaltet es für euch, okay?«
Die beiden nickten zustimmend, und ich konnte nur hoffen, daß Thomas tatsächlich die Klappe halten konnte.
Bis zum Eintreffen der Pizza würde es noch ein wenig dauern, also nutzten Flip und ich die Gelegenheit, den beiden anderen genau zu erzählen, wie wir uns zusammengerauft hatten. Als wir damit fertig waren, konnte Thomas nicht anders als lauthals loszulachen.
»Das ist mal wieder typisch Danny! Du nimmst nie den direkten Weg. Warum einfach, wenns auch kompliziert geht…«
»He, das einzige was zählt ist das Endergebnis. Und mit dem bin ich mehr als zufrieden!«
»Und ich auch!«
»Ach wie süß. Schau es dir an, Christine, das junge Paar. Wie verliebt die sich anglotzen.«
»Laß die zwei ja in Ruhe, Thomas-Johannes! Freu dich lieber für sie.«
»Tu ich doch.«
»Das will ich dir auch geraten haben, alter Freund. Oder soll ich erzählen, wie du immer die Augen verleierst, wenn von deiner Christine die Rede ist?«
»Untersteh dich!«
»Das liegt ganz an dir…«
Bevor wir uns nun weiter in diese Sache hineinsteigern konnten, klingelte es glücklicherweise an der Haustür, und fünf Minuten später machten wir uns über die bestellten Pizzas her.
»Sagt mal, Jungs, was gucken wir uns heute eigentlich an?«
»Ich hatte ja eigentlich ›Matrix reloaded‹ rausgesucht, extra für Danny, wegen Keanu Reeves. Aber das scheint ja jetzt nicht mehr nötig zu sein…«
Den Film hatten wir vor längerer Zeit schon im Kino gesehen – aber so ganz gemütlich unter Freunden war das doch noch etwas anderes.
»Argh! Kannst du mal mit deinen Sticheleien aufhören?«
»Ist ja schon gut, sorry!«
»Also ich finde ›Matrix reloaded‹ toll. Auch Mädchen können schließlich auf Keanu stehen.«
»Sollte ich jetzt eifersüchtig sein?«
»Das mußt du wissen.«
Nachdem also geklärt war, womit wir den Abend verbringen würden, machten wir es uns im Kauferschen Wohnzimmer gemütlich. Thomas und Christine nahmen die Couch in Beschlag, ich kuschelte mich mit Philipp in den Zweisitzer.
Die folgenden gut zwei Stunden bemühte ich mich nach besten Kräften, meine Aufmerksamkeit gerecht zwischen dem Geschehen auf dem Bildschirm und dem extrem süßen Boy neben mir zu verteilen. Gerecht verteilen bedeutete in diesem Fall, daß ich sage und schreibe 10 Prozent der Zeit dem Filmverlauf folgte und mich ansonsten Flip zuwandte. Was diesem alles andere als unangenehm war. Und nachdem wir mitbekommen hatten, daß Thomas und Christine auch ausschließlich mit sich selbst beschäftigt waren, ließen wir alle Hemmungen fallen und vertieften uns dermaßen ineinander, daß wir gar nicht bemerkten, daß der Film längst vorbei war.
»He ihr beiden! Aufhören! Der Film war schon vor zehn Minuten zuende!«
Das war mir dermaßen egal, ich hatte schließlich einige ziemlich einsame Jahre aufzuarbeiten.
»Was soll der Neid, Thomas? Als ob du groß mit dem Film beschäftigt gewesen wärst.«
Das leicht betretene Grinsen auf den Gesichtern von Thomas und Christine zeigte mir, daß ich voll ins Schwarze getroffen hatte.
Die nächste Stunde verbrachten wir damit, uns über Gott und die Welt (also wesentlich weniger über Gott als über die Welt) zu unterhalten. Wobei sich zeigte, daß sich Thomas eine Freundin herausgesucht hatte, die bei allen Themen voll mithalten konnte – was für ein Unterschied zu so manchen früheren »Schönheiten«, deren am besten ausformulierte Sätze oftmals aus einem gekonnten »Hä?« bestanden hatten. Kein Wunder, daß Thomas bei ihr nichts riskieren wollte! Er litt garantiert schon unter ausgeprägten sexuellen Entzugserscheinungen – aber Christine schien ihm das wert zu sein. Konnte ich ihm nicht verdenken, mir ging es ja mit Philipp ähnlich.
Irgendwann war es dann an der Zeit aufzubrechen, es war schon ziemlich spät, und der zurückliegende Tag war doch etwas anstrengend gewesen. Angenehm anstrengend, zugegeben, aber immerhin. Ich rief schnell zuhause an, gab durch, daß ich noch Flip nach Hause bringen und dann heimkommen würde.
