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Never saw a miracle
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Informationen
- Story: Never saw a miracle
- Autor: Peter
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Lovestory, Weihnachten
Vorwort
Die folgende Geschichte schrieb ich exklusiv für das 2001er Weihnachts-Update von Nickstories. Sie darf frei heruntergeladen sowie für persönliche Zwecke kopiert und ausgedruckt werden. Jede über die engen Richtlinien für private Verwendung im deutschen Urheberrecht hinausgehende Nutzung bedarf meiner vorherigen schriftlichen Zustimmung.
»Hör doch auf mit dem Scheiß, hilf lieber ein bisschen mit!«
Aber darauf zu hoffen, dass dieser Ausruf irgendwas am Verhalten meines kleinen Bruders ändern würde, war wohl in etwa so wie auf einen Lottojackpot (also dessen Gewinn) zu hoffen. Lasse würde sich dadurch bestimmt nicht von seiner Schneeballwerferei abbringen lassen. Ha! Lasse würde sich nicht abbringen lassen ... Was für ein passendes Wortspiel mit seinem Namen. War ich mit vierzehn eigentlich auch so nervig gewesen?
Okay, mal zu den Fakten. Dass mein kleiner Bruder Lasse heißt und vierzehn Jahre alt ist, haben wir ja schon geklärt – bleibe ich übrig, um noch mit meinen Personalien rüberzukommen. Gestatten, Sören. Sören Pauls. Unsere Eltern hatten es irgendwie mit nordischen Namen. Wenn wir mit Nachnamen wenigstens Paulssen heißen würden, aber nein, hier hatte es nur für Pauls gereicht. Naja, immer noch besser als Sören Meier. Übrigens vier Jahre älter als mein Bruder. Und mindestens zehn Jahre weiser und erwachsener. Bildete ich mir jedenfalls gerne mal ein. Eigentlich ein ganz sportliches Kerlchen mit einem durch Handball und Ballett gestählten Körper. Letzteres bedeutete natürlich per Definition, dass ich schwul sein muss! Immer diese Vorurteile! Und ich selten dummes Rindvieh bestätige die auch noch ... Ja, es stimmt, ich bin schwul. Wissen tun das allerdings nur meine Eltern. Sie hatten mich auf den Kopf zu danach gefragt, und ich hatte es ihnen »gebeichtet«. Keine Ahnung, woher die ihren Verdacht hatten, vielleicht hing es ja mit meiner Vorliebe für Boygroups und niedliche Jungschauspieler zusammen. Irgendwas musste denen jedenfalls aufgefallen sein. Sie hatten es eigentlich ganz locker aufgenommen, vielleicht ja auch, weil da immer noch Lasse war, um per Nachwuchszeugung den Fortbestand der Familie zu sichern. Allen anderen Menschen gegenüber war ich jedoch »deep in the closet«, wie man so schön auf Neudeutsch sagt. Aber vielleicht machte ich mir da ja auch bloß was vor und es wurde schon ringsherum vermutet. Allerdings bekam ich selten irgendwelche dummen Sprüche zu hören, selbst wenn meine Tanzerei zur Sprache kam, gab es höchstens mal eine kurze, nicht ernsthafte Stichelei.
Und warum blökte ich nun gerade meinen kleinen Bruder an? Ganz einfach: Ich war dabei unser Auto vom nächtlichen Schnee frei zu schippen, und Lasse hatte nichts Besseres zu tun, als mich dabei mit Schneebällen zu bewerfen! Vielleicht sollte ich mich doch darüber ärgern, dass ich mich zu diesem vermutlich letzten gemeinsamen Familienurlaub hatte überreden lassen. Aber was will man machen, es war schließlich Weihnachten und meine Eltern waren ganz scharf darauf, dass auch der »Große« nochmal mitfährt. Also hatte ich mich breitschlagen lassen, obwohl ich eher ein Großstadtmensch war und mit dieser alpendörflichen Umgebung nicht viel anfangen konnte. Gestern waren wir am frühen Abend am gemieteten Ferienhaus angekommen, hatten noch das Auto entladen, etwas gegessen und waren dann todmüde nach einer langen Fahrt ins Bett gefallen. Heute am frühen Morgen, also so gegen 11 Uhr, wurden Lasse und ich aus den Federn gescheucht. Nach einem Minifrühstück hieß es Auto frei legen, um dann für ein paar Einkäufe ins Dorf fahren zu können. Natürlich würde ich das Lenkrad nicht anrühren dürfen, zwar hatte ich einen ganz neuen Führerschein in der Tasche, aber auch das Auto war noch ganz neu und unseres Vaters ganzer Stolz.
Endlich war das Auto trotz Lasses Störversuchen freigelegt und wir konnten uns auf den Weg machen. Ein zweites Auto stand noch völlig eingeschneit neben dem unsrigen – das musste wohl den anderen Ferienhausbewohnern gehören. Es handelte sich um ein Haus mit zwei Wohnungen, jeweils mit eigener Küche und Bad sowie Schlaf- und Wohnzimmer. Dazu kamen noch zwei Zimmer im ausgebauten Dachgeschoss, die von einem gemeinsamen Korridor aus zugänglich waren. In einem davon hatten Lasse und ich uns niedergelassen – der Blick aus dem Fenster war atemberaubend, das musste selbst ich Landmuffel zugeben. Vor dem Fenster hingen Eiszapfen, dahinter sah man ein herrliches Alpenpanorama, und abends hatten wir in den Bergen ein paar einsam blinkende Lichter gesehen. Da konnte sogar ich glattweg meine Alpendorf-Abneigung für kurze Zeit vergessen. Aber zurück zu unseren Mitbewohnern. Von denen hatten wir noch gar nichts mitbekommen, weder am Vorabend (bis wir ins Bett sind, waren sie noch nicht aufgetaucht), noch am heutigen Morgen (wir hatten solange in den Betten gelegen, dass wir nur noch ihre Spuren vom Haus hatten fortführen sehen). Diesen Spuren nach musste es sich um vier oder fünf Personen handeln – vielleicht hatte ich ja Glück und es war jemand in meinem Alter dabei. Aber ich und Glück? Genauso gut könnte ich daran glauben, dass morgen am ach so heiligen Abend der Weihnachtsmann höchstpersönlich bei uns vorbeischauen würde. Und daran glaubte noch nicht einmal mehr Lasse! Nö, vermutlich waren unsere Hausnachbarn die Mitglieder des Vereins verwitweter Hobbystrickerinnen der erzkatholischen Kirchgemeinde XY.
Im Dorf angekommen – also angeblich in der Stadt, aber in meinen Augen halt doch nur ein Dorf – machten wir erstmal ein kleines Kaufhaus mit Supermarkt ausfindig, wo wir Futteralien für die nächsten Tage einkauften. Wir würden über Weihnachten und Neujahr hier bleiben, also machte es durchaus Sinn sich einigermaßen häuslich einzurichten. Mein Brüderchen bekam noch Schal, Handschuhe und Mütze verpasst – alles Sachen, die er zuhause großspurigerweise angeblich nicht brauchte, hier aber nach den ersten Stunden bei doch recht heftigen Minusgraden etwas vermisste. Konnte mir nicht passieren, ich war schon dick eingemummelt angereist. Nach dem Einkauf suchten wir uns einen gemütlichen Gasthof und gönnten uns ein mittelgroßes Festmahl. Das war gar nicht so einfach, die Bestellung gestaltete sich des ausgeprägten bayerischen Dialekts der Bedienung wegen leicht kompliziert. Am Ende bekamen wir aber doch alle das, was wir uns vorgestellt hatten, vorgesetzt. Später dann bummelten wir etwas durch den tiefverschneiten Wintersportort – unsere Eltern waren begeistert und in offensichtlich hochgradig romantischer Stimmung, ich als wohlerzogener Sohn machte zumindest gute Miene zum bösen Spiel, nur Lasse fiel aus der Rolle und maulte irgendwas von wegen »langweilig« in seinen nichtvorhandenen Bart. Seine Stimmung besserte sich erst, als Papa Pauls sich an ein weiteres wichtiges Vorhaben erinnerte.
»Leute, wir vertrödeln zu viel Zeit. Wir brauchen doch dringend noch einen Weihnachtsbaum!«
Genau. Auch in der Fremde wollten wir auf diesen Brauch nicht verzichten und hatten beschlossen, uns ein kleines Bäumchen für die Ferienwohnung zu besorgen. Selbige war im Wohnzimmer mit einem offenen Kamin ausgestattet, dazu würde ein bunt geschmückter Weihnachtsbaum sicherlich sehr gut passen. Sogar unseren Super-Patent-Schnellspann-Weihnachtsbaumständer hatten wir von zuhause mitgebracht! Und natürlich auch einen kleinen Karton mit passendem Schmuckwerk. Fehlte also bloß noch der nadelige Geselle. Ob wir am Nachmittag des 23.12. überhaupt noch einen bekommen würden?
Aber meine Sorge war unbegründet, nach ein wenig Rumfragerei fanden wir einen noch geöffneten Baumverkauf, und dort sogar noch ein recht ansehnliches Exemplar von Nordmanntanne. Die ich dann zum Auto schleppen durfte. Was tut man nicht alles für den weihnachtlichen Familienfrieden. Mit vollgepacktem Auto fuhren dann unsere Eltern in Richtung Ferienhaus davon – Lasse und ich mussten laufen! Und das bloß, weil einer der Rücksitze des Baumes wegen umgeklappt werden musste und somit nicht mehr Platz für uns alle war. Mein Bruder und ich hatten uns gestritten, wer mitfahren durfte und wer laufen musste – mit dem Ergebnis, dass Mutti Pauls uns beide in der Kälte ausgesetzt hatte. Während ich nun einigermaßen missmutig durch den Schnee stapfte und meine schlechte Laune pflegte, fand Lasse schon schnell eine ablenkende Beschäftigung und schusselte fröhlich auf dem Weg vor mir her. Leichter Flockenwirbel hatte eingesetzt, und mir wurde klar, dass ich wohl am nächsten Morgen wieder ein eingeschneites Auto vorfinden würde. Hätten die bei einem Ferienhaus in einem Wintersportort nicht wenigstens gleich noch eine gut geheizte Garage dazubauen können?
Natürlich schlug Murphys Gesetz auch im Urlaub gnadenlos zu. Gerade liefen wir an einem Bäckerladen vorbei, da entfleuchte diesem ein geradezu göttliches Wesen! Etwa in meinem Alter, blonde, aufgestachelte Haare, rote Wangen, funkelnde Augen, ein zufriedenes Lächeln – ich machte solche Stielaugen, dass mir selbige eigentlich aus den Höhlen fallen mussten. Gott jr. stieg in einen geparkten Minivan, wo ihn schon mehrere andere Personen erwarteten. Der Minivan legte vom Bürgersteig ab, und ich legte mich auf dem Bürgersteig lang. Welcher #*+$%&/ hatte den %/&(%§$*+# Fahrradständer mitten in meinen Weg gestellt! Da denkt man an nichts Böses, schaut den eingeborenen Schönheiten hinterher und bricht sich dabei fast die Knochen. Zum Glück war der Sturz des Schnees wegen einigermaßen weich, und auch meine recht guten Reflexe bewahrten mich vor größeren Verletzungen. Den größten Schaden nahm mein Ego, denn Lasse hatte zumindest den Sturz (hoffentlich nicht vorher meine Starrerei!) mitbekommen und bekam sich nun kaum noch ein vor Lachen. Ich rappelte mich wieder hoch und beschloss, für einen Moment meine gute Kinderstube zu vergessen. Kurz darauf fand sich mein kleiner Bruder in der nächstgelegenen Schneewehe wieder. Allerdings fand er das wohl auch noch ziemlich lustig, jedenfalls krabbelte er prustend und lachend aus dieser hervor.
Stop. Kurze Erläuterung. Bevor hier irgendwelche falschen Eindrücke entstehen: Lasse und ich, wir verstehen uns eigentlich ziemlich gut. Besonders, seit wir vor rund drei Jahre in ein Haus gezogen waren, in welchem jeder sein eigenes Zimmer hatte. Vorher mussten wir uns ein Zimmer teilen, und ... na sagen wir mal so: mit 15 hat man doch gewisse »Bedürfnisse« zu befriedigen, bei denen so ein kleiner Elfjähriger eher ... ähem ... störend ist. Ganz zu schweigen von den ganz allgemeinen Interessenunterschieden. Aber seitdem herrschte eigentlich brüderlicher Frieden. Mit kleinen Ausnahmen natürlich. Und den üblichen Sticheleien, die nicht sonderlich ernst und erst recht nicht böse gemeint waren. Wir verstanden uns wirklich gut, und es gab eigentlich nur eine Sache die Lasse nicht von mir wusste. Ich denke es ist klar, worauf ich hinaus will ...
So, nachdem das nun klargestellt ist, geht es weiter im Text. Kurz darauf hatten wir uns beide einigermaßen beruhigt und nahmen den Rest des Weges in Angriff. Rest hört sich hier harmloser an, als es wirklich war: Es ging 20 Minuten praktisch nur bergauf. Paps hätte bei einem solchen Marsch geschnauft wie eine alte Dampfmaschine – aber der war ja gemütlich im Auto hochgerollert. Gut geheizt und mit Allradantrieb.
Irgendwann kamen wir tatsächlich oben am Ferienhaus an, und etwas außer Atem betraten wir unsere Hälfte desselbigen. Dort wurden wir von Mutti empfangen.
»Na da seid ihr ja endlich.«
Prima. Sich gemütlich chauffieren lassen, uns zu einem kilometerlangen Fußmarsch den Berg hinauf verurteilend, und dann noch über unsere späte Ankunft beschweren. Das hatte man gerne.
»In zwanzig Minuten gibt es Kaffee und Kuchen – unsere Nachbarn sind auch da und haben uns eingeladen!«
Na das hörte sich ja so schlecht nicht an. Allerdings ... Kaffee bei den christlichen Hobbystrickerinnen? Naja, vielleicht ließ sich ja ein flauschiger Schal abstauben.
Zwanzig Minuten? Gerade noch Zeit für eine Zigarette. Ja, ja ich weiß! Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit. Das hatten mir die alten Herrschaften auch schon oft genug vorgebetet – und es hatte sogar gewirkt. Hatte ich in meinen schlimmsten Zeiten zehn, fünfzehn Kippen am Tag in die Luft geblasen, war ich mittlerweile runter auf ein oder zwei. Tendenz weiter abnehmend. Ich hatte mir fest vorgenommen ganz aufzuhören, schon wegen des Geldes, aber völlig war ich noch nicht losgekommen.
Wer jetzt glaubt, ich hätte mich zum gemütlichen Inhalieren in der Küche oder im Wohnzimmer niederlassen können, der irrt gewaltig. Kaum sah meine Mutter Zigarette und Feuerzeug, als sie mich auch schon nach draußen komplimentierte.
»Hier drin wird nicht rumgestunken!«
Also wieder raus in die Kälte. Diesmal nutzte ich den Hinterausgang, trat gesenkten Kopfes mit aktiviertem Feuerzeug und Zigarette im Mund durch denselbigen, drückte die Tür mit dem Fuß zu, sah auf ... und bekam einen gepfefferten Schock! Neben unserem Auto stand ... der Minivan vom Bäckereizwischenfall! Er sollte es zumindest sein, zwei von der Sorte mit aufgepapptem Skiträger dürften in dieser dünnbesiedelten Gegend kaum herumfahren, oder?
Langsam, die glimmende Zigarette im Mundwinkel vergessend, tastete ich mich an das Auto heran. Ein quittegelber Chrysler (also so eine Farbe konnte nur ein kulturloser Hetero auswählen!) stand vor mir, auf der hinteren Sitzreihe lagen ein paar Gameboyspiele und irgendein Pferdebuch herum. Im Kofferraum standen Skischuhe, auch Skistöcke fanden sich. Das sah mir ganz nach Alpinprofis aus, nicht gerade nach verwitweten Wollbändigerinnen. Woher kamen die eigentlich?
Ich warf einen Blick auf das Kennzeichen und mich traf fast der Schlag. Nein, die kamen nicht aus unserer Stadt! So einfach ist das Leben nun auch wieder nicht gestrickt. Aber sie kamen aus dem um unsere Stadt herumliegenden Landkreis ;-)
Während nun meine Gedanken anfingen zu wandern, hörte ich hinter mir plötzlich ein sowohl rumpelndes als auch irgendwie rutschendes Geräusch. Ich drehte mich um und schaffte das gerade noch rechtzeitig, um von der Mutter aller Dachlawinen in einem vollen Frontalcrash erwischt zu werden! Das Haus verfügte über ein tief reichendes Spitzdach, und von Selbigem kamen mir nun dreißig Zentimeter Pulverschnee in voller Dachbreite und -länge entgegengerutscht. Aber der Pulverschnee kam nicht alleine, ich war schon völlig eingewirbelt, als mich plötzlich irgendetwas Hartes an der Brust traf und mich nach hinten gegen den Minivan schleuderte. Mein Hinterkopf traf auf Blech, und mein Bewusstsein löste sich in schneevernebeltes Wohlgefallen auf ...
Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich im Wohnzimmer unserer Ferienunterkunft wieder. Allzu viel Zeit konnte wohl nicht vergangen sein, denn man war gerade erst damit beschäftigt, mich von den Stiefeln zu befreien. Das Zwinkern meiner Augen wurde sofort bemerkt, und meine besorgte Mutter schob sich in mein Blickfeld.
»Sören! Da bist du ja wieder! Wie geht es dir, hast du irgendwelche Schmerzen? Nun sprich schon!«
»Heike, nun lass den Jungen doch erstmal zu sich kommen!«
Die Stimme der Vernunft, diesmal im Tonfall meines Vaters. Ich lauschte in mich hinein – außer einem leichten Pochen im Hinterkopf und irgendeinem Brennen in Nähe der Nasenspitze war nichts Verdächtiges festzustellen. Den Kopf ein wenig anhebend schaute ich in die Runde – und wäre beinahe wieder in Ohnmacht gefallen! Da stand doch tatsächlich das göttliche Wesen vom Bäckerladen, keine drei Meter von mir entfernt, und lächelte mich verlegen an! War ich noch am Leben oder war ich doch schon im Himmel gelandet?
Wohl doch Ersteres, denn die Stimme meines Vaters riss mich in die Realität zurück.
»Na, Großer, wie siehts aus. Alles in Ordnung?«
»Ja, ich denke schon. Bloß mein Hinterkopf tut weh. Und irgendwas ist mit meiner Nase.«
Paps lachte los, und ich sah ihn mit berechtigtem Unverständnis an.
»Tja, Junge, das hast du nun von deiner Raucherei! Du hast das Ende der brennenden Zigarette auf die Nasenspitze bekommen.«
Hm, das war eine einleuchtend klingende Erklärung. Meine arme Nase! Hoffentlich blieb da nichts zurück ...
»Aber keine Angst, das ist nicht richtig verbrannt, nur ein wenig gerötet.«
Puh, Zeit erleichtert aufzuatmen.
»Vati, was ist eigentlich passiert? Ich erinnere mich nur noch an eine Wand aus Schnee, einen Schlag auf die Brust, einen Aufschlag mit dem Hinterkopf und dann ist alles schwarz.«
»Äh ... sorry ... aber das ist wohl meine Schuld.«
Gott jr. konnte sprechen! Und er sprach mit mir! Mit schiefgelegtem Kopf, hochrot wohlgemerkt, lächelte er mich noch verlegener an als zuvor.
»Ich hatte gerade Weihnachtsdeko am Schornstein angebracht und wollte wieder runterklettern, da ist der ganze Schnee ins Rutschen gekommen – und ich mit ihm. Blöderweise bin ich auch noch genau dort runtergekommen, wo du standest, und habe dich dann gegen unser Auto geworfen. Tut mir wirklich leid. Kannst du mir nochmal verzeihen?«
Darüber würde ich im Laufe der nächsten Tage nochmal scharf nachdenken müssen. Ach Quatsch, natürlich konnte ich!
