Stories
Stories, Gedichte und mehr
Hit any key to die
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.
Informationen
- Story: Hit any key to die
- Autor: Peter
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Krimi
Vorwort
Die folgende Geschichte ist die zweite Episode aus dem Leben von Kriminalkommissar Sascha Altmann. Die Handlung ist zwar in sich abgeschlossen, trotzdem ist es zum Verständnis besonders der Personen besser, die erste Episode »Othello und andere Katastrophen« vorher gelesen zu haben.
Hit any key to die
© 2013 Peter Conrad
Der Mörder zielte auf den Kopf des gefesselten Mannes. »Jetzt, Bulle, wirst du sterben!« Anscheinend gab es wirklich keine Aussicht mehr auf Rettung. Doch plötzlich sprang die Zimmertür auf!
»Hallo Sascha.«
Was? Wie? Wo? Oh. Da waren gleich zwei Zimmertüren aufgesprungen, eine in dem Kriminalroman, den ich gerade las, und eine zweite in dem Büro, in welchem ich saß und meine Arbeitszeit mit Lesen verplemperte. Schnell warf ich das Buch zur Seite und wandte mich meinem Besucher zu.
»Hallo Sven.«
Kriminalhauptkommissar Berger vom Dezernat Organisiertes Verbrechen trat ins Zimmer und schloss hinter sich die Tür.
»Ist dein Chef nicht da?«
»Nein, der hat schon Feierabend gemacht.«
Berger schaute auf die Uhr und schüttelte verwundert den Kopf.
»Feierabend? Um diese Zeit schon? Der hockt doch sonst immer bis spätabends im Büro.«
Allerdings, dafür war KHK Machlitzke berühmt. Und bei seiner Frau und seinen Kindern berüchtigt.
»Familiäre Verpflichtungen. Er hat heute Silberhochzeit, da hat Gertrud ihn vor die Wahl gestellt, entweder mit ihr zu feiern, oder gleich die Scheidung hintendran zu hängen.«
Mein Besucher lachte.
»Ich denke bei diesen Alternativen dürfte selbst einem Arbeitstier wie Jens die Wahl leicht gefallen sein.«
»Glaub ich auch, und nach dem riesigen Blumenstrauß zu urteilen, mit dem er vorhin hier weg gedackelt ist, weiß er genau, dass er bei seiner Frau einiges gutzumachen hat.«
»Tja, das dürfte in unserem Job wohl den meisten so gehen. Aber mir ist es eigentlich ganz lieb, dass ich dich hier alleine erwische.«
Nanu? Was hatte das nun zu bedeuten? Wollte er mir wieder vorschlagen, in sein Dezernat zu wechseln? Seit wir vor einigen Monaten die Unterwelt-Größe Viktor Barenkow des Mordes überführen konnten, hatte KHK Berger immer wieder einmal versucht, mich von der Mordkommission abzuwerben. Bisher war das allerdings stets in Gegenwart meines eigenen Vorgesetzten geschehen. Die beiden kannten sich sehr gut, und das war mehr eine Frotzelei denn wirkliche versuchte Abwerberei. Nun jedoch machte es fast den Eindruck, als wolle Berger die Sache ernsthafter angehen.
»Ach ja? Wieso das denn?«
»Du bist doch noch mit deinem Derek zusammen, oder?«
»Yup. Weshalb fragst du?«
Natürlich war ich noch mit meinem Schatz zusammen, ich wäre ja wirklich schön doof, wenn ich den jemals wieder hergeben würde. Und man hatte mir in meinem Leben schon einiges vorgeworfen – Doofheit jedoch gehörte nicht dazu.
»Ich hätte da ein kleines Computerproblem, bei dem ich die Hilfe eines Fachmannes bräuchte.«
Nun, damit war er bei Derek definitiv an der richtigen Adresse. Mit einem früheren Schulfreund führte er als erfolgreicher Jungunternehmer die Firma Data Rescue, welche sich innerhalb kürzester Zeit einen Namen im Bereich Computersicherheit und Datenrettung gemacht hatte.
»Schieß los, worum geht es denn?«
»Wir haben bei einer Hausdurchsuchung einen Computer beschlagnahmt, von dem wir uns einiges an Beweismaterial erhoffen. Leider ist alles verschlüsselt, und dummerweise ist Zeit ein kritischer Faktor. Du weißt ja wie das ist, wenn wir den offiziellen Weg übers LKA gehen…«
Allerdings. Für die kam erst mal ihre eigene Arbeit, dann lange Zeit nichts, und irgendwann ganz am Ende kam die Hilfe für uns stinknormale Stadtbullen.
»Und der Besitzer des Computers ist nicht sonderlich hilfsbereit, oder?«
»Wenn wir den nur hätten. Er ist uns durch die Lappen gegangen, und unter anderem deswegen ruhen unsere Hoffnungen auf dem Rechner. Vielleicht findet sich dort ein Hinweis darauf, wo wir nach ihm suchen können.«
Wortlos griff ich zum Telefonhörer und wählte die Nummer, die ich seit einigen Monaten auswendig kannte.
»Data Rescue, Prosch.«
»Hallo Schatz.«
»Sascha! Schön deine Stimme zu hören. Was gibt’s denn Schönes?«
»Arbeit, Der. Hast du viel zu tun oder könntest du was einschieben?«
»Ach Menno, es ist Freitagnachmittag. Eine bessere Zeit ist dir wohl nicht eingefallen?«
Ich seufzte.
»Ist nicht meine Schuld, Schatz. Hauptkommissar Berger bräuchte deine fachliche Hilfe. Er hat hier einen Rechner mit verschlüsselten Daten, an die er sehr dringend rankommen müsste.«
»Hm. Na gut. Bring mir das Ding vorbei und ich werde sehen, was ich machen kann. Hoffentlich versaut uns das nicht das ganze Wochenende.«
Ich beschloss, lieber nichts weiter dazu zu sagen.
»Okay, ich komme so schnell wie möglich und bringe dir den Rechner.«
»Gut, ich warte auf dich. Bis nachher.«
»Tschüss.«
Ich legte auf und drehte mich zu meinem Besucher.
»Derek ist einverstanden, wir können ihm den Computer in die Firma schaffen.«
KHK Berger atmete erleichtert auf.
»Ihr seid meine Rettung. Wenn ich mal was für euch tun kann, dann sagt einfach Bescheid.«
Mir fiel zwar im Moment nichts ein, was er für uns hätte tun können, aber ich vermerkte sein Angebot in meinem Gedächtnis. Wer weiß, wofür das irgendwann doch mal gut sein würde.
»Wir sollten uns aber beeilen, nicht dass Derek es sich noch anders überlegt.«
Das brachte Berger ins Rollen.
»Dann los, der Rechner steht in meinem Büro. Musst du dich irgendwie abmelden?«
»Nein, ich schalte das Telefon nur um auf mein Handy. In einer knappen Stunde habe ich eh Feierabend.«
»Gut, da nehmen wir am besten deinen Wagen, dann brauchst du gar nicht mehr hierher zurück, und ich lasse mich von einer Streife abholen.«
So kam es, dass wir nach einer halben Stunde und einer etwas stressigen Fahrt durch den Leipziger Freitagnachmittagfeierabendverkehr auf das Betriebsgelände von Data Rescue einbogen. Ich klemmte mir den Computer unter den Arm und marschierte in KHK Bergers Begleitung zielstrebig ins Büro von meinem Liebsten. Dieser schraubte gerade ein Rechnergehäuse zusammen, ließ jedoch sofort alles stehen und liegen als er mich ins Zimmer kommen sah.
»Da bist du ja!«
Vorsichtig nahm er mir den Rechner aus den Händen, stellte ihn auf dem Boden ab, dann bekam ich erst mal seine übliche stürmische Umarmungsbegrüßung. Nicht dass ich was dagegen gehabt hätte…
Plötzlich räusperte sich jemand neben uns. Mist. Berger. Den hatten wir doch völlig vergessen.
»Ich will euch beiden ja nicht den Spaß verderben, aber ich hätte hier ein wenig Arbeit, die nach einem echten Computerprofi verlangt.«
Derek gab es nicht gerne zu, aber er fuhr doch ein wenig auf solche Sprüche ab. Er hatte es gerne, gelobt und als Spezialist anerkannt zu werden.
»Dann mal her mit dem guten Stück. Übrigens, wir sind uns glaube ich noch nicht begegnet. Ich bin Derek, Derek Prosch.«
Artig griff sich Berger das angebotene Patschhändchen.
»Angenehm, Sven Berger.«
Mein Freund schnappte sich nun den Rechner und packte ihn auf den Arbeitstisch.
»Ihr lasst mich jetzt lieber mit dem Ding alleine, zum Arbeiten brauche ich meine Ruhe. Ich melde mich bei Sascha, wenn ich irgendwas rausbekomme, okay?«
»Einverstanden, und Sascha kann sich dann an mich wenden. Falls irgendetwas ist, hier ist auch noch meine Karte. Handynummer steht hinten drauf.«
»Okay.«
»Ach ja, tut mir wirklich leid, wenn ich euch irgendwie die Wochenendplanung durcheinander bringe, aber das ist wirklich wichtig und dringend.«
»Schon gut. Ich werde sehen was sich machen lässt und mich beeilen. Was Großartiges hatten wir eh nicht vor, aber wir wollten eigentlich morgen zum Baden an den Kulki fahren.«
KHK Berger, der bereits in der Tür stand, drehte sich nochmal um und grinste uns frech an.
»Soso. Knackige Jungs in engen Badehosen angaffen, oder wie?«
Empört stemmte mein Schatz die Hände in die Hüften.
»Also wirklich! Als ob wir knackige Jungs in engen Badehosen angaffen würden!«
Genau, auf so eine doofe Idee würden wir niemals kommen!
»Wers glaubt…«
Jetzt war es an der Zeit für mich, Sven den Todesstoß zu versetzen.
»Kannst du ruhig glauben. Wir gehen nämlich immer an den FKK. Also nichts mit Badehosen.«
Nun verschluckte sich Berger an der eigenen Spucke, dann hob er kapitulierend die Hände über den Kopf.
»Ich gebs auf. Mit euch Jungvolk komm ich nicht mehr mit. Aber ich hätte es ahnen sollen, meine Zwillinge gehen auch nur noch an den Textilstrand, wenn meine Frau und ich dabei sind. So, nun hau ich aber ab. Und Sascha, du verschwindest auch besser von hier, damit deine bessere Hälfte auch wirklich zum Arbeiten kommt. Sonst wird es eng mit dem FKK-Strand.«
Mit diesen Worten verschwand Berger und ließ mich mit Derek alleine zurück.
»Tut mir leid, Sascha, aber ich befürchte, er hat Recht. Ich sollte mich an die Arbeit machen, und dabei kann ich dich wirklich nicht gebrauchen.«
»Schon okay, ich weiß ja, dass du dich in meiner Gegenwart nicht konzentrieren kannst.«
Dafür bekam ich einen herzhaften Knuff in den linken Oberarm verpasst.
»Woran das wohl liegen mag! Du lässt mich ja nie für länger als fünf Minuten in Frieden, wenn wir zusammen sind.«
Das stimmte vermutlich, aber er war auch einfach zu niedlich, um in Frieden gelassen zu werden. Trotzdem hatten jetzt andere Dinge Priorität.
»Gut, ich verschwinde. Und über das in Frieden lassen reden wir demnächst nochmal. Mal schaun, ob ich dich heute Abend beim Kuscheln auch in Frieden lassen soll.«
»Untersteh dich! Und nun hau ab.«
Ich gab Derek einen leichten Klaps aufs wohlgeformte Hinterteil, dann ließ ich ihn mit seinen Bits und Bytes alleine. Mittlerweile waren es nur noch wenige Minuten bis zu meinem Feierabend, also beschloss ich, gleich nach Hause zu fahren. Mit einem kleinen Umweg über den Supermarkt. Auf halbem Wege dahin klingelt mein Handy.
»Altmann.«
»Was treibst du dich mit der Konkurrenz herum?«
Ich musste grinsen, auch wenn ich keinen blassen Schimmer hatte, woher mein Chef bereits wusste, dass ich mit Berger unterwegs gewesen war.
»Keine Angst, er hat nicht versucht mich abzuwerben.«
»Ach ja? Und wieso ist er mit dir in deinem Wagen weggefahren?«
»Weil er Hilfe mit einem Computerproblem brauchte und mich gebeten hat, ein gutes Wort für ihn bei Derek einzulegen.«
»Oh. Na gut. Das will ich mal gelten lassen. Ich hatte schon befürchtet, dass er wieder versucht, dich fürs OV einzufangen.«
»Ich hab dir schon mindestens dreieinhalbmal gesagt, dass ich daran eh kein Interesse hätte, Chef.«
»Hm. Ich will dich einfach nicht verlieren, kapiert?«
Das war wohl das größte Kompliment, welches ich je von KHK Machlitzke zu hören bekommen würde.
»Wie gesagt, ich bleibe dir erhalten. Und wenn du möchtest, dass deine Frau dir erhalten bleibt, solltest du dich jetzt lieber wieder um sie kümmern und nicht weiterhin mit einer Gehirnhälfte im Job rumhängen.«
»Schon gut, schon gut, hast ja Recht. Also dann, schönes Wochenende.«
»Danke gleichfalls, und feiert schön.«
Eine Antwort darauf kam nicht mehr, Machlitzke hatte bereits aufgelegt. Grinsend lenkte ich den Wagen auf den Supermarkt-Parkplatz und erledigte die Einkäufe. Anschließend fuhr ich nach Hause und gönnte mir erst mal eine erfrischende Dusche. Nun konnte das Wochenende beginnen, und ich hoffte, dass nicht irgendein Einsatz dazwischenkommen würde.
Der Nachmittag zog ins Land, es wurde Abend, und noch immer hatte ich keine Nachricht von Derek bekommen. Ich wusste es allerdings besser als bei ihm anzurufen und nachzufragen, er konnte ziemlich stinkig werden, wenn man ihn mitten in der Arbeit störte. So bereitete ich lieber erst mal ein schönes Abendessen vor und stellte auch eine Flasche Wein bereit – immer in der Hoffnung, dass er nicht zu spät nach Hause kommen würde.