Thomas hatte die gleiche Idee gehabt. Also nicht, daß er Flip nach Hause begleiten würde, wohl aber seine Christine. Und sowohl Christine als auch Flip meinten, daß das doch nicht nötig wäre – wir aber ließen es uns natürlich nicht ausreden. Wäre ja noch schöner…
Da wir gänzlich unterschiedliche Richtungen einzuschlagen hatten, verabschiedeten wir uns gleich an der Haustür voneinander. Bei der Gelegenheit verpaßte Thomas mir ein paar kräftige Klopfer auf die Schulter und beugte sich verschwörerisch zu meinem linken Ohr.
»Gratuliere, Kumpel. Wurde aber auch höchste Zeit. Jetzt laß ihn dir bloß nicht wieder ausreißen!«
»Habe ich nicht vor, so blöd bin selbst ich nicht.«
»Das will ich dir auch geraten haben. So, also dann, bis demnächst.«
»Tschüß.«
Und so machten wir uns auf den Weg durch die dunkle Kälte der Nacht. Es war kurz nach elf, die Straßen waren beinahe menschenleer, und wir legten ein flottes Tempo vor. Zum Reden hatten wir keine große Lust, da wären uns vermutlich auch die Worte im Munde gefroren. Auf diese Weise dauerte es nicht lange und wir standen vor Philipps Haustür.
»Kommst du noch kurz mit rein?«
»Ich würde gerne, aber ich muß wirklich los. Sehen wir uns morgen?«
»Nein, leider nicht. Wir sind bei Verwandten in Dresden zum Geburtstag eingeladen, da sind wir den ganzen Tag unterwegs.«
»Schade.«
»Ja. Aber am Montag sehen wir uns ja auf jeden Fall wieder.«
»Okay. Und wenn ich weiß, daß ich dich dort sehe, dann werde ich auch ganz froh und freiwillig zur Schule gehen. Meine Mutter wird sich vielleicht wundern…«
»Haha, meine auch. Aber ich schätze, die werden ziemlich schnell herausbekommen, warum wir so gute Laune haben.«
»Vermutlich. So, ich muß los. Flip, das war ein herrlicher Tag. Herrlich weil ich mit dir zusammen war. Das sollten wir ganz schnell mal wiederholen. Vielleicht auch mal ohne Thomas und Christine…«
»Du bist ja ein ganz Schlimmer! Aber du hast recht, der Tag war super. Der schönste seit langer Zeit. Also dann, paß gut auf auf dem Heimweg. Nicht daß dich irgendwelchen bösen Buben wegfangen.«
»Die hätten keine Chance. Schließlich habe ich ja jetzt jemanden, für den es sich zu kämpfen lohnt.«
»Schmalz, Schmalz. Aber ich liebe es. Ich liebe dich…«
»Ich dich auch.«
Ein schneller Blick in alle Richtungen, die Luft war rein, also konnten wir uns noch einem ausgiebigen Abschiedskuß hingeben. Dann wandte ich mich widerstrebend aus den Armen meines Liebsten und machte mich auf den Heimweg. Kurze Zeit später traf ich zuhause ein, wo ich Mutti und Reinhardt vor dem Fernseher vorfand.
»Bin wieder da.«
»Guten Abend, Casanova. Na, wie wars?«
»Sorry, Reinhardt, aber der Gentleman genießt und schweigt…«
»Bedeutet das, daß wir uns anfangen sollten Sorgen zu machen?«
»Nein, Mutti, das haben wir doch schon durch. Wir überstürzen nichts.«
Um alle eventuellen Zweifel zu zerstreuen, setzte ich mich ein paar Minuten zu den beiden und erzählte ihnen, wie der Rest meines Tages verlaufen war. Am Ende der Erzählung schaute mich Reinhardt gespielt streng an.
»Soso. Videoabend. Das wollen wir doch gleich mal überprüfen. Erzählt mir mal worum es in dem Film ging. Und zwar von der ersten bis zur letzten Minute, wenn ich bitten darf.«
»Also, alles begann damit…«
»Nee, nee, laß mal. Wir glauben dir auch so. Oder, Maria?«
»Müssen wir wohl.«
»Ist Tim schon da?«
»Schon? Hast du mal auf die Uhr geschaut? Der ist schon seit ein paar Stunden zuhause und liegt wahrscheinlich schon im Bett.«
»Mit Veronika?«
»Bring den Jungen bloß nicht auf dumme Gedanken!«
»Ich mein ja nur … nicht daß ich da in irgendwas reinplatze.«
»Nein, keine Sorge, er ist ganz alleine.«
»Gut, dann schieb ich jetzt auch ab. Gute Nacht miteinander.«
Nach den entsprechenden Antworten entschwand ich nach oben. Durch das Schlüsselloch von unserem Zimmer fiel noch Licht, also brauchte ich mir keine besondere Mühe zu geben, extra leise zu sein um Tim nicht aufzuwecken. Trotzdem klopfte ich kurz an bevor ich eintrat.