»Klar, kein Problem, ist ja nicht viel passiert. Außerdem war es ja keine Absicht.«
Große Erleichterung machte sich auf dem Gesicht meines noch unbekannten Gegenübers breit.
»Wow, danke! Und ich hatte schon befürchtet, du würdest mich jetzt hassen.«
Hassen, ihn? Niemals!
»So, Jungs, jetzt aber erstmal Schluss mit den Höflichkeiten. Ihr müsst raus aus den nassen Klamotten, und dann schaue ich mir Sörens Hinterkopf mal etwas genauer an. Keine Bange, Sören, ich bin Arzt.«
Aha, das war dann wohl der Vater meines Attentäters. Für den ich immer noch keinen Namen hatte.
»Sag mal, wie heißt du eigentlich? Ich meine, meinen Namen kennst Du ja nun schon ...«
»Ich bin Pascal.«
»Und Pascal geht jetzt hoch in sein Zimmer und zieht die durchgeweichten Klamotten aus!«
Die Mutter meiner neuen Bekanntschaft schaltete sich ein – und ich bekam zum ersten Mal mit, dass ich mich nicht in unserem Wohnzimmer befand, sondern offensichtlich in dem der Nachbarn! Aber Moment mal, wieso waren eigentlich unsere Klamotten so nass?
Pascals Vater deutete meinen fragenden Blick auf meine tatsächlich klatschnasse Jacke richtig.
»Ihr seid beide für zwei, drei Minuten zum Teil unter dem Schnee verschüttet gewesen, zum Glück haben die Köpfe rausgeschaut. Aber eure Sachen sind ziemlich nassgeworden, vor allem weil wir euch dann völlig schneebedeckt so schnell es ging reingebracht haben. Pascal hat nur einen gewaltigen Schrecken bekommen, aber dich hat es etwas heftiger erwischt. So, soll dir jemand aus den Sachen helfen oder schaffst du das alleine?«
Das würde ich wohl gerade noch schaffen, also setzte ich mich auf und begann mich aus Jacke, Pullover und Hose zu schälen. Kurz darauf saß ich – wenig elegant, aber das war mir im Moment einigermaßen egal – nur noch in T-Shirt und langer Unterhose sowie Kniestrümpfen auf der Couch. Es war gut geheizt, trotzdem fröstelte ich ein wenig.
»Keine Bange, sobald sich Herr Sauter deinen Kopf angeschaut hat, stecken wir dich gleich in ein heißes Bad zum Aufwärmen. Und heiße Schokolade bekommst du auch dazu!«
Der mütterliche Beschützerinstinkt hatte bei meiner Frau Mama voll durchgeschlagen. Naja, manchmal konnte das ja auch ganz angenehm sein. Herr Sauter schaute sich meinen Kopf an, war anscheinend ganz zufrieden damit und entließ mich mit der Auflage, unbedingt was zu sagen, wenn ich mich irgendwie schwindelig fühlen sollte. Ich hatte wohl wirklich Glück gehabt – meine dicke Mütze hatte einiges vom Aufprall Holz gegen Blech abgefedert. Trotzdem würde mir der Doktor gleich noch etwas gegen die Schmerzen geben. Und irgendeine Salbe für meine angesengte Nase.
Solchermaßen als mehr oder weniger gesund aus der ärztlichen Fürsorge entlassen, führte mich Mutti in einen Raum am Ende des Hauses, der mir vorher noch gar nicht aufgefallen war. In ihm befand sich ... ein großer, hölzerner Whirlpool! In diesem dampfte heißes Wasser vor sich hin und verbreitete eine einladende, wohlige Wärme.
»Sören, dort sind große Badetücher und Bademänteln. Steig schon mal ins Wasser, ich bringe dir noch eine Schmerztablette und heiße Schokolade. Hast du Appetit auf Kuchen?«
Hatte ich den nicht immer? Ich nickte bestätigend, immer noch etwas überwältigt vom Anblick des dampfenden Wassers. Gar nicht daran denkend, dass meine Mutter noch im Raum war, entledigte ich mich meiner letzten Lage Textilien und kletterte den Einstieg hinauf, mich sodann langsam und vorsichtig in die Fluten versenkend. Ein wohliges Gefühl angenehmer Wärme breitete sich in mir aus, und ich seufzte, zufrieden die Augen schließend und mich zurücklehnend, auf.
Ein leises Kichern aus Richtung meiner Mutter schreckte mich auf.
»Eigentlich wollte ich dir noch sagen, dass dort deine Badehose liegt, aber das scheint ja nicht nötig zu sein. So, bis gleich, schlaf nicht ein.«
Wozu brauchte ich eine Badehose? So schnell bekam mich außerdem keiner mehr aus dem herrlichen Wasser heraus. Kurz darauf – ich hatte mich unterdessen völlig der wohligen Wärme hingegeben – hörte ich erneut die Zimmertür klappen. Da war wohl mein Kaffeegedeck im Anmarsch. Beim Einstieg hatte ich eine Art kleiner Tabletts am Beckenrand entdeckt, die wohl genau dem Zwecke dienten, kulinarische Köstlichkeiten für die Badenden in Griffweite zu deponieren.
»Stell den Kuchen auf das Brett, den Kakao nehme ich gleich in die Hand.«
»Tut mir leid, ich habe nichts dabei. Aber ich kann ja nochmal nachschauen, wo die Futterei bleibt.«
Das war definitiv nicht die Stimme meiner Mutter! Auch nicht die von Paps oder Lasse. Mein Kopf schnellte in Richtung Tür herum, und ich erblickte Pascal, nur mit einem dicken weißen Bademantel angetan. Ich muss einigermaßen schockiert geglotzt haben, denn Pascal schaute mich fragend an.
»Hat dir keiner gesagt, dass ich auch noch komme? Dieser Whirlpool gehört zu beiden Wohnungen, und genug Platz ist ja für uns beide. Wenn es dir nicht unangenehm ist, mit dem Unfallverursacher zu teilen ...«
Jetzt wusste ich auch, warum meine Mutter mir die Badehose anbieten wollte!
»Äh ... nein ... komm ruhig rein. Du musst ja auch durchgefroren sein.«
»Das kannst du laut sagen!«
Pascal entledigte sich des Bademantels und stand nun nur in Retroshorts vor mir. Was für ein Körper! Ich konnte mich gar nicht an ihm sattsehen. Fast völlig haarlos, nur eine schmale Haarspur verschwand vom Nabel abwärts im Bund der Shorts. Hautenger Shorts – wie das diese Retrodinger nun mal an sich haben. Bei dem, was ich darunter erahnen konnte, fiel es mir schwer mich zusammenzureißen.
»Tut mir leid, ich habe keine Badehose mit. Ich hoffe es stört dich nicht, dass ich das Ding hier anhabe.«
Ein lautes Lachen aus Richtung Tür ertönte.
»Haha, Badehose. Dass ich nicht lache. Sören war dermaßen scharf auf das Wasser, dass er sich gar nicht erst die Zeit genommen hat, seine anzuziehen – die liegt immer noch dort drüben.«
Vielen Dank, Mutti! Pascal schaute mich fragend an, und ich spürte, wie die gesammelte Hitze des Whirlpools mir zu Kopfe stieg. Naja, es war wohl eher mein Blut, welches mir in den Kopf schoss. War sogar besser so, wer weiß, wohin es sonst geschossen wäre ...
Jetzt stieg auch Pascal ins Wasser und ließ sich langsam und genüsslich mir gegenüber nieder. Mutti hatte für uns beide Kakao und Kuchen mitgebracht und stellte dies nun an den dafür vorgesehenen Plätzen ab. Ich bekam zusätzlich ein Glas Wasser und eine Kopfschmerztablette.
»So, ich verschwinde wieder. Wenn ihr anfangt, euch im Wasser aufzulösen, könnt ihr ja wieder rausklettern. Handtücher und Bademäntel habt ihr ja hier.«
Also sprach sie und entwich ... Pascal schaute mich grinsend an.
»Du hast wirklich nichts an?«
Noch röter hätte mein Kopf jetzt nur noch mit Hilfe künstlicher Farbe werden können.
»Ich ... äh ... wollte einfach nur ins Wasser!«
»Schon okay. Wenn ich mit meinen Geschwistern hier reingehe, dann auch komplett ohne. Würdest du dich wohler fühlen, wenn ich meine Shorts auch ausziehe?«
Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zustande. Nickte ich zustimmend, weil ich mich wirklich wohler fühlen würde, oder hatte ich da vielleicht ein paar weiterreichende Hoffnungen?
»Okay.«
Pascal fuhrwerkte etwas unter Wasser herum, dann kam seine linke Hand mit dem genannten Kleidungsstück in der Hand zum Vorschein und beförderte Selbiges mit kühnem Schwung in hohem Bogen in Richtung Waschbecken.
»So, jetzt sind wir beide nackt, so wie Gott uns geschaffen hat.«
Also dass Gott ihn geschaffen hatte, davon war ich mittlerweile überzeugt. Solch eine Perfektion konnte nur auf göttlichem Wirken basieren.
»Ah, so ist es doch gleich viel besser. Und, geht es dir wirklich gut? Tut mir echt leid, dass ich dich dermaßen hart erwischt habe.«
»Schon okay. Ist deine Weihnachtsdeko wenigstens oben geblieben oder musst du nochmal raufklettern? Falls ja dann sag es mir bitte rechtzeitig, damit ich mich in sichere Entfernung verkrümeln kann.«
»Ja, ja, das habe ich wohl verdient. Aber keine Angst, das Ding ist oben geblieben, das hatte ich ordentlich befestigt. Hätte ja auch noch gefehlt, wenn das auch noch auf uns draufgekracht wäre.«
»Auf uns? Auf mich meinst du wohl ...«
»Schon gut, schon gut, ich denke du hast mir verziehen?«
»Habe ich auch. Aber den Rest deines Lebens werde ich dich mit diesem Unfall aufziehen.«
Da war wohl der Wunsch der Vater des Gedankens. Den Rest seines Lebens ihn damit aufzuziehen hieße ja, den Rest seines Lebens mit ihm oder zumindest in seiner Nähe zu verbringen. Sicher doch. Und natürlich gab es auch fleißige Beamte ...
»Na da habe ich mir ja was eingebrockt. Woher kommt ihr eigentlich?«
»Eurem Kennzeichen nach ganz aus eurer Nähe. Ihr seid diejenigen, die jeden Samstagvormittag sämtliche Parkplätze unseres Einkaufscenters besetzen.«
»Ihr seid aus ***?«
»Yep. Und ihr?«
»Aus Kuhdorf hinterm Mond. Kommt mir jedenfalls oft so vor. Offiziell heißt das Kaff Trogersdorf.«
»Kenne ich, sind von uns aus gerade mal so zwanzig Kilometer. Da sind wir ja fast Nachbarn. Dort hatten wir vor vielen Jahren mal einen Wandertag von der Schule, wir haben irgendeinen Steinbruch besichtigt. War das eine blöde Latscherei ...«
»Dafür kann man in den alten Steinbrüchen herrlich baden.«
Und sicherlich gab es da auch einen FKK-Strand. Vielleicht sollte ich mich im Sommer doch einmal aufraffen und das Umland mit einem Besuch beehren. Jetzt mit Führerschein sollte das kein so großes Problem mehr sein. Es fehlte nur noch ein fahrbarer Untersatz, aber da würde sich schon in den nächsten Monaten was ergeben.
»Und wie alt bist du?«
»Zwanzig. Gerade geworden.«
»Was? Ich hätte nicht gedacht, dass du zwei Jahre älter bist als ich.«
»War das jetzt ein Kompliment oder eher was Schlimmeres?«
»Das darfst du dir aussuchen. Mit der Schule bist du da wohl schon fertig, oder?«
»Ja, ich mache gerade meinen Zuvieldienst. Essen auf Rädern – hätte schlimmer kommen können. Und du? Noch Schule?«
»Ja, Gumminasium, zwölfte Klasse.«
»Naja, dann hast du es ja auch bald hinter dir.«
Den Stift, um damit die berühmten drei Kreuze zu machen, hatte ich schon bereitgelegt. Während wir uns solchermaßen unterhielten und immer mehr über uns erfuhren, saßen wir uns ganz gesittet gegenüber (obwohl mir das sehr schwer fiel) und vertilgten nach und nach Kuchen und Kakao. Um uns herum blubberte das Wasser, und langsam aber sicher fing ich an, mich wirklich wieder warm und wohl zu fühlen.
»He, Pascal, was war das was du vorhin sagtest, von wegen Geschwistern? Und seid ihr öfters hier?«
»Ja, seit ein paar Jahren kommen wir regelmäßig hier hoch. Meine Geschwister hast du noch gar nicht gesehen, oder? Zwillinge, dreizehn Jahre alt, Toni und Tonja.«
»Toni und Tonja, weiter hat wohl die Phantasie eurer Eltern nicht gereicht?«
»Das solltest du lieber nicht in ihrer Gegenwart wiederholen, die sind richtig stolz auf diese Namenswahl. Aber deine alten Herrschaften scheinen da auch einen kleinen Spleen mit den Namen zu haben, nicht wahr, Sören? Mit einem Bruder namens Lasse?«
Dem konnte ich natürlich nur zustimmen.
»Und du fährst mit 20 noch mit deinen Eltern zusammen in den Urlaub?«
»Klar, warum nicht? Wir verstehen uns prima, und außerdem gefällt es mir hier. Ist so richtig gemütlich und romantisch.«
»Wo du dich hier so gut auskennst: Gibt es hier irgendein interessantes Nachtleben? Discos, Bars, hübsche Mädchen?«
Ja, ja, ich weiß, Selbstverleugnung ist bäääh. Aber die Rolle des hochgradig normalen Hetero-Teenagers hatte ich beinahe schon perfektioniert. Und die zehn Tage in Pascals Nähe wollte ich mir nicht durch ein voreiliges Outing verderben. Wer weiß, wie der darauf reagieren würde.
»Sorry, aber für junge Leute gibt es hier nicht soviel, das ist hier eher ein Familienurlaubsort. Wenn du irgendwo hinwillst, wo die Post abgeht, musst du mit Auto oder Bus fahren.«
»Und das stört dich nicht?«
»Nö, eigentlich nicht, ich habe es gerne mal etwas ruhig. Disco ist nicht so mein Ding, auf Barumzüge mit Sauferei stehe ich auch nicht, und hübsche Mädchen ...«
»Ja?«
»Naja, auf die Gefahr hin, dass du schreiend aus dem Wasser springst: Ich kann mit Mädchen nichts anfangen, ich steh auf Jungs.«
Und wieder hatte ich das Gefühl einen Schlag vor den Kopf zu bekommen. Das konnte doch nicht wahr sein!
»Du ... du bist ... du bist ...«
»Schwul. Ich nehme an, das ist das Wort, welches du gesucht hast. Ja, ich bin schwul. Hast du damit ein Problem?«
»Ich ... äh ...«
»Schon okay, ich habe verstanden. Ich verschwinde und werde dich nicht mehr belästigen. Sorry.«
Mit diesen Worten machte Pascal Anstalten sich aus dem Wasser zu erheben – und das konnte ich nun wirklich nicht zulassen!
»Nein! Bleib! Ich ... ich bin es doch auch!«
Mit einem ungläubigen, aber auch erleichterten Gesichtsausdruck ließ sich Pascal zurück ins Wasser sinken.
»Meinst du das ernst?«
»Ja. Es ist bloß ...«
»Du hast es noch nie vorher jemandem gesagt, oder?«
»Knapp daneben. Meine Eltern wissen es, sonst niemand.«
»Und, wie haben die das aufgenommen?«
»Ganz cool, du siehst ja, ich lebe noch. Und lebe noch bei ihnen.«
»Dein Bruder weiß nichts?«
»Nein, aber ich denke dem werde ich das auch bald sagen müssen. Wenn er es sich nicht eh schon längst zusammengereimt hat.«
»Wäre durchaus möglich. Als ich es meinen Eltern gesagt habe, wussten die es auch schon längst.«
»Wie das denn?«
»Ich war wohl ein klein wenig auffällig beim Niedliche-Jungs-Hinterhergucken. Und wie war es bei dir?«
»Meine Eltern haben mich auf den Kopf zu gefragt, ob ich schwul bin. Naja, und ich war nie der Typ, der jemandem direkt ins Gesicht lügen konnte, ganz besonders nicht meinen Eltern. Vermutlich haben sie es ähnlich herausgefunden wie die Deinigen.«
»Besser so, als wenn sie aus allen Wolken gefallen wären und nicht damit klarkommen würden.«
»Stimmt auch wieder. Und was ist mit den Zwillingen, wissen die es auch?«
»Ja, die haben mich blöderweise auf frischer Tat ertappt. Ich war gerade mit meinem damaligen Freund beim Knutschen im Wohnzimmer, als die beiden ganz unerwartet hereinplatzten. Die waren damals gerade mal 11, da hatte ich einiges zu erklären.«
»Und?«
»Die haben es auch gut verkraftet – vielleicht gerade weil sie noch nicht alt genug waren, um schon durch pubertierende Sprücheklopferei verdorben zu sein. Da könntest du mit deinem Brüderchen schon eher Probleme bekommen. Der muss doch auch etwa so alt sein wie Tonja und Toni. Oder sogar schon etwas älter?«
»Lasse ist 14 – und ich hoffe du hast Unrecht. Mist, ich sollte es ihm wohl tatsächlich bald mal sagen, bevor er es irgendwie hintenherum mitbekommt oder selber herausfindet.«
Wenn man den Esel nennt – kommt er gleich gerennt. Mit lautem Poltern flog die Tür auf, und mein kleiner Bruder kam hereingestürmt.
»Mein Gott, wie lange wollt ihr denn noch in der Brühe rumhocken? Ihr müsst doch langsam aufquellen wie Wasserleichen!«
Ich schaute auf meine (wasserdichte) Uhr – tatsächlich: Wir saßen schon gut anderthalb Stunden im Wasser! Es war mittlerweile kurz vor sechs – fast schon wieder Zeit fürs Abendessen.
»Hier, Sören, Mutti hat gesagt du sollst dir gleich den Schlafanzug an- und nur noch einen Bademantel drüberziehen. Hat keinen Sinn, dass du dich nochmal groß anziehst, heute gehen wir eh nicht mehr raus.«
Das hatte ich tatsächlich nicht vor, ich hatte für heute genug von allem was mit Schnee, Eis und Minusgraden zu tun hatte.
»Pascal, deine Mutter sagt du sollst hochgehen und dich auch gleich so anziehen und dann zu uns ins Wohnzimmer runterkommen. Abendbrot gibt es bei uns.«
Sprachs und verschwand in einer Wolke von Selbstzufriedenheit. Hatte er doch seinen großen Bruder mal wieder mit mütterlicher Genehmigung antreiben dürfen.
Das alles führte natürlich zu einem gewissen Problem. Hatten wir uns bisher zwar nackt, aber vom Wasser recht gut verborgen, gegenübergesessen, so führte nun kein Weg daran vorbei, die vor gierigen Blicken schützenden Fluten zu verlassen. Was würde wohl passieren, wenn ich Pascal gänzlich unbekleidet sehen würde – und er mich ebenso? Würde sich bei mir ein bestimmtes Körperteil nachhaltig zu Wort melden – oder würde ich vor lauter Nervosität und Scham im Boden versinken? (Falls der Leser es noch nicht bemerkt haben sollte: Ich bin noch Jungfrau! Mit 18 Jahren!
...
So, wenn jetzt alle Lachanfälle verklungen sind, kann ich vielleicht weitererzählen! Vielen Dank auch!) Ähnliche verfängliche Situationen erlebte ich einigermaßen regelmäßig beim Handball- oder Ballett-Training – allerdings waren da immer gleich viele Jungs auf einem Haufen. Eine solche eher intime Eins-zu-eins-Situation hatte ich nur selten erlebt. Und noch nie mit jemandem, von dem ich wusste, dass er auch auf Jungs steht und der dies zu allem Überfluss auch noch von mir wusste. (Ich weiß, was jetzt kommt: Wenn der Typ zum Ballett geht, dann muss er ja schon haufenweise Schwulen begegnet sein. Schön wärs. Außer mir gab es noch drei Jungs in meiner Gruppe – und alle waren hochgradig hetero. Oder halt genauso gute Schauspieler wie ich.)
