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Santa Claus is coming to Town

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Ho, ho, ho! Wie ich gelernt habe diesen Spruch zu hassen. Wieso nur hatte ich mich zu diesem furchtbaren Job überreden lassen? Monster, überall Monster. Klein und schreiend meist, selten nur mit leuchtenden Augen und von den kleinen Mitbringseln begeistert.

Aber halt, ich denke ich sollte lieber von vorne anfangen. Vor ein paar Wochen meinte meine Freundin Caro, dass ich unbedingt ein wenig mehr unter Menschen kommen sollte. Idealerweise sollte ich es doch mal als Miet-Weihnachtsmann versuchen, wie so viele meiner Studienkollegen. Und ich selten blöder Hund lasse mich darauf ein! Für viel zu kleines Geld zwängte ich mich nun in einen hässlichen, warmen, roten Anzug, steckte den Kopf unter einen komischen Hut und schwitzte zu allem Überfluss unter einem wallenden Kunstbart, dessen einzelne Haare sich immer wieder in meinem Mund wiederfanden. Momentan stritt ich innerlich mit mir darüber, was furchtbarer war: Auftritte in Kindergärten oder Auftritte vor Erwachsenen in Firmen und Vereinen.

Aber das Glück war mit mir. Ich hatte es geschafft und alles überstanden. Soeben hatte ich meinen letzten Auftritt für diese Weihnachtssaison und für alle Zeiten hinter mich gebracht. Jetzt saß ich auf den Stufen der Treppe eines Sportvereins, der offensichtlich von ganz besonders verwöhnten Gören bevölkert wurde, und versuchte mich von der letzten Stunde zu erholen. Naja, weihnachtliche Stimmung schien nicht mehr dem Zeitgeist zu entsprechen. Aber wie gesagt, ich hatte es geschafft. Jetzt ging es ab nach Hause, raus aus der Verkleidung, ein gemütliches Bad und dann ab zu meinen Eltern, wo ich die Feiertage verbringen würde.

Moment, was ist denn das ... Irgendwas summt hier. Eigentlich ein Wunder, dass ich das in dem von drinnen herausschallenden Lärm überhaupt hören konnte. Ach ja! Das Handy. Natürlich auf Vibrationsalarm gestellt. Ein Weihnachtsmann mit Handy. Toll, nicht wahr? Aber ich sollte wohl lieber mal rangehen ...

»Ja?«

»Raphael! Gut, dass ich dich endlich erreiche.«

Raphael, das bin ich. Raphael Schott, zu Ihrer Verfügung. Am anderen Ende der Leitung war Klaus, der Chef der Weihnachtsmann-Vermittlungsagentur.

»Ich bin gerade erst mit den Sportlern fertiggeworden, da drin konnte ich das Handy nicht hören. Was gibt’s denn?«

»Raphy, ich weiß, dass du eigentlich Feierabend hast, aber ich habe ein Problem. Ich habe noch einen Einsatz zu vergeben und hänge hier total in der Luft. Die Leute warten schon. Kannst Du das übernehmen?«

Na prima, war wohl nichts mit Saisonfinale.

»Okay, wo soll ich hin?«

»Erstmal schnell hierher, du musst ein paar Sachen mitnehmen. Ich erkläre Dir dann alles, wenn du hier bist. Aber bitte beeile dich, wir sind schon spät dran.«

Was blieb mir anderes übrig? Ich schwang mich ins Auto und rollerte durch den dichten Vorweihnachtsverkehr in Richtung Zentrale - dabei natürlich immer die Verkehrsregeln beachtend. ;-) He, wer würde schon einen Weihnachtsmann anhalten!

In der Zentrale angekommen erwartete mich unser Oberweihnachtsmann bereits sehnsüchtig.

»Gut, dass du da bist. Hier, das ist die Adresse, und hier ist ein Sack mit Geschenken.«

Ich schaute auf den Zettel und stutzte.

»Sag mal, was ist das denn? ›Verque(e)rte Welt‹, habe ich noch nie gehört.«

»Das ... naja, das ist ein schwul-lesbisches Jugendzentrum. In den letzten beiden Jahren hat Niklas das immer übernommen.«

»Und warum macht er das dieses Jahr nicht?«

Niklas war mit seinen zweiundzwanzig glatte drei Jahre älter als ich und ein regelmäßiger Weihnachtsmann. Er hatte mich am Anfang ein wenig eingewiesen.