»Hallo Brüderchen.«
»Hi Danny! Na, zurück vom großen Liebesabenteuer?«
»Keine Ahnung wovon du sprichst. Wir haben uns nur einen gemütlichen Abend gemacht, übrigens zusammen mit Thomas und Christine.«
»Aha. So nennt man das heutzutage also…«
»Kleiner, halt dich zurück. Oder soll ich dich fragen, was du so mit Veronika unternommen hast?«
»Wir waren ganz zahm und friedlich!«
»Wers glaubt…«
»Erzähl mal, habt ihr Thomas und Christine gebeichtet, daß ihr jetzt ein Paar seid?«
»Gebeichtet ist gut…«
Also erzählte ich nochmal haarklein was in der Kupferschen Wohnung abgelaufen war. Tim fand das alles aus mir unverständlichen Gründen hochgradig amüsant, und brauchte eine ganze Weile, um sich wieder zu beruhigen.
»Also alle Achtung, das hätte ich deinem Philipp gar nicht zugetraut!«
»Ich eigentlich auch nicht, entsprechend überrascht war ich, als der mich dann so mir nichts, dir nichts ins Wohnzimmer zerrte und alles vor den beiden ausbreitete.«
»Hat dich das sehr gestört?«
»Gestört? Nein, also das nun wirklich nicht! Wie gesagt, es hat mich überrascht. Ich fand es irgendwie sehr … wie soll ich sagen …«
»Niedlich?«
»Wie kommst du da drauf?«
»Weil das dein Lieblingswort in Bezug auf Philipp ist.«
»Tatsächlich? Na dann wird es wohl so sein. Ich hoffe bloß, daß er es nicht nur mir zuliebe getan hat. Ich möchte nicht, daß er sich irgendwie verpflichtet fühlt etwas zu tun, was er eigentlich noch gar nicht tun möchte.«
»Er wird schon ordentlich darüber nachgedacht haben, keine Bange, er scheint ja ein schlaues Köpfchen zu haben.«
»Das hat er. Schließlich hat er sich in mich verliebt.«
»Oh weh, unter einen übergroßen Ego leidest Du aber wirklich nicht!«
»Habe ich auch nie behauptet.«
Während dieser Unterhaltung hatte ich mich aus den warmen Sachen geschält und schaute jetzt Tim über die Schulter, der im Schlafanzug vor seinem Computer saß.
»Was machst du denn schönes? Doch nicht etwa auf schmutzigen Seiten surfen?«
»Nein, als ob ich das je machen würde!«
»Na, da werde ich mir später mal dein History-file anschauen müssen…«
»Da wirst du nichts finden. Ich bin schon die ganze Zeit dabei, mir Musik runterzuladen. Ist ja Wahnsinn, was es da alles gibt!«
»Du predigst einem Bekehrten. Ich habe schon fast die halbe Festplatte damit vollgestopft. Ich komme bloß immer nicht dazu, CDs daraus zu machen.«
»Das geht auch? Kann ich die dann ganz normal in der Stereoanlage anhören?«
»Klar, alles kein Problem.«
»Das mußt du mir bei Gelegenheit mal zeigen. Wenn ich deinen Brenner benutzen darf.«
»Na sicher darfst du das. So, aber jetzt verschwinde ich erstmal unter die Dusche, und dann mach ich mich lang. Mir reichts für heute.«
»Okay, wenn du dann fertig bist, höre ich hier auch auf.«
»Mußt du nicht, du kannst ruhig noch weitermachen, mich störst du nicht.«
»Das vielleicht nicht, aber ich werde auch langsam müde.«
Gut zwanzig Minuten später kam ich wie ein frisch gelecktes Kätzchen aus dem Badezimmer. Tim war gerade dabei den Computer auszuschalten, ich kümmerte mich um Heizung und Fenster, und kurz darauf lagen wir in unseren Betten. Ein kurzer Gute-Nacht-Wunsch, und dann war ich auch schon eingeschlafen.