Wir hatten die gemeinsame Wohnung kurz nach dem Fall Brauner/Barenkow bezogen. Für uns beide war es eine ziemliche Umstellung gewesen. Ich hatte vorher schon eine kleine Wohnung alleine bewohnt, Derek jedoch bis dahin noch bei seinen Eltern gelebt. Erfahrungen im Zusammenleben mit einem Partner hatte keiner von uns. Wir hatten eine Weile gebraucht, um uns auf die neuen Lebensumstände einzustellen, aber wir hatten uns zusammengerauft und mittlerweile lief es wirklich gut. Die Wohnung war zum Glück groß genug, sodass jeder notfalls einen kleinen Rückzugsbereich für sich ganz alleine hatte. Wir hatten eh mächtig Schwein gehabt, diese Wohnung im 26. Stockwerk des höchsten Leipziger Wohngebäudes mitten im Stadtzentrum zu bekommen. Die Miete war zwar ebenso hoch wie das Haus, aber wir verdienten beide gut und konnten uns das leisten. Und der Ausblick war einfach unbezahlbar.
Nachdem ich alles für ein gemütliches Abendessen vorbereitet hatte, schnappte ich mir eine Flasche Radler und setzte mich auf einen unserer Balkons. Zwar war es dort wegen des Verkehrslärmes etwas laut, aber trotzdem war es herrlich. Auf diesem Balkon ertappte mich dann auch mein Schatz, als er gegen halb acht nach Hause kam. Wegen des Lärms hatte ich ihn gar nicht kommen gehört.
»Ah, hier bist du. Ich arbeite hart und du hockst hier faul auf dem Balkon.«
»Hi Schatz. Schön dass du da bist. Und, hast du was rausgefunden?«
»Bisher nicht, das ist alles verdammt gut verschlüsselt. Aber ich denke, ich bin auf der richtigen Spur. Morgen früh setze ich mich wieder dran, ich konnte jetzt einfach keine Zeichen auf dem Monitor mehr erkennen.«
»Du Ärmster. Mach es dir bequem, in zehn Minuten gibt es Abendbrot.«
»Mach zwanzig draus, ich spring schnell unter die Dusche.«
»Okay. Möchtest du ein Glas Wein oder erst mal was anderes?«
»Erst mal ein Bier, den Wein trinken wir später.«
»Gut, dann geh duschen.«
Eine halbe Stunde später saßen wir am Abendbrottisch, und Derek sah mit seinen nassen Haaren einfach zum Anbeißen aus. Zum Glück hatte ich zum Anbeißen ein paar andere leckere Sachen vorbereitet, sonst hätte ich für nichts garantieren können.
»Sag mal, hast du eine Ahnung, worum genau es bei dem Fall von deinem Kollegen geht?«
Ich kaute auf dem Kräuterbaguette herum und schüttelte den Kopf.
»Nein, er hat nichts dazu gesagt. Wäre das wichtig für dich?«
»Weiß ich noch nicht, kommt darauf an, was ich morgen finde.«
»Du hast noch gar nichts entdeckt?«
»Nein, aber ich glaube, ich bin ganz dicht dran am Algorithmus.«
»Das schaffst du schon.«
»Ja, aber nicht mehr heute. Ich bin wirklich völlig erledigt. Ich will nachher nur noch ein bisschen vor der Glotze kuscheln und dann ins Bett.«
Herausfordernd grinste ich ihn an.
»Das lässt sich bestimmt einrichten. Und du kannst gerne auch im Bett kuscheln.«
Derek grinste mindestens genauso frech zurück.
»Warum überrascht mich das nicht?«
»Du kennst mich einfach viel zu gut.«
»Ja, und das ist auch gut so.«
Wir flirteten noch ein wenig weiter, dann kümmerte ich mich um die Überreste des Abendessens und die Spülmaschine. Derek hatte ich vorher schon auf die Couch verbannt, der hatte wirklich lange genug gearbeitet für einen Tag. Später gesellte ich mich mit der Weinflasche zu ihm, und es wurde noch ein schöner, gemütlicher Abend…
Am nächsten Morgen wurde ich durch einen Kuss auf die Stirn geweckt. Blinzelnd öffnete ich die Augen und schaute in Dereks Gesicht, welcher sich über mich gebeugt hatte.
»Was ist los, Schatz?«
»Ich mach mich auf den Weg ins Büro. Du kannst ruhig noch liegenbleiben, es ist noch früh.«
Mit vertrieften Augen schaute ich auf die Uhr. Tatsächlich, erst kurz nach halb acht. Der arme Derek. Und das zum Samstag. Ich drehte mich wieder auf die Seite, und kurz darauf war ich erneut eingeschlafen.
Wieder wach wurde ich kurz vor zehn, und ich gönnte mir erst mal einen ganz gemütlichen Vormittag mit einem schönen Frühstück. Gerade als ich gegen elf überlegte, was ich nun mit dem Tag anfangen sollte, klingelte das Telefon.
»Altmann.«
»Ich bins, Sascha.«
Sofort sprangen meine Gehirnwindungen an.
»Hast du was gefunden?«
»Ja, und ich denke, du solltest sofort rüberkommen und auch Berger her zitieren.«
»Mach ich, bis gleich!«
»Tschüss.«
Damit war der gemütliche Vormittag vorbei. Ich suchte die Telefonnummer von KHK Berger heraus und wählte sie an. Nach dem dritten Läuten meldete sich eine junge Stimme.
»Pascal Berger.«
Pascal? Ach so, einer seiner Zwillinge.
»Kommissar Altmann, könnte ich bitte mal deinen Vater sprechen?«
»Kommissar Altmann? Der FKK-Altmann?«
Ich stöhnte auf. Was hatte Berger seiner Familie denn alles erzählt?
»Genau der. Also, wie schaut‘s aus? Ist Dein Vater greifbar?«
Ich konnte das Grinsen des Jungen am anderen Ende der Strippe förmlich spüren.
»Ja, Moment, ich hole ihn ran.«
Ich hörte, wie der Hörer auf einem Tisch landete, dann sprinteten Füße davon. Etwa eine halbe Minute später meldete sich die Stimme von Sven Berger.
»Berger. Was gibt’s?«
»Altmann hier. FKK-Altmann.«
Mein Gesprächspartner lachte schallend.
»Sorry, Sascha, aber ich hätte nicht gedacht, dass Pascal das sofort ins Spiel bringt.«
»Du hättest es ihm ja einfach nur nicht erzählen brauchen.«
»Tut mir leid, das konnte ich mir einfach nicht verkneifen. Aber ich denke mal, dass du nicht deshalb anrufst. Hat dein Freund irgendwas rausgefunden?«
»Ja, er rief gerade an und meinte, dass wir schnellstens zu ihm in die Firma kommen sollen.«
»Alles klar, ich mache mich sofort auf die Socken.«
»Gut, wir treffen uns dort.«
Wir legten gleichzeitig auf, ich schnappte mir Dienstwaffe und Autoschlüssel und machte mich auf den Weg zu Data Rescue. Gerade als ich dort ausstieg, kam auch der Wagen von Hauptkommissar Berger auf den Parkplatz gerollt, und gemeinsam betraten wir erst das Firmengebäude und dann Dereks Büro. Als wir eintraten blickte er vom Monitor auf.
»Ah, da seid ihr ja. Ging ja schnell.«
»Du hast ja auch den Eindruck gemacht, dass es sehr dringend wäre.«
Derek antwortete nicht, sondern zeigte nur auf zwei Drehstühle, die wir uns heranzogen, sodass wir nunmehr alle vor dem riesigen Monitor am Arbeitsplatz meines Freundes saßen. Dieser schaute nun meinen Begleiter durchdringend an.
»Wusstest du, was mich hier auf dem Rechner erwartet?«
Was meinte er nun damit? Gebannt lauerte ich auf Bergers Antwort.
»Ich hatte eine Ahnung, aber nichts Gewisses. Wenn ich aber deine Reaktion sehe befürchte ich, dass meine Ahnung ins Schwarze getroffen hat.«
»Ich fürchte ja.«
Derek drehte sich zum Rechner und klickte ein wenig mit der Maus umher. Nun war ich aber wirklich gespannt, was er entdeckt hatte! Im nächsten Moment sah ich es – und im übernächsten Moment hätte ich am liebsten in den Papierkorb gekotzt.
»Oh Scheiße!«
Auch Berger wurde kalkweiß.
»Bestätigt das deine Ahnung?«
»J…ja. Das hatte ich befürchtet. Und gleichzeitig hatte ich es mir nicht so schlimm vorgestellt.«
Vor unseren Augen lief eine Diashow der widerlichsten Kinderpornobilder ab. Mädchen und Jungen zwischen vielleicht 6 und 16 Jahren, die für alle vorstellbaren und noch ein paar völlig unvorstellbare Sexpraktiken missbraucht wurden.
»Ich glaube, mir wird schlecht.«
»Ging mir vorhin genauso, Schatz. Ich hatte mit allem Möglichen gerechnet, aber nicht mit so was. Dein lieber Kollege hier hätte mich ruhig ein wenig vorwarnen können.«
KHK Berger machte ein zerknirschtes Gesicht.
»Tut mir leid, vielleicht hätte ich das tatsächlich tun sollen. Aber es war halt wirklich erst mal nur eine Ahnung, ich hatte nichts Handfestes vorzuweisen.«
»Diese Ahnung hätte mir zumindest den größten Schock erspart. Übrigens, die Bilder hier sind noch der harmlosere Teil vom Inhalt der Festplatte.«
Ich konnte es kaum glauben, und auch Berger sah Derek entsetzt an.
»Der harmlosere Teil?«
»Ja, es gibt auch noch gigabyteweise Videos. Gleicher Inhalt, aber halt bewegte Bilder mit Ton und allem was dazugehört.«
Angewidert starrte ich Berger an.
»Und das Schwein, dem der Rechner gehört, habt ihr entwischen lassen?«
»Ja, leider. Als wir mit dem Durchsuchungsbeschluss an seiner Wohnung auftauchten, war er ausgeflogen. Nachbarn haben gesagt, dass er schon seit zwei oder drei Tagen nicht mehr zuhause gewesen sei. Es sah aber nicht nach einem überhasteten Aufbruch aus, vielleicht ist er auch einfach nur in Urlaub gefahren und taucht demnächst wieder hier auf. Ich lass die Wohnung jedenfalls rund um die Uhr überwachen.«
Hoffentlich hatte er Recht. So einer durfte einfach nicht ungeschoren davonkommen.
»Hast du noch etwas gefunden außer den Bildern und Videos?«
»Ja. Es sieht so aus, als wäre das hier nicht nur ein Sammler gewesen sondern auch ein Händler. Ich habe so was wie eine Kundendatei gefunden, allerdings ist die nicht nur auf dem Rechner verschlüsselt, sondern auch noch in irgendeinem Code abgefasst. Noch bin ich da nicht dahinter gestiegen, aber ich kann es ja weiterversuchen.«
»Das wäre gut, denke ich mal. Und kannst du mir trotzdem schon mal alles was du hast auf DVD kopieren? Da kann ich es auch unseren Leuten zukommen lassen, vielleicht hat von denen einer eine zündende Idee.«
»Kein Problem, der Brenner läuft schon. Habt ihr in der Wohnung sonst irgendwelche Technik gefunden? DVD-Brenner oder so was?«
»Ja, ein Gehäuse mit sechs DVD-Brennern, dazu jede Menge Rohlinge. Und einen guten Farblaserdrucker.«
»Ein Händler, ganz klar. Die ganzen Brenner braucht er zum Vervielfältigen, und den Drucker für die Cover. Aber bespielte DVDs waren wohl nicht da?«
»Nein, aber vielleicht hat er noch irgendwo ein Lager, welches wir noch nicht gefunden haben.«
Was allerdings riskanter war als die Daten nur auf der eigenen, gesicherten Festplatte zu haben.
»Oder er produziert jeweils nur auf Bestellung. Bestellung annehmen, produzieren, verschicken – und schon sind die Beweismittel weg. Mal abgesehen von der eigenen Festplatte, aber die ist ja verschlüsselt.«
Berger nickte nachdenklich.
»Könnte hinkommen. Er konnte ja nicht mit deinem genialen Ehemann rechnen, der die Verschlüsselung in ein paar Stunden geknackt hat.«
Derek wurde mindestens zehn Zentimeter größer in seinem Computersessel. Naja, ich gönnte ihm das Lob auch, er hatte es sich verdient.
»Okay, ich wollte euch das nur erst mal zeigen, damit ihr wisst, worum es geht. Ich stürz mich jetzt wieder auf diese vermeintliche Kundendatei.«
»Nein.«
Überrascht schauten sowohl Derek als auch ich auf Hauptkommissar Berger.
»Nein? Soll ich nicht versuchen, den Code zu knacken?«
»Doch, das sollst du. Aber nicht mehr heute. Mit dem Material hier hab ich genug, um eine Fahndung nach Schmitzke einzuleiten. Alles weitere hat auch noch Zeit bis Montag.«
Zweifelnd blickte mein Freund zu Berger.
»Sicher?«
»Ja. Außerdem kann ich es mir nicht erlauben, deinen Sascha um sein wohlverdientes Wochenende mit dir zu bringen – sonst tut der mir nie wieder einen solchen Gefallen.«
Ha, genau! Auch Derek schien mit dieser Antwort sehr zufrieden zu sein.
»Prima, dann mach ich hier jetzt alles dicht. Dauert nicht lange, Sascha. Und bis dahin ist auch die dritte und letzte DVD fertig.«
Drei DVDs voll mit diesem Schweinkram. Ich seufzte. Naja, zumindest war jetzt erst mal Wochenende angesagt, da würden wir hoffentlich etwas abschalten können. Zehn Minuten später hatte Berger seine DVDs und verabschiedete sich von uns.