»Der arme Kerl ist vorhin in voller Montur eine Treppe runtergefallen und hat sich vermutlich einen Fuß gebrochen.«

»Und dadurch komme ich jetzt ins Spiel.«

»Ja. Raph, du musst es nicht tun, wenn du dich dabei unwohl fühlst. Aber du bist meine letzte Rettung, Henrik hat schon ganz empört abgelehnt. Ich würde es ja sogar selber machen, aber ...«

Tja, das große Aber. Das bestand darin, dass Klaus seit ein paar Jahren im Rollstuhl saß und somit natürlich nicht selber den Weihnachtsmann spielen konnte.

Um ehrlich zu sein: Die Vorstellung an lauter Schwule und Lesben Geschenke zu verteilen fand ich nicht so toll. Trotzdem hatte ich das Gefühl es Klaus und Niklas schuldig zu sein. Also schnappte ich mir den Geschenkesack und machte mich auf den Weg.

»Tschüss Klaus und frohe Weihnachten.«

»Danke, Raphy, du bist mein Retter! Dir auch schöne Weihnachten, und lass dir mit dem Kostüm Zeit. Es reicht, wenn du es im neuen Jahr zurückbringst.«

»Okay.«

Und damit war ich unterwegs. »Verque(e)rte Welt«. Natürlich mitten in dem Stadtteil, wo um diese Zeit kaum ein Parkplatz zu finden sein würde. Naja, vielleicht hatten die ja einen eigenen Parkplatz ...

Zwanzig Minuten später hatte ich es geschafft, ich stand mit dem Wagen vor dem Eingang des Clubs. Aber wie befürchtet waren meine Probleme damit noch nicht zu Ende, weit und breit kein Parkplatz in Sicht. Ich beschloss, mein Glück herauszufordern und in zweiter Reihe zu parken. Ich war gerade dabei auszusteigen, als ich von der Seite angesprochen wurde.

»Hallo Weihnachtsmann!«

Ich drehte mich um und sah vor mir ein kleines Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt.

»Hallo! Wer bist du denn?«

»Nicole!«

Ich wollte gerade in meine Rolle als gütiger Weihnachtsmann schlüpfen, als plötzlich eine junge Frau neben dem Mädchen auftauchte.

»Aber Nicole, du kannst doch nicht einfach weglaufen!«

»Schau mal, Mami, der Weihnachtsmann!«

Die Mutter zuckte entschuldigend mit den Schultern - wie soll man auch einem kleinen Kind beibringen, dass der Weihnachtsmann nicht wegen ihm da ist? Glücklicherweise hatte ich außer dem Geschenkesack für das Jugendzentrum noch ein paar Kleinigkeiten im Auto, die ich bei anderen Gelegenheiten nicht losgeworden war.

»Na, Nicole, warst du auch immer schön artig?«

»Ja!«

»Stimmt denn das auch? Was meint denn deine Mutti dazu?«

Ich schaute zu der Frau, die dankbar und ein wenig erleichtert zurücklächelte.

»Naja, eigentlich war sie meistens artig.«

»Na dann will ich das mal glauben.«

Ich zauberte ein kleines Päckchen mit Süßigkeiten hervor und gab es dem kleinen Mädchen.

»Dann bleib mal auch weiter so lieb. Bitte schön.«

»Danke, Weihnachtsmann!«

Auch die Mutter bedankte sich. Dann fiel ihr noch etwas ein.

»Sagen Sie mal, müssen Sie hier länger stehenbleiben?«

»Ja, ich denke mal, es wird ein Weilchen dauern.«

»Wissen Sie was? Da drüben ist der Privatparkplatz von meiner Praxis. Ich fahre jetzt weg und brauche ihn heute nicht mehr. Wenn Sie noch drei Minuten warten, dann können Sie gerne dort parken.«

Ha! Gute Taten belohnen sich offensichtlich doch von selbst! Natürlich nahm ich dieses nette Angebot an, sodass ich fünf Minuten später mit deutlich beruhigtem Gewissen das Auto verschließen und mich in die Höhle des Löwen begeben konnte.