Am Montag hieß es, nach einem viel zu kurzen Wochenende wieder zeitig aufzustehen. Irgendein Wissenschaftler hat herausgefunden, daß die Schule viel zu zeitig anfängt, es wäre viel günstiger, wenn es erst um neun losgehen würde. Naja, das klang einerseits ganz gut, etwas länger schlafen könnte nicht schaden. Andererseits: die Vorstellung, daß der Unterricht dann noch länger in den Nachmittag reinreichen würde, war auch nicht so toll. Dann wäre ja der komplette Tag verdorben! Aber noch wurde ja nur darüber geredet, und bis aus Gerede ernsthafte Taten werden, dauert es in Deutschland bekanntlich Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Bis bei uns die Schule erst um neun beginnt, dürfte ich schon längst mit dem Studium fertig sein…
Der Sonntag war ziemlich ruhig verlaufen. Ich vermißte meinen eben erst gewonnen Liebsten, und auch Tim mußte auf seine Veronika verzichten – die war natürlich ebenfalls bei den familiären Verpflichtungen der Steins angebunden. Ich hatte den Vormittag dazu genutzt, ihm alles zum Thema CDs und deren Herstellung zu erklären – und bei der Gelegenheit gleich drei schön gemixte Sampler für mich selbst gebrannt. Der Nachmittag verlief dann ganz nach meinem Geschmack. Wir schwangen uns zu viert ins Auto, und es ging ab ins nahegelegene Freizeitcenter – in die Familiensauna. Es stellte sich heraus, daß Tim und sein Vater erfahrene Schwitzer waren – nur meine Mutter mußte erst ein wenig überzeugt werden, es doch mal zu versuchen. Zu meinem Glück fehlte jetzt nur noch Philipp – und ohne ihm Böses zu wünschen, so hoffte ich doch, daß ich ihm zumindest auch ein klein wenig fehlte.
Ich überspringe jetzt einfach mal all das, was zwischen Aufstehen und Schule ablief – das wiederholte sich ja sowieso mehr oder weniger jeden Tag. Keine Bange, wäre irgendwas Aufregendes passiert, dann würde ich das schon erzählen. Aber es ist einfach nichts Aufregendes passiert, also weiter im Zeitablauf.
Wie üblich traf sich unsere Stamm-Clique vor der mal wieder verschlossenen Schultür. Und endlich war es soweit, ich konnte Philipp wieder in die Arme schließen! Naja, schön wärs. Tat ich natürlich nicht. Sosehr es mich auch danach drängte, ich hielt mich zurück und begrüßte ihn so, wie ich auch alle meine anderen Freunde begrüßte. Ich denke jedenfalls, daß niemand etwas bemerken konnte, besonders da auch Flip selber sich beherrschte. Die Gespräche drehten sich um die üblichen Themen, also wie jeder das Wochenende verbracht hatte usw. usf. Von Philipp und mir kam natürlich nur eine zensierte Fassung zur Bekanntgabe – und auch Thomas schaffte es, die Klappe zu halten. Übrigens, Tim hatte sich sofort zu Veronika begeben und quatschte jetzt – eng neben ihr stehend – mit seinen Klassenkameraden.
Während wir uns also unterhielten und auf die Öffnung der Schultüren warteten, war mir einmal so, als hätte irgendwer im Vorbeigehen zu jemandem etwas gesagt, was so klang wie »Guck dir die Schwuchteln an!« – ich war mir aber nicht ganz sicher, ob ich es wirklich richtig verstanden hatte. Wohl nicht, es war bestimmt nur von einer »Schwuchtel« die Rede gewesen – also von mir. Da das nicht das erste Mal passierte, schob ich das Erlebnis gleich in die hinterste Schublade meines Gedächtnisses, und als wir endlich ins geheizte Schulgebäude hinein durften, hatte ich es praktisch schon vergessen.
Nun haben aber ja gerade die unangenehmsten Dinge die Angewohnheit, sich schmerzlich immer wieder in Erinnerung zu bringen. In diesem Falle bestand dieses In-Erinnerung-Bringen darin, daß die seltsamen Ereignisse in den Pausen, wenn wir von einem Zimmer zum anderen unterwegs waren, immer mehr zunahmen. Die einen glotzten bloß groß, andere gingen soweit, Kußgeräusche nachzumachen. Und zwar jetzt eindeutig sowohl an mich als auch an Flip gerichtet! Langsam aber sicher wurden wir beide immer nervöser – und am schlimmsten war, daß wir uns nicht darüber unterhalten konnten, da wir ja ständig von bisher nicht Eingeweihten umgeben waren!
In der Pause vor der großen Mittagspause waren wir beide dermaßen fertig, daß nicht mehr viel fehlte, um uns explodieren zu lassen. Wir hatten keine Ahnung, was da los war – okay, ich hatte eine Ahnung, aber ich konnte mir nicht erklären, wie das möglich sein sollte. Irgendwie mußte irgendwer herausgefunden haben, daß Flip und ich zusammen waren – aber wie? Ich vertraute eigentlich allen, die bisher in unser Geheimnis eingeweiht waren, und konnte mir nicht vorstellen, daß einer davon dermaßen unser Vertrauen brechen würde. Den Blicken von Thomas jedenfalls entnahm ich, daß er von den Ereignissen genauso überrascht war wie wir.
Aber Aufklärung nahte, und wieder war es Lisa, die ihre geheimen Informationsquellen angezapft hatte. Sie nahm Flip und mich zur Seite, und wandte sich dann in flüsterndem Tonfall an uns.