Wahrscheinlich machte ich mir mal wieder viel zu viele Gedanken, denn im nächsten Moment sprang mein Gegenüber regelrecht auf.
»Na dann los, raus hier, bevor wir uns wirklich noch auflösen.«
Mit diesen Worten stand Pascal auf, und in einem geschmeidigen Bewegungsablauf, der mir gar keine Zeit ließ, meine Augen großartig über Regionen wandern zu lassen, in die sie nicht hingehörten, verließ er den Bottich. Bevor ich überhaupt irgendwie reagieren konnte, begann Pascal bereits sich mit einem gewaltigen Badetuch abzutrocknen.
»Los, raus mit dir, ich versprech auch nicht hinzugucken.«
Hatte da jemand meine Gedanken erraten? Jedenfalls half alles nichts, auch ich musste die wässrige Deckung verlassen. Ich erhob mich und klettere aus dem Whirlpool, dabei vor Nervosität beinahe das Gleichgewicht verlierend. Geradeso schaffte ich es heil auf dem Zimmerboden anzukommen, und ich dreht mich schnell in Richtung der Handtuchstapel, Pascal dabei mein Hinterteil zuwendend. Das hätte ich wohl lieber nicht tun sollen, denn ...
»Autsch!«
Mein Mitbader fand anscheinend Spaß daran, ein Attentat nach dem anderen auf mich zu verüben. Diesmal fand ein nasses Handtuch den Weg auf meinen nackten Hintern, nicht voll durchgezogen, aber doch ziemlich spürbar. Empört drehte ich mich meinem Angreifer entgegen, dabei völlig vergessend, dass ich ihm auf diese Weise meine eben noch schamhaft verborgene Frontseite zuwandte.
»Was soll das?«
»Sorry, das konnte ich mir beim Anblick deines niedlichen Knackarsches nicht verkneifen.«
Soso, ich hatte also einen niedlichen Knackarsch. War das jetzt ein Kompliment oder sollte ich das eher als Beleidigung auffassen. Ich meine ... niedlich? Muskulös, wohlgeformt – okay. Aber niedlich? Das »Knack« war da schon eher nach meinem Geschmack. Aber eigentlich war ich mir sicher, dass Pascal das alles positiv gemeint hatte. Und wenn er es positiv gemeint hatte, dann ... Meine Gedanken rasten, und mein Blut konnte sich nicht so recht entscheidend ob es in den Kopf oder in ein anderes Körperteil eilen sollte.
»Hat es sehr weh getan?«
»Äh ... nein. Alles in bester Ordnung.«
Schließlich konnte ich ihm gegenüber nicht zugeben, dass es doch ganz schön gezwiebelt hatte. Fehlte gerade noch, dass ich als Weichei oder Memme rüberkam. Ich meine, vielleicht war ich das ja, aber zugeben würde ich das natürlich niemals!
»Das sieht man ...«
Sein Blick wanderte meinen Körper hinab, wo Klein-Sören damit beschäftigt war, die Situation zu analysieren. Pascals Bemerkung jedoch sorgte nun für eine sofortige Entscheidung über die Blutverteilung, und der gesamte Lebenssaft versammelte sich in meinem Kopf, diesem die Farbe einer überreifen Tomate gebend. Okay, sehen konnte ich das in diesem Moment natürlich nicht, aber ich kannte das Gefühl nur zu gut. Klein-Sören passte diese Entscheidung überhaupt nicht, und er ließ sich beleidigt hängen.
Ich muss wohl eine ganze Weile ziemlich verdattert dagestanden sein, denn ich kam erst wieder so richtig zu mir, als Pascal mir ein flauschiges Badetuch in die Hand drückte.
»Hier, abtrocknen. Ich gehe hoch mich umziehen.«
Prima, noch jemand der glaubte, mich herumkommandieren zu können. Ich begann mich abzutrocknen, und dabei versuchte ich die Geschehnisse der letzten Stunden etwas aufzuarbeiten. Pascal war schwul. Und er wusste, dass ich es auch war – auch wenn mir immer noch schleierhaft war, woher ich den Mut genommen hatte, ihm das zu gestehen. Er hatte einen Wahnsinnskörper und zu allem Überfluss fand ich ihn auch so äußerst sympathisch. Er hatte mein Hinterteil als »niedlichen Knackarsch« bezeichnet (ein kurzer Blick über die Schulter zeigte mir einen deutlichen roten Striemen quer über besagtes Körperteil) und das wohl als Kompliment gemeint. Konnte es sein, dass er was von mir wollte? Aber das konnte ich mir eigentlich nicht vorstellen. Ich meine, was sollte er, gottgeschaffener Adonis, geoutet und mit sich und der Welt im Reinen, offensichtlich auch durchaus erfahren, von einem eher durchschnittlichen, ungeouteten, unerfahrenen, hochgradig schüchternen, absolut jungfräulichen, verschämten Typen wie mir wollen? Einer mit seinem Aussehen und Auftreten konnte sich doch die Jungs aussuchen, warum sollte er da ausgerechnet auf mich kommen? Außerdem war er doch bestimmt schon in festen Händen. All das betete ich in meinem Kopf hoch und runter – und trotzdem gelang es mir nicht so ganz, den kleinen Hoffnungsfunken der da irgendwo in einem Winkel meiner Gehirnwindungen vor sich hin glühte, zu ersticken.
Wie üblich vertrödelte ich mit der Grübelei jede Menge Zeit, bis ich irgendwann bemerkte, dass ich ein reichlich feuchtes Handtuch über einen eigentlich längst trockenen Körper rieb. Ich zog mir den brüderlich zugestellten Schlafanzug an, ein paar warme Socken über die Füße, und der Bademantel komplettierte das abendliche Outfit. Und so sollte ich mich vor fremden Leuten zeigen? Okay, zuhause kam es schon vor, dass ich mal bis zum Mittagessen so herumlief, aber da waren ja auch nur Eltern und Bruder Zeugen. Naja, was solls, zumindest würde Pascal ähnlich gewandet erscheinen.
Ich machte mich auf den Weg in unser Wohnzimmer, erwartend dort bereits eine riesige Menschenmenge vorzufinden und nun endlich auch Pascals Geschwister kennenzulernen. Entsprechend überrascht war ich, als dort zwar bereits ein reichlich gedeckter Tisch mit vielen Stühlen auf mein Erscheinen wartete, an menschlicher Raumausstattung jedoch nur mein Vater anwesend war.
»Da bist du ja. Sind dir schon Schwimmhäute zwischen den Zehen gewachsen?«
»Ist mir nicht aufgefallen. Aber sag mal, wo sind die anderen denn alle? Ich denke hier steigt ein großes, interfamiliäres Festessen?«
»Keine Angst, du wirst schon nicht verhungern. Wir haben beschlossen, dass die Kleinen auch schnell noch unter die Duschen springen und dann Schlafsachen anziehen sollen – damit ihr zwei Großen euch nicht so deplatziert vorkommt.«
Das klang logisch und durchaus angenehm – da würde sich Lasse wenigstens die sonst zu erwartenden Sticheleien verkneifen müssen.
»Okay. Ist noch irgendwas zu helfen?«
»Nein, ist schon alles erledigt. Mach es dir irgendwo bequem, ein halbes Stündchen wird es sicher noch dauern. Was machen eigentlich deine Blessuren?«
Genau, was machten die eigentlich? Also die Kopfschmerzen waren schon kurz nach der Tablette verschwunden, und die Nase hatte ich mir während des Bades mit Salbe eingeschmiert, sodass sie mich nicht mehr plagte.
»Scheint alles okay zu sein.«
»Na dann ist ja gut. Und schwindlig ist dir auch nicht?«
»Nö, alles in Ordnung.«
»Gut. Also setz dich irgendwo hin.«
Ich wanderte zu einem riesigen, plüschigen und weichen Sessel direkt am Kamin, den ich bereits am Vorabend zu meinem Lieblingsplatz auserkoren hatte, und ließ mich darin nieder. Was mich sofort an eine weitere Verwundung erinnerte, über die ich aber meinem Vater gegenüber lieber Stillschweigen bewahrte. Ich sage nur: Knackarsch.
Ich saß kaum, da kam bereits meine Mutter ins Wohnzimmer und bepflasterte mich mit den gleichen Fragen mein Wohlergehen betreffend wie kurz zuvor mein Vater. Versöhnt wurde ich allerdings dadurch, dass sie mir ein weiteres Glas heiße Schokolade mitbrachte.
»Hat Paps dir erzählt, dass wir mit dem Essen noch ein wenig warten?«
»Ja, ich werde es schon aushalten.«
»Gut. Und, wie war es so mit Pascal in einer Wanne?«
»Prima. Aber du hättest mich ruhig vorwarnen können, da hätte ich mir natürlich die Badehose angezogen!«
»Ha, vorwarnen, wie denn? Du konntest dich ja nicht schnell genug ins Wasser stürzen. War es so schlimm?«
»Nö, er hat seine dann auch ausgezogen.«
»Hilfe, muss ich anfangen mir Sorgen zu machen?«
»Worum denn?«
»Du weißt schon!«
»Um dich zu beruhigen: Es ist nichts passiert. Und wahrscheinlich wird auch nichts passieren.«
Dass Pascal auch schwul war, behielt ich erstmal für mich – wer weiß, ob es ihm recht wäre, wenn ich das rumerzählen würde. Außerdem: was würde meine Mutter sich erst einbilden, wenn sie das wüßte?
»Okay. Aber ein süßer Bengel ist das schon, oder?«
»Mutti!!!«
»Schon gut, schon gut. Ich halte meine Klappe und denk mir meinen Teil.«
War das jetzt eine Drohung gewesen?
»Mutti ...«
»Ja?«
»Ich habe mir überlegt ... naja ... ich denke es ist an der Zeit, dass ich es Lasse sage. Irgendwann diesen Urlaub.«
»Na endlich! Das halte ich für eine gute Idee. Würde mich allerdings nicht wundern, wenn der bereits was ahnt. Er ist ein helles Köpfchen.«
Musste sie nun auch noch meine diesbezüglichen Befürchtungen erhärten?
»Was meinst du, wie wird er reagieren?«
»Sören, dein kleiner Bruder ist nicht mehr so klein. Ich glaube nicht, dass du dir groß Sorgen zu machen brauchst. Er wird höchstens beleidigt sein, weil du es ihm jetzt erst anvertraust.«
Naja, das hätte ich dann wohl auch verdient. Schließlich hatte Lasse mir bisher alles anvertraut, sogar als er vor rund einem Vierteljahr mit seiner Freundin seine Jungfräulichkeit verloren hatte. Ich durfte gar nicht daran denken! Der Stift war vier Jahre jünger als ich und schaffte das, wovon ich bisher nur träumen konnte! Naja, wenigstens hatten meine Predigten bezüglich Safersex Wirkung gezeigt. Zumindest seinen Schilderungen nach.
»So, ich werde mal in die Küche verschwinden und die Bockwürste aufsetzen – lange kann es jetzt eigentlich nicht mehr dauern.«
Meine Mutter ließ mich alleine im Wohnzimmer zurück, und ich nutzte die Gelegenheit, einen Blick in die hiesige Dorfzeitung zu werfen. Ah ja. Pünktlich zu Weihnachten war ein großer Korruptionsskandal im Rathaus aufgedeckt worden – irgendwie glichen sich die Nachrichten überall.
Vor mir schlechte Nachrichten, neben mir ein flackerndes, Hitze verströmendes Kaminfeuer, unter mir ein gemütlicher Sessel, dazu eine heiße Schokolade und die Anstrengungen der letzten beiden Tage sorgten dafür dass ich es tatsächlich fertigbrachte innerhalb kürzester Zeit einzunicken. Geweckt wurde ich dadurch, dass sich irgendwer an der von mir gehaltenen Zeitung zuschaffen machte.
»Huh?«
Meine Augen waren zwar recht schnell aufgegangen, mein Sprachzentrum brachte aber noch keine wirklich aussagekräftigen Sätze zustande.
»Sorry, ich wollte dich nicht wecken, nur mal einen Blick in den Sportteil werfen.«
Und wieder einmal war es Pascal, der es schaffte, meinen Kopf zum Glühen zu bringen. Einschlafen, so früh am Abend, wie ein kleines Kind! Also wirklich, was war eigentlich in letzter Zeit mit mir los? Ich stolperte ja aus einer peinlichen Situation in die nächste.
»Äh ... ja ... nimm nur!«
»Danke.«
Sprachs, griff zur Zeitung und setzte sich damit in einen zweiten Sessel mir schräg gegenüber. Während Pascal sich nun in die Zeitung vertiefte, nutzte ich die Zeit mich in ihn zu vertiefen. Also in seinen Anblick. Auch er trug einen Bademantel, darunter schauten enganliegende dunkelgrüne Hosenbeine hervor, die am unteren Ende in rotkarierten Hüttenschuhen ausliefen. Seine Hände guckten aus ebenso grünen Hemdsärmeln heraus und sein Kopf aus einem grünen Kragen mit Reißverschluss. Als ich meinen Blick noch weiter nach oben wandern ließ, musste ich feststellen, dass mein Gegenüber längst nicht mehr in der Zeitung las, sondern mich grinsend dabei beobachtete, wie ich ihn von unten nach oben begutachtete.
»Na, zufrieden?«
»Äh ... ja ... wieso?«
»Naja, du hast mich so angestarrt als würdest du ein Prädikat vergeben müssen. Welches bekomme ich denn?«
»Ich könnte mich wohl zu einem ›ausreichend‹ hinreißen lassen.«
»Was, nur ›ausreichend‹? Und ich hätte gedacht, dass ich zumindest für ein ›befriedigend‹ gut wäre!«
Befriedigend! Oh, das könnte er tatsächlich sein, aber ob er daran interessiert wäre? Allerdings ... seine ständigen Anspielungen machten mich in meiner bisherigen Hoffnungslosigkeit doch etwas unsicher.
Lange Zeit darüber nachzugrübeln hatte ich allerdings nicht, denn schon im nächsten Moment sprang die Zimmertür auf, ein blonder Wirbelwind stürmte hinein und landete kurz darauf mit einem solchen Schwung auf meinem Schoß, dass es mir erstmal die Luft nahm.
»Uffffz! Sag mal, Lasse, hat dir schon mal jemand beigebracht, dass du seit ein paar Jahren zu schwer bist, um mal so eben Leuten auf den Schoß zu springen?«
Mein kleiner Bruder grinste mich selbstzufrieden an.
»Nö. Und selbst wenn: Das wäre mir ziemlich egal!«
Körperliche Nähe war in unserer Familie durchaus üblich, bei uns wurde viel umarmt usw. usf. Lasse war – auch wenn er oft einen auf bereits erwachsen machte – insgesamt doch ziemlich zuneigungsbedürftig und vergaß öfters einmal, dass solche Aktionen nicht unbedingt dem Image eines »coolen Teenagers« zuträglich waren. Jetzt zwängte er sich neben mich in den Sessel, welcher zwar für mich angenehm groß, für zwei jedoch nun wirklich nicht gedacht war.
»Hi Pascal!«
»Hai zurück.«
»Was ist mit deinen Geschwistern, kommen die auch?«
»Klar, aber die trödeln noch mehr als dein großer Bruder.«
»Glaube ich dir nicht. Noch mehr trödeln als der? Geht gar nicht.«
Vielen Dank aber auch, das musste ja kommen. War heute »Alle-hacken-auf-Sören-herum-Tag«?
»Du musst es ja wissen, schließlich lebst du mit ihm zusammen.«
Weitere Sticheleien blieben mir nur dadurch erspart, dass genanntes Zwillingspaar fast genauso schwungvoll wie kurz zuvor mein eigenes Brüderchen ins Zimmer gepoltert kam.
»Gibt es hier was zu essen?«
»Toni! Also wirklich, wir sind hier eingeladen! Benimm dich mal entsprechend!«
Der Gescholtene verzog sein Gesicht zu einer recht bemüht aussehenden schuldbewussten Miene und reagierte ansonsten überhaupt nicht auf die ihm ins Zimmer folgende Elternschaft.
»Geht gleich los, ihr könnt euch schon alle an den Tisch setzen!«
Die Stimme meiner Mutter, aus der Küche heraustönend, versprach Besserung auch für meinen langsam Nachschub benötigenden Magen. Ich stieß Lasse aus dem Sessel und erhob mich anschließend selbst, um mich kurz darauf am Tisch wieder niederzulassen. Auch das restliche Jungvolk nahm die Plätze ein, während Pascals Eltern in Richtung Küche abzogen – wohl um zu fragen, ob sie irgendwie helfen konnten. Und tatsächlich, es dauerte nicht lange und alle vier Elterneinheiten kamen aus der Küche marschiert, die Hände voller Schüsseln und Teller.
Die Beschreibung der folgenden Nahrungsaufnahmezeremonie verkneife ich mir hier – das Bild von fünf hungrigen Teenagern im Angesicht gut gefüllter Teller dürfte auch so in allen Leserköpfen deutlich zum Vorschein kommen. Okay, Pascal war eigentlich kein Teenager mehr, aber er hatte noch nicht verlernt, sich am Tisch wie ein solcher zu benehmen ;-)
Etwa eine halbe Stunde später waren wir abgefüttert und hatten in den Lebensmittelvorräten gewaltige Lücken hinterlassen. Nun war es auch wieder möglich, sich einigermaßen gesittet zu unterhalten.
»So, was machen wir nun mit dem angefangenen Abend?«
Interessante Frage, die meine Mutter da auf die Tagesordnung setzte. Die erste Antwort kam von Toni.
»Ich spiele mit der Playstation! Lasse, kommst du mit?«
»Ihr habt eine Playstation mit? Cool! Klar komme ich mit!«
Womit die ersten Beiden von der Tafel aufsprangen und das Zimmer verließen.
»Ich gehe hoch, mein Buch lesen.«
Das war Zwilling Nummer zwei, womit die Tischrunde auf sechs Personen schrumpfte.
»Und, was macht ihr zwei Großen?«
Sah ich da ein verdächtiges Zwinkern in den Augen meines Vaters? Ich drehte mich zu Pascal um.
»Playstation 1 oder 2?«
»2.«
»Irgendeine Chance da auch ranzukommen?«
»Sicher. Wir brauchen bloß Toni und deinen Bruder in den Schrank zu sperren ...«
»Untersteht euch! Die werden euch schon auch mal spielen lassen. Dass ihr nicht die Playstation in Beschlag nehmt und die Jungs nur zugucken lasst!«
Würden wir doch niiiieeee machen! Niemals. Ehrlich. Hoch und heilig geschworen ...
Der Abend wurde dann noch wirklich gemütlich, wir wechselten uns bei der Spielerei ab, kippten ein, zwei Gläser Glühwein (also Pascal und ich, unsere jüngeren Geschwister bekamen trotz aller Proteste nur mal einen »wönzigen Schlock« und mussten ansonsten bei heißer Schokolade bleiben) und quatschten ansonsten über alles Mögliche. Im Beisein von Toni und Lasse hielt sich Pascal mit seinen Anspielungen sehr zurück, ich hatte jedoch das Gefühl, dass er und Toni vielsagende Blicke wechselten. Konnte aber auch sein, dass ich mir das alles wieder einmal nur einbildete ...
So gegen 22 Uhr ließen wir den Abend dann ausklingen, schließlich warfen große Ereignisse ihre Schatten voraus. Am nächsten Tag war Heiligabend, das hieß unter anderem, dass der Baum geschmückt werden mußte – und das war zumindest in unserer Familie ein nicht zu unterschätzendes Ritual! Eines, vor dem ich mich allerdings liebend gern gedrückt hätte – aber dazu später mehr.
Ich zog mich jedenfalls mit Lasse in unser Schlafzimmer im oberen Stockwerk zurück und ließ mich dort in die weichen Federn fallen. Das war genau das, was ich jetzt brauchte, mein Körper atmete nach des Tages Anstrengungen regelrecht auf!