Ich wurde schon erwartet. Kaum war ich zur Tür herein als auch schon ein relativ kleiner, dafür recht beleibter Kerl auf mich zugestürmt kam. Der sah ja eigentlich ganz normal aus. Nur eine AIDS-Schleife und ein kleiner Regenbogenanstecker verrieten, dass mir wohl gerade der erste Homo des Tages über den Weg lief. Vielleicht dreißig, fünfunddreißig Jahre alt, braune Haare mit Geheimratsecken, dazu eine runde Nickelbrille. Und mit meinem Rauschebart fühlte ich mich jetzt auch nicht mehr ganz alleine - auch wenn der von dem Typen garantiert echt war.

»Hallo! Na endlich, ich dachte schon es klappt nicht mehr. Aber du bist nicht Niklas?«

War das nun eine Frage oder eine Feststellung.

»Nik hatte einen Unfall und konnte nicht kommen.«

»Oh Gott, der Arme. Und das einen Tag vor Heiligabend. Was ist ihm denn passiert?«

»Er hat sich den Fuß gebrochen, ist wohl eine Treppe runtergefallen.«

»Ich werde ihn nachher gleich mal anrufen. Naja, aber ich freue mich, dass sich noch ein Ersatz gefunden hat.«

Ich freute mich nicht so sehr darüber, aber das würde ich dem Typen nicht ins Gesicht sagen. Ich meine, der konnte ja auch nichts für den Unfall von Niklas.

»So, dann hereinspaziert. Die Geschenke hast du wohl bekommen?«

»Ja, die standen noch in der Zentrale.«

»Gut. Ich helfe Dir dann mit den Namen. Nik hätte die meisten hier gekannt, aber keine Bange, das bekommen wir schon hin.«

Davor hatte ich nun wirklich keinen Bammel. Schließlich hatte ich genügend Erfahrung damit gesammelt, Geschenke an lauter Unbekannte zu verteilen. Aber Moment mal. Niklas hätte die meisten hier gekannt? Hieß das etwa ... Niklas? Nee. Konnte ich mir wirklich nicht vorstellen. Andererseits ... angeblich sieht man es »denen« ja nicht an.

»Übrigens, ich heiße Detlef. Ich weiß, ich weiß - das kommt nicht unerwartet.«

Die kleine menschliche Kuller grinste mich an und zeigte dabei zwei Reihen blitzend weißer Zähne.

»Raphael.«

»Okay. Aber jetzt geht’s los!«

Detlef öffnete eine Tür und schob mich in einen großen Saal. Weihnachtlich geschmückt, überall Grünzeug, dazu Kerzen und alle möglichen weihnachtlichen Dekorationen. Dazu der Duft von Räucherkerzen. Um ehrlich zu sein: So festlich war mir in meiner bisherigen Weihnachtsmann-Karriere noch kein »Bescherungslokal« begegnet. Lange umschauen konnte ich mich allerdings nicht, denn jetzt machte es sich Detlef zur Aufgabe mich anzukündigen.

»Hohoho«, - war das nicht eigentlich mein Spruch? -, »es ist Zeit für Geschenke!«

Jubel brandete auf, und ich warf einen ersten Blick auf mein Publikum. Laute junge Leute, so zwischen 14 und 20 würde ich sagen, hauptsächlich Jungs, aber auch ein paar Mädels waren dabei. Und ich sah auf Anhieb keinen den ich bei einer normalen Begegnung auf der Straße als homosexuell erkannt hätte ...

»Prima! Ich bekomme den Weihnachtsmann!«

Dieser Ausruf eines etwa sechzehnjährigen Blondschopfes löste allgemeines Gelächter auf.

»Ja, ja, Till, wir wissen, dass du auf ältere Männer stehst. Aber Finger weg, St.Nikolaus ist für alle da!«

Hilfe! Hoffentlich verstanden die das jetzt nicht falsch! Trotzdem, die Stimmung war gut. Laut, aber fröhlich und friedlich. Vielleicht wurde das ja doch nicht die Katastrophe, die ich befürchtet hatte.

»So, lieber Weihnachtsmann, wie wollen wir das jetzt angehen?«

Interessante Frage. Irgendwie hatte ich das Gefühl mein normales Programm ein wenig abwandeln zu müssen. Etwa dreißig neugierige Augenpaare hingen an meinen Lippen.

»Keine Ahnung. Normalerweise würde ich jetzt fragen, ob ihr auch alle brav wart - aber das kann ich mir sparen, oder?«

Diesmal war ich es, der schallendes Gelächter erntete. Anscheinend hatte ich den richtigen Ton getroffen.