»Sagt mal, ist es wahr? Seid ihr neuerdings ein Liebespaar?«
Es war an der Zeit für zwei knallrote Köpfe. Wir blickten einander an, da war wohl nichts mehr zu verbergen. Worte brachten wir nicht heraus, wir konnten nur ganz langsam nicken.
»Also stimmt es tatsächlich. Ihr seid das Gesprächsthema der halben Schule, und zum Feierabend werdet ihr das Thema der ganzen Schule sein.«
»Aber … aber wieso … ich meine … wir waren doch absolut vorsichtig!«
»Hier schon, Danny, aber anderswo habt ihr nicht so gut aufgepaßt. Es ist die Rede von einer wilden Knutscherei in einem Kaufhaus-Aufzug.«
»Scheiße!«
Obwohl solcherart Ausdrucksform nicht wirklich zu meinem Philipp paßte – hier konnte ich ihm nur herzhaft zustimmen. Offensichtlich war nicht nur die junge Mutti Zeugin unserer innigen Umarmung mit Lippenbeteiligung gewesen, es mußte auch noch jemand gesehen haben, der wußte wer wir sind. Und dieser jemand hatte sein Mundwerk nicht im Zaum halten können…
»Sieht so aus als wüßtet ihr wovon die Rede ist.«
»Ja, leider. Hast du eine Ahnung, wer das hier zuerst herumerzählt hat?«
»Nicht genau. Es muß heute früh irgendwo in der Neunten angefangen haben, und seitdem macht es immer mehr die Runde.«
Ich schaute zu Philipp, der mit einem sehr gequälten Gesichtsausdruck in der Zimmerecke stand. Oh ja, ich hätte es am liebsten herausgeschrieen, daß er jetzt mein Freund war! Ich wollte, daß alle es wissen – aber nicht so. Nicht auf diese für Flip so erschreckende Art.
»Falls es euch beruhigt: ich freu mich für euch beide. Aber das wird euch nicht wirklich weiterhelfen, oder?«
Die Ankunft der Lehrerin enthob uns der Notwendigkeit zu antworten, und im allgemeinen Gewühl begaben wir uns mit gesenkten Köpfen zu unseren Plätzen. Die Stunde verging quälend langsam – und da doch einige das Gespräch zwischen Lisa und uns mitbekommen hatten, verbreiteten sich die Neuigkeiten jetzt auch in unserer Klasse. Das Getuschel wurde am Ende so laut, daß die Wissensvermittlerin energisch für Ruhe sorgen mußte. Eine Ruhe, deren Haltbarkeitsdatum mit dem näherrückenden Ende der Stunde immer schneller ablief.
Und dann war es soweit. Es klingelte, die Lehrerin verschwand, und entgegen der normalen Routine blieben unsere Mitschüler weiter im Raum. Ein irgendwie unkomfortables Schweigen drohte sich auszubreiten, bis dann Jürgen derjenige war, der ernsten Blickes zu Philipp und mir trat.
»Das ist unmöglich, Leute. Von euch hätte ich das wirklich nicht erwartet, ganz besonders von dir nicht, Danny.«
Ich glotzte ihn mit großen Augen an und hatte keinen blassen Schimmer, worauf er hinauswollte.
»Warum erfahren die besten Freunde die guten Nachrichten eigentlich immer als letzte? Naja, ich will mal nicht so sein. Herzlichen Glückwunsch, auf daß es lange halte!«
Und damit war der Bann gebrochen. Plötzlich redeten alle durcheinander und gratulierten uns, und sowohl auf Philipps als auch auf meinem Gesicht machte sich ganz zögerlich ein Lächeln breit.
Zwei oder drei beachteten uns überhaupt nicht und verließen so das Zimmer, aber solange sie uns nicht dumm kamen war mir das eigentlich egal. Nach und nach folgten ihnen dann alle die uns gratuliert hatten, bis ich am Ende mit Philipp allein im Zimmer war.