»Dann viel Spaß ihr zwei. Und nochmal vielen Dank für die Hilfe, Derek.«
»Gern geschehn. Viel Glück bei der Suche nach dem Mistkerl.«
Bergers Gesicht wurde grimmig.
»Ich hoffe auch, dass wir ihn bald schnappen können. Und dass er dann eine gemütliche Zelle im Knast bekommt. Mit vielen einfühlsamen Mithäftlingen.«
Das entsprach vielleicht nicht unbedingt der politcal correctness, aber gegen eine solche Entwicklung hätte ich auch nichts einzuwenden gehabt.
»So, ich bin weg. Tschüss.«
Mit diesen Worten ließ er Derek und mich alleine. Mein Schatz schaltete noch alle Geräte aus, dann verließen auch wir seine Firma.
»Der, soll ich uns zuhause schnell noch was zu essen machen, oder möchtest du gleich an den See und dort den Imbiss heimsuchen?«
Mein Freund verzog sein Gesicht.
»Nee, keinen Imbissfraß zum Wochenende. Mir reicht schon in der Woche das Kantinenessen.«
Die Mitarbeiter von Data Rescue nahmen in einer großen Nachbarfirma am Werksessen teil – und dieses hatte ich nach einmaligem Ausprobieren als relativ ungenießbar eingeschätzt. Anscheinend war dies auch keine Ausnahme gewesen, denn Derek meinte dazu: Die gleichbleibend schlechte Qualität des Kantinenessens setzt schon eine gewisse Qualifikation voraus! Galgenhumor nannte man das wohl. Mit seinem Geschäftspartner war er bereits seit geraumer Zeit auf der Suche nach einer alternativen Futterkrippe, war bisher aber nicht fündig geworden.
»Okay, dann mach ich uns schnell ein paar Nudeln mit Tomatensoße, einverstanden?«
Dereks Gesicht hellte sich auf.
»Mit viel Reibekäse?«
Ich lachte.
»Klaro, mit extra viel Reibekäse.«
»Cool! Und was gibt es zum Nachtisch?«
Ich wusste ganz genau, wie ich mein kleines Süßmaul zufriedenstellen konnte.
»Schokopudding mit Eierlikör?«
»Au ja!«
In solchen Situationen wurde Derek wieder zum kleinen Kind, und in gespannter Vorfreude zappelte er auf dem Beifahrersitz neben mir herum. Einfach herzallerliebst!
Zuhause angekommen kümmerte ich mich um das Mittagessen, während sich mein Freund ein wenig auf dem Balkon entspannte. Nach dem Essen machten wir uns dann auf den Weg zum Kulkwitzer See, wo wir gegen zwei an unserem bevorzugten Strandabschnitt eintrafen. Kurz darauf lagen wir gut eingecremt in der Sonne und genossen das schöne Wetter. Zwischendurch sprangen wir immer mal ins Wasser, dann wieder ruhten wir uns nach der anstrengenden Arbeitswoche aus. Nach einer Weile dösten wir beide ein…
»Herr Altmann?«
Hä? Mühsam begann ich, mich aus meinem Schlummer herauszukämpfen.
»Sie sind doch Kommissar Altmann?«
Moment mal. Ich war doch immer noch am Badestrand, oder? Wer sprach mich dann so dienstlich an? Ich öffnete meine Augen und kniff sie gleich wieder zusammen – die Sonne war doch arg hell. Nach einiger Blinzelei konnte ich dann doch etwas erkennen. Vor mir stand ein junger Mann, naja, eher noch ein Junge. Splitterfasernackt. Logisch, das war hier ja auch der FKK-Strand. Blond, gut gebräunt, mit einer riesigen Sonnenbrille und einem schüchternen Grinsen im Gesicht.
»Wer will das wissen?«
Das Grinsen wurde noch etwas breiter.
»Ich bin Pascal.«
Ach ja? Und das sollte mir etwas sagen? Aber der Junge erkannte wohl, dass ich noch nicht voll da war.
»Pascal Berger. Wir haben heute kurz am Telefon gesprochen.«
Jetzt machte es Klick! Das war der Sohn meines Kollegen, der mich am Telefon als FKK-Altmann bezeichnet hatte. In diesem Moment schob sich ein weiterer nackter Junge neben Pascal. Ein absolut identisch aussehender Junge. Hm. Ja, Berger hatte ja was von Zwillingen gesagt.
»Und, ist er es?«
Pascal grinste seinen Bruder an.
»Ja. Das ist mein Bruder Patrick, Herr Altmann.«
Mittlerweile war auch Derek aufgewacht und beäugte neugierig das Geschehen. Alles hatte er offenbar nicht mitbekommen, also übernahm ich die Vorstellung.
»Derek, das sind Pascal und Patrick, die Söhne von Hauptkommissar Berger. Jungs, das ist mein Freund Derek Prosch.«
Schüchtern reichten uns die beiden Brüder die Hände.
»Wie habt ihr uns denn gefunden? Habt ihr hier jeden angesprochen und gefragt, ob er FKK-Altmann ist?«
Jetzt lachten die zwei und fühlten sich anscheinend gleich etwas lockerer.
»Nein, Paps hat uns aber beschrieben wie Sie beide aussehen, und da war es nicht so schwer, Sie zu finden. Die meisten Männer sind ja mit ihren Frauen oder Freundinnen hier.«
»Genau. Und das mit dem FKK-Altmann tut mir leid, Herr Altmann. Das war nicht böse oder respektlos gemeint.«
Ich lachte, die beiden waren irgendwie niedlich. Also nicht im sexuellen Sinne! Nein, es schienen einfach zwei nette Jungs zu sein. Eines allerdings störte mich: so wie sie mich anredeten, kam ich mir wirklich langsam so alt vor wie mein Name sich manchmal anhörte.
»Schon okay. Aber lasst bitte das mit dem Herr Altmann, da fühle ich mich wirklich wie ein alter Mann. Ich bin Sascha.«
»Und ich bin Derek. Ich bin noch ein Jahr jünger als Sascha der Altmann, also könnt ihr euch das Herr und das Sie auch bei mir verkneifen.«
»Cool!«
In Stereo. Naja, Zwillinge halt.
»Seid ihr den ganzen Strand abgelaufen um uns zu finden?«
Pascal (oder Patrick?) grinste schelmisch.
»Nein, wir hatten uns dort drüben am Baum niedergelassen, und dann sind Sie … oh … Entschuldigung … dann seid ihr uns aufgefallen. Patrick meinte, wir sollten euch in Ruhe lassen, aber ich wollte sehen, ob ihr das wirklich seid. Ich hoffe, das war okay?«
Bei der letzten Frage blickte er uns ein wenig ängstlich an, aber Derek zerstreute seine Ängste sofort.
»Klar war das okay. Wie schauts aus, hier ist noch Platz, wollt ihr eure Sachen rüberholen?«
Die Gesichter der Jungs leuchteten auf.
»Dürfen wir das wirklich?«
Derek zwinkerte mir fast unmerklich zu, also ging ich drauf ein.
»Klar, warum nicht.«
Nach einem erneuten gemeinschaftlichen »Cool!« stoben die beiden davon, um ihre Sachen rüber zu uns zu holen. Fragend schaute ich meinen Freund an. Nicht dass ich etwas dagegen gehabt hätte, die Jungs zu uns zu holen, aber ich war ein wenig überrascht. Normalerweise war mein Freund von uns beiden derjenige, der etwas länger brauchte, um mit neuen Gesichter warm zu werden. Er zuckte mit den Schultern.
»Du hast es nicht gemerkt, oder?«
»Was gemerkt?«
»Und so was ist Kriminalkommissar. Ich glaube, Pascal hat uns nicht nur angesprochen, weil er mal sehen wollte, wer FKK-Altmann ist.«
Oh.
»Meinst du er ist…«
Da die Jungs bereits wieder auf dem Weg zu uns waren, unterbrach mich meine bessere Hälfte.
»Du weißt doch, dass mein Gaydar normalerweise immer ins Schwarze trifft.«
Das war allerdings der Fall. Sehr interessant. Und mir war wirklich nichts an einem der Jungs aufgefallen.
»Nur Pascal oder beide?«
Derek lachte auf.
»Nun übertreib es mal nicht gleich mit deinen Ansprüchen. Nein, nur Pascal. Und nun vergiss das erst mal gleich wieder, okay? Wenn er mit uns drüber sprechen will, dann muss es von ihm selbst kommen.«
Ich nickte nur bestätigend mit dem Kopf, denn in diesem Moment trafen die Zwillinge schon bei uns ein. Verflixt, wie hielt Berger die nur auseinander? Von den hellblond-dunkelblond gesträhnten Haaren bis runter zu den Füßen sahen die beiden absolut identisch aus.
»Und wir gehen euch wirklich nicht auf die Nerven?«
»Nein, Patrick, sonst hätten wir es gar nicht erst angeboten.«
Wie gemein. Derek konnte sie offenbar unterscheiden! Über die Antwort erfreut ließen sich die beiden bei uns nieder, und die nächste halbe Stunde verbrachten wir damit, uns ein wenig kennenzulernen. Die beiden würden in ein paar Wochen sechzehn werden, gingen aufs Gymnasium und interessierten sich wie die meisten Jungs in diesem Alter für Computer, Autos und Fußball. Auch wir erzählten ein paar Dinge über uns, allerdings kam das Thema unserer Sexualität nie zur Sprache. Ich hielt mich an Dereks Richtlinie und überließ es unseren beiden jungen Freunden, es anzusprechen oder es eben bleibenzulassen.
Irgendwann sprangen wir gemeinsam ins Wasser und tollten herum – das war wirklich das Beste, was man bei der herrschenden Hitze tun konnte. Als wir ziemlich erledigt wieder aus dem Wasser kamen, wandte sich Derek an mich.
»Schatz, ich hab ein Attentat auf dich vor.«
Den Kopf schieflegend schaute ich ihn an.
»Schieß los.«
»Losschießen? Nein. Kein solches Attentat. Würdest du mit Patrick zum Kiosk gehen und für jeden ein Eis holen?«
Und wieder zwinkerte er mir zu und es war klar, dass dies kein Vorschlag war, den ich hätte ablehnen können.
»Okay, kein Problem. Los, Patrick, ziehen wir uns was über.«
Ich schlüpfte in meine Shorts, der ebenfalls zum Eisholen verdonnerte Zwilling tat das Gleiche, dann machten wir uns auf den Weg, Pascal in der Obhut von Derek zurücklassend. Die ersten Meter liefen wir schweigend nebeneinander her, dann sprach Patrick mich an.
»Wir sollten uns ein wenig Zeit lassen.«
Ah ja. Sollten wir uns ein wenig Zeit lassen oder den anderen beiden?
»Du weißt, dass Pascal schwul ist, oder?«
Das Bürschchen war ja arg direkt! Aber wenn er so offen darüber reden wollte, dann war mir das auch recht.
»Derek hat es mir gesagt.«
Grinsend schaute der Zwilling mich an.
»Ja, ich hab gleich gemerkt, dass dein Freund es bemerkt hat. Du hast es nicht selbst mitbekommen?«
»Nun komm du mir nicht auch noch mit ‹und du willst Kriminalpolizist sein›. Nicht jeder Schwule erkennt andere Schwule sofort. Derek hat ein ausgeprägtes Gaydar – ich nicht.«
»Gaydar? Nennt man das so? Naja, jedenfalls stimmt es, mein kleiner Bruder steht auf Jungs. Blöderweise hat er keinen, mit dem er darüber reden kann. Also mal abgesehen von mir und unseren Eltern, aber wir sind halt nicht andersrum.«
Interessant, er war also zumindest in der Familie geoutet. In dem Alter eine reife Leistung.
»Paps hat zuhause öfters mal von seinem schwulen Kollegen gesprochen.«
Ich lachte auf.
»Ha! Ja, das hab ich mitbekommen. Ein gewisser FKK-Altmann!«
Auch Patrick lachte jetzt.
»Jup. Und als er dann heute beim Mittagessen sagte, dass er euch ins Badewochenende entlassen hat, war klar, dass wir auch hierher mussten. Mit etwas Glück würden wir euch ja entdecken – und wie du siehst, hat es funktioniert. Okay, ich war mir dann plötzlich nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee wäre, euch so zu überfallen, aber es ist ja alles gutgegangen.«
»Allerdings. Es war also doch keine völlig zufällige Begegnung.«
»Nein. Ich hoffe, ihr seid uns deswegen nicht böse. Aber ich glaube, dass es meinem Bruder guttut, mal mit anderen Schwulen zu reden.«
»Auch wenn diese anderen Schwulen schon sooooo alt sind?«
Dafür bekam ich einen Knuff in den Oberarm.
»Ja klar, Opas sollen ja angeblich über Altersweisheit verfügen.«
Okay, ich knuffte zurück.
»Pass bloß auf, wen du hier Opa nennst, Stift! Ich bin noch nicht so gebrechlich, dass ich dich nicht noch übers Knie legen könnte.«
In dieser Weise frotzelten wir weiter, während wir uns dem Kiosk näherten und dort dann für jeden ein Eis am Stiel kauften. Rückzu mussten wir uns natürlich etwas mehr beeilen, ansonsten wäre uns das Eis davongeschmolzen. Als wir wieder an unserem Lagerplatz ankamen, waren etwa zwanzig Minuten vergangen, und wir fanden zwei fröhliche junge Männer vor.
»Ah, Eis! Endlich! Her damit!«
Derek war aufgesprungen und riss mir eine der Packungen aus der Hand. Lachend überließ ich ihm die Süßspeise, während Patrick seinen Bruder versorgte. Unauffällig musterte ich diesen. Pascal machte einen sehr gelösten, zufriedenen Eindruck. Da hatte Derek wohl gute Arbeit geleistet. Naja, er würde mir später sicherlich alles darüber erzählen.