Die nächste dreiviertel Stunde verbrachte ich damit Geschenke an lauter Anormale zu verteilen, die alle ganz erschreckend normal wirkten. Alles lief äußerst locker und fröhlich ab - wozu sicher auch die etwas ungewöhnlichen Präsente beitrugen. Mir kullerten ein wenig die Augen aus den Höhlen, wenn die Beschenkten die Päckchen aufrissen und dabei Kondompäckchen, schwule Literatur und andere Dinge der gleichen Kategorie zum Vorschein kamen. Zum Glück verbarg der falsche Bart den größten Teil meines Gesichts, sodass niemand meine Mischung aus Erröten und Grinsen mitbekam.

Irgendwann hatte ich es geschafft, der Geschenkesack war leer und auch Detlef hatte als Letzter seine milde Weihnachtsgabe in Empfang genommen. Das nietenbesetzte Lederkäppie sorgte für den vorläufig letzten großen Lacher der Veranstaltung. Der »Boss« war es auch, der jetzt das Wort an die versammelte Gemeinde richtete.

»So, und jetzt sagen wir alle ganz artig: Vielen Dank, lieber Weihnachtsmann!«

»Vielen Dank, lieber Weihnachtsmann!«

Ich verneigte mich kurz, dann wandte ich mich zum Gehen. So schnell wollte man mich allerdings nicht davonkommen lassen.

»Warte mal, Raphael. Hast Du noch Lust ein wenig hierzubleiben? Wir haben ein kaltes Buffet bestellt, und es ist eigentlich an der Zeit, das zu stürmen. Naja, und wo du so heldenhaft für Niklas eingesprungen bist, ist es doch das mindeste, dass wir dich einladen. Das heißt, wenn du nichts Besseres vorhast.«

Ich überlegte kurz und schaute auf die Uhr. Es war tatsächlich ziemlich spät geworden, es kam also eh nicht mehr darauf an. Und ich musste zugeben, dass mein Magen tatsächlich anfing sich bemerkbar zu machen.

»Okay, danke. Aber nur wenn ich meine Verkleidung ablegen darf.«

»Klar, kein Problem!«

Fünf Minuten später hatte ich Mütze, Bart, Jacke und das darunter befindliche dicke Kissen abgelegt und fühlte mich beinahe wieder wie ein Mensch. Erleichtert atmete ich auf, was die Aufmerksamkeit eines bekannten Gesichts erregte.

»Na, besser so? Willst du die rote Hose nicht auch noch ausziehen?«

Ich kramte kurz in meinem Gedächtnis, dann fiel mir der Name des Jungen wieder ein.

»Lieber nicht, Till, es sei denn, du willst einen Weihnachtsmann in langer Unterhose sehen.«

Er kicherte vor sich hin.

»Naja, so entpellt bist du eh nicht so mein Typ.«

Sollte ich jetzt enttäuscht oder erleichtert sein?

»So, ich muss erstmal jemanden anrufen.«

»Oho! Freund oder Freundin?«

»Mutter.«

»Okay. So ein Exemplar habe ich auch. Du solltest sie lieber nicht warten lassen. Wir sehen uns bestimmt noch.«

Mit diesen Worten zischte er ab. Er hatte natürlich recht, meine geliebte Frau Mutter lauerte bestimmt schon auf mich. Ich griff zum Handy und wählte die bekannte Nummer.

»Schott.«

»Hallo Mutti, ich bin’s!«

»Nanu, ich hatte eigentlich gedacht, dass du in den nächsten Minuten bei uns vor der Tür stehst.«

»Hatte ich auch gedacht, aber ich musste noch einmal zusätzlich Weihnachtsmann spielen.«

»Och du Ärmster! Wo du doch so begeistert von dem Job bist!«

»Was tut man nicht alles für das Fest der Liebe.«

»Kommst du jetzt nach Hause? Du kannst dann gleich bei uns was essen.«

»Nee, Mutti, ich bin hier eingeladen worden mit zu essen.«

»Aber du kommst doch heute noch? Oder erst morgen?«

»Ich weiß noch nicht, kommt drauf an, wie spät es wird.«

»Naja, du hast ja deinen Schlüssel. Sollte es sehr spät werden, dann lass dich einfach selbst rein. Brauchst uns ja nicht zu wecken, das Gästezimmer ist vorbereitet.«