»Ganz schön heftig, nicht wahr? Kommst du damit klar, Flip?«
»Habe ich denn eine Wahl? Ich werde damit klarkommen müssen, ob ich nun will oder nicht. Stört dich das überhaupt nicht?«
»Oh doch! Mich stört aber weniger, daß es alle wissen, als vielmehr wie es dazu gekommen ist. Mir wäre es lieber gewesen, wenn es nach unseren Regeln passiert wäre, zu unserer Zeit. Du weißt ja, daß ich dich niemals gedrängelt hätte.«
»Ich weiß. Und ich weiß auch, wie schwer dir das gefallen wäre. Ich weiß das, weil ich es am liebsten selber jedem erzählt hätte! Aber ich konnte mich einfach nicht dazu überwinden. Wer weiß, wann ich mich dazu getraut hätte, ob überhaupt irgendwann.«
»Doch, Flip, das hättest du. Und ich hätte solange auf dich gewartet.«
»Danke. Naja, vielleicht ist es ja ganz gut so. Jetzt hat man uns die Entscheidung abgenommen.«
»Und wie gehen wir jetzt damit um?«
»Die beste Verteidigung ist der Angriff. Sagt mein Vater immer.«
»Jetzt weiß ich auch, wo du dein schlaues Köpfchen her hast…«
»Danny, ich weiß, du machst dir Sorgen darum, wie ich das verkrafte. Es ist wirklich nicht leicht, es ist immer noch alles so völlig neu für mich. Vor ein paar Tagen war ich noch nicht bereit, vor mir selbst zuzugeben, daß ich schwul bin – und jetzt habe ich den tollsten Boyfriend der Welt! Und weißt du was? Mit dem werde ich das durchstehen. Versprich mir nur, daß du mich nicht alleine läßt, okay?«
»Darauf kannst du dich verlassen. Mich wirst du nicht wieder los!«
Ob es das Wissen darum war, daß jetzt eh alles egal war, oder die Erleichterung wegen meines Versprechens, keine Ahnung. Jedenfalls tat Flip als nächstes das, was uns erst in diese Schwierigkeiten gebracht hatte. Er umarmte mich, und dann fanden sich unsere Lippen. Viel Zeit hatten wir dafür nicht, aber wir genossen diesen Moment, der uns beiden wieder etwas Sicherheit und Mut gab.
»So, jetzt überstehe ich alles, was da auch kommen mag.«
»Ich auch. Gehen wir essen?«
»Ja. Irgendwie habe ich plötzlich wieder Appetit.«
Mit diesen Worten griff Philipps linke Hand seine Schultasche, die rechte meine linke Hand, und dann zog er mich durch die Zimmertür auf den Korridor. Ich hatte gerade noch Zeit, meine eigene Tasche zu greifen. Auf dem Gang waren wir sofort wieder Zielscheibe vieler Augenpaare, und unter den Blicken von mindestens einem Dutzend Schüler aller möglichen Klassen marschierten wir in Richtung Speisesaal. Hand in Hand. Einer Zukunft entgegen, von der wir nicht wußten, was genau sie uns bringen würde. Von der wir aber eines ganz genau wußten: wir würden sie gemeinsam bewältigen…
Epilog – Einige Monate später an meinem 18. Geburtstag
»Danny, schau mal, da vorne sitzen Ralph und Christoph.«
Tatsächlich, etwa zehn Reihen vor uns hatten sich die beiden niedergelassen. Seit der berüchtigten Party bei Ralphs Schwester Katja waren die beiden unzertrennlich, und hatten alle Widrigkeiten ihres Coming Out gemeinsam durchgestanden. Die reinsten Vorbilder für alle schwulen Teenager. Nun saßen die beiden mittlerweile Sechzehnjährigen nicht weit von uns im Kino und erwarteten den Beginn der Vorstellung.
Tim und ich hatten vier Plätze ganz weit hinten, in der allerletzten Reihe, in Beschlag genommen, und warteten nun auf die beiden noch fehlenden Leute.
»Sag mal, Tim, meinst du, daß wir uns den richtigen Film ausgesucht haben?«
»He, du wolltest doch was wo man nicht groß aufpassen muß und schön kuscheln kann. Und dazu ist der Schinken wirklich gut geeignet.«
Wo er Recht hatte, da hatte er Recht.
»Ich weiß allerdings nicht, ob es so eine gute Idee war, den beiden das Heranschaffen des Popcorn zu überlassen. Ich hoffe nur, sie kommen noch rechtzeitig zum Filmanfang.«
Ich schickte ein kurzes Stoßgebet gen Himmel. Wenn man die beiden alleine ließ, bestand stets die Gefahr, daß sie in totale Trödelei verfielen. Naja, noch waren ein paar Minuten Zeit.
Die letzten Monate waren ereignisreich gewesen, seit dem überstürzten Einzug von Tim und seinem Vater in das vorher nur von meiner Mutter und mir bewohnte Haus hatte sich unser aller Leben ziemlich umgekrempelt. Zu Anfang traten wir uns trotz der Größe des Hauses regelrecht auf die Füße – kein Wunder, wenn da ständig zwei zusätzliche Leute mit herumwuselten. Aber wir gewöhnten uns recht schnell daran. Genauso schnell wie Tim an seine neue Schule, naja, leistungsmäßig waren eh keine Probleme zu erwarten gewesen, und mit einem großen Bruder wie mir war es auch viel leichter, den Schritt ins große Unbekannte zu wagen. Es dauerte nicht lange, und er hatte jede Menge Freunde gefunden.