Den Rest des Nachmittags verbrachten wir wieder mit eher seichter Unterhaltung, und gegen halb sieben machten wir uns zum Aufbruch bereit. Wir boten den Jungs an, sie mit dem Auto nach Hause zu fahren, aber sie waren mit den Fahrrädern da und lehnten dankend ab. Als wir uns voneinander verabschiedeten, wandte sich Derek an die Zwillinge.
»Wenn ihr uns wieder mal hier seht, könnt ihr gerne wieder zu uns kommen.«
Die Augen der beiden leuchteten erfreut auf, und mal wieder gab es ein brüderlich in Stereo vorgebrachtes »Cool!« zu hören. Kurz darauf schwangen sie sich auf ihre Räder und radelten davon, und wenig später stiegen auch wir in unser Auto.
»Danke, dass du so gut mit gespielt hast, Sascha.«
Ich schaute hinüber zu Derek, welcher entspannt und offensichtlich sehr zufrieden mit sich und der Welt vor sich hinlächelte.
»Das hast du geschickt eingefädelt, Der.«
»Pascal hatte mich im Wasser leise gefragt, ob er mal ein paar Minuten mit mir alleine reden könnte. Und zum Glück hast du gleich kapiert, was ich mit dem Eisholen bezweckte.«
»Ich kenn dich halt schon gut. War nicht so schwer, mitzubekommen, was du von mir wolltest.«
Wenn wir nicht im fahrenden Auto gesessen hätten, dann hätte sich mein Kleiner jetzt garantiert ganz heftig an mich rangekuschelt. Ich spürte regelrecht seine romantische Laune.
»Worüber habt ihr denn gesprochen? Oder darfst du mir das nicht erzählen?«
»Doch, Pascal hat mir erlaubt, dir alles zu erzählen.«
»Ging es darum, dass er schwul ist und jemanden zum Reden brauchte?«
Leicht verwundert schaute Derek mich an.
»Woher weißt du das?«
Ich lachte.
»Sein großer Bruder hat es mir erzählt, als wir das Eis geholt haben.«
Nun lachte auch mein Nebenmann.
»Ja, der große Bruder! Pascal hat mir schon gesagt, dass ihn Patrick immer mit den ominösen 5 Minuten aufzieht, die er vor ihm auf die Welt gekommen ist.«
»Aber die zwei scheinen sich prima zu verstehen, oder?«
»Allerdings. Zwillinge halt. So, aber zurück zum Thema. Es ging wirklich darum, dass Pascal auf Jungs steht. Blöderweise kennt er keinen einzigen anderen Schwulen, und da kam es gerade recht, dass er über seinen Vater von uns erfahren hatte.«
Das konnte ich mir lebhaft vorstellen. Der Junge musste sich trotz seiner Familie ziemlich alleine fühlen.
»Und was wollte er so alles wissen?«
»Zum Beispiel wie wir uns kennengelernt haben.«
Ich fing leise an zu kichern, und auch Derek neben mir gluckste vor sich hin, denn das war wirklich eine lustige Geschichte, ich war gleich bei unserem ersten Treffen regelrecht über ihn hergefallen! Und das, wo ich auch nicht gerade der Typ war, der versuchte, süße Jungs im Sturmangriff zu erobern. Nein, Schuld waren nur meine allerersten Versuche, mich auf Inlinern fortzubewegen. Rollen konnte ich schon, aber mit dem Bremsen hatte ich so meine Probleme. Mit dem Ergebnis, dass ich panisch um Hilfe schreiend und mit den Armen fuchtelnd einen leicht abschüssigen Weg runterrollte und mich am erstbesten Hindernis festhielt, welches mir vor die Füße kam. Dieses Hindernis hörte auf den Namen Derek und wurde von mir gnadenlos umgefahren. Naja, zumindest landete ich weich – was man von meinem armen Opfer nicht behaupten konnte. Langer Rede kurzer Sinn: nach meiner dreihundertvierundsechzigsten Entschuldigung hatte er mich genervt gefragt, was er tun müsse, um sich nicht noch die dreihundertfünfundsechzigste anhören zu müssen. Ich sagte ihm, dass er meine Einladung zum Abendessen annehmen müsse, und der Rest war Geschichte. Das alles war nun schon ein gutes dreiviertel Jahr her – wie doch die Zeit verging.
»Ich kann ihm ja mal meine Inliner ausleihen…«
Mein Beifahrer lachte laut auf.
»Das habe ich ihm auch vorgeschlagen, aber er meinte, dass er selber welche hätte.«
»Na dann ist doch alles geritzt.«
Derek wurde wieder etwas ernster.
»Wenn es nur immer so einfach wäre. Aber ich hab ihm gesagt, dass er doch einfach mal bei den J.u.n.g.S. vorbeischauen soll.«
»Bei welchen Jungs soll er vorbeischauen?«
»Nicht bei irgendwelchen Jungs sondern bei den J.u.n.g.S. Das ist doch die schwule Jugendgruppe in Leipzig, denen hab ich mal bei einem Hackerangriff auf ihre Webseite geholfen. Erinnerst du dich? Ach nee, das war noch vor deiner Zeit.«
»Ach so, alles klar. Ja, das ist wohl eine gute Idee, Pascal mal dorthin zu schicken. Wenn er sich denn hintraut. Das kostet ja doch etwas Überwindung.«
»Stimmt, aber ich habe vorhin noch kurz mit seinem Bruder gesprochen, der wird ihn notfalls hinschleifen.«
Wieder lachten wir, und kurz darauf waren wir zuhause angekommen. Der Rest des Wochenendes verlief ohne besondere Ereignisse, wir erholten uns einfach nur und genossen die gemeinsame Zeit.
*.*.*
Mittlerweile war es Dienstag geworden, und Derek war es gelungen, den Code der Adressdatei auf dem beschlagnahmten Rechner zu knacken. Diesmal hatten wir uns in meinem Büro getroffen, sowohl Hauptkommissar Berger als auch mein eigener Dienstherr waren anwesend. Machlitzke wollte wohl sichergehen, dass Berger nicht doch wieder versuchte, mich für sein Dezernat abzuwerben.
»Es war ein etwas komplizierterer Verschiebeschlüssel, aber im Endeffekt halt nicht wirklich unknackbar. Ich hab dir alles ausgedruckt. Wenn das wirklich alles Käufer von dem Dreck sind, dann kannst du eine Menge Fliegen mit einer Klappe schlagen.«
»Klasse, Derek. Vielen Dank.«
»Gern geschehn. Ach übrigens, hatte sich vor mir schon jemand von euch an dem Rechner versucht?«
Berger überlegte kurz.
»Nicht wirklich. Wir haben ihn mal eingeschaltet, aber als dann die Sicherheitsabfrage kam, haben wir es gleich gelassen. Deshalb habe ich ja dann dich darum gebeten, dir das Ding mal anzuschauen.«
Mein Freund runzelte die Stirn.
»Sehr seltsam. Ich hab auf der Festplatte Spuren von einem Codeknacker gefunden, ganz ähnlich dem Programm, welches ich selber verwendet habe.«
Nun hatte er die ungeteilte Aufmerksamkeit des Dezernatleiters.
»Bist du dir ganz sicher?«
»Ja, absolut. Den Indexdaten nach muss das vor etwa drei Wochen gewesen sein.«
»Dann kann es gar keiner von uns gewesen sein, wir haben den Rechner erst seit letztem Freitag!«
Das war ja wirklich hochinteressant. Was für eine Erklärung mochte es dafür geben? Ich hatte eine Idee.
»Vielleicht hatte dieser Schmitzke sein Passwort vergessen und sein System selbst geknackt?«
Derek schüttelte den Kopf.
»Das glaube ich nicht. Wer immer das war, hat hinterher versucht, alle Spuren seines Eindringens zu beseitigen. Nein, ich denke eher, dass da ein Fremder heimlich herumgeschnüffelt hat.«
»Hatte er Erfolg dabei?«
Die Antwort auf Bergers Frage wüsste ich auch gerne.
»Ich denke schon. Wie gesagt, es war mehr oder weniger der gleiche Codeknacker wie meiner, nur eine etwas ältere Version.«
»Also hat derjenige welcher jetzt die gleichen Daten die wir auch haben.«
»Vielleicht – vielleicht aber auch nicht.«
Fragend schauten wir auf den Computerprofi.
»Es ist so: mit diesem Programm konnte ich die Verschlüsselung der Festplatte knacken. Die Kundendatei jedoch war nochmal extra codiert, dafür hab ich ein anderes Programm auf einem anderen Rechner gebraucht.«
»Du meinst, er hat vielleicht nur Datensalat statt der Namensliste?«
»Möglich, Sascha. Aber vielleicht hat er auch die gleichen Schritte gemacht wie ich und hat doch noch den Klartext bekommen. Das jedoch kann ich wirklich nicht sicher sagen, tut mir leid.«
Hauptkommissar Berger erhob sich.
»Nicht so wild, Derek. Du hast uns wirklich extrem weitergeholfen, vielen Dank. Wir gehen einfach davon aus, dass da draußen noch jemand mit einer arg brisanten Namensliste herumläuft.«
Was für eine Vorstellung! Diese Kundendatei war ja ideales Erpressungsmaterial.
»Gut, dann lass ich euch jetzt mal mit euren Ermittlungen alleine. Und falls ihr nochmal meine Hilfe in diesem Fall braucht: einfach anrufen. Mir liegt verdammt viel daran, dass dieses Schwein geschnappt wird.«
Ich brachte meinen Freund noch zum Auto, gab ihm einen dicken Schmatzer und trennte mich dann höchst ungern von ihm.
Später am Tag, als endlich der Feierabend heran war, holte ich Derek in seiner Firma ab und fuhr mit ihm zu meiner Oma ins Krankenhaus. Oma Bärbel war die letzte Verbindung zu meiner Familie, nachdem meine Eltern nichts mehr mit mir zu tun haben wollten. Mit einem schwulen Sohn kamen sie einfach nicht klar. Meine Oma hingegen hatte daraufhin Sohn und Schwiegertochter enterbt und sich voll auf meine Seite geschlagen. Nun lag sie leider mit einem gebrochenen Arm im Krankenhaus und langweilte sich dort zu Tode. Nach einem Marsch von mindestens einem halben Kilometer durch sterile Krankenhausgänge betraten wir ihr Zimmer.
»Hallo Oma.«
Die Augen der kleinen, älteren Frau im Bett am Fenster leuchteten fröhlich auf als sie uns erkannte. Oma Bärbel hatte Derek schon kurz nachdem ich ihn umgeskatet hatte kennengelernt und sofort in ihr Herz geschlossen. Manchmal machte ich mir Sorgen, was die beiden wohl ausheckten, wenn sie stundenlang sprachen (garantiert über mich!).
»Hallo Jungs! Das ist aber schön, dass ihr mich mal besuchen kommt! Ist der Strauß für mich?«
»Na klar, Oma.«
Wir gingen an ihr Bett, in welchem sie sich nun mit etwas Mühe aufsetzte, und begrüßten sie.
»Der ist ja wirklich wunderschön. Sascha, geh doch bitte mal raus zur Schwesternstation und hole eine Vase.«
Typisch. Sie hatte Derek anscheinend viel lieber als mich. Schluchz. Innerlich grinsend legte ich den großen Blumenstrauß, den wir auf dem Weg zur Klinik noch besorgt hatten, auf den Tisch und machte mich auf den Weg zur Vasenvergabestelle. Als ich einige Minuten später wieder im Zimmer auftauchte, waren meine Oma und mein Freund mitten in ein fröhliches Geschnatter vertieft.
»Ah, da bist du ja wieder. Stell die Blumen noch schnell ins Wasser, dann machen wir einen kleinen Spaziergang durch den Park. Mir rosten hier sonst noch die Beine ein.«
Genau das taten wir dann auch, und eine Viertelstunde später saßen wir gemütlich auf einer Parkbank und ließen die Sonne auf uns herabscheinen.
»Und, Derek, behandelt dich mein Enkel auch ordentlich?«
Der Angesprochene lächelte verträumt.
»Ja, tut er, Oma Bärbel.«
»Das will ich ihm aber auch geraten haben. Falls er sich mal nicht benimmt, sag mir einfach Bescheid. Ich weiß noch, wie man mit ungezogenen Bengeln fertig wird.«
In spielerischer Kapitulation hob ich die Hände.
»Lass gut sein, Oma! Ich käme nie auf die Idee, mich Derek gegenüber nicht zu benehmen. Ich weiß ganz genau, was ich an ihm habe.«
»Gut für dich. Diesen Jungen zu verprellen wäre ein Zeichen grenzenloser Dummheit.«
Sie knuffte Derek in die linke Wange, was dieser grinsend über sich ergehen ließ. Ich nutzte die Gelegenheit, um das Thema zu wechseln.
»Und, Oma, wie geht es dir? Musst du noch lange hier bleiben?«
Oma Bärbel seufzte.
»Mir geht es besser als die Ärzte glauben wollen, aber wenn ich Glück habe, komme ich Ende der Woche raus. Wäre auch besser so, ansonsten werde ich hier noch wahnsinnig vor Langeweile. Das Essen ist auch mies, und Nachtruhe könnt ihr vergessen. Erst letzte Nacht war eine Riesenaufregung, ein Mann im Nachbarzimmer hat beinahe sein Sterbchen gemacht. Ein noch recht junger Mann, das muss man sich mal vorstellen. Aus heiterem Himmel, und keiner weiß, was mit ihm los ist. Und nun liegt er auf der Intensivstation.«
Verwundert schüttelte ich den Kopf.
»Woher weißt du denn das alles schon wieder, Oma?«
»Tja, mein Junge, die Oberschwester hat drei Kinder – und alle drei sind in meinen Kindergarten gegangen. Da kennt man sich halt und unterhält sich ein wenig.«
Soso. Meine Oma hatte fast vierzig Jahre lang in einem Kindergarten gearbeitet und kannte daher tatsächlich Gott und die Welt. Soviel zum Thema ärztlicher Schweigepflicht.