»Okay. Also dann, tschüss. Und grüß Walther von mir.«

Wer Walther ist? Ach so, hatte ich ja noch nicht erzählt. Walther ist mein Stiefvater. Meine Eltern hatten sich scheiden lassen, als ich zwölf war. Und seitdem hatte ich praktisch keinerlei Kontakt mehr zu meinem leiblichen Vater. Er war schuld an der Scheidung, er hatte meine Familie zerstört. Mutti hatte im Laufe der Jahre versucht uns wieder zu versöhnen, aber dazu war ich nicht bereit. Ich konnte nicht verstehen, ja, ich wollte nicht verstehen, was er uns angetan hatte. Dass er jetzt knapp 300 Kilometer entfernt wohnte, machte mir die Sache leicht. Irgendwann hatte Mutti dann Walther kennengelernt, und vor drei Jahren hatten die beiden geheiratet. Wir kamen gut miteinander aus, Walther war ein dufter Typ, aber ich brachte es nie fertig ihn »Vati« zu nennen. Nicht nach dem, was mir mein richtiger Vater angetan hatte.

»Mach ich. Tschüss.«

Alsdann stürzte ich mich ins Getümmel und tat mich gütlich an Speis und Trank. Seltsam, das komische Gefühl, welches ich seit Übernahme des Auftrags hatte, war nach und nach völlig verflogen. Die Stimmung war ausgelassen, ein paar Leute redeten hier, andere tanzten da und alles war nicht anders als bei Vereinsfeiern von Heteros. Mit Ausnahme einiger ungewöhnlicher Pärchen halt.

Irgendwann fanden ein paar Jungs heraus, dass ich gerade ein Informatikstudium begonnen hatte, und sofort wurde ich zum streikenden Clubcomputer geschleift. Nur dem Eingreifen von Detlef und meinem Versprechen, nach den Feiertagen mal vorbeizukommen, hatte ich es zu verdanken jetzt nicht auch noch einen Rechner neu mit Windows bestücken zu müssen.

Als mich Detlef aus dieser Situation befreit hatte, zog er mich ein wenig zur Seite.

»Du, Raphael, ich wollte dir nochmal danken. Auch dafür, dass du noch geblieben bist. Es hätte den Kids bestimmt nicht gutgetan, wenn du sofort die Flucht ergriffen hättest.«

»Schon okay. Ist ja eigentlich ganz nett hier.«

»Schön, dass du das so siehst. Das sind alles ganz nette Jungs und Mädels hier. Jungs und Mädels, die es nicht immer leicht haben. Nimm Jan zum Beispiel.«

Der Clubleiter zeigte auf einen Jungen in meinem Alter, eher zurückhaltend gekleidet, der mir schon den ganzen Abend ein wenig dadurch aufgefallen war, da er im Gegensatz zu den anderen sehr still und zurückgezogen schien.

»Was ist mit ihm?«

»Seine Eltern haben ihn rausgeworfen, als sie mitbekamen, dass er schwul ist. Das ist keine zwei Wochen her. Ich glaube nicht, dass Jan sich sein Weihnachten so vorgestellt hat.«

»Und wo ist er untergekommen?«

»Erstmal bei meinem Mann und mir. Zum Glück haben wir genug Platz bei uns, aber auf die Dauer ist das auch keine Lösung. Wir können nur hoffen, dass sich die Sache mit seinen Eltern wieder einrenkt - aber das kann niemand garantieren, und es kann lange dauern. So ein Coming Out kann ganze Familien, die bis dahin super funktioniert haben, völlig zerreißen.«

Ich spürte einen Stich in meiner Brust.

»Und weißt du, keiner sucht sich das aus. Wer wäre schon so blöd, sich für ein Leben aus freien Stücken zu entscheiden, in welchem viele Leute auf einen mit Abscheu herabblicken. Ein Leben in Diskriminierung, ständig in Gefahr, Opfer von irgendwelchen Hassausbrüchen zu werden. Und von vielen Leuten einfach nicht verstanden zu werden. Oh nein, glaub mir, das macht keiner freiwillig!«

Detlef hatte sich regelrecht in Rage geredet, und mir wurde so langsam klar, dass ich bisher ziemlich oberflächlich über das ganze Problem nachgedacht hatte. Ich meine, Schwule gehen mit Kerlen ins Bett, war doch ganz einfach, oder? Wohl doch eher nicht.