Reinhardt wurde zum großen Ruhepol der Familie. Dadurch, daß er vom heimischen Arbeitszimmer aus tätig war, wurde er zum Anlaufpunkt für uns drei andere, und besonders ich lernte, sein stets offenes Ohr für meine Probleme und Problemchen zu schätzen. Er und meine Mutter waren glücklich wie am ersten gemeinsamen Tag, und in sechs Wochen würden nun endlich die Hochzeitsglocken läuten. Anschließend würden die beiden für vierzehn Tage in die Flitterwochen abdüsen, und Tim und ich würden das Haus ganz für uns alleine haben! Dauerparty war zwar nicht angesagt, aber ein wenig ausnutzen würden wir das schon! Hehe, boys will be boys.
Meine Mutter war seit Monaten ausgeglichen wie nie zuvor und hatte sogar einen Architekturpreis gewonnen. Sie war mehr denn je vernarrt in Tim (ohne mich dabei irgendwie zurückzusetzen), und dieses Gefühl beruhte eindeutig auf Gegenseitigkeit.
Meine Wenigkeit? Tja, es war genau das eingetreten, was ich befürchtet hatte. Ich bekam Tims makellose Schulnoten regelmäßig vorgehalten, also nicht richtig ernsthaft, mehr neckisch. Und in gewisser Weise hatte mich der Ehrgeiz gepackt, mit dem Ergebnis, daß auch mein Notenschnitt rasant auf 1.5 gefallen war.
Tim und ich waren mit der Zeit richtige Brüder geworden, ach quatsch, viel mehr als das, wir waren die besten Freunde, die man sich vorstellen konnte. Es gab nichts, worüber der eine nicht mit dem anderen sprechen konnte, es gab keine Geheimnisse, nie böse Worte – dafür gab es zwischen uns irgendeine Art von Verbindung auf geistiger Ebene, welche es häufig mit sich brachte, daß der eine den angefangenen Satz des anderen beendete. Ich konnte mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen, und wie ich es mehr als siebzehn Jahre ohne ihn durchgehalten hatte, ging über meinen Horizont.
Tim war immer noch schüchtern, aber längst nicht mehr so sehr wie zu Beginn unserer Freundschaft. Und das, was von seiner Schüchternheit noch übrig war, machte ihn nur um so niedlicher, hübscher, interessanter. Was jedoch völlig verschwunden war – und was wir keine einzige Träne nachweinten – waren seine Selbstzweifel. In der Beziehung war er ein völlig neuer Mensch geworden, und wenn jetzt einmal das Gespräch auf seine Mutter kam, dann lautete sein üblicher Kommentar »Die blöde Kuh weiß gar nicht, was sie so einfach weggeworfen hat«. Recht hatte er!
Den vergangenen Sommer hatte Tim genutzt, um an seinem Großprojekt zu arbeiten. Er hatte sich vorgenommen, mich von meiner Angst vor Wasser zu kurieren. Also hatte man an den Stränden der Umgebung oft einen enthusiastischen Tim und einen skeptischen Danny gesehen, und diese Skepsis war ob der Lehrmethoden meines Bruders durchaus angebracht. Als ihm meine Sturheit zu sehr auf die Nerven ging, hatte er mir einmal sogar in einer hinterhältigen Tauchattacke die Badehose geklaut (Merke: Nie wieder solche schlapprigen Badeshorts, mit einer hautengen Speedo wie Tim sie trug wäre ihm das Manöver nicht so leichtgefallen!), und war dann mit seiner Eroberung nicht etwa zum Strand zurückgeschwommen, sondern zu einer kleinen Insel im See. Nun stand ich vor der Wahl, entweder relativ unbekleidet zurück ans dichtbevölkerte Ufer zu waten, oder all meinen Mut zusammenzunehmen und die rund zweihundert Meter zur Insel zu schwimmen, durch Wasser, welches so tief war, daß ich nie und nimmer mehr drin stehen konnte. Ich entschied mich für Letzteres – und habe es sogar überlebt. Da hatte ich mir wirklich einen tollen Bruder geangelt! Allerdings mußte ich ihm zugestehen, daß ich seither keine so großen Probleme mehr mit Wasser hatte, was auch daran liegen mag, daß er ein guter Trainer war und ich bei ihm zum Thema Schwimmen mehr gelernt habe als selbst bei meinem fordernden leiblichen Vater. Jetzt machte es mir sogar Spaß! Ein klein wenig nur, aber immerhin. Wer hätte das je von Danny »Wasserscheu« Thom gedacht.