Allerdings sollte ich noch nicht zur Ruhe kommen, denn neben mir ließ sich mein kleiner Bruder ins Bett sinken. NEIN! Also wirklich! Eine Unverschämtheit sowas von mir zu denken! Zwischen uns ist alles absolut und vollkommen harmlos! Es war halt so, dass dieses Zimmer nur über ein großes Doppelbett verfügte, welches wir uns brüderlich teilen mussten. Also nun ganz schnell hinweg mit den schmutzigen Gedanken!
Ich räkelte mich also in den Federn herum und wollte gerade den Mund öffnen um Lasse eine gute Nacht zu wünschen, als dieser mich ansprach.
»Na, wie gefällts dir hier?«
Interessante Frage. Ich meine, an meiner Einstellung zur hiesigen Gegend hatte sich nichts geändert, allerdings ... allerdings gab es da etwas – oder genauer gesagt: jemanden – der mir den Aufenthalt etwas versüßte. Auch wenn ich noch keinen blassen Schimmer hatte, was ich von der ganzen Situation nun wirklich halten sollte.
»Ist ganz okay.«
»Nur okay?«
»Ja. Wieso?«
»Naja, ich dachte ... so mit Pascal ... da gefällt es dir hier doch sicher gleich viel besser, oder?«
Wäre ich nicht zu müde gewesen, hätte ich jetzt vor Schreck im Bett gestanden – so aber beschränkte ich mich darauf einen Herzinfarkt zu erleiden. Gut, gut – so ernst war es nicht, aber der Schrecken ging mir schon durch alle Glieder.
»Wie ... wie ... wie meinst du das?«
»Ach komm, großer Bruder! Ich steh zwar noch nicht kurz vor der Rente so wie du, aber geistig minderbemittelt bin ich nun auch wieder nicht! Seit dir Pascal begegnet ist, läuft dir doch regelrecht der Sabber aus den Mundwinkeln!«
»Ich ... äh ... aber ...«
»Denkst du wirklich, ich hätte noch nicht kapiert, was mit dir los ist?«
»Äh ...«
»Dann solltest du vielleicht nicht mehr ganz so offensichtlich Jungs hinterhergucken. Eigentlich ein Wunder, dass es zum Beispiel Steffen noch nicht bemerkt hat, wie du ihn immer anglotzt.«
Ups. Steffen. Steffen spielte in meiner Handballmannschaft – und war wirklich eine Augenweide. Allerdings absolut hetero – was mich natürlich nicht davon abhielt, mir ab und an Stoff für ein paar nette Phantasien bei seinem Anblick zu besorgen. Aber war ich wirklich so leicht durchschaubar?
»Lasse ... merkt man mir das so deutlich an?«
»Naja, nicht unbedingt. Nur wenn man einen gewissen Verdacht hat und extra darauf achtet. Ich meine, du lispelst nicht, du wackelst nicht mit dem Arsch,« ***Knackarsch bitte! Soviel Zeit muss sein!*** »und auch sonst benimmst du dich unauffällig. Aber ich kenne dich halt zu gut, du hattest noch nie eine Freundin und hast mir überhaupt bisher nie etwas in der Richtung erzählt. Und das ist ja eher die Ausnahme zwischen uns, oder? Also musste da etwas Größeres dahinterstecken. Ich habe ein wenig die Augen offengehalten und dann meine Schlussfolgerung gezogen.«
Ich stöhnte leicht auf.
»Es stimmt doch, du bist schwul, oder?«
Der Point of no Return war längst überschritten, jetzt noch zu leugnen wäre eine Beleidigung gegenüber meinem Bruder gewesen.
»Ja, bin ich. Und, was meinst du dazu?«
»Was soll ich dazu meinen?«
»Naja, hast du irgendein Problem damit?«
»Nö, eigentlich nicht. Solange du nicht anfängst völlig schwuchtelig rumzulaufen – das wäre mir dann bei meinen Freunden doch leicht peinlich.«
Also da konnte Lasse ganz beruhigt sein, das hatte ich nun wirklich nicht vor.
»Wissen es eigentlich Mom und Dad?«
»Ja, schon ziemlich lange.«
»Ach! Und warum hast du es mir nicht erzählt?«
»Naja, zuerst warst du noch zu jung um das zu verstehen, und dann hatte ich Angst, dass das irgendwas zwischen uns ändern würde. Bist du mir arg böse?«
»Dafür, dass du schwul bist, nicht – dafür, dass du mir nicht vertraut hast, schon ein wenig. Aber du kannst mich durchaus besänftigen.«
»Ach so? Und wie?«
»Ich dachte, dass du vielleicht für den Rest des Winters das Schneeschippen übernehmen könntest...«
»Nun werd mal nicht übermütig!«
Im Mondschein sah ich, wie Lasse mich angrinste.
»Für den Rest des Urlaubs, einverstanden.«
»Und für den ganzen Januar!«
»Die ersten zwei Wochen.«
»Deal!«
Ich würde schnell noch einen Brief an Frau Holle schreiben müssen. Vielleicht konnte ich sie ja überreden, mit größeren Schneefällen bis zum 16. Januar zu warten.
»Und, wie findest du Pascal?«
Oh, oh. Gerade war ich froh ein wenig von den ernsten Themen weggekommen zu sein, da brachte mich Lasse wieder zurück auf den Boden der Tatsachen.
»Er ist ... cool.«
»Was, nur cool? Raus mit der Sprache! Hast du dich in ihn verknallt?«
»Äh ... müssen wir das jetzt besprechen?«
»Klar! Erinnere dich mal dran, wie du mich über Saskia ausgequetscht hast.«
»Ja, die ist ja auch deine Freundin! Soweit ist es mit Pascal und mir noch lange nicht.«
»Aber du hättest ihn gern als Freund, oder?«
»Ich ...«
»Komm schon, sei ehrlich!«
»Ja, verdammt noch mal! Bist du jetzt zufrieden?«
»Nö. Hast du dich schon an ihn rangemacht?«
»Lasse, wir haben uns gerade erst kennengelernt! Was soll ich machen, einfach zu ihm hingehen und sagen ›Eh, ich find dich super, wollen wir zusammen gehen?‹ Gleich am ersten Tag?«
»Warum nicht? Bei Saskia hat das auch funktioniert ...«
»Das ist einfach nicht mein Stil.«
»Mein Gott, was ist da groß zu überlegen! Du bist schwul, er ist schwul. Du findest ihn toll, er findet dich toll.«
»Tut er das denn?«
»Klar. Der hat dich genauso angestiert wie du ihn. Das hätte ein Blinder mitbekommen. Dürften übrigens außer mir auch alle anderen Anwesenden mitbekommen haben.«
Prima. Darauf hätte ich getrost verzichten können. Also nicht darauf, dass Pascal mich eventuell toll findet! Also das wäre mir nun wirklich alles andere als unangenehm. Aber dass sich demnächst, vielleicht sogar schon jetzt in diesem Moment, zwei komplette Familien den Mund darüber zertratschten, musste eigentlich nicht sein. Wie ich meine Eltern, speziell meine Mutter, kannte, würde es in den nächsten Tagen einige sorgsam extra herbeigeführte Gelegenheiten geben, um mich über dieses Thema auszuquetschen.
»Naja, Geschmack scheinst du ja wenigstens zu haben. Hast dir für dein erstes Mal einen hübschen Typen rausgesucht. Nicht dass ich, was hübsche Typen angeht, große Erfahrung hätte ...«
Verdammt noch mal!
»Wie kommst du darauf, dass das mein erstes Mal ist?«
»Hehe, ich kenne dich halt viel zu gut. Sören Pauls, die eiserne Jungfrau ...«
Okay, das wars. Lasse hatte eine Grenze überschritten, die er lieber hätte nicht überschreiten sollen. Das bekam er auch sehr schnell mit, denn im nächsten Moment fand er sich der Länge nach auf dem harten Zimmerboden wieder. So ein Gemeinschaftsbett hatte durchaus seine Vorteile ...
»Was soll das? Was hab ich dir denn getan? Ich hab doch bloß die Wahrheit gesagt!«
Während dieses Protestgeschreis krabbelte Lasse langsam wieder ins Bett zurück.
»Es gibt Dinge, die ein kleiner Bruder höchstens denken, nicht aber laut aussprechen darf. Gratuliere: Du hast eins davon gefunden ...«
»Gott bist du empfindlich.«
»Wärst du auch, wenn ich mich über deine Beziehung zu Saskia lustig machen würde, oder?«
»Ich werde Pascal petzen, mit was für einem gewalttätigen Kerl er sich einzulassen droht.«
»Dann werde ich Saskia erzählen, dass du Jennifer Lopez geil findest.«
»Bloß das nicht! Das gibt wieder eine riesige ›bin-ich-dir-nicht-hübsch-genug-Szene‹!«
»Alles liegt in deiner Hand, Brüderchen.«
»Okay, okay, ich halte die Klappe.«
»Gut. Und ich denke das sollten wir jetzt eh beide tun – es ist schon ziemlich spät. Gute Nacht. Und wehe du klaust mir die Bettdecke!«
»Als ob ich unter deine Decke wollte – das überlasse ich doch lieber deinem neuen Schwarm. Gute Nacht.«
Eigentlich hätte ich ihn ja jetzt wieder aus dem Bett werfen müssen – aber dazu war ich jetzt einfach viel zu müde. Also drehte ich mich auf die andere Seite, schloss die Augen und war kurze Zeit später eingedöst ...
*-*-*
Das Aufwachen am nächsten Morgen zog sich über einen längeren Zeitraum hin. Als ich das erste Mal wach wurde, war noch alles finster, nur der Mond schien zum Fenster hinein. Lasse schnarchte leise vor sich hin, zwischen uns befand sich eine verdächtig große freie Fläche. Da ich praktisch mitten in meiner Betthälfte lag, konnte das nur bedeuten, dass mein kleiner Bruder des Nachts immer mehr zum Bettrand gewandert war – er war schon immer ein unruhiger Schläfer gewesen. Deshalb hatte er in unserem früheren Doppelstockbett auch immer unten geschlafen – er war immer mal wieder im Schlaf aus dem Bett gefallen, und das wäre aus der oberen Etage doch etwas sehr gefährlich gewesen. Und nun stand er wohl kurz davor es wieder einmal zu schaffen – der Kleine bräuchte wohl ein richtiges Kinderbett, so mit Gitterstreben ringsherum.
Sollte ich ihn rausfallen lassen oder was unternehmen? Verdient hatte er den weiteren Absturz eigentlich, andererseits war ich ja ein vernünftiger großer Bruder mit einem entsprechend ausgeprägten Verantwortungsbewusstsein. Also griff ich zu Lasse rüber und zog ihn wieder etwas weiter ins Bett zurück – gar nicht so einfach, der Stift wurde irgendwie immer größer und schwerer. Zum Glück wehrte er sich nicht – eher im Gegenteil! Plötzlich drehte er sich in meine Richtung, und sein linker Arm griff nach mir!
»Hmpf ... Saskia ... hmmmmmm ...«
Also da lag doch wohl ganz eindeutig eine Verwechslung vor! Bevor Lasse mich nun endgültig mit seinen Armen umschlingen konnte, stieß ich mich ein wenig von ihm weg und nahm Reißaus in Richtung meiner eigenen Bettkante. Zum Glück verfolgte er mich nicht sondern griff sich stattdessen sein Kissen und fing an dieses abzudrücken. Das musste ich nun wirklich nicht sehen! In der Hoffnung dass er nicht noch zudringlicher werden würde, drehte ich mich Richtung Bettaußenseite und versuchte wieder einzuschlafen – was mir wegen einer gewissen Geräuschkulisse nicht so recht gelingen wollte. Erst als ich mir mein eigenes Kissen über den Kopf zog, wurde die Angelegenheit erträglich, und ich schaffte es letztendlich doch wieder einzuschlummern.
Als ich wieder erwachte, war es hell geworden, und ich ertappte Lasse dabei wie er – nur mit T-Shirt und Boxershorts bekleidet – seine irgendwie nass aussehende Schlafanzughose vorsichtig über die Heizung legte. Ich konnte einfach nicht anders, ich musste losprusten.
»Haha, hat der kleine Lasse einen Unfall gehabt? Ich wusste gar nicht, dass du noch Bettnässer bist!«
Natürlich wusste ich ganz genau, dass es sich um ... äh ... einen anderen Fall handelte, aber ich wollte ihm einen kleinen Notausgang lassen.
»Jaja, hahaha. Ich hab nicht ins Bett gemacht! Ich ...«
In diesem Moment wurde ihm wohl klar, was er da gerade zugegeben hatte, und ich konnte feststellen, dass das Erröten wohl ganz allgemein in der Familie lag und nicht nur meine persönliche Spezialität darstellte.
»Idiot!«
»Halt dich zurück, oder ich verrate Saskia, dass du dich heute Nacht an mich rangemacht hast. An deinen eigenen Bruder!«
»Hab ich nicht!«
»Hast du doch!«
»Nein!«
»Ja!«
»Nein!«
»Ja!«
»Nein!«
»Nein!
»Ja!«
»Gut, dass du es zugibst!«
»Was?«
»Du hast gerade ›Ja‹ gesagt!«
»Du Mistkerl hast mich reingelegt!«
»War mir ein Vergnügen. Übrigens, es stimmt, du hast dich an mich rangemacht.«
»Glaube ich dir nicht.«
»Glaub mir ruhig. Du warst dabei mal wieder aus dem Bett zu fallen, da habe ich dich zurückgezogen – und bei der Gelegenheit wolltest du auf mich losgehen.«
»Schei...benkleister!«
»Aber tröste dich, du hast dabei ständig von ›Saskia‹ vor dich hingemurmelt.«
»Oh Gott, wie peinlich!«
»Was soll ich da erst sagen, ich wusste gar nicht, wie mir geschah!«
»Äh ... wie weit bin ich denn gegangen?«
»Ich konnte mich noch in Sicherheit bringen, und dann hast du dir lieber dein Kissen gegriffen. Und ich musste mir die Ohren zuhalten, um wieder einschlafen zu können!«
»Kein Scheiß?«
»Nee, ganz ehrlich. Muss ja ein toller Traum gewesen sein ...«
Jetzt konnte er wieder leicht grinsen.
»Kein Kommentar ...«
Manchmal sagt nichts zu sagen mehr aus als ganze Romane runterzuquatschen – dies schien eine solche Situation zu sein.
»Übrigens, nur gut, dass du wach gewesen bist. Wenn du auch geschlafen hättest, dann hättest du vielleicht gedacht, dass sich Pascal an dich ranschmeißt ...«
Ach was für eine herrliche Vorstellung, da konnte man doch glatt wieder ins Träumen geraten, aber ... ich schaute auf die Uhr, es war kurz vor acht, und damit wurde es wohl langsam Zeit aufzustehen.
»Hast du mitbekommen, ob schon irgendwer wach ist?«
»Aus der Küche kamen schon Geräusche, zumindest Mutti scheint schon auf den Beinen zu sein.«
»Das Bad ist frei?«
»War es jedenfalls, als ich unten war.«
»Na dann werde ich mich auch mal aufraffen. Du weißt, was uns heute noch bevorsteht, oder?«
»Ich möchte lieber noch nicht darüber nachdenken, okay?«
»Die Vogel-Strauß-Taktik hilft uns auch nicht weiter.«
»Ich weiß, aber lass uns zumindest noch ein Weilchen so tun als ob.«
»Wenn du meinst ... so, ich geh ins Bad.«
Mit diesen Worten schwenkte ich meine Füße aus dem Bett, schlüpfte in die Pantoffeln und machte mich auf den Weg nach unten. Dort erledigte ich was man halt morgens so erledigt, dann kehrte ich wieder nach oben zurück – nicht ohne vorher eingehend meine geschundene Nase betrachtet zu haben, die jedoch erfreulicherweise kaum noch Spuren der Begegnung mit der Zigarettenspitze zeigte. Oben angekommen suchte ich mir ein paar frische Sachen raus. Die langen Kameraden ließ ich diesmal liegen, vermutlich würden wir zumindest vormittags das Haus nicht verlassen – also reichten die normalen Klamotten. Vorläufig. Später, zur Bescherung, würde wohl leider kein Weg daran vorbeiführen eine festlichere (sprich: unbequemere) Kledasche anzulegen – aber daran wollte auch ich jetzt noch nicht unbedingt denken.
Als ich dann endlich fertig für des Tages Mühen war, wanderte ich in Richtung Frühstückstisch – selbst wenn ich mich im Haus noch nicht ausgekannt hätte, wäre das kein Problem gewesen: immer dem Kaffeeduft hinterher. Und prompt stand ich in Nachbars Küche! Nee, reingefallen, ganz so orientierungslos bin ich nun auch wieder nicht! Obwohl auch aus dieser Richtung Geschirrgeklapper und Kaffeeduft kamen, entschied ich mich für unsere eigene Futterquelle.
»Morgen!«
»Guten Morgen der Herr. Na, ausgeschlafen?«
»Gerade mal so.«
»Wieso, hast du nicht gut geschlafen?«
Mütterliche Inquisition. Das ging schon am frühen Morgen los. Wäre ich fies, würde ich jetzt Lasses nächtliche Erlebnisse zum Besten geben – aber ich war natürlich nicht fies. Zumindest nicht zu Weihnachten.
»Gut schon, aber halt ein wenig kurz. Verrat mir doch bitte nochmal, warum wir im Urlaub schon so zeitig aufstehen müssen.«
»Das weißt du ganz genau, heute ist halt noch einiges zu erledigen. Morgen könnt ihr dann ausschlafen.«
»Dein Wort in Gottes Gehörgang. Wo sind eigentlich Paps und Lasse?«
»Im Wohnzimmer, die bereiten schon das Baumschmücken vor. Du kannst die beiden übrigens mal holen gehen, das Frühstück ist fertig.«
Endlich mal eine gute Nachricht. Also nicht die mit dem Baumschmücken, sondern die mit dem vertilgungsbereiten Frühstück. Dieses würde uns noch eine kurze Gnadenfrist verschaffen.
Okay, okay. Ich habe verstanden! Ihr braucht mir nicht noch weiter ins Ohr zu brüllen! Ich will mal nicht so sein und endlich erklären was ich mit meinem ach so fürchterlichen Andeutungen den Heiligen Vormittag betreffend meine. Alles drehte sich um das Thema Weihnachtsbaum und dessen Abhandlung in unserer Familie.
Also es fängt jedes Jahr schon damit an, dass unser Vater drei Wochen vor Weihnachten hektisch von Baumverkauf zu Baumverkauf hastet, um auch ja das schönste Exemplar zu ergattern. Dieses wird dann gut verpackt nach Hause transportiert und dort auf dem Balkon zwischengelagert. Diesmal lief die Beschaffung natürlich etwas anders ab, des Urlaubs wegen, aber der Rest würde unter Garantie ablaufen wie immer.
Am Heiligen Vormittag wird der Baum dann aus seiner Balkon-Verbannung sowie der Verpackung befreit, und es beginnt mit wissenschaftlicher Akribie – unser Erzeuger ist Professor für Geschichte und in manchen Fällen ein Genauigkeitsfanatiker – die Aufstellung des von Waldarbeitern dahingemetzelten Weihnachtssymbols. Nach etwa einer Stunde hat der Baum dann eine Standposition erreicht, die unser Herr Papa als passabel akzeptieren kann. Und nun dauert es nur noch ungefähr weitere zwei Stunden, und schon haben bunte Kugeln, kleine Engelsfiguren, Schokokringel, Lametta und natürlich die elektrische Lichterkette ihre genau festgelegten Positionen eingenommen. Begleitet wird dies alles von anhaltender Berieselung durch Weihnachtsmusik; drei zeitmäßig genau passende CD's im CD-Wechsler sorgen für eine unterbrechungsfreie akustische Umweltverschmutzung. Kann der geneigte Leser sich nun ein wenig vorstellen, warum Lasse und ich eine gewisse ... äh ... Abneigung gegen den Vormittag des 24.12. hegen? Gut ...