»Nimm dir noch was zu essen und trinken, da ist noch soviel da!«

Das typische Dilemma mit einem kalten Buffet. Es ist immer soviel da, dass die doppelte Anzahl von Leuten satt werden könnte. Und satt war ich, da passte nichts mehr in mich rein. Außerdem war es wirklich spät geworden, und es war an der Zeit zu gehen.

»Danke, aber ich muss jetzt wirklich los.«

»Okay. Dann verabschiede dich mal von der Meute.«

Das tat ich dann auch, und fünf Minuten später saß ich in meinem Auto, nachdem ich hoch und heilig geschworen hatte, mich irgendwann in den nächsten Tagen um den Computer zu kümmern. Die Straßen waren nicht mehr so voll, sodass ich problemlos nach Hause rollen konnte. Was auch gut so war, denn meine Gedanken waren doch noch abgelenkt und von dem, was ich in den letzten beiden Stunden erlebt hatte, okkupiert.

Zuhause angekommen gönnte ich mir eine heiße Dusche, suchte ein paar Sachen heraus, die ich zu Mutti mitnehmen würde, und sicherte die Wohnung, sodass es in den nächsten Tagen ohne meine Anwesenheit keine Katastrophe geben würde.

Die ganze Zeit während ich dies tat und auch auf der Fahrt zu meinen Eltern ging mir aber ein Anblick nicht aus dem Sinn. Jan. Wie er da verloren in seiner Ecke gesessen hatte. So traurig und hoffnungslos, obwohl immer wieder Leute um ihn herum waren, und versuchten, ihn ein wenig aufzumuntern. Ich konnte es nicht vergessen, und in mir erwachten Gedanken, die ich zuvor nicht gekannt hatte, vermischt mit Erinnerungen, die ich ganz weit verdrängt hatte. Es ließ mir keine Ruhe und ich wurde immer nervöser und verwirrter. Und mir wurde klar, dass ich in diesem Zustand kein friedliches Weihnachtsfest haben würde. Der Nachmittag in der »Verque(e)rten Welt« hatte mich völlig durcheinandergewürfelt, und ich musste das irgendwie wieder in Ordnung bringen. Ganz tief in meinem Inneren wusste ich auch schon wie, auch wenn ich es noch nicht wirklich wahrhaben wollte.

Als ich in der Straße meiner Eltern angekommen war und vor ihrem Haus anhielt, wusste ich, dass ich nicht reingehen würde. Ich würde auch nicht zurückfahren. Ich hatte ein anderes Ziel zu erreichen, ein Ziel, welches ich mir nur drei Stunden früher nie hätte träumen lassen ...

***

2.13 Uhr. Ich sollte längst im Bett liegen, aber nein, ich stehe hier in der sternenklaren Nacht vor einem völlig dunklen Einfamilienhaus und klingle Sturm. Hoffentlich hatte keiner der Nachbarn mich bemerkt und die Polizei gerufen, als ich über den Zaun des Grundstücks geklettert war.

Ich hatte die letzten Stunden im Auto verbracht und spürte jetzt jede einzelne Minute in meinen Knochen. An einer Tankstelle hatte ich einen starken Kaffee zu mir genommen, aber auch der verlor langsam seine Wirkung. Und die ganze Zeit hatte ich vor mich hingegrübelt. Ich hatte Gründe gesucht weiterzufahren und gleichzeitig Gründe, um umzudrehen. Am Ende war ich weitergefahren, und darum stehe ich jetzt hier und hoffe darauf, dass mir endlich jemand aufmachen würde.

Da! Ein Licht geht an im Haus. Schritte nähern sich der Tür, ein Schlüssel dreht sich im Schloss, eine Kette wird abgenommen, dann schwingt die Tür auf. Im Türrahmen ein großer Mann in einem Morgenmantel.

Der Mann starrt mich an. Ich starre ihn an. So geht es - ja, wie lange eigentlich? Sekunden? Minuten? Die Situation findet ein Ende dadurch, dass ein zweiter Mann im schummrigen Licht der Korridorlampe auftaucht, ähnlich gekleidet wie der erste. Er legt dem Mann im Türrahmen einen starken Arm um die Hüfte und schaut ihn liebevoll an.

»Schatz, wer ist das?«

Der erste Mann schaut mir tief in die Augen, und in seinem Gesicht sind jetzt die Spuren von Tränen zu sehen. Und ohne mich selbst sehen zu müssen, weiß ich, dass mein Gesicht ähnlich aussieht.

»Das ... das ist Raphael. Das ist mein Sohn ...«

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