»Naja, jedenfalls war an Schlafen nicht zu denken. Erst hat er ständig erbrochen und in die Hose geschissen, dann kamen Krämpfe hinzu, und am Ende ist er auch noch ins Koma gefallen. Das war ein ständiges Gerenne auf dem Gang, und ein Türenknallen! Es war furchtbar.«
So hörte sich das wirklich an. Nun war aber auch meine berufliche Neugier geweckt.
»Und die Ärzte wissen nicht, was er hat?«
»Ich glaube, die denken jetzt an irgendeine Vergiftung. Aber mehr habe ich noch nicht rausbekommen können.«
Ich war mir sicher, dass das nicht so bleiben würde. Vermutlich hatte ich meine kriminalistische Begabung von meiner Oma geerbt, die in einem früheren Leben wohl bei der spanischen Inquisition angestellt gewesen war. Als Ausbilderin. Vor ihr war einfach kein Geheimnis sicher, wie ich in der Vergangenheit selbst leidvoll hatte feststellen müssen.
»Vergiftung? Hm. Vielleicht komme ich dich dann demnächst beruflich besuchen, Oma.«
Wir unterhielten uns noch eine Weile über alles Mögliche, und meine Oma blühte richtiggehend auf. Als es an der Zeit für den Abschied war, brachten wir sie zurück in ihr Zimmer. Dort war mittlerweile auch ihre Zimmernachbarin wieder eingetroffen, die früher am Nachmittag nicht dagewesen war. Eigentlich hätte sich Oma Bärbel problemlos ein Einzelzimmer leisten können, aber das wollte sie gar nicht. »Alleine sein kann ich im Sarg noch lange genug«, sagte sie immer.
»Hildegard, da bist du ja wieder! Darf ich dir meinen Enkel Sascha und seinen Freund Derek vorstellen?«
Artig begrüßten wir die Frau, die ein paar Jahre weniger auf dem Buckel hatte als meine Oma. Neugierig beäugte uns diese, sie hatte wohl mitbekommen, dass mit »Freund« nicht einfach nur »Freund« gemeint gewesen war. Dann jedoch warf Oma Bärbel uns raus.
»So, nun verschwindet aber wieder. Ihr jungen Leute habt doch garantiert was Besseres zu tun, als euch mit einer alten Frau wie mir abzugeben.«
»Ach Quatsch, Oma Bärbel. Du bist doch keine alte Frau!«
Lachend drehte sich meine Verwandte zu mir.
»Raspelt dein Schatz immer so viel Süßholz?«
Ich nahm Derek grinsend in den Arm.
»Ja, tut er.«
»Na dann ist ja gut. Aber jetzt solltet ihr wirklich gehen, ich will eh noch ein wenig mit der Oberschwester reden.«
Ah ja, Kriminalkommissar Bärbel in vollem Einsatz. Wir verabschiedeten uns von ihr und machten uns auf den Weg nach Hause.
»Deine Oma ist wirklich cool, Sascha.«
»Ja, ist sie. Ich bin verdammt froh, dass ich wenigstens sie noch habe.«
Derek wusste, dass dies ein wunder Punkt für mich war, also vertiefte er das Thema »Familie« nicht weiter. Zuhause gönnten wir uns ein leichtes Abendessen, dann verbrachten wir die Zeit bis zur Heia auf dem Balkon.
Zwei Tage vergingen, bis ich wieder etwas von Hauptkommissar Berger und seinem Fall hörte. Ich bereitete mich gerade auf die Mittagspause vor, als er plötzlich in mein Büro kam.
»Hallo Sascha.«
»Mahlzeit.«
»Ja, das auch. Hör mal, ich hätte nochmal einen Computer, den sich Derek mal anschauen sollte. Was meinst du, geht das klar?«
»Sicher, er hat es ja selbst angeboten. Habt ihr jemanden geschnappt?«
Sven Berger nickte.
»Ja, wir haben uns die Kundendatei vorgenommen, dabei fanden wir ein paar Leute hier aus Leipzig. Bei einem von denen haben wir vorhin die Bude durchsucht und gleich den Rechner beschlagnahmt.«
»Ich hoffe, der Typ hat sich ordentlich erschrocken.«
»Dazu war er gar nicht groß in der Lage.«
Fragend schaute ich meinen Besucher an.
»Wieso das denn?«
»Ich denke der war sogar froh darüber, dass wir aufgetaucht sind. Als wir klingelten, hat er es gerade noch geschafft, uns die Tür aufzumachen, dann ist er zusammengebrochen. Und die Bude sah aus! Alles vollgekotzt. Der Notarzt meinte, dass wir ihn wohl gerade noch rechtzeitig gefunden haben.«
Ich zuckte mit den Schultern, wenn das wirklich ein Kinderporno-Kunde war, dann hielt sich mein Mitleid in Grenzen.
»Jedenfalls wäre es schön, wenn sich dein Freund mal den Rechner anschauen würde.«
»Kein Problem. Ich melde mich bloß noch schnell bei Jens ab, dann bringen wir den Computer zu Data Rescue.«
Ich erhob mich von meinem Stuhl, in diesem Moment sprang die Tür wieder auf und traf Kommissar Berger in den Rücken.
»Aua! Mensch, Machlitzke, was soll das?«
Mein Chef schaute verdutzt auf den jammernden Kollegen.
»Oh, entschuldige bitte. Sascha, schnapp Dein Zeug, wir haben einen Einsatz!«
Nun war es mit der Ruhe vorbei, ich griff mir Waffe, Handy und Jacke und stürmte zur Tür, an einem immer noch leicht verdattert ausschauenden Kommissar Berger vorbei.
»Bring den Rechner einfach rüber zu Derek, du weißt ja, wo du hin musst.«
»Ich … okay.«
Mein Chef und ich stürmten bereits die Treppe hinunter.
»Du fährst, wir nehmen deinen Wagen. Bei meinem funktioniert der Funk nicht richtig.«
Sollte mir recht sein. Auf dem Parkplatz sprangen wir in meinen Dienstwagen, schnallten uns an und ich startete den Motor.
»Wohin geht es überhaupt?«
»Gartensparte Immergrün, Geibrechtstraße. Weißt du, wo das ist?«
»Am Paunsdorf Center?«
»Genau. Also los, drück auf die Tube.«
Ich tat genau das, und kurz darauf kämpften wir uns durch den Verkehr.
»Was gibt es denn dort Schönes? Ich nehme doch nicht an, dass du mich bloß auf ein Bier in die Gartenkneipe einladen willst.«
»Haha, schön wärs. Die Kollegen in Grün haben in einer Laube eine Leiche gefunden, angeblich unter verdächtigen Umständen.«
Na da wollte ich mich mal überraschen lassen. Einige Minuten später trafen wir an der Gartensparte ein, wo uns ein uniformierter Kollege auch gleich in einen schmalen Weg lotste. Ein Notarztwagen stand bereits auf dem Parkplatz.
»Ihr müsst dort hinter, Garten 73, etwa 200 Meter auf der rechten Seite.«
Wir stiefelten los und betraten kurz darauf den genannten Garten, an dessen Ende sich eine kleine Holzlaube befand. Die Tür stand offen, also gingen wir hinein. In der Laube empfing uns ein mörderischer Gestank, obwohl nicht nur die Tür sondern auch noch zwei Fenster offenstanden. Auf einer Couch lag ein Mann, offensichtlich tot, und der Notarzt packte gerade seine Sachen zusammen. Mein Vorgesetzter stellte uns vor.
»Guten Tag. Ich bin Hauptkommissar Machlitzke, Mordkommission. Das ist mein Kollege Altmann. Was haben wir denn hier?«
»Angenehm, Doktor Riemenbrandt. Ihre Kollegen riefen die Leitstelle, nachdem sie den Garteninhaber hier leblos vorgefunden hatten. Leider konnte ich nur noch den Tod feststellen.«
Das überraschte mich nicht, in diesem Gestank musste man ja einfach zugrunde gehen. Wobei natürlich gut möglich war, dass ich hier Ursache und Wirkung vertauschte.
»Viel mehr kann ich noch nicht sagen, nur dass der Mann schon mindestens einen Tag tot ist.«
»Todesursache?«
»Keine Ahnung, tut mir leid. Eventuell eine Lebensmittelvergiftung, aber das muss die Obduktion klären.«
»Alles klar, Herr Doktor. Vielen Dank.«
»Gern geschehen. Die Abholung leiten Sie dann in die Wege?«
»Ja, wir übernehmen ab jetzt.«
»Gut, dann schönen Tag noch.«
Daran, dass das noch ein schöner Tag werden würde, hatte ich in Anbetracht der Umstände meine Zweifel. Der Notarzt verließ die Laube, und Jens wandte sich an den uniformierten Kollegen.
»Wie habt ihr ihn denn gefunden?«
»Eine Gartennachbarin meinte, dass sein Auto schon seit ein paar Tagen auf dem Parkplatz steht, sie ihn aber schon längere Zeit nicht gesehen hätte. Sie ist dann in den Garten und hat versucht, durchs Fenster etwas zu erkennen, sah aber nur, dass der Fernseher lief. Auf ihr Klopfen hat niemand geantwortet, da hat sie dann uns gerufen. Als uns auch niemand antwortete, haben wir die Tür geöffnet und dann das hier vorgefunden.«
Es sah wirklich wüst in der Hütte aus. Überall standen Essensreste und unabgewaschenes Geschirr herum, tatsächlich lief im Hintergrund tonlos der Fernseher, und der Tote schien es in seinen letzten Lebensstunden nicht mehr geschafft zu haben, rechtzeitig aufs Klo zu kommen.
»Haben wir irgendwelche Personalien?«
»Wir haben seine Sachen noch nicht durchsucht, aber laut der Nachbarin handelt es sich um einen Paul Schmitzke.«
Sofort war ich hellwach.
»Sagtest du gerade Schmitzke? Paul Schmitzke?«
Sowohl der Kollege in Grün als auch mein Chef schauten mich groß an.
»Ja, wieso?«
»Chef, so heißt auch der Typ, dessen Computer Derek am letzten Wochenende geknackt hat.«
»Was? Bist du dir sicher?«
»Ja, bin ich. Sollte das ein Zufall sein? Ich meine, so häufig dürfte der Name nicht sein, oder?«
»Stimmt.«
Jens griff zu seinem Handy und wählte aus dem Gedächtnis eine Nummer.
»Sven? Ich bins, Jens. Sag mal, sucht ihr noch nach einem gewissen Paul Schmitzke?«
Die Antwort von Berger konnte ich nicht hören, aber der anerkennende Blick in meine Richtung sprach Bände.
»Ich glaube, ihr könnt aufhören zu suchen. Wir haben hier einen Paul Schmitzke, und der ist nicht mehr in der Lage, irgendwem davonzulaufen.«
Wieder lauschte er kurz in sein Handy.
»Gartensparte Immergrün in der Geibrechtstraße. Auf dem Parkplatz steht ein Kollege, der zeigt dir, wo du hin musst.«
Kurz nachdem er Berger die Adresse durchgegeben hatte, klappte mein Chef sein Handy zusammen.
»Gute Arbeit, Sascha. Verdammt, ich war auch dabei, als vor ein paar Tagen der Name Schmitzke fiel, aber ich bin nicht drüber gestolpert.«
»Tja, du bist ja auch ein alter Mann, wo ich nur ein Altmann bin.«
»Nun werde mal nicht übermütig, du junger Hüpfer. Schau dich lieber mal ein wenig hier um.«
»Können wir die Bude nicht vorher ein wenig auslüften lassen? Sonst findet Berger, wenn er hier ankommt, nicht nur eine Leiche vor.«
Machlitzke schaute sich kurz um, dann nickte er.
»Hast recht, gehen wir erst mal vor die Tür. Ich muss eh noch die KT rufen.«
Genau das taten wir dann auch, und die Kriminaltechniker trafen praktisch zeitgleich mit unserem Kollegen vom Organisierten Verbrechen ein. Nachdem sich die Spurensicherer einen ersten Überblick verschafft hatten, gaben sie den Tatort für eine vorsichtige Besichtigung frei. Wir betraten erneut die Gartenlaube, in der es mittlerweile zwar nicht frühlingsfrisch duftete, aber zumindest der dickste Gestank hatte sich ein wenig verzogen. Neugierig beschaute sich Kommissar Berger die Leiche.
»Leute, ich glaube, ihr habt Recht. Wir haben in der Wohnung von unserem Schmitzke ein Foto von ihm gefunden, und ich denke, dass das eure Leiche ist.«
Ich durchwühlte in der Zwischenzeit eine Brieftasche, die ich in einer über dem Stuhl hängenden Jacke gefunden hatte. Volltreffer, ein Personalausweis.
»Paul Schmitzke, 25.9.63 in Leipzig, Ringstraße 67.«
»Bingo, das ist unser Schmitzke. Also einen leichten Tod scheint der ja nicht gehabt zu haben.«
Grimmig schüttelte mein Chef den Kopf.
»Nach dem, was ich von euch über ihn gehört habe, werde ich deswegen keine Träne vergießen. Wir müssen nur noch herausfinden, woran er gestorben ist.«
»Tja, das ist nun euer Job, aber ich würde vorschlagen, dass wir weiterhin eng zusammenarbeiten.«
»Klar, Sven.«
»Prima. Übrigens, wisst ihr, woran mich dieser Anblick irgendwie erinnert?«
Fragend blickten wir ihn an.
»An die Wohnung von Jörg Pleichelt.«
Das sagte weder Machlitzke noch mir etwas, und Berger erklärte weiter.
»Der Typ, bei dem wir heute die Wohnung durchsucht haben. Bei dem sah es genauso aus, es war auch alles vollgekotzt und vollgeschissen, entsprechend abscheulich stank es auch. Im Unterschied zu Schmitzke war er allerdings noch ein klein wenig lebendig.«
»Hm. Irgendwie komisch.«
Allerdings. Und mir fiel in diesem Moment noch etwas ein.