Aber zurück zum aktuellen Geschehen, welches wie bereits erwähnt glücklicherweise noch nicht ganz so weit fortgeschritten war. Ich holte die beiden anderen männlichen Familienmitglieder zum Frühstückstisch, und dort widmeten wir uns einer meiner Lieblingsbeschäftigungen: dem Füllen leerer Mägen.
Wie so oft war ich als Erster fertig und hielt die Zeit nunmehr für gekommen, unseren Eltern eine kurze Zusammenfassung der Geschehnisse vom letzten Abend zu geben.
»Ähem ... Mutti, Vati, hört mal her. Ich ... ich habe es gestern Abend Lasse erzählt.«
»Was hast du deinem Bruder erzählt?«
»Mein Gott, Harald! Was kann Sören wohl damit meinen?«
»Ach so, das! Hast du dich endlich überwunden. Prima. Und, wie ist es gelaufen? Wie hat Lasse reagiert?«
»Nun redet mal nicht so, als ob ich nicht mit am Tisch säße! Wie soll ich schon reagiert haben? Geahnt habe ich es ja eh schon. So wie er Pascal mit den Augen verschlungen hat ... Außerdem hat Sören es nicht so einfach erzählt, ich habe ihm gar keine andere Wahl gelassen. Wenn ich ihm nicht die Pistole auf die Brust gesetzt hätte, dann hätte ich wohl noch lange darauf warten können.«
»Nee, Lasse, ich hatte mir fest vorgenommen, es dir in den nächsten Tagen zu sagen. Ehrlich.«
»Ist ja eigentlich auch egal, Hauptsache jetzt ist zwischen euch beiden alles klar. Ist es doch, oder?«
»Ja, Mutti. Dass Sören schwul ist, macht mir nichts aus – da besteht wenigstens keine Gefahr, dass er mir die Freundin wegschnappt.«
»Hm ... eigentlich eine gute Idee. Vielleicht sollte ich mir überlegen, ob ich nicht doch vielleicht ein wenig bi bin ...«
»Untersteh dich!«
»Sieht so aus, als ob unsere Jungs weiterhin dicke Freunde wären, oder Heike?«
»Gott sei Dank. Wenn ich höre, wie sich die drei Söhne von Weidmanns ständig zoffen – da können wir wirklich froh über unsere beiden sein.«
Soviel geballte Anerkennung vertrug ich nicht so besonders, also beschloss ich mir schnell noch eine Nach-Frühstücks-Kippe zu gönnen. Ich verabschiedete mich vom Frühstückstisch, griff mir Jacke und Mütze und verließ das Haus durch die Hintertür. Draußen genehmigte ich mir zuallererst einen tiefen Zug herrlich klarer Winterluft – bevor ich selbige mit dem Qualm meiner Zigarette verpestete. Tief in Gedanken an kleine Brüder, Weihnachtsbäume, niedliche Nachbarn und ähnliche Dinge versunken paffte ich vor mich hin, bis mir plötzlich jemand eine Hand auf die linke Schulter legte.
»Ich hatte gehofft, dass dich der Unfall gestern von der blöden Raucherei kuriert hätte ...«
Ein schneller Blick über die Schulter und ich erkannte denjenigen, der mir da mitten in meiner schönsten Grübelei einen Heidenschrecken eingejagt hatte. Kein anderer als Pascal war es, der mich irgendwie viel zu munter angrinste.
»Ich arbeite ja dran, aber so von heute auf gestern geht das nicht. Du hättest mich mal vor ein paar Monaten erleben müssen ...«
»Nee, lieber nicht. Ich kann die Raucherei nicht ausstehen. Wenn ich das wollte, könnte ich auch gleich einen Aschenbecher küssen. Also hör lieber auf. Angeblich ist ein radikaler Schlussstrich einfacher als die langsame Entwöhnung ...«
Da hatte ich ja wieder etwas, worüber ich ewig und drei Tage lang nachgrübeln konnte. Pascal wollte keinen Aschenbecher küssen. Ich sollte lieber aufhören. Hieß dass, das er mich – wenn ich nicht rauchen würde – küssen wollte? Jetzt war es nicht nur die Zigarette, die rauchte, auch mein Kopf fing damit an.
»Und, gut geschlafen? Noch irgendwelche Beschwerden wegen gestern?«
Meine Güte, diese ständige geistige Umschalterei von einem Thema aufs nächste war irgendwie anstrengend.
»Äh ... ja, danke. Also ich meine, ich habe gut geschlafen. Beschwerden habe ich keine mehr.«
»Zeig mal die Nase her, hat die sich von ihrer Verbrennung erholt?«
Mit diesen Worten griff Pascal kräftig mit zwei Fingern an benanntes Sinnesorgan.
»Autsch! Was soll das? Die ganze Zeit hat sie nicht mehr wehgetan, und jetzt willst du mir sie doch noch brechen?«
»Ts, ts, ts. Nun sei mal nicht so empfindlich. Schaut ja wirklich gut aus. Also nicht nur die Verletzung, auch die Stupsnase an und für sich.«
Stupsnase! Erst Knackarsch und jetzt Stupsnase! Für welches meiner Körperteile würde er wohl die nächste neue Bezeichnung finden? Und langsam, ganz langsam konnte ich mich wirklich nicht mehr des Eindrucks erwehren, dass Pascal mit mir ... flirtete? (Ja, ja, ich weiß: Ich bin manchmal schwer von Begriff!)
»Und, was hast du heute so vor?«
»Weihnachtsbaum schmücken. Noch ein paar Minuten, dann geht es los.«
»Irgendwie klingst du nicht sonderlich begeistert.«
Ich erklärte Pascal, warum er da voll ins Schwarze getroffen hatte.
»Tja, du tust mir wirklich leid. Unseren Baum schmückt unser Vater alleine.«
»Hast du es gut. Und was machst du da jetzt?«
»Ich fahre runter ins Dorf, noch ein paar Einkäufe erledigen. Soll ich dir irgendwas mitbringen? Außer Zigaretten natürlich.«
»Nee, danke, lass mal. Eventuell mache ich mich nach dem Mittagessen auch nochmal schnell auf den Weg. Die Läden haben doch dann noch auf, oder?«
»Ja, bis 14 Uhr haben die meisten geöffnet. Was brauchst du denn noch?«
»Noch ein kleines Zusatzgeschenk für Lasse.«
»Wieso das denn? Hast du was gutzumachen?«
»Ja. Ich habe ihm gestern Abend gesagt, dass ich schwul bin.«
»Und, wie hat er reagiert? Nun lass dir mal nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!«
»Hättest du meine Stupsnase vorhin nicht so hart angefasst, würde auch nicht jedes Wort so lange brauchen!«
»Schon gut, ich entschuldige mich ja. Und, was ist nun mit deinem Bruder?«
»Alles in Butter. Er hat es mir nur etwas übel genommen, dass ich es ihm solange verschwiegen habe. Naja, er hat ja recht. Übrigens war er es der damit angefangen hat und mich auf den Kopf zu danach gefragt hat. Da konnte ich eh nicht mehr leugnen.«
»Gut so. Woran hat er es denn gemerkt?«
Sollte ich das jetzt wirklich erzählen, so in allen schmutzigen Einzelheiten? Warum eigentlich nicht, Pascal war ja diesbezüglich auch nicht unbedingt zurückhaltend.
»Daran wie ich dir die ganze Zeit hinterhergeglotzt habe.«
Ein breites Grinsen fand Platz im Gesicht meines Gegenübers.
»Er meinte übrigens, dass du mich ganz ähnlich angestiert hättest.«
Pascal schaute mich mit schiefgelegtem Kopf und plötzlich recht ernstem Gesichtsausdruck an.
»Und wenn es so wäre?«
Während ich mir gerade eine passende Antwort überlegte, kam ein lautes Hupen aus Richtung Parkplatz. Ehe ich noch irgendwie reagieren konnte, presste Pascal kurz seine Lippen auf meine linke Wange, rief »Bis später!« und verschwand mit einem Affenzahn in Richtung Minivan – mich nun endgültig völlig verdattert zurücklassend. Wobei ja jetzt eigentlich das Ende der Ungewissheit gekommen war – dieser Kuss war ja nun wirklich nicht mehr großartig falsch zu deuten.
Tief in Gedanken versunken beseitigte ich die ausgeglühte Zigarettenkippe und marschierte sodann zurück ins Haus, wo mich nun endgültig der Weihnachtshorror erwartete.
Ich schaute auf die Uhr. Es war soweit. Keine Chance mehr sich zu verdrücken. 9 Uhr vormittags. Wir waren abgefrühstückt und mit jeder Minute rückte die Tortur näher. Mutti bestückte den CD-Wechsler, Vati legte fein säuberlich alles notwendige Werkzeug und Weihnachtsbaumschmückzubehör auf dem großen Wohnzimmertisch zurecht.
»So, Jungs, jetzt wollen wir den Baum mal reinholen. Dieses Jahr haben wir wirklich ein Prachtexemplar!«
Der Baum wurde aus seiner Umschnürung erlöst und öffnete sich langsam wieder. Zugegeben: Es war wirklich ein sehr schönes Exemplar, aber ich glaube im Wald hätte er mir besser gefallen. Als Nächstes kamen die Schnitzarbeiten an die Reihe, um den Baumstamm für den Weihnachtsbaumständer passend zu machen. Und dann kam die eigentliche Aufstellprozedur: Hier eine Drehung an der Einstellschraube, dort einen kleines zwischengeklemmtes Spänchen; alles nur um die Tanne genau im 90°-Winkel aufragen zu lassen. Dafür brauchte Paps keine Wasserwaage, das hatte er im Blick. Zumindest schien er es im Blick zu haben, denn immer wenn wir dachten »Geschafft!« hatte er doch noch etwas zu bemängeln. Doch dann war er zufrieden, und ich schaute auf die Uhr. Ich musste mich irgendwo festhalten: nur dreißig Minuten! Halb solange wie sonst üblich! Ich guckte verdutzt zu Mutti, aber die hob auch nur überrascht die Schultern.
Paps lachte.
»Ja glaubt ihr denn ich bin schon so verkalkt, dass ich nicht gemerkt habe, wie ihr über das Thema ›Baumaufstellen‹ denkt? Na ja, vielleicht habe ich es ja tatsächlich immer etwas übertrieben, aber je länger es dauerte, umso länger konnten wir zusammen an etwas rumwerkeln. Aber ich bin ja lernfähig. Wir machen das jetzt so: Während ich für Mutti und mich eine Flasche Wein aus der Kammer hole, könnt ihr ja schon mal anfangen, die Lichterkette anzubringen. Aber passt auf, die kleinen Lämpchen sind ziemlich empfindlich.«
Sprachs und entschwand Richtung Vorratsraum. Jetzt mussten wir drei Zurückgebliebenen erstmal ganz tief durchatmen. Das konnte ja nicht wahr sein. Meine und Lasses bisher anerkannte Qualifikation in Bezug aufs Baumschmücken bestand einzig und allein darin, dass wir in genau festgelegter Reihenfolge unserem Vater Kugeln und andere schmückende Elemente zureichen durften. Dem Baum selber durften wir tunlichst nicht zu nahe kommen. Und nun das. Es fehlte eigentlich nur noch etwas erfreulichere musikalische Untermalung. Ach was, unter diesen Umständen bekam sogar »Kling, Glöckchen, klingelingeling« einen ganz annehmbaren Klang.
Vorsichtig fingen wir an, die Lichterkette aus dem Karton zu nehmen und die Lämpchen Stück für Stück an die Zweige zu heften. Jetzt bloß nichts falsch- oder gar kaputtmachen! Aber es ging alles gut und unser mittlerweile mit einem Glas Wein und unserer Mutter auf der Couch sitzender Vater schien ganz zufrieden mit unserem Gesellenstück zu sein. Und Mutti saß selig lächelnd neben ihm.
Während wir nun nach und nach auch Kugeln, Schokokringel, kleine Figuren und Lametta auf dem Baum verteilten, unterhielten wir uns über die Pläne für den Rest des Tages.
»Also Kaffeetrinken und Bescherung erledigen wir alleine, den Abend werden wir aber wieder mit den Nachbarn verbringen. Wenn ihr nichts dagegen habt. Und es sollte mich doch sehr wundern wenn Sören was dagegen hätte, oder?«
Das hatte ich nun von meiner Ehrlichkeit – mein »Crush on Pascal« war zumindest in meiner Familie Allgemeinwissen und würde mir wohl vorläufig regelmäßig aufs Brot geschmiert werden. Allerdings war es wohl besser, darüber kein weiteres Wort zu verlieren und stattdessen zu hoffen, dass das Thema schnell wieder von einem anderen abgelöst würde. Und ich hatte Glück, mein kleines Brüderchen errettete mich!
»Ich will nach dem Mittagessen nochmal schnell runter in den Ort, will jemand mitkommen?«
Das hielten alle für eine gute Idee – speziell unsere Eltern wollten noch eine »Kleinigkeit« für unsere so freundlichen Nachbarn besorgen. Vielleicht sollte ich sehen, ob ich für Pascal irgendwas finden würde ...
In dieser Art verging der Vormittag, und am Ende hatte es doch wieder drei Stunden gedauert, bis der letzte Lametta-Faden am Baum hing. Aber diese drei Stunden waren viel schöner gewesen als die in den vorigen Jahren. Schon seltsam. Ob über diese weltbewegende Veränderung schon irgendwas in den Fernsehnachrichten kam?
Mittags gab es dann – wie bei uns an Heiligabend üblich – Kartoffel- bzw. Nudelsalat und Würstchen. Und ebenso wie üblich konnte ich mich einfach nicht zurückhalten und überfraß mich regelrecht. Was auch wieder wie üblich sofort bemerkt wurde.
»Harald, ich glaube unsere Jungs sollten nachher lieber zu Fuß in den Ort runtergehen – die haben einiges abzuarbeiten.«
Ich schaute zu Lasse, der auch gerade noch ganz schnell den letzten Wustzipfel runterschluckte, damit auch ja niemand ihm den mehr nehmen konnte. Wir grinsten uns an.
»Du hast recht. Also los, Jungs, zieht euch warm an und dann Abmarsch in den Ort mit euch! Wir treffen uns dann unten am Kaufhaus – ihr wisst doch noch wo das ist, oder?«
Wir bejahten – ganz so orientierungslose Großstadtbubis waren wir nun auch wieder nicht – und flitzten nach oben um uns in die Winterklamotten zu stürzen. Zehn Minuten später begannen wir den Abstieg in dichter besiedelte Gegenden.
»Sag mal, Sören, was willst du eigentlich noch einkaufen?«
»Ich weiß noch nicht genau. Irgendwas für Pascal ...«
»Aha! Willst du ihn bestechen?«
»Das scheint gar nicht nötig zu sein.«
»Wieso?«
»Er hat mich vorhin geküsst.«
»WAS?«
»Er hat mich geküsst.«
»So richtig ernsthaft? Auf den Mund?«
»Nö, nicht ganz, nur auf die Wange.«
»Und, glaubst du er will was von dir?«
»Macht ganz den Eindruck. So wie er sich mir gegenüber benimmt, und danach was du über seine Glotzerei auf mich gesagt hast ...«
»Der Ärmste. Ausgerechnet in meinen Bruder muss der sich vergucken.«
»Pass bloß auf! Oder möchtest du wieder in einer Schneewehe landen?«
»Uh, was für eine furchtbare Drohung! Jetzt schlottere ich aber! Haha, ich bin doch nicht so ein Weichei wie du!«
»Vielleicht sollte ich ja Mutti in besorgtem Ton sagen, dass mein kleiner Bruder plötzlich wieder angefangen hat ins Bett zu machen ...«
»Untersteh dich!«
Da hatte ich wohl einen wunden Punkt erwischt.
»Das würdest du mir doch nicht antun, oder?«
»Im Moment klingt das für mich sehr verlockend.«
»Okay, okay. Ich mach mich nicht mehr über dich lustig, und die hältst dafür den Mund. Einverstanden?«
»Einverstanden.«
Unterdessen waren wir im Ort angekommen, und so langsam sollte ich wohl anfangen mir Gedanken darüber zu machen, was ich Lasse und vor allem natürlich Pascal kaufen könnte. Gut, bei Lasse würde eine CD ausreichen, da gab es nicht soviel drüber nachzudenken. Aber Pascal? Den kannte ich nun wirklich (noch) nicht gut genug um zu wissen, womit ich ihm eine richtige Freude machen konnte.
Unterbrochen wurden meine Grübeleien durch das Auftauchen unserer Eltern, die bequem im Auto vorfuhren und sogar noch prompt einen Parkplatz in günstigster Lage fanden. Wir beratschlagten kurz und entschieden dann uns für eine Weile zu trennen. Schließlich wäre es für Lasse keine besondere Überraschung mehr, wenn er bei meinem Einkauf für ihn dabei wäre, oder? Also zogen wir getrennt von dannen ...
Es dauerte gar nicht lange und das Thema »Geschenk für Lasse« war abgehakt – ein Sonderangebotsregal mit »No-Angels-CDs« bot die schnelle Lösung des Problems. Was der Kleine allerdings an diesen Hupfdohlen fand, konnte ich nicht nachvollziehen. Naja, war ja auch egal, er musste sich das schließlich anhören, nicht ich. Jetzt aber kam es knüppeldick: Was nur sollte ich für Pascal besorgen? Wir hatten zwar über vieles schon gesprochen, ich kannte sogar etwas seinen Musikgeschmack, aber ich hatte natürlich keinen blassen Schimmer was er zum Beispiel an CDs bereits sein eigen nannte. Und ich würde es ziemlich blöd finden hören zu müssen, dass er eine CD, die ich ihm schenkte, bereits besaß.
Ich verließ die Musikabteilung und streifte mehr oder weniger ziellos durch die Gänge des Kaufhauses, auf einen Gedankenblitz lauernd. Es war allerdings kein solcher der mich mit heftiger Wucht traf, sondern mein kleiner Bruder, der mich in einem Gang fast umrannte.
»He, wohin so eilig?«
»Zu dir.«
»Wieso? Ist jemand hinter dir her, brauchst du Hilfe?«
»Ich brauche keine Hilfe, aber vielleicht du?«
»Was meinst du?«
»Hast du schon ein Geschenk für Pascal?«
»Äh ... nein. Ich suche noch, aber mir fällt beim besten Willen nicht ein, was ich ihm schenken könnte.«
»Dann komm mal mit, ich habe da eine Idee ...«
Oh, oh. Lasse und seine Ideen kannte ich zur Genüge. War ja nett, dass er mir helfen wollte, aber hoffentlich würde das nicht im Desaster enden. Mein Bruder zog mich durchs Kaufhaus und sogar aus diesem heraus über die Straße, mir kaum Zeit lassend die dicke Jacke wieder zuzuknöpfen.
»Sag mal, wohin zerrst du mich eigentlich!«
»Vertrau mir einfach, wir sind gleich da.«
Lasse vertrauen. Wow. Das war nun wirklich keine leichte Aufgabe ;-)
»So, da sind wir schon.«
Wir standen vor dem Schaufenster eines Juweliergeschäftes. Ungläubig schaute ich meinen Bruder an.
»Äh ... findest du nicht, dass es für Hochzeitsringe noch etwas zu früh ist?«
»Blödmann. Schau mal dort hinter, in die linke Ecke. Was siehst du da?«
Da hingen haufenweise silberne und güldene Halsketten, mit allen möglichen Anhängern.
»Was genau meinst du?«
»Die mit den Ringen, Herzen und Dreiecken in den Regenbogenfarben.«
Ich musste wohl etwas verblüfft geguckt haben, jedenfalls fühlte sich Lasse genötigt das noch näher zu erklären.