Tja, das war sie also, die Geschichte vom Neuanfang. Ein Neuanfang für alle von uns, und einer, der unser aller Leben glücklicher gemacht hat, als wir es uns je zu erhoffen wagten. Vor genau 12 Monaten war es ein simpler Zufall, ja ein Unfall, der die Dinge ins Rollen brachte, und ich war heute mehr als je zuvor davon überzeugt, daß da doch irgendwie das Schicksal mitgespielt hatte. Aber wißt ihr was? Das ist nur die eine Seite der Medaille. Nur auf ein gütiges Schicksal zu vertrauen reicht nicht. Man muß sein Glück selbst in die Hand nehmen, wer nur darauf wartet, daß es ihm in den Schoß fällt, wird wohl sehr lange sehr einsam bleiben. Reinhardt und meine Mutter, Tim und ich – wir hatten genau das getan, und waren reich dafür belohnt worden.
Übrigens, ich hatte abgesehen vom Spaß am Schwimmen noch etwas von Tim übernommen. Seit einigen Wochen nannte ich Reinhardt »Paps«. Gott, war der glücklich, als ich es das erste Mal aussprach! Ich hatte lange darüber nachgedacht, anfangs kam es mir fast wie ein kleiner Verrat an meinem »echten« Vater vor. Aber dann sagte ich mir: er hatte mich geliebt, also würde er bestimmt glücklich sein zu sehen, daß ich in der Lage war, auch ohne ihn wieder ein normales Leben zu führen. Er wäre glücklich zu sehen, daß Mutti und ich wieder jemanden gefunden haben, der uns genauso lieb hat wie er vor seinem Tod. Also hieß es von nun an »Paps«. Naja, außerdem konnte ich schlecht zurückstehen, wo doch Tim schon einige Wochen vorher angefangen hatte, meine Mutter »Mutti« zu nennen. Und dies alles paßte sehr gut dazu, daß am Tage der Hochzeit von Reinhardt und Maria auch die gegenseitige Adoption von Tim und mir rechtswirksam werden würde. Danny Bergner – das hörte sich doch so schlecht nicht an, oder?
Der Trubel in der Schule hatte sich nach und nach gelegt. Flip und ich wurden zu einem normalen Anblick, jeder wußte, daß wir praktisch nie getrennt auftauchten. Ein paar mißliebige Zeitgenossen gab es natürlich auch, aber die waren in der Minderzahl, und wir brauchten uns nicht einmal selbst darum zu kümmern, daß sie nicht zu einem echten Problem wurden. Dafür sorgten schon unsere Freunde. Die Gesamtstimmung war mittlerweile so gut, daß sich – wie wohl schon erwähnt – auch Katjas Bruder Ralph zum Coming Out vor der Schule durchgerungen hatte.
So, jetzt könnten sie aber wirklich langsam auftauchen, gleich würde das Licht ausgehen. Ah, da waren sie ja endlich! Tim und ich bekamen jeweils einen Eimer Popcorn in die Hand gedrückt, dann wurden wir in die Mitte genommen, und gerade noch rechtzeitig waren wir komplett. Das Licht ging aus, der Vorhang auf, und Tim lehnte sich zu mir rüber und flüsterte mir ins Ohr:
»Amüsier dich schön, Geburtstagskind.«
Dann lehnte er sich nach der anderen Seite, legte den linken Arm um die Schulter seiner Freundin und begann damit, was man halt im dunklen Kino in der letzten Reihe so tut.
Und ich? Tja, ich lehnte mich nach rechts, wo Flip, der süßeste Junge auf dem Antlitz des Planeten sowie im Umkreis von einigen hundert Parsec, bereits sehnsüchtig darauf wartete, daß ich ihm die gleiche Aufmerksamkeit zugedachte wie Tim seiner Veronika (na klar waren die beiden auch noch zusammen!). Und ich würde seine Erwartungen bestimmt nicht enttäuschen! Also möge man mich jetzt bitte entschuldigen, ich habe Wichtigeres zu tun, als diese Geschichte noch weiter fortzusetzen. Go out and get a life!
PS: Ich kann es förmlich hören. Alle stellen dieselben Fragen. »Wie kann dieser Philipp sich das nur erlauben?« »Wie kann der es wagen, mir diesen schnuckligen Danny wegzuschnappen?«
Tja Leute, tut mir leid, aber ich bin jetzt vergeben. DANNY IST NICHT MEHR SOLO!!! Wenn sich jemand darüber beschweren will, so muß er das beim lieben Gott tun. Wie auch immer. Zu ändern ist jetzt nichts mehr, ich bin glücklich wie nie zuvor und gedenke, mit Philipp zusammen sehr, sehr alt zu werden. Allerdings ganz langsam. Dieses gemeinsame Leben ist jedoch schon eine ganz andere Geschichte. Die ich vielleicht irgendwann auch mal erzählen werde. Aber nicht heute. So, Ruhe jetzt, die Werbung ist vorbei, der Hauptfilm fängt an. Nicht daß ich viel davon mitbekommen werde… ;-)
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