»Ich bin gleich wieder da!«
Mit diesen Worten verließ ich die Laube unter den verwunderten Blicken der beiden Hauptkommissare. Draußen angekommen, griff ich mein Handy und wählte eine Nummer. Nach mehrmaligem Rufton wurde der Anruf entgegengenommen.
»Wenn das mal nicht mein Lieblingsenkel ist.«
Ich musste lachen.
»Das will ich doch arg hoffen, Oma!«
»Ach du bist es nur, ich dachte, es wäre Derek.«
Hmpf! Aber zum Schmollen hatte ich jetzt keine Zeit.
»Sag mal, Oma, hast du noch etwas über den Mann herausgefunden, der vor ein paar Nächten in deinem Nebenzimmer beinahe draufgegangen wäre?«
»Ha, na klar habe ich das! Ich bekomme alles raus.«
Oh ja, das tat sie. Was für mich nicht nur einmal peinlich geendet hatte.
»Aber warum fragst du?«
»Oma, das ist wirklich wichtig. Kannst du mir den Namen sagen?«
»Ist das was Dienstliches?«
»Ja. Ich habe eine Vermutung, und wenn die stimmt, werde ich wohl demnächst im Krankenhaus auf der Matte stehen.«
»Das wäre schön, endlich mal etwas Abwechslung.«
»Der Name, Oma.«
»Ach ja. Moment, lass mich bitte kurz überlegen. Thorsten. Nein, Thorsten hieß er nicht. Es war ein etwas ungewöhnlicher Name. Thoralf! Genau. Thoralf Lundström. Der ist übrigens heute früh gestorben. Hilft dir das weiter?«
»Weiß ich noch nicht, Oma, aber vielen Dank erst mal. Ich muss das gleich überprüfen.«
»Gern geschehn, Junge. Und melde dich mal wieder. Morgen darf ich übrigens nach Hause.«
»Alles klar, Oma. Bis später.«
Ich beendete das Gespräch und ging zurück in die Laube, wo sich Jens und Sven immer noch umschauten. Ich wandte mich an Hauptkommissar Berger.
»Sven?«
»Ja?«
»Sagt dir der Name Thoralf Lundström etwas?«
Bergers Augenbrauen schossen nach oben.
»Thoralf Lundström? Und ob der mir etwas sagt! Wie kommst du jetzt gerade auf den?«
»Sag mir erst, woher du den Namen kennst.«
»Du wirst lachen, das war der erste Name von der Kundendatei, den wir heute früh abarbeiten wollten. Allerdings war bei dem niemand zuhause, wir hatten vor, ihm heute am späten Nachmittag nochmal einen Besuch abzustatten.«
»Das könnt ihr euch sparen.«
»Wieso?«
»Thoralf Lundström ist heute früh im St. Georg verstorben. Laut meiner Oma, die in seinem Nachbarzimmer lag, hatte er vor ein paar Nächten einen schweren Anfall mit Erbrechen, Durchfall und Krämpfen, und ist anschließend ins Koma gefallen.«
Damit war für meinen Chef alles klar.
»Leute, so viele Zufälle gibt es nicht. Ich fürchte, wir haben es mit einer Mordserie zu tun.«
Er hatte vermutlich Recht, es passte alles viel zu gut zusammen.
»Sascha, du fährst sofort ins Georg und sorgst dafür, dass dieser Lundström schnellstens obduziert wird. Sven, du schaust dir am besten mal seine Wohnung an, vielleicht findet ihr dort irgendwas Brauchbares. Ich kümmere mich um Schmitzke.«
Genau das taten wir dann auch, und die Mühlen des Gesetzes setzten sich in Bewegung. Einige Stunden später versammelten wir uns zum Kriegsrat im Büro von meinem Chef.
»Also in der Laube haben wir einige Dinge gefunden, darunter auch bespielte DVDs. Ihr könnt euch sicher den Inhalt davon denken. Leider war nichts dabei, was uns bezüglich von Schmitzkes Tod weiterhelfen könnte.«
Berger nickte.
»In seiner Wohnung haben wir vorige Woche auch nichts gefunden, was irgendwie auf ein Verbrechen an ihm hingewiesen hätte.«
»Und in der Wohnung von diesem Lundström?«
»Da wird es interessant. Zwar haben wir dort auch nichts gefunden – außer einem Computer, den ich gleich wieder zu Derek geschafft habe –, aber unser eigener Computer ist auf etwas Interessantes gestoßen. Vor gut zwei Wochen hat Lundström einen Wohnungseinbruch gemeldet, bei dem komischerweise nichts gestohlen wurde. Auch an der Wohnungstür wurden erst bei genauerer Untersuchung Einbruchsspuren festgestellt. Eine sehr seltsame Angelegenheit.«
Allerdings. Sehr seltsam. Ein Einbruch, bei dem nichts gestohlen wurde? Und der Betroffene war zwei Wochen später tot? Lange darüber nachgrübeln konnte ich jedoch nicht, denn nun sprach mein Chef mich an.
»Wie ist es im Krankenhaus gelaufen?«
»Die hatten bereits die Obduktion angeordnet, da sie selber noch keine Ahnung hatten, woran Lundström gestorben ist. Wegen der neuen Fakten wurde die Obduktion vorgezogen, die rufen uns an, wenn es ein Ergebnis gibt.«
»Sehr schön. Die Gerichtsmedizin arbeitet auch schon an Schmitzke. Sven, wie geht es dem anderen Verdächtigen? Diesem Pleichelt?«
»Der liegt auf der Intensivstation im Diako, in kritischem Zustand. Die Ärzte wissen noch nicht, ob er durchkommt. Sollten die Obduktionen von Schmitzke und Lundström etwas finden, könnte das Pleichelts Ärzten vielleicht einen entscheidenden Tip für die Behandlung geben.«
»Nun, wir können wohl auf jeden Fall von einer Vergiftung ausgehen. Die Frage ist bloß, von was für einer.«
»Und wer die Typen vergiftet hat.«
»Genau, Sascha.«
»Wir sollten vielleicht auch ganz schnell die anderen Leute auf Svens Kundendatei abklappern, vielleicht sind die bisherigen drei Opfer nicht die einzigen.«
»Richtig. Sven, hast du da schon was unternommen?«
»Nein, aber ich denke, ich schicke sofort Streifenwagen los, zumindest erst mal zu allen Leipziger Adressen.«
»Wie viele sind das?«
»Noch vier oder fünf, dazu noch eine Handvoll aus dem Landkreis.«
»Gut, schick die Leute los. Und wirklich nachprüfen, wenn niemand aufmacht Notöffnung, wenn es sein muss mit der Feuerwehr.«
»Alles klar, ich kümmere mich sofort darum.«
Hauptkommissar Berger stand auf und ging über den Flur in sein eigenes Büro. In diesem Moment klingelte mein Telefon.
»Kommissar Altmann.«
»Guten Tag, Herr Kommissar. Hier spricht Professor Junghans vom Städtischen Klinikum St. Georg. Sie wollten über das Ergebnis einer Obduktion informiert werden?«
»Ja, richtig. Es geht um einen Thoralf Lundström.«
»Genau. Wir haben jetzt die ersten Ergebnisse. Kommen Sie rüber oder sollen wir die Ihnen per Post schicken?«
»Wenn möglich per Post und vorab per Fax, die Faxnummer sollten Sie haben. Und können Sie mir jetzt gleich kurz etwas sagen?«
»Ja. Wir haben es eindeutig mit einer Vergiftung zu tun. Herr Lundström ist über einen längeren Zeitraum hinweg mit einer Arsenverbindung in Kontakt geraten. Dies hat anfangs zu Übelkeit und Unwohlsein geführt, später dann hat sich der Zustand immer mehr verschlechtert, und am Ende ist er an den Vergiftungsfolgen gestorben.«
Das war ja hochinteressant.
»Über einen längeren Zeitraum, sagten Sie? Wie würden Sie das definieren?«
»Ich würde sagen wir reden hier von zwei bis vier Wochen. Er muss das Gift in kleinen Dosen aufgenommen haben, ansonsten wären seine Reaktionen darauf viel akuter und in schnellerer Abfolge aufgetreten.«
»Wie hat er das Gift aufgenommen?«
»Das kann ich noch nicht sagen. Sie sind doch von der Mordkommission, richtig?«
Ich bestätigte.
»Nun, in der klassischen Kriminalliteratur wird Arsen meist über das Essen verabreicht. Dabei wird aber üblicherweise eine tödliche Einzeldosis verwendet, das kann hier nicht der Fall gewesen sein, es handelt sich ziemlich eindeutig um eine schleichende Vergiftung – es müsste ihm also jemand regelmäßig eine kleine Dosis verabreicht haben. Auch haben wir Spuren einer weiteren Substanz gefunden, die wir noch nicht genau einordnen können. Hilft Ihnen das weiter?«
»Das müssen wir sehen. Ich danke Ihnen jedenfalls für die schnelle Arbeit.«
»Gern geschehen. Wäre es möglich, uns zu informieren wenn Sie den Fall geklärt haben? Das wäre für uns aus medizinischer Sicht sehr interessant.«
»Das werde ich machen, Herr Professor. Aber ich habe noch eine Bitte an Sie.«
»Nur zu.«
»Im Diakonissenhaus liegt ein Patient in kritischem Zustand, welcher ebenfalls unter einer solchen Vergiftung leiden könnte. Würden Sie sich bitte mit den dortigen Ärzten in Verbindung setzen? Sie können denen das garantiert schneller erklären als ich.«
»Selbstverständlich! Das mache ich sofort. Können Sie mir den Namen des Patienten sagen?«
»Jörg Pleichelt. Er wurde heute Vormittag eingeliefert.«
»Alles klar, ich hänge mich sofort an die Leitung. Auf Wiederhören!«
Noch bevor ich antworten konnte wurde der Hörer aufgeknallt. Ich zuckte mit den Schultern und erzählte meinem Chef, was ich erfahren hatte. Dieser runzelte die Stirn.
»Das nimmt ja ganz schöne Dimensionen an. Versucht da etwa jemand, das Recht in die eigene Hand zu nehmen?«
»Möglich. Vielleicht auch ein Rachefeldzug?«
»Könnte auch sein. Verdient haben es diese Pornoschweine zwar nicht, aber wir sollten zusehen, dass es möglichst nicht noch mehr Opfer gibt.«
Ein frommer Wunsch, wie sich in den nächsten Tagen zeigen sollte…
Eine weitere Woche war ins Land gegangen, und diese Woche hatte uns drei zusätzliche Tote (inklusive des inzwischen verstorbenen Jörg Pleichelt) und vier Patienten in kritischem Zustand auf verschiedenen Intensivstationen in und um Leipzig herum eingebracht. Alle Opfer hatten eine Gemeinsamkeit: sie standen auf der Kundenliste von Paul Schmitzke. Irgendjemand gab sich viel Mühe damit, diese Liste abzuarbeiten und jeden, der darauf stand, möglichst grausam in die ewigen Jagdgründe zu befördern.
Und es gab noch weitere Übereinstimmung. Bei jedem bisherigen Opfer war im Laufe der letzten Wochen eingebrochen worden – allerdings hatte es bis auf den ebenfalls nicht mehr unter den Lebenden weilenden Thoralf Lundström niemand mitbekommen. Mein Chef hatte die geniale Idee gehabt, die Wohnungstüren von der Kriminaltechnik untersuchen zu lassen, und siehe da: alle zeigten professionelle Einbruchsspuren. Ein paar kleine Kratzer im Schloss waren aber auch wirklich alle Spuren, es gab keinerlei andere verwertbare Dinge, und natürlich auch keine Fingerabdrücke. Wir konnten davon ausgehen, dass die Ursache der Vergiftung irgendwo im häuslichen Bereich lag. Die Frage war nur: wo? Mehrere Labore untersuchten sämtliche in den Wohnungen vorgefundenen Lebensmittel, bisher war aber niemand auf die Vergiftungsquelle gestoßen.
In der Zwischenzeit wurden in einer großangelegten, bundesweiten Aktion sämtliche Personen aus Schmitzkes Kundendatei aufgesucht und befragt. Hauptsächlich ging es natürlich darum, potentielle weitere Giftopfer rechtzeitig zu finden – bisher aber schien sich unser Mörder auf den Leipziger Raum zu beschränken. Es gab dutzendfach Wohnungsdurchsuchungen, und was für meinen Chef und mich ein Fall von Serienmord war, stellte für Hauptkommissar Berger und seine Kollegen einen der größten Fälle von Kinderpornografie der letzten zehn Jahre dar. Die Ermittlungen führten dazu, dass sogar ein Staatsanwalt und mehrere Politiker einem plötzlichen Karriereende entgegensahen. Mittlerweile wurde nicht nur mit der anfänglich gefundenen Kundendatei gearbeitet, auch Derek war voll in die Untersuchungen eingebunden. Praktisch jeder Verdächtige verfügte auch über einen Computer, und auf diesen fanden sich oft genug Informationen, die den Umfang des Falles immer mehr anwachsen ließen.
Leider tappten wir bezüglich der Morde weiterhin im Dunkeln. Als wir gerade mal wieder im Büro darüber nachgrübelten, wie wir dem Killer auf die Schliche kommen könnten, klingelte das Telefon. Eva Schlüter, die an diesem Tage gerade wieder aus dem Urlaub zurückgekommen war, nahm den Hörer ab und lauschte kurz hinein.
»In Ordnung, bringen Sie sie hoch.«
Eva legte auf und schaute zu unserem Chef.
»Das war der Empfang. Da ist eine Frau Schultheiß, die sagt, dass sie irgendwas zum Fall Brüsser zu sagen hätte.«
Heinrich Brüsser war einer der weiteren Schmitzke-Kunden, für den jede Hilfe zu spät gekommen war.
»Na da bin ich aber mal gespannt! Hattest du mit dieser Frau nicht schon ausgiebig gesprochen, Sascha?«
»Ja, und da hatte sie nichts Interessantes zu sagen.«
Wir mussten noch drei Minuten warten, dann führte ein Beamter die ältere Dame hinein. Wir erhoben uns und begrüßten sie (natürlich mit Ausnahme von der im Rollstuhl sitzenden Eva).