»Mein Gott, bist du schwer von Begriff oder was? Pascal ist schwul. Pascal ist out. Der Regenbogen ist das Symbol der Schwulenbewegung. Hast du es jetzt kapiert?«
»Schon gut, schon gut! Ich habs verstanden! Du meinst ich sollte ihm so eine Kette schenken? Was wenn er Ketten gar nicht mag? Und was kosten die eigentlich?«
Ich verrenkte mir die Augen, um die winzigen Preisschilder zu entziffern. 20 DM – das war ja mehr als human. Okay, ich hätte auch mehr ausgeben können, aber ich wollte es nicht gleich zu Anfang übertreiben.
»Jeder ordentliche Schwule mag Schmuck – das ist Gesetz. Du trägst doch auch ständig irgendwas um den Hals.«
Da musste ich ihm zustimmen – solch ein eindeutiges Statement wie diese Regenbogen-Kettchen hatte ich mir allerdings bisher verkniffen.
»Na los, gehen wir rein, der Laden macht in zehn Minuten zu.«
Ohne mir noch eine weitere Möglichkeit zum Überlegen zu lassen, zog Lasse mich in den Laden hinein, wo uns sofort ein etwas ältlicher Schmuckjongleur nach unserem Begehren fragte. Und sofort übernahm Lasse das Kommando.
»Wir hätten gern so eine Kette mit Regenbogenanhängern, wie Sie sie draußen im Schaufenster haben.«
»Ah ja. Na dann kommt mal mit hier rüber, hier haben wir die verschiedenen Exemplare hängen.«
Er führte uns zu einem Verkaufstresen mit einem Aufsteller voller Ketten, und auch die von uns gewünschten Modelle fanden sich dort wieder.
»Was genau soll es denn sein? Wir haben die Ketten mit Herzen, mit Ringen und mit Dreiecken. Als Silber- oder Goldketten.«
Mein kleiner Bruder grinste mich herausfordernd an.
»Gold mit Herzchen, nicht wahr, Sören?«
Ich überlegte kurz und traf dann meine Entscheidung.
»Nö. Silber sieht besser aus, und Herzchen sind etwas übertrieben. Ich nehme Silber mit Ringen.«
»Wie der junge Herr wünschen. Die Silbermodelle werden übrigens allgemein lieber genommen als die goldenen.«
Ob der gute Mann eigentlich wusste, was für Symbole er da genau verkaufte? Naja, konnte mir eigentlich egal sein, ich würde ihn vermutlich sowieso nie wieder zu Gesicht bekommen. Die Kette wurde geschenkfertig eingepackt, ich bezahlte, und damit war der Handel perfekt und wir verließen den Laden, um uns wieder mit unseren Eltern zu treffen.
»Na, zufrieden? War das eine gute Idee oder nicht?«
»Ich hoffe, dass es eine war – aber das werden wir wohl erst heute Nachmittag erfahren, oder?«
»Nun sei mal ein wenig optimistisch. Die Kette wird deinem Herzallerliebsten bestimmt gefallen.«
»Wie war das vorhin mit deinem Versprechen? Du wolltest dich nicht mehr über mich lustig machen?«
»Schon gut, schon gut. Olle Mimose. Du hättest dich wenigstens mal kurz für meine Hilfe bedanken können.«
»Okay, danke. Und das meine ich ehrlich, Brüderchen.«
Wir hatten als Treffpunkt die Cafeteria des Kaufhauses ausgemacht, und dorthin begaben wir uns nun. Da unsere Elterneinheiten noch nicht zu sehen waren, gönnten wir uns etwas zu trinken und beguckten in aller Gemütsruhe all die anderen Last-Minute-Geschenkekäufer – froh unsere Einkäufe bereits erledigt zu haben.
Etwa eine Viertelstunde mussten wir überbrücken, dann, eine halbe Stunde vor Ladenschluss, tauchten die beiden auf und setzten sich mit dampfenden Kaffeepötten zu uns an den Tisch.
»Uff! Also das Thema Weihnachtseinkäufe reicht mir für dieses Jahr! Müssen die Leute denn immer alle auf den letzten Drücker die Geschäfte stürmen?«
Ich verkniff mir lieber meinen Vater darauf hinzuweisen, dass er selber zu dieser Kategorie von Einkäufern zählte – zumindest in diesem Jahr hatte er keinen Grund sich über andere zu beschweren.
»So, was habt ihr denn schönes gekauft? Wenn es nichts Geheimes ist.«
»Sören hat für seinen Pascal eine schicke Halskette gekauft. Ganz entzüüüüüückend! Mit meiner tatkräftigen Unterstützung natürlich – alleine wäre er aufgeschmissen gewesen.«
Nur der öffentliche Ort und die vielen potentiellen Augenzeugen bewahrten meinen Bruder jetzt vor schwerwiegenden körperlichen Schäden. Aber aufgeschoben ist schließlich nicht aufgehoben ...
»Lasse! Musst du deinen Bruder immer so ärgern?«
Das musste der, das stand offensichtlich in der offiziellen Jobbeschreibung für kleine Brüder. Das hätte Mutti allerdings auch ohne Nachfrage wissen müssen.
»Zeig mal das Schmuckstück her.«
»Tut mir leid, das geht nicht. Die habe ich gleich im Laden als Geschenk verpacken lassen.«
»Ist auch besser so, ihr kennt doch Sörens Verpackungskünste. Hätte er das selber gemacht, dann hätte das Päckchen ausgesehen wie von Hundertwasser persönlich gestaltet. Windschief und krakelig.«
»Sag mal, Vati, kann man Sachen, die man hier im Kaufhaus gekauft hat, eigentlich umtauschen? Wenn man den Kassenbon noch hat?«
»Ja, ich denke schon, wieso?«
»Weil ich plötzlich nicht mehr weiß, aus welchem Grund ich für Lasse noch ein Extra-Geschenk gekauft habe. So begierig scheint er darauf ja nicht zu sein, da lege ich mein Geld lieber in irgendwas für mich an ...«
»Nein, nein, schon gut! Ich verspreche dir, dass ich mich dir gegenüber nur noch lieb und nett verhalten werde.«
»Sowas in der Art hast du heute schon einmal versprochen – aber irgendwie hat das nicht lange angehalten.«
»Ich schwöre! Bei allem was mir heilig ist!«
Ich wusste natürlich, dass Lasse nichts, aber auch gar nichts heilig war – entsprechend »ernst« musste ich seinen Schwur wohl nehmen. Naja, mal sehen wielange er sich diesmal beherrschen würde.
In der Zwischenzeit hatten unsere Eltern ihr Schälchen Heeßen geschlürft, und da eh der Ladenschluss nahte und die Cafeteria-Angestellten anfingen »ausladende« Blicke auf die noch versammelte Kundschaft zu werfen machten wir uns nun auch auf die Socken Richtung Ferienhaus. Diesmal durften mein Bruder und ich großzügigerweise im Auto mitfahren, also waren wir auch wenige Minuten später an unserem Zielort angekommen.
Dort befreiten wir uns von den Winterklamotten, ich schnappte mir die Tageszeitung und machte es mir in meinem Lieblingssessel am Kamin gemütlich. Unsere Hausnachbarn waren offensichtlich noch unterwegs, ich hatte ihr Auto nicht gesehen. Und dieser quittegelbe Ausbund an Hässlichkeit wäre mir garantiert aufgefallen! So verbrachte ich die nächste halbe Stunde mit dem Studium des Welt- und Lokalgeschehens, und dann war es schon soweit: Wir durften zum Kaffeetrinken antreten. Also genaugenommen zum Kakaotrinken – Kaffee nehme ich nur in Ausnahmefällen zu mir. Dazu gab es selbstgebackene Stolle und Plätzchen – langsam fiel mir wieder ein, warum ich Weihnachten eigentlich so mochte.
Um das kurz darauf gleich wieder zu vergessen. Warum? Ganz einfach, es folgte das nächste Weihnachts-Familien-Ritual, mindestens so schlimm wie das Baumschmücken. Es war bei uns Tradition, dass zur Bescherung gefälligst eine dem festlichen Anlass angemessene Bekleidung getragen werden musste! Dunkle Hose, weißes Hemd, Krawatte oder Fliege. Und das bei einem Jeans-und-T-Shirt-Typen wie mir! Und nicht einmal im Urlaub blieb uns das erspart! Mutti schickte Lasse und mich nach oben, mit dem Auftrag uns umzuziehen und in einer halben Stunde wieder runterzukommen. Durch die Erfahrungen früherer Jahre wussten wir ganz genau, dass Nörgeleien jetzt völlig fehl am Platze waren und nur die Weihnachtsstimmung nachhaltig negativ beeinflussen würden. Also verzogen wir uns schweigend nach oben. Dort allerdings ließen wir unseren Frust freien Lauf – hoffend, dass davon in den unteren Räumlichkeiten nichts zu hören sein würde.
»So ein Schrott. Ich glaube kaum, dass Toni und Tonja sich so herausputzen müssen. Und Pascal bestimmt auch nicht.«
Konnte ich mir auch nicht so richtig vorstellen – zumindest nach den Berichten unserer Freunde zuhause schien diese extreme Aufputztradition ziemlich einzigartig zu sein.
Seufzend entledigte ich mich meiner geliebten Jeans und griff zur gutgebügelten Anzughose. Ich stieg hinein, behängte mich noch mit dem passenden weißen Hemd und verschloss alle notwendigen Verschlüsse. Lasse hing etwas hinterher, war aber nicht weiter schlimm, schließlich hatten wir genug Zeit. Obwohl ... einiges von dieser Zeit würden wir wohl benötigen, um uns die Krawatten anzutun. Wenn man das nur ein-, zweimal im Jahr macht, hat man halt kaum Gelegenheit zum Üben.
Mittlerweile stieg auch Lasse in seine Hose, mir dabei den Rücken zuwendend. Und auf seinen verlängerten Rücken schaute ich nunmehr mit etwas zweifelnden Blicken, denn dort spannte sich der Stoff der Hose doch ziemlich heftig. Mal ganz davon abgesehen, dass auch die Hosenbeine etwas länger hätten sein dürfen. Während ich noch über die Wunder des Lebens, ganz besonders das Wunder des jugendlichen Wachstums nachdachte, drehte sich mein Bruder zu mir zurück und sah mich reglos in der Gegend herumstehen.
»Sag mal, Sören, starrst du etwa auf mein Hinterteil?«
Das brachte mich heraus aus meiner Starre.
»Äh, ja.«
»Na hör mal! Ich bin dein Bruder! Außerdem bin ich hetero und du hast schließlich Pascal!«
»Nun spiel mal nicht so den Empörten, so habe ich das gar nicht gemeint. Hast du die Hose zuhause mal anprobiert?«
»Nö, wieso?«
Ich zeigte auf den hochwassergeeigneten Abschluss seiner Hosenbeine.
»So ein Mist! Ob man da noch was rauslassen kann?«
Um das nachzuprüfen beugte Lasse sich nach vorne – großer Fehler. Es machte »ratsch«, und ich hatte eine schlimme Ahnung, was dieses Geräusch verursacht hatte. Eine Ahnung, die im nächsten Moment bestätigt werden sollte. Mein Bruder griff sich dorthin, wo die Beine in den Rumpf übergehen, und fing an wie ein Rohrspatz zu schimpfen.
»So ein Mist! Jetzt ist die Hose aufgeplatzt! Das kann doch nicht wahr sein!«
In dieser Art ging es eine ganze Weile weiter, bis Lasse mitbekam, dass ich mich vor Lachen auf dem Boden wand – in den guten Klamotten wohlgemerkt. Als mein Bruder das sah, entspannte sich sein Gesicht, die Mundwinkel fingen langsam an nach oben zu zucken, und kurz darauf konnte er sein Lachen auch nicht mehr zurückhalten.
»Die ... hahaha ... die gute Hose!«
»Das ist ja dermaßen schade um das feine Stück!«
Wir waren noch weit davon entfernt uns wieder einzubekommen, als plötzlich die Zimmertür aufging und unsere Eltern hereinplatzten.
»Sagt mal, was ist denn hier los! Sören, was wälzt du dich in den schönen Sachen auf dem Fußboden herum! Ja seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen!«
Falls unsere Mutter jedoch dachte, uns damit sofort auf den Boden der ernsten Tatsachen zurückzubringen, hatte sie sich getäuscht. Zwar gaben wir uns alle Mühe unsere Lachanfälle zu unterdrücken, aber so recht gelingen wollte uns das (verständlicherweise) nicht. Und zwischen immer wieder aufflackernden Kicheranfällen versuchten wir unseren Eltern den Grund der von ihnen vorgefundenen Situation zu verklickern.
»Lasses ... Lasses Hohahahaha ...«
»Was ist mit Lasse?«
»Paps hahaha ... meine Ho ... meine Hose ...«
»Ja was ist denn nun mit der Hose!«
»Sie ist ... hahaha ... sie ist geplatzt!«
»Sie ist was?«
Endlich gelang es zumindest mir meine Lachanfälle einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen.
»Seine Hose ist geplatzt. Sie ist ihm zu kurz geworden, das habe ich ihm gezeigt, er wollte sich bücken, um nachzusehen, ob man da noch was auslassen könnte, und dabei hat er gemerkt, dass sie ihm nicht nur zu kurz, sondern auch zu eng geworden ist. Da ist ihm hinten die Naht aufgeplatzt.«
Und damit war es um meine Fassung bereits wieder geschehen, der nächste Lachanfall durchschüttelte meinen Körper.
»Das darf doch nicht wahr sein! Lasse, zeig mal her!«
Gehorsam wandte mein Bruder Mutti sein Hinterteil zu, und sie begutachtete den Schaden.
»Tja, da hast du wirklich ganze Arbeit geleistet. Das ist gut und gerne ein Zwanzigzentimeterschlatz. Hast du die Hose denn nicht zuhause mal anprobiert?«
»Nein, habe ich nicht. Hahaha ...«
»Ich finde das gar nicht witzig! Was willst du denn nun anziehen?«
Eine gefährliche Frage. Schließlich wollten weder er noch ich diese eher einer Trauerfeier angemessene Bekleidung überhaupt tragen.
»An dieser Hose ist jedenfalls nichts mehr zu retten ...«
Ich konnte mir den innerlichen Jubel meines Bruders bei dieser Aussage lebhaft vorstellen. Vielleicht sollte ich mich auch mal kräftig bücken ... allerdings: Ich war in letzter Zeit nicht mehr gewachsen und auch zugenommen hatte ich nicht. Mist.
»Da werde ich wohl eine Jeans anziehen müssen.«
Oh, wie Lasse das bedauerte! Fehlten bloß noch die dicken Krokodilstränen ob der fürchterlichen Zerstörung des geliebten Kleidungsstückes.
»Aber wie sieht denn das aus. Jeans und Krawatte ...«
»Dann eben ohne Krawatte.«
Mutti seufzte und gab mit einem resignierten Nicken ihre Einwilligung. Und ich unternahm einen verzweifelten Anlauf, um mich eventuell auch noch um die Festtagskluft drücken zu können.
»Kann ich mich auch wieder umziehen?«
»Wieso? Deine Hose ist doch in Ordnung, oder?«
»Ja, aber ... es ist doch irgendwie unfair wenn Lasse in bequemen Klamotten rumlaufen darf und ich mich hier so einzwängen muss.«
Bevor Mutti mir jetzt aufbrausend meinen Wunsch abschlagen konnte, mischte sich Vati in die Unterhaltung ein.
»Heike, der Junge hat recht. Stell dir mal vor, was die beiden nachher bei den Nachbarn für ein Bild bieten: der eine in legerer Freizeitkluft, der andere hochgeputzt wie zu seiner eigenen Hochzeit.«
»Ja, schon ... Aber ich mag es halt, wenn sie einmal im Jahr festlich angezogen sind. Das ist so ein niedlicher Anblick.«
Deshalb also zwang sie uns jedes Weihnachten zu dieser Maskerade? Weil wir darin »niedlich« aussahen? Noch ein Grund die Klamotten so schnell wie möglich loszuwerden.
»Überleg mal, die Jungs werden sich nachher sowieso mit dem jungen Nachbarsvolk vereinigen und sich irgendwo herumfläzen. Da würden die guten Sache eh nur zerknautscht und vielleicht sogar noch verdreckt werden.«
Puh, da hatten wir wohl glücklicherweise einen in unserem Vater einen Verbündeten gefunden. Es sah so aus als würden wir tatsächlich um die »Niedlichkeits-Tracht« herumkommen.
»Außerdem sehen die beiden doch auch in Jeans und Sweatshirt niedlich aus, oder?«
Argh!!!
»Gut, gut, ich gebe mich geschlagen. Zieht an was ihr wollt – aber zumindest sauber sollten die Sachen sein! Verstanden?«
Wir stimmten jubelnd zu, und noch während unsere alten Herrschaften das Zimmer verließen, rissen wir uns bereits die verhassten Sachen vom Leibe. Kurz darauf trugen wir wieder Jeans und Sweatshirts – natürlich einigermaßen ordentliche und saubere solche, schließlich wollten wir es uns nicht endgültig mit Mutti verderben. Warum waren wir bloß nicht ein paar Jahre eher auf eine solche Idee gekommen?
Solchermaßen bequem gekleidet machten wir uns dann auf den Weg nach unten, wo bereits unsere Eltern neben dem geschmückten Weihnachtsbaum auf uns warteten. Muttis Gesicht zeigte noch ein kleines Schmollen, aber das würde sich sicherlich bald geben. Jedenfalls begann jetzt das was wohl viele für das Beste am Feste halten – die Geschenkeverteilung! Als Erstes kam Lasse dran – das Vorrecht des Nesthäkchens. Auch wenn sich dieses Nesthäkchen gegen eine solche Bezeichnung natürlich entschieden verwehren würde!
Wir hatten allerdings nicht alle Geschenke mit in den Urlaub geschleppt – wäre ja auch ein klein wenig übertrieben gewesen. Daher fand mein Bruder nur zwei Pakete für sich vor, denen er alsbald mit all seiner Teenagerkraft das Geschenkpapier vom Leibe riss. Als Erstes fand er ... nein! Keine Unterhose! (Findet ihr diese Werbung eigentlich auch so lustig?) Nein, es gab ein neues Sweatshirt einer recht teuren Marke, die ich hier nicht näher nennen möchte – vielleicht findet sich ja ein Sponsor der hier gerne seinen Markennamen lesen möchte*G*. Das zweite Päckchen war wohl deutlich schwerer, und als Lasse es öffnete, fiel ihm ein Paar Schlittschuhe entgegen. Dringend notwendig, so wie der gewachsen war passten ihm seine alten auf keinen Fall mehr. Und das war natürlich auch ein Geschenk, welches es verdient hatte, mit in den Urlaub zu kommen, schließlich gab es hier im Ort auch eine Eisbahn, die wir in den nächtsten Tagen zu beehren gedachten. Zum Schluss fand sich noch ein Briefumschlag, aus welchem mein Bruder ein kleines Foto herausholte. Im nächsten Moment sah man ihn jubelnd durchs Zimmer springen – was konnte das wohl ausgelöst haben?
Ich griff mir das runtergefallene Foto. Aha. Das war wohl sein neues Keyboard. Lasse spielte schon ewig Klavier, bevorzugte mittlerweile (verständlicherweise) die moderne, elektronische Version, und wünschte sich schon seit geraumer Zeit Ersatz für sein doch eher als Anfängergerät zu bezeichnendes Exemplar. Was er da genau geschenkt bekam, konnte ich nicht sagen – für mich waren das böhmische Dörfer. Ich meine, Musik ist ja schön und gut, aber selber Töne erzeugen? Niemals. Das war definitiv nicht mein Ding.
Jetzt war ich an der Reihe meine Geschenke auszupacken, die irgendwie ziemlich ... äh ... klein aussahen? Andererseits, bei meinem Bruder war auch das kleinste Geschenk das eigentlich größte. Also machte ich mich an die Auspackerei. Auch ich bekam ein Sweatshirt, und zwar vom gleichen Typ wie Lasse, bloß in leicht abgewandelter Farbe. Dann war das zweite Päckchen dran, wobei hier eigentlich die Bezeichnung Päckchen bereits übertrieben war. Klein, extrem leicht, was konnte das wohl sein? Ich entfernte ordentlich das Papier (klar, ganz ordentlich, das glaubt mir sicher jeder hier, oder?) und war nun selbst derjenige der Freudentänze hätte aufführen müssen. Was ich auch tat ...