»Ah, guten Tag Herr Altmann!«
»Guten Tag, Frau Schultheiß. Darf ich vorstellen? Mein Chef, Hauptkommissar Machlitzke, und unsere Kollegin, Hauptmeisterin Schlüter.«
Nach der Begrüßung nahmen wir alle wieder Platz, und Jens wandte sich an unsere Besucherin.
»Sie haben am Empfang gesagt, dass sie noch Informationen zum Fall des Herrn Brüsser haben?«
»Oh ja! Ich muss mich wirklich entschuldigen, dass ich das vor drei Tagen noch nicht erwähnt habe, aber ich hatte das völlig vergessen.«
Ja was denn nur! Unruhig zappelte ich auf meinem Stuhl herum.
»Sie hatten doch gefragt, ob mir in der Zeit vor Herrn Brüssers Tod mal irgendwas aufgefallen wäre, weil ja auch ein Einbruch stattgefunden hätte.«
Das hatte ich allerdings gefragt, und Frau Schultheiß hatte die Frage verneint.
»Heute früh fiel mir nun plötzlich wieder ein, dass da tatsächlich etwas gewesen war, vor ungefähr drei Wochen!«
Ich spürte, dass sich mein Chef kaum noch halten konnte vor Spannung, trotzdem fragte er ganz ruhig nach.
»Was ist Ihnen denn eingefallen, Frau Schultheiß?«
»Das hier!«
Mit diesen Worten griff sie in ihre Einkaufstasche und holte einen in einer Klarsichttüte verpackten Gegenstand heraus. Eine Luftpumpe?
»Ah ja. Was ist mit dieser Luftpumpe?«
»Herr Inspektor, die gehört niemandem in unserem Haus! Ich habe sie aber bei uns im Hausflur gefunden.«
Zweifelnd schaute ich die ältere Dame an.
»Vielleicht gehört die einem Besucher?«
Ganz entschieden schüttelte Frau Schultheiß den Kopf.
»Nein, ganz bestimmt nicht. Wir sind nur vier Parteien in unserem Haus. Miglers, Schalberts, Herr Brüsser und wir. Herr Brüsser hatte nie Besuch, der mit dem Fahrrad gekommen wäre, und Miglers und Schalberts waren zu dieser Zeit gemeinsam im Urlaub. Die Pumpe muss ein Fremder verloren haben, der nicht ins Haus gehört!«
Dem Himmel sei Dank für so kleine neugierige Spione wie Frau Schultheiß!
»Sie haben also die Luftpumpe im Hausflur gefunden. Was haben Sie dann damit gemacht?«
»Ich habe sie erst mal in den Keller gelegt, und dann habe ich sie vergessen. Erst als ich heute ein Glas Kirschen fürs Mittagessen holen wollte, ist sie mir wieder aufgefallen. Na, und da habe ich gleich an Sie gedacht, hab sie ganz vorsichtig in die Tüte gepackt und hergebracht!«
Hoffentlich hatte sie das wirklich ganz vorsichtig gemacht! Ich griff zum Telefon und betätigte eine der Kurzwahltasten, welche mich mit der Kriminaltechnik verband.
»Werner? Sascha hier. Kannst du gleich mal jemanden zu Jens ins Büro schicken, um einen potentiellen Spurenträger abzuholen? Ja? Danke, bis gleich.«
Ich schaute zu meinem Chef.
»Werner kommt selbst hoch und holt das Ding ab.«
»Sehr schön. Frau Schultheiß, wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie uns die Luftpumpe vorbeigebracht haben. Sagen Sie, hat außer Ihnen noch jemand das Ding angefasst?«
»Nein, außer mir hat es niemand in der Hand gehabt. Und auch ich habe nur an einer Stelle zugegriffen. Sie sehen ja, wie schmutzig das Ding ist, ich wollte es später saubermachen. Aber dann habe ich es halt völlig vergessen, und heute früh habe ich wirklich nur mit ganz spitzen Fingern zugegriffen. Schließlich wusste ich ja, dass da vielleicht Fingerabdrücke von einem Mörder dran sein könnten!«
»Das war wirklich sehr schlau von Ihnen, Frau Schultheiß! Vielleicht bringt uns das wirklich weiter.«
Wir verabschiedeten unseren Besucherin, und gerade als sie aus der Tür trat, kam ein niedergeschlagen wirkender Sven Berger herein.
»Spardonk ist tot.«
Ralf Spardonk war einer der kritischen Fälle von der Intensivstation. Das nächste Opfer des unheimlichen Pornokillers.
»Seid ihr irgendwie weitergekommen?«
Bevor wir seine Frage beantworten konnten, trat Werner Hildebrand von der Kriminaltechnik ein.
»Mahlzeit zusammen. Ihr habt was für mich?«
Machlitzke zeigte auf die verpackte Luftpumpe.
»Schau dir das Ding bitte sofort mal an, vielleicht findest du ja ein paar Fingerabdrücke.«
»Hängt das mit eurer Mordserie zusammen?«
»Könnte sein.«
»Alles klar, ich setz mich sofort dran.«
»Danke.«
Vorsichtig griff sich Hildebrand die Tüte und verließ unser Büro. Berger sah nun wieder etwas hoffnungsvoller aus.
»Ihr habt eine Spur?«
»Vielleicht, wenn wir viel Glück haben.«
Mein Chef erzählte unserem Kollegen vom Besuch der Nachbarin.
»Etwas weit hergeholt, oder?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Mehr haben wir leider nicht, das ist bisher das erste, was auch nur ansatzweise nach einer möglichen Spur aussieht.«
»Dann werden wir wohl warten und hoffen müssen.«
»Allerdings. Gibt es eigentlich unterdessen noch weitere Vergiftungsfälle?«
»Nein, Jens, bisher nicht. Aber der Täter hat jeden einzelnen auf der Liste erwischt, der im Leipziger Raum wohnt. Verdammt gründlich.«
Und so würde er vermutlich weitermachen, wenn wir ihn nicht stoppen konnten. Ich stellte die Frage, die wohl jeden Anwesenden interessierte.
»Wo wird er als nächstes zuschlagen?«
Berger zuckte mit den Schultern.
»Wenn wir davon ausgehen, dass er seine Operationsbasis hier in Leipzig hat, dann würde ich auf Halle tippen. Ich habe drei Hallenser auf der Liste, und die wären ja von hier aus problemlos zu erreichen.«
»Hast du diesbezüglich schon was unternommen?«
»Ja, ich hab die Spurentechnik auf die Wohnungstüren angesetzt, die haben aber keinerlei Einbruchsspuren gefunden.«
»Was nicht ist kann ja noch werden. Lässt du die überwachen?«
»Ja, die Hallenser Kollegen sind dran. Das Problem ist, dass Halle nur eine Vermutung darstellt. Genauso könnte er in Dresden, in Chemnitz oder sonst wo zuschlagen. Und ich kann nicht hunderte Wohnungen im gesamten Bundesgebiet rund um die Uhr überwachen lassen!«
Wir grübelten eine weitere halbe Stunde vor uns hin, ohne zu einem brauchbaren Ergebnis zu kommen, bis plötzlich die Zimmertür aufgerissen wurde und Werner Hildebrand hineinstürzte. Er war völlig außer Atem und schwenkte ein Blatt Papier.
»Ich hab was gefunden!«
Sofort hatte er unser aller Aufmerksamkeit.
»Auf der Luftpumpe waren Abdrücke von zwei Personen. Die von der einen Person waren nur an einem Ende, und diese Person hatte wohl nur sehr zaghaft zugegriffen. Von der anderen Person gab es deutlich mehr Abdrücke, und einige davon waren sehr gut erhalten. Ich hab sie abgenommen und einen Volltreffer gelandet.«
Mein Gott, sollten wir wirklich so viel Glück haben?
»Mensch, spann uns nicht auf die Folter, schieß los!«
»Schon gut, Jens, schon gut! Also: die Abdrücke gehören zu einer Irene Wollendorf.«
Eine Frau? Wobei: das passte ja durchaus zu Giftmorden. Schließlich war das angeblich eine typisch weibliche Art, jemanden um die Ecke zu bringen.
»Und nun haltet euch fest: die Wollendorf ist mehrfach vorbestraft wegen … tata! … Einbruchdiebstahls!«
Wir waren baff. Das passte ja wie die Faust aufs Auge, das konnte einfach kein Zufall sein.
»Und es kommt noch besser. Die Opfer waren doch alle in diesen Kinderpornofall verwickelt, oder?«
Hauptkommissar Berger bestätigte dies.
»Na also. Irene Wollendorf hatte eine Tochter, die mit neun Jahren entführt wurde. Zwei Jahre später fand man ihre Leiche. Sie hatte die ganze Zeit noch gelebt und war ständig sexuell missbraucht worden. Und das ganze wurde auch noch gefilmt und für teures Geld verkauft. Der Täter wurde nie geschnappt.«
Bingo, es passte alles ganz wunderbar zusammen.
»Und wisst ihr, was die Wollendorf für einen Beruf erlernt hat? Ihr kommt nie drauf. Apothekerin!«
Mein Chef räusperte sich.
»Damit hätten wir ja eigentlich alles abgeklärt. Motiv und Gelegenheit, alles vorhanden. Wir müssen noch rausfinden, wie sie auf die Idee gekommen ist, Schmitzkes Computer zu filzen, aber das sollte kein Problem sein, wenn wir sie erst mal in Gewahrsam haben. Das war verdammt gute Arbeit, Werner.«
»Gern geschehn. Hier, auf dem Ausdruck steht alles drauf, sogar eine aktuelle Adresse. Also dann, viel Erfolg bei der Jagd.«
Der Kriminaltechniker verließ uns, und wir waren immer noch völlig überfahren von den Neuigkeiten. So recht wollten wir es noch gar nicht glauben. Berger fasste unsere Zweifel in Worte.
»Sollte es plötzlich wirklich so einfach sein? Fast zu schön, um wahr zu sein.«
Resolut erhob sich Hauptkommissar Machlitzke von seinem Stuhl.
»Tja, manchmal hat man Glück und es ist wirklich so einfach. Es gibt nur einen Weg, um das herauszufinden. Wir schnappen uns die Wollendorf.«
Vorausgesetzt, sie hatte sich nicht bereits davongemacht. Oder war gerade anderweitig im »Einsatz«. Auf Grund der Beweis- und Indizienlage war es kein Problem, innerhalb kürzester Zeit einen Haft- und einen Durchsuchungsbefehl zu bekommen.
Mit mehreren Wagen rasten wir zu der angegebenen Adresse. Ein ziemlich runtergekommener Altbau, und an einer Klingel stand tatsächlich der Name unserer Verdächtigen. Natürlich klingelten wir nicht, die Haustür stand eh offen, also marschierten wir direkt hinauf zur Wohnung. Gerade als wir uns dort bemerkbar machen wollten, ging die Tür auf, und eine verhärmte Frau Mitte dreißig trat heraus.
»Wollen Sie zu mir?«
Jens zeigte seinen Dienstausweis.
»Frau Irene Wollendorf?«
»Ja?«
»Frau Wollendorf, Sie sind vorläufig festgenommen wegen Verdacht des mehrfachen Mordes. Wir haben auch einen Durchsuchungsbeschluss für Ihre Wohnung. Unsere Kollegen werden sich jetzt bei Ihnen umsehen, und Sie begleiten uns bitte auf die Dienststelle.«
Die Frau gab ein hysterisches Gelächter von sich.
»Verdammt, konntet ihr blöden Bullen nicht noch ein paar Wochen länger brauchen? Den Mörder meiner Tochter habt ihr doch auch nicht gefunden! Ich hätte noch einiges zu erledigen gehabt.«
Wir schauten uns vielsagend an – das war ja praktisch schon ein Geständnis. Frau Wollendorf bekam Handschellen verpasst und fand sich eine Dreiviertelstunde später in unserem Vernehmungsraum wieder. Sie gab tatsächlich alles zu, sie war richtig gesprächig. Naja, das hatte man ja öfters bei gefassten Serienmördern, die redeten dann wie ein Wasserfall.
Auf die Spur von Schmitzke war sie durch einen ihrer Einbrüche gekommen. Sie hatte den Computer eines seiner Kunden geklaut, und über die Daten darauf hatte sie den Pornohändler gefunden. Da sie öfter mal Computer klaute, hatte sie sich einiges an Fachkenntnis angeeignet, es war für sie daher kein allzu großes Problem gewesen, bei einem »Besuch« die Daten auf Schmitzkes Computer zu kopieren und dann später in aller Ruhe zuhause zu entschlüsseln.
»Alles andere war dann ein Klacks! Ich hab mir ein passendes Gift gemixt und dann ein Schwein nach dem anderen in die Hölle geschickt! Und hättet ihr Bullen mir nicht ins Handwerk gepfuscht, dann hätte ich die Welt noch von einer Menge perverser Schweine befreien können! Ihr Schmalspurdetektive seid dazu ja nicht in der Lage!«
Für sie als professionelle Einbrecherin war es kein großes Ding gewesen, unbemerkt und ohne Spuren zu hinterlassen in die betreffenden Wohnungen einzudringen und das Gift zu deponieren.
»Und wie haben Sie das Gift verabreicht?«
Hauptkommissar Berger stellte die Frage, die uns allen auf den Nägeln brannte. Überheblich lachte die Giftmörderin auf.
»Ha, darauf seid ihr also auch nicht gekommen, warum wundert mich das nicht? Aber ich will mal nicht so sein. Ich hätte die Schweine ja ganz normal vergiften können, aber das wäre zu einfach und ein viel zu harmloser Tod gewesen. Sie sollten sich den Tod immer dann ins Blut holen, wenn sie ihren perversen Leidenschaften nachgingen. Ich habe ein Kontaktgift hergestellt und damit die Computertastaturen und Mäuse bestrichen. Immer wenn sich die Dreckschweine nun durch ihre Kinderpornos klickten, haben sie sich mehr und mehr selbst vergiftet. Genial, nicht wahr?«
Allerdings, genial. Mörderisch genial. Im nächsten Moment wurde mir für einige Sekunden schwarz vor Augen.