»Na, Heike, was meinst du. Gefallen unseren Söhnen ihre Geschenke?«
»Sieht ganz so aus.«
Was hatte nun mich dermaßen in Verzückung geraten lassen? Ganz einfach. So klein das im Karton vorgefundene Gerät auch war, so überragend, fortschrittlich, superelegant usw. usf. war es auch. Ein iPod von Apple! (Was zur Hölle ist ein iPod? Das werden jetzt wohl einige Leser fragen. Ganz einfach: DAS Nonplusultra auf dem Markt der MP3-Player. Silbrig glänzend, winzig klein, mit einer 5-GB-Minifestplatte, und allem, was sonst noch technisch machbar ist. Wer sich für das Ding interessiert, kann ja mal auf den Webseiten von Apple nachschauen: http://www.apple.com/de/ )
Ich höre schon die nächsten Fragen. Sind die Typen Lotto-Millionäre? Allerdings. So ein Jackpot ist schon eine feine Sache ...
Aber weiter im Text. Lasse bekam jetzt von mir noch seine CD und zeigte angemessene Freude darüber, dann waren unsere Eltern dran. Diese bekamen ebenfalls CDs, DVDs und Bücher (bzw. Gutscheine dafür, schließlich wollten wir das Zeug nicht auch noch alles mitschleppen).
Als nunmehr alle glücklich beschenkt waren, machten wir es uns in den verschiedenen Sesseln bequem. Ich holte vorher schnell noch mein Powerbook herunter um mein Geschenk gleich auszuprobieren – was mich dermaßen in den Bann schlug, dass ich gar nicht mitbekam, wie die Zeit verging, bis mir plötzlich mein Vater auf die Schulter tippte.
»Kannst du dein neues Spielzeug jetzt eventuell mal ein Weilchen zur Seite legen? Wir wollen rüber zu Nachbars.«
Jede andere Beschäftigung hätte mich wohl nicht vom iPod weggelockt – Nachbars hieß jedoch für mich hauptsächlich Pascal, und dafür verzichtete ich sogar auf das glänzende Technikwunder. Vorübergehend ;-)
Ich schnappte mir schnell noch das Geschenk für Nachbars Ältesten, dann folgte ich meiner Familie in die gegenüberliegende Haushälfte. Dort wurden erst einmal die üblichen Weihnachtswünsche und Höflichkeiten ausgetauscht, dann suchte sich jeder einen Platz im festlich geschmückten und vom flackernden Kamin erwärmten Zimmer. Ich landete direkt neben Pascal (Überraschung ;-) auf einem Zweisitzer. Ein Weilchen saßen wir etwas unsicher nebeneinander und beobachteten den Rest der Familien, dann überwand ich meine plötzliche Schüchternheit und überreichte Pascal das kleine Geschenkpäckchen. Dieser entfernte das Schmuckpapier, öffnete die kleine Schachtel und ... brach in schallendes Gelächter aus!
Dieses Gelächter verfehlte seine Wirkung auf mich nicht. Mir schoss das Blut in den Kopf, und im Bewusstsein irgendeinen blöden Fehler gemacht zu haben, wollte ich mich schnellstmöglich vom Ort des Geschehens entfernen. Als ich mich erheben wollte, wurde ich allerdings von meinem Sitznachbarn zurückgehalten.
»Warte, Sören! Entschuldige, dass ich so lachen musste.«
»Was ist? Ich wollte dir eine kleine Freude machen und du reagierst so ... so ...«
»Tut mir wirklich leid, aber du wirst es gleich verstehen. Glaub mir, bitte!«
Resignierend ließ ich mich wieder in die Polster zurücksinken, während Pascal aufsprang, zum Tisch lief, dort etwas griff und zu mir zurückkehrte. All dies hatte natürlich auch sofort die Aufmerksamkeit aller anderen Anwesenden geweckt, und somit reichte Pascal mir unter den wachsamen Blicken von sieben Augenpaaren ein kleines Päckchen. Ich schaute ihn fragend an.
»Mach es auf, das ist mein Weihnachtsgeschenk für dich.«
Ich zuckte mit den Schultern und tat wie mir geheißen – und kurz darauf wurde mir alles klar. Pascals Reaktion war nun kein Buch mit sieben Siegeln mehr! Aus dem Paket glitzerte mich die gleiche Kette an, die ich ihm geschenkt hatte! Gut, nicht ganz die gleiche, diese hatte statt regenbogenfarbenen Ringen regenbogenfarbene Dreiecke, aber ansonsten war es genau das gleiche Modell. Und mit ziemlicher Sicherheit auch genau im gleichen Laden gekauft. Vermutlich nur kurze Zeit, bevor ich mit Lasse den Laden betreten hatte!
Ich hob die Kette aus dem Karton und zeigte sie den Anwesenden, während Pascal mit seinem Geschenk ebenso verfuhr. Nun war allen klar, was Pascals Ausbruch provoziert hatte, und kurz darauf erfüllte schallendes Gelächter aus neun Kehlen den Raum.
»Bist du mir noch böse, Sören?«
»Nein, wie könnte ich. Wahrscheinlich hätte ich auch so reagiert.«
»Tja, das ist dann wohl ein Fall von ›zwei Dumme, ein Gedanke‹.«
»Der eine Dumme ist allerdings mein kleiner Bruder, der hat mich nämlich in den Laden geschleppt und den Vorschlag mit der Kette gemacht.«
»Soll ich also ihm die Kette schenken?«
»Untersteh dich!«
»Darf ich sie dir ummachen?«
»Gerne.«
Ich drehte mich, so dass Pascal gut an meinen Hals herankam und mir ohne Probleme die Kette umlegen konnte. Anschließend tat ich Gleiches bei ihm, und um ehrlich zu sein: Ihm stand die Kette garantiert noch tausendmal besser als mir!
»Ich dachte mir, wo du dich doch jetzt auch noch bei deinem Bruder geoutet hast, wäre das vielleicht ein passendes Geschenk. Du musst nur bei anderen Leuten aufpassen, aber die Regenbogen-Dreiecke kannst du ja notfalls unter dem T-Shirt verbergen. Oder du nimmst die Kette halt in solchen Situationen ab.«
Ich fasste einen Entschluss, den ich hoffentlich nicht bereuen würde.
»Nein, die Kette werde ich nicht abnehmen. Das ist eine gute Gelegenheit endgültig zu meinem Schwulsein zu stehen. Viele werden wahrscheinlich eh nicht wissen was diese Farben bedeuten – und wenn es jemand weiß, werde ich es nicht weiter verleugnen.«
»Bist du dir da wirklich sicher? Bloß weil ich vollkommen geoutet bin, heißt das nicht, dass du es auch sein musst. Denk mal an die Schule, du musst dort noch eine Weile mit den Leuten klarkommen.«
»Ich weiß. Aber ich habe dieses ständige Versteckspiel so satt. Vor allem wenn die blöden Fragen nach einer Freundin kommen. Vermutlich ahnen es sowieso schon die meisten.«
»Gut, das musst du selber wissen.«
»Genau.«
»Sag mal, hast du Lust vor dem Abendessen noch eine kleine Runde zu drehen? So schön durch den Schnee, unterm Sternenhimmel ...«
Also eigentlich wollte ich ja nun nicht unbedingt nochmal raus in die Kälte, aber zusammen mit Pascal würde ich auch noch viel Schlimmeres überstehen.
»Okay, warum nicht.«
»Gut, dann treffen wir uns in zehn Minuten vor der Tür. Ich muss mich schnell noch umziehen, ansonsten erfriere ich da draußen ...«
»Ich auch. Also bis gleich.«
Wir sagten noch schnell unseren jeweiligen Eltern bescheid, dann verzogen wir uns nach oben in unsere jeweiligen Zimmer. So schnell hatte ich mich lange nicht umgezogen! Es dauerte längst keine zehn Minuten, da stand ich schon wieder unten an der Haustür. Pascal hatte sich anscheinend auch beeilt, denn ich brauchte nicht lange auf sein Erscheinen zu warten.
»Können wir?«
»Von mir aus gerne.«
Da fiel mir noch etwas ein – tja, alte Leute sind halt doch etwas vergesslich.
»Halt, ich hab meine Glimmstängel vergessen. Bin gleich wieder da!«
»Nichts da! Die Sargnägel bleiben hier – du wirst doch nicht die herrliche klare Winterluft mit deinem Tabakqualm verpesten wollen! Los, Abmarsch. Atme lieber mal richtig tief durch, das ist viel gesünder.«
Seufz. Ein Gesundheitsapostel ...
Wir wanderten schweigend ins Tal hinab, in welchem überall erleuchtete Fenster und lichterkettengeschmückte Bäume und Häuser funkelten. Verbunden mit dem vielen Schnee sah das hochgradig romantisch aus – und das sogar für einen bisher eher unromantischen Typen wie mich! Nach einer Weile brach mein Begleiter das Schweigen.
»Und, was hast du so geschenkt bekommen? Außer der Kette?«
Ich berichtete ihm voller Begeisterung von meinem Super-Geschenk und kam dabei regelrecht ins Schwärmen. Nach kurzer Zeit unterbrach mich Pascal allerdings.
»Sag mal, seid ihr irgendwie mit Rockefellers verwandt?«
»Nö, wieso?«
»Na das hört sich irgendwie sehr teuer an.«
»Ach so. Ja, ist es auch. Aber wir sind vor einiger Zeit zu ziemlich viel Geld gekommen.«
Und ich erzählte ihm von unserem überraschenden Lottogewinn.
»Soso, da bist du also eine richtig gute Partie!«
Ich schaute zu Pascal hinüber, und da wir gerade unter einer Straßenlaterne durchgingen, konnte ich das süße Grinsen in seinem Gesicht erkennen.
»Also darauf bist du aus!«
»Na aber sicher doch! Worauf denn sonst? Glaubst du etwa dein Humor, dein super Body oder dein niedliches Gesicht hätten mich zu dir gezogen?«
»Nicht zu vergessen mein Knackarsch ...«
»Wie könnte ich den vergessen!«
Wir wanderten weiter, mittlerweile waren wir im Ort angekommen und bewunderten die festlich erleuchteten Häuser und Gärten. Eines der Häuser sah aus wie direkt aus Amerika importiert, dort funkelten Hunderte, ach was: Tausende Lämpchen am ganzen Haus und auch alle Bäume im Garten waren elektrifiziert. Ich war mir nicht ganz sicher ob das nun noch festlich oder vielleicht doch schon wieder kitschig aussah.
Nach einer Weile erreichten wir den Marktplatz mit der großen Tanne in der Mitte. Es waren nur sehr wenige Leute unterwegs, anscheinend saßen die meisten noch mit ihren Familien in der guten Stube und amüsierten sich mit den Weihnachtsgeschenken. Ich stellte mich unter die Tanne, legte den Kopf in den Nacken und stierte nach oben. Dort war nicht mehr so richtig auszumachen, ob das Funkelnde da oben nun die Baumbeleuchtung war oder bereits die Sterne am völlig klaren Himmel. Pascal stand hinter mir, und plötzlich legten sich seine Arme um mich und zogen mich an ihn heran. Dagegen hatte ich eigentlich nichts einzuwenden, also ließ ich es geschehen und lehnte mich in seine Umarmung hinein. So standen wir eine ganze Weile unbeweglich und still unterm Weihnachtsbaum. Ich genoss das bisher ungekannte Gefühl jemandem dermaßen nahe zu sein, noch dazu jemandem zu dem ich mich – das hatte ich mir mittlerweile eingestanden – extrem hingezogen fühlte. Ich spürte Pascals warmen Atem an meinem linken Ohr.
»Du, Sören?«
»Ja ...«
»Das vorhin war kein bloßes Gerede. Ich mag dich wirklich. Sehr sogar.«
Ich drehte mich leicht in der Umarmung nach links, um Pascals Gesicht zu sehen. Da war nun nichts mehr von Grinsen oder Rumalberei zu erkennen – Pascal schaute mir richtig ernsthaft in die Augen. Und seine Augen! Blau wie das Meer – oder waren das nur Spiegelungen der bunten Lichterkette des städtischen Weihnachtsbaumes? Nein, das war wohl echt.
»Könntest du ... könntest du dir vorstellen, mit mir ... naja ... könntest du dir vorstellen mein Freund zu sein? Freund im Sinne von ... naja, du weißt schon was ich meine ...«
Ja, ich war mir ziemlich sicher zu wissen, was er da meinte. Und noch viel sicherer war ich mir meiner Antwort. Ich drehte mich endgültig zu Pascal um, sodass wir uns nun gegenüberstanden und ich direkt in seine Augen schauen konnte – seine Arme hielten mich weiterhin fest umschlungen.
»Ja. Nichts lieber als das ...«
Ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie der ernsthafte Ausdruck aus Pascals Gesicht verschwand und einem breiten Grinsen Platz machte. Nein. Kommando zurück. Grinsen traf das nicht wirklich. Grinsen klang der Situation auch nicht angemessen. Es war eher ein erleichtertes und gleichzeitig zufriedenes Lächeln, und mein Gegenüber sah gleich nochmal so hübsch aus.
»Ehrlich?«
»Ganz ehrlich.«
»Wow. Super!«
Und jetzt wanderten Pascals Hände meinen Rücken hinauf, bis sie am Kopf angelangt waren und diesen in Richtung seines eigenen zogen – im nächsten Moment presste er seine Lippen auf die meinigen. Bald waren nicht mehr nur unsere Lippen in den Kuss involviert, auch die Zungen griffen ins Geschehen ein und wir vergaßen alles um uns herum. Nur noch wir beide existierten in diesem Moment, der wohl der bisher schönste in meinem Leben war. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Da fuhr ich in ein Alpenkaff, rechnete mit einem langweiligen Familienurlaub, traf einen Superboy, bei dem ich mir sicher war, dass ich keinerlei Chancen beim ihm hätte, erfahre, dass er sogar in meiner Nähe wohnt, verknall mich bis über beide Ohren in ihn, erfahre, dass er auch schwul war – und jetzt wollte er mich (nochmal zur Verdeutlichung: mich, Sören Pauls!!!) zum Freund haben! Einfach unglaublich – aber anscheinend doch wahr. Schließlich stand ich dicht an ihn gedrängt mitten auf dem Marktplatz unseres Urlaubsortes, unter der Weihnachtstanne, und knutschte mit ihm herum was das Zeug hielt!
Leider mussten wir sehr bald erfahren, dass wir eben nicht die Einzigen waren, die auf der Welt existierten. Eine keifende Stimme riss uns aus unserer höchst erfreulichen Beschäftigung.
»Das ist ja unmöglich! Sowas Perverses! Und das auf dem Markt, unter den Augen der Leute! Schämt ihr euch nicht! Hier sind lauter Kinder unterwegs! Sowas hätte man früher vergast ...«
Wir ließen voneinander ab und schauten uns verärgert nach der Störungsquelle um. Eine alte, aufgetakelte Schabracke mit dem wohl hässlichsten Köter, der mir bisher unter die Augen gekommen war, stand geifernd fünf Meter von uns entfernt und hätte wohl die Töle auf uns gehetzt – wenn es sich dabei nicht nur um ein Exemplar von der Größe eines halbwüchsigen Meerschweinchens gehandelt hätte.
Da ich ja gerademal die ersten Schritte als geouteter Jungschwuler machte, waren mir solche Erfahrungen bisher fremd gewesen, und ich hatte keine Ahnung, wie ich darauf reagieren sollte. Pascal hingegen musterte die Alte mit eisigem Blick vom lächerlichen Hut hinunter bis zu den ausgelatschten Filztretern.
»Na, Oma, neidisch? Bekommst keinen flotten Jungen mehr ab, und da gönnst das auch keinem anderen, oder?«
»Aber das ... da hört sich doch alles auf ... So eine Unverschämtheit ... Diese Jugend von heute! Bei Adolf wäre das nicht passiert, da herrschten noch Zucht und Ordnung!«
»Kleiner Tipp, Oma. Wenn dir das nächste Mal der Sargdeckel ins Gesicht fällt, dann bleib einfach liegen und kraxle nicht wieder raus. Ist besser so. Für dich und den Rest der Welt.«
Das brachte die Alte zum Schweigen. Zwar öffnete sich weiterhin ihr Mund, aber nur noch Geifer schäumte daraus hervor.
»Komm, Sören, gehen wir. Wird eh langsam Zeit, dass wir zum Abendessen antanzen.«
Wir wandten uns von unserer Gegnerin ab und begannen unseren Marsch nach Hause. Einige Meter hatten wir zurückgelegt, da drehte sich Pascal noch einmal um.
»Übrigens, schöne einsame Weihnachten wünsch ich noch.«
Damit ließen wir den Ort des Geschehens hinter uns und wanderten schweigend durch die dunkle Stadt. Nach einer Weile musste ich Pascal die eine Frage stellen, die mir seit der Unterbrechung unseres intimen Moments auf der Zunge lag.
»Sag mal, passiert sowas öfters? Muss ich jetzt damit rechnen, ständig angegriffen zu werden?«
»Nein, so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Ab und an gibt es ein paar komische Blicke, oder auch mal eine dumme Bemerkung. Aber richtig angegriffen wurde ich bisher nicht. Das hier war schon ziemlich heftig, vor allem wegen der Wortwahl. Naja, was solls. Es war natürlich etwas gewagt, uns mitten auf dem Markt abzuschlecken.«
Da war wieder das Grinsen in Pascals Gesicht, und seine Augen funkelten zu mir herüber.
»Aber es war schön ...«
»Puh, da bin ich ja beruhigt. Ich wollte dich nicht überfahren, aber nachdem du gesagt hattest, dass du mich zum Freund haben willst, konnte ich einfach nicht widerstehen.«
»Von mir wirst du keine Beschwerden hören ...«
Mit frischem Schwung machten wir uns nun ernsthaft an den Heimweg, und nach ein paar Metern griff Pascal nach meiner linken Hand.
»Okay? Oder lieber nicht?«
Nach dem Erlebnis mit der Halbverwesten auf dem Markt konnte mich jetzt nichts mehr abschrecken, also griff ich mir die Finger von Pascals rechter Hand und ließ diese nicht mehr los, bis wir am Ferienhaus ankamen. Die ganze Strecke legten wir Hand in Hand zurück – und obwohl uns noch ein paar Leute begegneten, gab es keinerlei Reaktionen darauf. Vielleicht hatten die das gar nicht gesehen oder wegen der dicken Winterkleidung nicht erkannt, dass es sich bei uns mitnichten um Junge und Mädchen handelte. Für mich jedenfalls war der Heimweg dadurch gleich noch viel schöner und romantischer.
Im Haus angekommen erklommen wir zuerst die Treppe zum Obergeschoss und verschwanden in unsere jeweiligen Zimmer um die Bekleidung wieder auf »gut geheiztes Ferienhaus« umzustellen. Ich knöpfte gerade meine Jeans zu, als es an der Tür klopfte und kurz darauf Pascal seinen Kopf ins Zimmer steckte.
»Kann ich reinkommen.«
»Yep, bin gerade fertig mit umziehen.«
»Mist, bin ich doch zu spät gekommen ...«
»Du hast doch eh schon alles gesehen.«
»Stimmt auch wieder. Sag mal, wollen wir es den anderen erzählen? Ich meine, dass wir ein Paar sind?«
Ich überlegte nur ganz kurz. Die Antwort war eigentlich klar, und wer nicht gerade mit Blindheit geschlagen war, würde sowieso nach kürzester Zeit wissen, was die Stunde geschlagen hat.
»Ja.«
»Schön. Können wir?«
Ich nickte, und wir machten uns auf den Weg nach unten. Vor der Tür zu Sauters Wohnzimmer blieben wir kurz stehen und schauten uns an. Pascal griff wieder nach meiner Hand und warf einen fragenden Blick in Richtung Türklinke.
»Sollen wir?«
»Okay, los. Bevor ich doch noch kalte Füße bekomme.«
Ein schneller Griff zur Türklinke und die Tür schwang ins Zimmer hinein auf. Und knallte nach einer 180-Grad-Drehung ungebremst gegen die Zimmerwand. Auf diese Weise aus dem, was sie gerade taten aufgeschreckt, wandten nun alle Anwesenden ihre ganze Aufmerksamkeit uns beiden zu. Wir selbst blieben mitten in der Tür stehen und schauten etwa – ja was eigentlich? schüchtern? betreten? zurückhaltend? – in die Runde. Allgemeines Schweigen kehrte ein, wurde allerdings schon bald von Lasse gebrochen, welcher sich triumphierend an Toni wandte.
»Na, habe ich dir doch gleich gesagt! Die beiden kommen als Paar von ihrem Spaziergang zurück.«
Etwas zweifelnd sah Pascals kleiner Bruder zu uns herüber.
»Stimmt das? Seid ihr jetzt zusammen?«
Wir hoben unsere ineinander verschlungenen Hände hoch, sodass auch der Letzte im Raum sie sehen konnte. Toni hingegen schien das nicht auszureichen.
»Naja, ein etwas magerer Beweis ...«
In diesem Moment erinnerte ich mich an etwas, was ich am früheren Nachmittag gesehen hatte. Ich schaute zu Pascal, und als ich seine Aufmerksamkeit hatte, zeigte ich mit meinem Kopf in Richtung Türbalken. Anfängliches Unverständnis machte bald einem verstehenden Ausdruck in Pascals Gesicht Platz, und wie auf Kommando näherten sich erneut unsere Lippen, bis sie sich zum nächsten Kuss trafen. Diesmal gingen wir allerdings nicht ganz so weit, und unterbrochen wurden wir auch nicht durch Altweiber-Gekeife, sondern durch Applaus und sonstige Beifallsbekundungen.
»Wusst ich doch, dass der Mistelzweig eine gute Idee ist!«
Da konnte ich Herrn Sauter nur zustimmen, und nachdem ich mich von den Lippen seines ältesten Sohnes getrennt hatte, gingen wir endgültig ins Zimmer hinein, wo wir uns die Gratulationen der versammelten Familien abholten. Alle schienen zufrieden zu sein, einige meinten sogar, dass sie von Anfang an gewusst hätten, dass aus uns ein Paar werden würde. Fehlte nur noch, dass jemand behauptete, der ganze Urlaub wäre nur inszeniert worden, damit wir uns treffen konnten!
Wir suchten uns einen Platz und ließen uns nieder. Natürlich ein Platz, der garantierte, dass wir ganz eng zusammensitzen konnten. Bis zum Abendessen war noch etwas Zeit, also erzählten wir von unseren Erlebnisse in der Stadt und ernteten zuerst lächelnde, dann empörte Reaktionen. Als ich erzählte wie Pascal die Alte abgefrühstückt hatte brachen dann alle wieder in Gelächter aus. Trotzdem war dies der Zeitpunkt für ein paar mahnende Worte aus mütterlichem Munde. Dem mütterlichen Munde meiner Mutter.
»Jungs, das ist ja gut gegangen. Aber das muss nicht immer so klappen. Ich hoffe ihr wisst, dass solche Situationen auch anders ausgehen können – nicht immer ist der Gegner eine schwache alte Frau. Ich will euch den schönen Tag nicht vermiesen, aber ihr solltet in Zukunft etwas genauer aufpassen, was ihr wo und wie tut.«
Da hatte sie natürlich (leider) recht, und wir versprachen der versammelten Elternschaft zukünftig etwas aufmerksamer zu sein. Schließlich wollte keiner von uns im Krankenhaus landen, weil irgendeinem gewalttätigen Spatzenhirn nicht passte, dass da zwei Jungs was miteinander hatten.
Es folgte ein ausgiebiges Abendessen, in dessen Anschluss zwei Flaschen Sekt ihren Inhalt zur Feier des Tages rausrücken mussten. Wobei mit »Feier des Tages« weniger Heiligabend als vielmehr Pascals und meine »Verlobung« gemeint war. Gegen halb acht stand dann mein Bruder plötzlich auf.
»Ich gehe dann mal nach oben.«
Ich schaute ihn verwundert an – es war ja nun wirklich noch ein wenig arg zeitig, um bereits im Bett zu verschwinden.
»Natürlich nur, wenn die beiden es wollen.«
Jetzt stand ich völlig auf dem Schlauch, und auch Pascal wusste mit den Äußerungen von Lasse nichts anzufangen. Die anderen jedoch wussten anscheinend, worum es ging, denn rings um uns herum zeigten sich wissende Gesichtsausdrücke. Mein Vater war es dann, der sich bemüßigt fühlte, uns einzuweihen.
»Jungs, wir haben uns überlegt, dass ihr vielleicht etwas mehr Zeit miteinander verbringen wollt. Lasse wäre bereit mit Pascal das Zimmer zu tauschen. Wir wollten das sowieso vorschlagen, da das ja altersmäßig etwas besser zusammenpassen würde. Und jetzt ... naja, da würde das doch noch besser passen, oder?«
Ich war wie vor den Kopf geschlagen! Gut, ich wusste ja, dass sich meine Eltern an das Thema »schwuler Sohn« sehr gut gewöhnt hatten, dass sie aber so komfortabel damit umgehen würden, hätte ich mir nicht zu träumen gewagt! Ich meine ... die steckten Pascal und mich zusammen ins Bett!
»Guck nicht so verdattert, Sören. Ihr seid beide alt genug, um zu wissen, was ihr tut. Was nicht heißt, dass ihr nun heute Nacht gleich übereinander herfallen sollt.«
Ich schaute zu Pascal, und der war ganz offensichtlich nicht weniger verdattert als ich. Wir sahen uns einen Moment lang gegenseitig fragend an, dann nickten wir uns leicht zu. Sodann erfolgte die Antwort in Stereo.
»Ja!«
»Also dann, ich räume dann mal mein Zeug um. Pascal, am besten du kommst mit rauf und kümmerst dich auch gleich um deine Sachen.«
Der Genannte erhob sich, und auch ich stand auf. Vielleicht wurde ja oben noch eine weitere helfende Hand gebraucht. Zu dritt stiegen wir die Treppe hinauf, und zum ersten Mal betrat ich das Zimmer, welches sich Pascal mit den Zwillingen teilte. Und stellte fest, dass es sich nicht um ein, sondern sogar um zwei Zimmer handelte!
»Mein Zimmer ist dort hinten, hier vorn schlafen Tonja und Toni.«
In diesem Moment kam auch schon Lasse mit seiner Sporttasche ins Zimmer spaziert.
»Pascal, dein Zimmer bekommt Tonja, ich schlafe mit Toni hier vorne.«
Klang auch durchaus logisch, und wir begannen damit, die notwendigen Wechselspielchen abzuspulen. Eine halbe Stunde später war alles dort, wo es hingehörte, inklusive Pascal, der nun ganz eindeutig in mein Zimmer gehörte ;-)
»Puh, geschafft! Sag mal, Sören, bist du dir wirklich sicher, dass du dazu schon bereit bist?«
»Die Frage kommt etwas spät, oder? Ich meine, hättest du Lust den ganzen Kram wieder zurückzuschleppen?«
»Äh ... nö. Sorry, ich hätte wohl eher fragen sollen.«
»Schon gut, wenn ich es nicht gewollt hätte, dann hätte ich mich schon gemeldet. Ich finde es sogar prima! Bloß ...«
»Bloß?«
»Naja ... ich möchte nicht ... was ich sagen will ist ... ich meine ... mehr als zusammen schlafen läuft erstmal nicht, okay? Dazu bin ich nun wirklich noch nicht bereit. Ich hoffe du nimmst mir das nicht übel ...«
»Warum sollte ich dir das übel nehmen?«
»Naja, es ist halt so ... ich habe in der Beziehung überhaupt noch keine Erfahrung, und ich möchte nicht, dass du irgendwie enttäuscht bist, wenn ich noch etwas Zeit brauche.«
»Okay! Hinsetzen!«
Mit kräftigen Armen drückte mich Pascal runter auf die Bettkante, dann setzte er sich neben mich und schaute mir eindringlich in die Augen.
»Also um ein paar Dinge von Anfang an klarzustellen. Es macht mir überhaupt nichts aus, dass du noch keine Erfahrungen hast. Ganz im Gegenteil, ich würde mich sehr freuen, wenn du deine ersten Erfahrungen mit mir sammeln würdest. Aber ich werde dich nie, auf keinen Fall, niemals zu etwas drängen! Ich richte mich da voll nach dir.«
Puh, jetzt war ich aber erleichtert. Ein wenig Sorgen hatte ich mir schon gemacht, dass ich eventuell nicht in der Lage sein könnte Pascals Wünsche und Vorstellungen von unserer Partnerschaft zu befriedigen.
»Sören, ich habe das wohl noch nicht klar genug ausgedrückt. Ich liebe dich! Ich habe mich Hals über Kopf in Dich verliebt! Und das werde ich garantiert nicht dadurch kaputtmachen, dass ich dir irgendetwas aufzwinge, wozu du noch nicht bereit bist.«
Wow. Pascal liebte mich? So richtig heftig, mit allem Drum und Dran? Und was war mit mir, was fühlte ich, was empfand ich für ihn? Mein Problem war, dass ich keinerlei Vergleichsmöglichkeiten hatte. Noch nie hatte ich für jemanden das gefühlt, was ich für ihn fühlte. Noch nie hatte allein der Anblick einer Person genügt, um meine Knie zum Schlottern und mich selbst zum Stottern zu bringen. War das Liebe? Keine Ahnung. Aber wenn nicht, wie sonst sollte ich mir Liebe vorstellen? Und mir wurde klar, dass es auf seine Ausführungen nur eine einzige mögliche Antwort gab.
»Pascal, ich liebe dich auch ...«
Im nächsten Moment lagen wir uns in den Armen, und sicherlich hätte die nächste Abknutschorgie begonnen, wenn ... ja wenn nicht mein Herr Bruder genau diesen ungünstigsten aller ungünstigen Momente abgepasst hätte, um ins Zimmer zu platzen.
»Ich hab noch meinen Schlafanzug verges... Ups, sorry! Ich wollte nicht stören.«
Irgendwas mussten wir wohl falsch machen, ständig wurden wir unterbrochen. Aber das war wohl auch gut so, schließlich mussten wir uns langsam wieder unten einfinden, der Heiligabend im Familienkreis war längst noch nicht beendet.
Unten im Wohnzimmer der Sauters hatte man sich mittlerweile zu Spielrunden zusammengefunden. Toni und Tonja hatten sich mit der Playstation vor den Fernseher gehockt, und sobald Lasse das sah, gesellte er sich zu ihnen. Die Erwachsenen hatten die Rommékarten rausgeholt und fragten Pascal und mich, ob wir mitspielen wollten. Wir ließen uns dazu breitschlagen, und bald begannen wir ganz unauffällig gemeinsame Sache gegen die Elterneinheiten zu machen. Lange blieb das nicht unbemerkt, und wir mussten uns von da an etwas mehr zurückhalten. Geschickt wie wir waren konnten wir uns trotzdem immer mal wieder aushelfen ...
So verging der Abend in gemütlicher Runde, und da am nächsten Morgen Ausschlafen angesagt war, konnten wir auch etwas länger aufbleiben und der Weihnachtsbowle zusprechen. Gegen elf wurden die drei jüngeren Kids in Richtung Betten geschickt, Pascal und ich folgten ihnen etwa eine halbe Stunde später. Verfolgt von wissenden Blicken und der Aufforderung uns ordentlich zu benehmen. Taten wir doch immer, oder? *G*
Da uns ja zwei Bäder zur Verfügung standen, konnten wir uns gleichzeitig bettfein machen und trafen fast zur gleichen Zeit in meinem, jetzt ja wohl eher unserem Zimmer, ein. Ich hatte mich gerade auf die Bettkante gesetzt, als auch schon Pascal hereinkam. Ich blickte zu ihm auf ... und musste loslachen. Mein Freund – wie toll sich das doch anhörte! – guckte mich verwundert an.
»Was ist denn nun wieder los?«
»Was ... was ist denn das?«
»Was?«
»Na das was du da anhast!«
»Ach so. Das, mein lieber Sören, ist ein Underall. Sollte so ein alter Möchtegern-Skandinavier wie du eigentlich kennen.«
Pascal stand vor mir in einem jägergrünen, einteiligen Stück langer Unterwäsche mit einem langen Reißverschluss an der Frontseite. Nur Kopf, Hände und Füße guckten aus dem Stoff hervor.
»Ist das dein Schlafanzug?«
»Klar. Ist schön warm, nichts kann rausrutschen, ich kann mir nie die Nieren unterkühlen.«
»Ich hatte dich gar nicht so als Frostbeule eingeschätzt.«
»Aha, so genau kennst du mich also doch noch nicht. Außerdem hat das Ding noch einen Vorteil.«
»Und der wäre?«
»Du kannst nicht so einfach nachts über mich herfallen.«
Pascal drehte sich um und zeigte mir ein durchgängig geschlossenes Rückenteil. Ich musste grinsen.
»Das ist allerdings ein totales K.O-Kriterium! Da werde ich Dir wohl etwas anderes für die zukünftigen Nächte besorgen müssen. Vielleicht ein elegantes Nachthemd – da ist die freie Zugänglichkeit nicht so das Problem.«
»Ts, ts, ts. Und das von dem Jungen, der mir vorhin noch sagte, dass er noch nicht bereit wäre.«
»Noch nicht. Aber das wird ja nicht immer so bleiben.«
»Naja, wenn es soweit ist, können wir ja nochmal über das Thema Bettbekleidung sprechen. So, und jetzt würde ich mich eigentlich gerne langmachen, mir reicht es für heute wirklich.«
Da ging es ihm ähnlich wie mir, also verfrachtete ich meinen Körper in die Waagerechte und zog die Decke über selbigen, während Pascal noch das große Deckenlicht ausschaltete und sich dann von der anderen Bettseite her neben mich gesellte. Nun erhellte nur noch meine Nachttischlampe das Zimmer – und das war eher eine trübe Funzel als eine gleißende Lichtquelle. Was mir ganz angenehm war, denn auch meine Augen zeigten deutliche Ermüdungserscheinungen. Ich drehte mich zur Bettmitte um und sah, dass Pascal das auch bereits getan hatte. Wir schauten uns eine ganze Weile lang schweigend, aber lächelnd an. Dann brach mein Gegenüber das Schweigen.
»Na, bist du zufrieden?«
»Könnte nicht besser sein. Hätte mir jemand vor 48 Stunden gesagt, dass ich mich hier erfolgreich verlieben würde, dann hätte ich denjenigen für verrückt erklärt.«
»Also ich hatte damit auch nicht gerechnet. Ob das irgendwie mit Weihnachten zusammenhängt? Ich meine, ein süßer Boyfriend stand definitiv ganz oben auf meinem Wunschzettel.«
»Auf meinem ... gähn ... auf meinem auch. Aber können wir morgen weiter darüber reden? Mir fallen langsam die Augen zu.«
»Klar. Schaffst du es noch das Licht auszumachen, bevor du einschläfst?«
»Naja, gerade so.«
Ich drehte mich zu meinem Nachtschränkchen um und betätigte den kleinen Schalter. Sofort war es im Zimmer völlig finster, aber nicht lange, schon nach kurzer Zeit hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt.
»Gute Nacht, Pascal.«
»Gleichfalls. Schlaf schön.«
Das allerdings war leichter gesagt als getan. So müde ich auch war, ich konnte einfach nicht einschlafen. Eine ganze Weile lag ich wach auf dem Rücken und stierte die Decke an. Die letzten beiden Tage waren extrem ereignisreich gewesen – und extrem schön. All das schwirrte in meinem Kopf herum und ließ mich nicht wirklich zur Ruhe kommen. Ob es Pascal besser ging? Ich lauschte in die Dunkelheit, hörte aber nicht viel. Also definitiv kein Schnarchen ;-) Eine kurze Drehung nach links, und ich sah schemenhaft den Körper meines neugewonnenen Freundes in der Dunkelheit liegen. Pascal lag auch auf dem Rücken, den Kopf allerdings hatte er mir zugewendet. Der Dunkelheit wegen konnte ich nicht sehen ob seine Augen offen oder geschlossen waren – da er mich jetzt jedoch ansprach, musste ich wohl davon ausgehen, dass auch er nicht einschlafen konnte.
»Kannst du auch nicht schlafen?«
»Nein. In meinem Schädel rasen die Gedanken durcheinander.«
»Los, rück näher ran, Kleiner.«
»Kleiner? Ich bin nicht kleiner als du!«
»Aber zwei Jahre jünger. Also bleibst du mein Kleiner.«
»Wenn du meinst. Na dann mach mal ein wenig Platz, alter Mann.«
Ich rutschte zu Pascal und beugte mich über ihn – und zum wiederholten Mal an diesem Tag fanden sich unsere Lippen. Diesmal nicht durch äußere Einflüsse unterbrochen dauerte der Kuss ziemlich lange, bis ich irgendwann das nächste Gähnen nicht mehr unterdrücken konnte und den Ringkampf unserer Zungen unterbrechen musste. Danach entschuldigte ich mich etwas betreten bei Pascal.
»Haha, kein Problem. Mir geht es genauso. Was meinst du, ob wir jetzt besser einschlafen können?«
»Kommt drauf an.«
»Worauf?«
»Ob ich weiter in deiner Nähe bleiben darf oder ob du mich zurück in meine einsame Betthälfte schickst.«
Pascals Grinsen war im Dunkeln zwar nur zu erahnen, ich wusste aber trotzdem ganz genau, wie es jetzt in seinem Gesicht aussah.
»Du bleibst genau hier bei mir, wo du gerade bist, Kleiner. Ich glaube ich gebe ein ganz gutes Kissen ab, also probieren wir das am besten mal aus.«
Hm, die Idee klang nicht schlecht. Ich legte meinen Kopf auf Pascals Brust, die sich im gleichmäßigen Rhythmus seiner Atembewegungen hob und senkte. Mein rechter Arm kam an seiner linken Schulter zur Ruhe, während sein linker Arm sich über meinen Hals zu meinem Hinterkopf vortastete und mir dort sanft durchs Haar strich. Das war anscheinend genau die Behandlung, die mein Körper brauchte, um endlich in den Schlaf hinübersinken zu können, denn schon bald fielen mir endgültig die Augen zu und ich fing an einzuschlummern. Ich spürte ein leichtes Pusten durch meine Haare wehen, dann hörte ich noch einmal leise Pascals Stimme.
»Ich hab dich lieb, mein Kleiner ...«
Und in diesem Moment wurde mir klar, dass Weihnachten wohl doch eine ganz besondere Zeit, eine Zeit voller Wunder war ...
*-*-*
Seen a light divine
Seen water turn to wine
Seen healing hands and walking on the water
I've knelt in churches
But that was all just fruitless searches
For something to believe in
And I thought I'd seen it all
But I never saw a miracle
'Til baby I found you
I prayed I'd find my heaven
Then all my prayers came true
No, I never saw a miracle
I was blind but now I see
The miracle is the love you give to me
Seen a flower bloom
And a man walk on the moon
But I never seemed to find sweet inspiration
Seen the stars fall from the sky
And heard a newborn baby cry
And felt the warmth of human kindness
'Til the tears came to my eyes
But I never saw a miracle
'Til baby I found you
I prayed I'd find my heaven
Then all my prayers came true
No, I never saw a miracle
I was blind but now I see
The miracle is the love you give to me
I've never been a winner
And God knows I'm a sinner
But I found my salvation in you
Oh, I was lost until you found me
Put your loving all around me
Gave me back my faith
And my strength to carry on
And now, baby, I believe.
But I never saw a miracle
'Til baby I found you
I prayed I'd find my heaven
Then all my prayers came true
No, I never saw a miracle
I was blind but now I see
The miracle is the love you give to me
The miracle is you and me...
Curtis Stigers, Never saw a miracle
© 1991 Sony Tunes Inc.
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