»Derek!«
Ich stand auf, taumelte aber und konnte mich gerade noch am Schreibtisch festhalten. Jens und Sven sprangen mir zu Hilfe.
»Sascha, was ist los?«
»Derek!«
»Was ist mit ihm?«
»Er arbeitet die ganze Zeit mit diesen Computern!«
Sofort war den beiden klar, worauf ich hinauswollte. Fieberhaft griff mein Chef zum Telefonhörer und wählte die Nummer von Data Rescue. Er ließ es lange klingeln, aber ohne jeden Erfolg.
»Es geht keiner ran. Was ist mit dem Handy?«
Das Handy, genau! Ich holte meins hervor und drückte die Kurzwahltaste.
»Der gewählte Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.«
Ich schrie regelrecht in das Telefon hinein.
»Derek, lass sofort die Finger von den beschlagnahmten Rechnern! Die sind vergiftet!«
Mein Gott, hoffentlich war ihm noch nichts passiert!
»Komm, Sascha, wir fahren rüber. Sven, kümmerst du dich um den Rest hier?«
»Alles klar, beeilt euch!«
Wir rannten die Treppen des Präsidiums hinunter, ich nahm alles nur noch im Halbwahn wahr und wusste bis heute nicht, wie ich das ohne Verletzungen geschafft habe. Kurz darauf rasten wir mit Blaulicht durch den Verkehr und stellten einen neuen Rekord für die Strecke zur Firma meines Freundes auf. Dort angekommen sprinteten wir in das Gebäude, welches völlig verwaist aussah. Nicht einmal der Empfangstresen war besetzt. Ich war nun nicht mehr zu halten und rannte so schnell es ging in Dereks Büro. Die Tür aufreißend, stürzte ich hinein und sah meinen Freund, wie er mit dem Kopf auf dem Schreibtisch lag, vor sich eine graue Tastatur. Nein, lieber Gott, bitte nicht das! Ich sprang zu ihm.
»Derek!«
Ich rüttelte ihn an der Schulter und wäre vor Erleichterung beinahe umgekippt als ich sah, wie er sich kurz schüttelte und langsam aufwachte.
»Äh … ja … Sascha! Was machst du denn hier?«
Das war zu viel für mich, ich brach in Tränen aus und sank zu Boden. Das wiederum sorgte dafür, dass Derek sofort hellwach wurde und neben mir in die Hocke ging.
»Sascha, was ist los? Nun sag doch schon! Ist etwas passiert?«
All das nahm ich gar nicht richtig wahr, nur ein Gedanke beherrschte mein ganzes Denken: Derek lebt!
»Komm, Derek, helfen wir ihm hoch. Ich erzähl dir gleich was los ist.«
Ich spürte, wie ich von zwei Seiten angefasst und hochgezogen wurde, dann fand ich mich auf einem Stuhl wieder. Derek zog seinen eigenen Drehstuhl heran und nahm mich in den Arm, dann schaute er fragend zu meinem Begleiter.
»Der Fall ist gelöst, Derek. Wir haben eine Frau verhaftet, die zugegeben hat, dass sie die Leute auf der Kundenliste vergiftet hat.«
»Und deshalb ist Sascha so fertig?«
»Ja. Du musst eines wissen: die Frau hat ihre Opfer vergiftet, indem sie die Computertastaturen und die Mäuse mit einer Giftmischung bestrichen hat. Die Tastaturen und Mäuse der Computer, die du seit fast zwei Wochen bearbeitest.«
»Oh. Und deshalb seid ihr hier so reingestürzt?«
»Ja, wir hatten befürchtet, dass du dich vielleicht auch vergiftet haben könntest.«
Derek drückte mich nunmehr ganz fest an sich und strich mir sanft über den Kopf.
»Oh Sascha. Es ist lieb, dass du dir solche Sorgen um mich gemacht hast. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen.«
Ich schaffte es, ein wenig den Kopf zu heben und ihn fragend anzuschauen. Lächelnd streichelte er mich weiter.
»Ich habe die Tastaturen und Mäuse gar nicht angerührt, die stehen unbenutzt im Regal. Ich arbeite immer nur mit meinen eigenen Eingabegeräten.«
Ich konnte nicht anders, ich fing leise an zu kichern, was sich innerhalb kürzester Zeit in lautstarkes Gelächter steigerte.
»Haha … das heißt … haha … das heißt, dass ich mir völlig umsonst Sorgen gemacht habe?«
Derek lachte zurück, und auch Jens grinste vor sich hin.
»Nicht ganz umsonst, Sascha. Ich weiß jetzt ganz genau, wie sehr du mich liebst. Und ich liebe dich auch!«
Er zog mein Gesicht an seines heran und gab mir einen dicken Kuss. Diesen Moment nutzte mein Chef, um sich zu verabschieden.
»Ich werd euch dann mal alleine lassen, Jungs. Sascha, für dich ist die Arbeitswoche vorbei. Für den restlichen Kram brauche ich dich nicht mehr. Genieß ein paar schöne Tage mit deinem Freund.«
Dankbar verabschiedeten wir uns von ihm, und dann saßen wir erst mal eine ganze Weile einfach nur da, uns gegenseitig in den Armen haltend. Nach ein paar Minuten löste sich Derek von mir.
»Du, Sascha, ich muss dir noch was zeigen.«
Neugierig schaute ich ihn an.
»Ich hab da auf einem der Rechner etwas gefunden, was du dir mal anschauen solltest.«
Ich verzog das Gesicht.
»Nicht noch mehr Kinderpornos!«
Mein Freund lachte mich an.
»Nein, ganz so wild ist es nicht. Los, komm rüber.«
Ich rollerte auf meinem Stuhl zu seinem Arbeitsplatz, er klickte ein wenig mit der Maus herum, dann erwachte der Bildschirm vor ihm zum Leben. Völlig verdattert schaute ich auf die Handlung, die sich vor mir entfaltete.
»Das gibt’s doch nicht!«
»Anscheinend doch.«
»Hast du das schon irgendwem gezeigt?«
»Nein, du bist der erste. Aber ich denke, wir sollten irgendwas unternehmen.«
»Stimmt. Nur was? Mit Berger sprechen?«
»Nee, nicht unbedingt. Weißt du was? Wir machen erst mal Wochenende und überlegen uns in aller Ruhe etwas. Wir müssen nichts überstürzen.«
Das war eine wirklich gute Idee, ich hatte genug Aufregung für diese Woche erlebt. Derek schaltete seine Geräte aus, dann fuhren wir in seinem Wagen nach Hause, einem gemütlichen Abend entgegen.
Am darauffolgenden Samstag hatten wir gleich am Vormittag unsere Badesachen gepackt und fuhren an den Kulkwitzer See. Gerade als wir den Parkplatz verließen, kamen zwei Radler mit blockierenden Reifen neben uns zum Stehen.
»Hi Sascha, hi Derek!«
Na so eine Überraschung aber auch! Die Bergerschen Zwillinge. Ich warf meinem Schatz einen vielsagenden Blick zu, der mit einem breiten Grinsen und einem Nicken des Kopfes beantwortet wurde.
»Hallo ihr zwei. Was macht ihr denn hier?«
»Na was wohl, Derek. Wir wollen baden! Das Wetter ist doch wieder super.«
Das war es allerdings, die Sonne ballerte vom Himmel, und an diesem war kein einziges Wölkchen zu sehen. Ich hatte eine Idee.
»Hättet ihr Lust auf eine kleine Tretboot-Partie? Wir wollten heute eigentlich nicht nur am Ufer rumhocken, sondern mal richtig raus auf den See.«
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber Derek würde mir diese kleine Lüge sicherlich verzeihen. Seinem Grinsen nach zu urteilen hatte er bereits meine Absichten durchschaut. Die Jungs grinsten auch, allerdings aus einem anderen Grunde.
»Cool, Tretboot! Klar!«
So kam es, dass wir zwanzig Minuten später mit einem großen Tretboot inklusive Badeleiter und Sonnendeck in See stachen. Nachdem wir uns ein Stück vom Ufer entfernt hatten, sprangen die Zwillinge auf und waren kurz darauf nackt wie Gott sie geschaffen hatte. Derek und ich zierten uns nicht lange und folgten ihrem Vorbild. Weitere zehn Minuten später hatten wir eine schöne Badestelle erreicht und stürzten uns ins Wasser. In diesem tollten wir dann ziemlich lange herum, bis wir völlig erschöpft wieder unser Wasserfahrzeug erklommen und uns auf dem Sonnendeck niederließen.
»Wow, ich bin total erledigt!«
Da war Patrick nicht der einzige, wir alle waren völlig ausgelaugt und genossen es, erst mal ganz gemütlich in der Sonne rumliegen zu können.
»Wir haben gehört, dass ihr euren Giftmordfall gelöst habt?«
Gähnend schaute ich zu Pascal hinüber.
»Ja, haben wir.«
Ich warf einen schnellen Blick zu meiner besseren Hälfte, welche grinsend zurücknickte. Also fuhr ich fort.
»Darüber wollten wir eh noch mit euch reden.«
Verwunderung machte sich auf den Gesichtern der Zwillinge breit.
»Ihr wisst doch sicherlich, dass diese Morde mit dem Kinderpornofall zusammenhingen, den euer Vater bearbeitet.«
»Ja, er hat Pascal und mir alles darüber erzählt.«
»Sehr schön. Dann wisst ihr ja auch, dass Derek die ganzen Computer der Verdächtigen überprüft hat.«
Patrick und Pascal nickten, hatten aber wohl noch keinen blassen Schimmer, wohin diese Unterhaltung gehen sollte. Nun mischte sich mein Freund ein.
»Was glaubt ihr wohl wie verblüfft ich war, als ich auf einem der Rechner plötzlich einen Film fand, dessen zwei sehr identisch aussehende, jugendliche Hauptdarsteller mir irgendwie sehr bekannt vorkamen.«
Im nächsten Moment musste ich befürchten, dass unseren beiden jungen Freunden die Herzen stehenbleiben würden! Ihre braungebrannten Gesichter konnten sich nicht entscheiden, ob sie nun kalkweiß oder knallrot werden sollten. Auch Derek bemerkte dies natürlich.
»Aha, ich sehe schon, ihr habt eine Ahnung, was ich da entdeckt habe, oder?«
Die beiden konnten nur noch stammeln.
»Ich … wir … aber …«
Ich übernahm wieder den Gesprächsfaden.
»Hört mal, es ist uns völlig egal, was ihr zusammen treibt. Aber verdammt nochmal, müsst ihr dabei unbedingt die Webcam laufen lassen?«
Damit dürfte auch klar sein, was mein Freund auf der Festplatte des beschlagnahmten Rechners entdeckt hatte. Pascal und Patrick bei eher … ähem … intimen Spielchen. Nichts Weltbewegendes, eher pubertäre Rumexperimentiererei, aber halt doch Dinge, die man nicht unbedingt vor der gesamten Weböffentlichkeit bloßlegt.
»Aber … wie … wie ist der Typ da dran gekommen?«
»Keine Ahnung, Patrick. Fakt ist: das Video war auf der Festplatte eines Kinderporno-Verdächtigen. Ich weiß nicht, wie es da hingekommen ist, das solltet ihr am ehesten wissen. Ihr müsst doch wissen, wen ihr habt zuschauen lassen. Aber wie auch immer: verkneift euch das zukünftig bitte. Und betet, dass dieses Video nicht zu sehr die Runde durchs Web macht.«
Jetzt waren die beiden Jungs regelrecht verängstigt. Sehr gut. Vielleicht lernten sie ja was daraus. Pascal schaute mich fragend an.
»Habt ihr das Video unserem Paps gezeigt?«
Beruhigend lächelte ich die Zwillinge an.
»Nein, und er bekommt es auch nicht zu sehen, stimmts, Derek?«
»Ja, ich hab es von der Platte gelöscht, bevor ich ihm die Daten kopiert habe. Und wenn ihr uns versprecht, so was nie wieder zu machen, wird er es auch nie zu Gesicht bekommen.«
Pascal und Patrick überstürzten sich regelrecht in ihrem Bemühen, uns dieses Versprechen zu geben. Damit gaben wir uns zufrieden, und Derek zog einen Schlussstrich unter die Angelegenheit.
»Sehr gut. Wir verlassen uns auf euch, es ist auch nur zu eurem eigenen Besten. Und nun zu einem angenehmeren Thema: wart ihr denn schon mal bei den J.u.n.g.S.?«
Erleichtert über die Themenänderung entspannten sich die Gesichter der beiden Teenager.
»Wir gehen heute Nachmittag hin!«
Die Augen von Derek und mir richteten sich auf Patrick.
»Ihr geht beide hin?«
Der Angesprochene zuckte mit den Schultern.
»Klar, warum nicht. Laut Webseite sind auch Heteros willkommen, und ich kann doch meinen kleinen Bruder nicht alleine in die Höhle des Löwen lassen.«
Derek strich ihm zufrieden durch die Haare.
»Das ist die richtige Einstellung. Und nun … nun könntet ihr zwei starken jungen Männer eigentlich mal ein wenig in die Pedale treten und uns rüber zum Hauptanleger bringen. Ich könnte ein Eis gebrauchen.«
Die Zwillinge wollten erst wegen der Sklavenarbeit protestieren, die Aussicht auf Eis vertrieb aber alle Gegenwehr, und schon bald schipperten wir mit der Höchstgeschwindigkeit von zwei Teenagerstärken unserem Ziel entgegen.
Es wurde noch ein sehr schöner Tag, und als ich spätabends neben meinem Schatz im Bett lag, war ich einfach nur zufrieden mit meinem Leben. Ich hatte beruflichen Erfolg, gute Freunde und einen Partner, mit dem ich dies alles teilen konnte. Was sollte ich mehr vom Leben verlangen?
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.