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Vor Gericht
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Informationen
- Story: Vor Gericht
- Autor: Peter
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out
Vorwort
Ein paar Worte vorweg. Irgendwann musste es ja so kommen, die ganzen Gerichtsshows konnten nicht ohne Auswirkungen bleiben. Nun ist es soweit, ich bringe meine eigene Gerichts-Story heraus! Keine Bange, es wird weder ein Maschendrahtzaun noch ein Knallerbsenstrauch auftauchen.
Alle Personen und Geschehnisse sind erstunken und erlogen, eventuelle Ähnlichkeiten zu tatsächlich existierenden Personen sind absolut zufällig und unbeabsichtigt.
Sollte das hier zufällig jemand aus der Redaktion von Barbara Salesch, Ruth Herz, Alexander Hold und wie sie sonst noch heißen mögen, lesen: Natürlich sind die Fernsehrechte noch zu vergeben! *g*
Und nun viel Spaß beim Lesen.
© 2005 Peter Conrad - Peter_Co@web.de
In was für eine gottverdammte Scheiße war ich da reingeraten! Nie, selbst in meinen schlimmsten Albträumen nicht, hätte ich geglaubt, einmal hier zu sitzen, auf der Anklagebank des Jugendgerichtes unserer Stadt. Nervös schaute ich zu meinem Verteidiger hinüber, der mir zwar aufmunternd zulächelte, aber mir trotzdem nicht das Gefühl gab, hier schnell und problemlos rauszukommen.
Im Saal sah ich meine Eltern sitzen, mein Zwillingsbruder Dominic wartete als Zeuge draußen vor der Tür. Mein Vater zeigte mir den hochgereckten Daumen - wieder so ein Symbol, welches mich nicht sonderlich beruhigte. Anjas Vater war auch da, dieser allerdings schaute mich hasserfüllt an.
Verdammt! Da hinten saß auch Jan, gemeinsam mit seinen Eltern! Was hatten diese drei hier zu suchen?
»So, Herr Marnot, nehmen Sie bitte mal hier vorne Platz.«
Scheiße, es ging los. Mit Knien weich wie Gummi erhob ich mich, ging zum Stuhl in der Mitte des Raumes und setzte mich dort an den Tisch.
»Sie heißen Nicolas Marnot, sind am 13.3.1988 geboren, waren also zum Tatzeitpunkt 16 Jahre alt. Darf ich eigentlich noch du sagen?«
Ich sollte es mir mit der Richterin wohl lieber nicht verderben.
»Ja, kein Problem.«
»Gut. Du wohnst hier in Bardegen, noch bei deinen Eltern.«
Zum Glück war mir wenigstens die Untersuchungshaft erspart geblieben.
»Von Beruf bist du Schüler und gehst in die 11. Klasse am hiesigen Schiller-Gymnasium. Ist das soweit alles richtig?«
»Ja.«
»Gut. Herr Staatsanwalt, die Anklage bitte.«
Der Typ mit den eiskalten Augen, mit denen er mich schon die ganze Zeit durchdringend gemustert hatte, erhob sich von seinem Stuhl.
»Dem Schüler Nicolas Marnot wird Folgendes zur Last gelegt. Am Abend des 17. Dezember 2004 lud er die Zeugin Anja Schlosser unter dem Vorwand, gemeinsam Schulaufgaben machen zu wollen, zu sich nach Hause ein.«
Ja, das hatte ich tatsächlich. Anja hatte gefragt, ob ich ihr bei einer Englisch-Hausarbeit helfen könnte. Und ich selten dämlicher Hund war darauf eingegangen!
»Seine Eltern und sein Bruder waren zu diesem Zeitpunkt zu einem auswärtigen Verwandtenbesuch, sodass sich der Angeklagte mit der Zeugin ganz alleine im Haus befand.«
Leider!
»Im Verlaufe des Abends wurde der Angeklagte immer zudringlicher, die Zeugin jedoch wollte sich nicht auf mehr als ein wenig Kuschelei einlassen. Davon ließ sich der Angeklagte jedoch nicht beeindrucken und erzwang den Geschlechtsverkehr mit der Zeugin. Der Angeklagte wird daher der Vergewaltigung beschuldigt, Verbrechen strafbar nach Paragraph 177 Absatz 2 Strafgesetzbuch.«
»Du hast die Anklage gehört, möchtest du dich dazu äußern? Ich nehme an, du hast dich mit deinem Anwalt dazu beraten?«
Herr Schober war ja ein netter Mensch und sicher auch ein guter Anwalt, aber mit seinem Latein war er auch ziemlich schnell am Ende gewesen.
»Ja, ich werde mich äußern.«
»Sehr schön. Also, was hast du zu dem Tatvorwurf zu sagen?«
Ich versuchte, meine Gedanken zu sammeln und zu ordnen. Gar nicht so einfach in einer solchen Situation.
»Es stimmt, Anja war an diesem Abend bei mir. Ich wollte ihr bei einer Schulaufgabe helfen, aber ich habe sehr schnell gemerkt, dass es ihr gar nicht darum ging.«
»Worum ging es ihr denn dann?«
»Sie wurde ziemlich schnell zudringlich, sie sagte, dass sie sich in mich verliebt hätte.«
Na das war ein Schock gewesen!
»Und was hast du dazu gesagt?«
Was wohl?
»Ich habe ihr gesagt, dass ich sie zwar nett finde, sie aber nicht liebe.«
»Und dann?«
»Dann hat sie sich mir regelrecht an den Hals geworfen! Sie hat mich geküsst und gleichzeitig das Hemd aufgerissen.«
Ich wusste in diesem Moment gar nicht, wie mir geschah, ich war völlig neben der Spur. Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht damit, dass sie so weit gehen würde.
»Und weiter, Nicolas.«
»Ich wollte das nicht, also habe ich sie von mir gestoßen und ihr noch einmal gesagt, dass ich nichts von ihr will, dass ich sie nicht liebe. Daraufhin hat sie mir eine geknallt, noch gesagt, dass ich schon sehen werde was ich davon habe, und ist davongestürmt.«
»Ha, das wird wirklich immer lustiger. Jetzt stellt sich der Täter als Opfer dar. Das ist alles andere als glaubhaft, Herr Marnot!«
Ich hatte es gewusst, dieser Staatsanwalt wollte meinen Skalp. So höhnisch wie der mich jetzt angrinste, war ich für ihn schon längst verurteilt und hinter Gittern.
»So war es aber!«
»Ganz ruhig bitte, in meinem Gerichtssaal wird nicht herumgeschrieen.«
Jaja, da sollte man noch ruhig bleiben.
»Nicolas, wie lange war Anja bei dir zuhause?«
Sonderlich lange war das nicht gewesen.
»So etwa 10, 15 Minuten. Sie kam gegen 19 Uhr, und etwa 19.15 Uhr verließ sie das Haus schon wieder.«
»Das ist aber komisch, Herr Marnot, laut ihrer eigenen Aussage ist sie nach 20.30 Uhr von Ihnen vergewaltigt worden und erst nach 21 Uhr von Ihnen weggegangen! Das deckt sich auch mit der Aussage ihrer Mutter, die sagt nämlich, dass Anja erst gegen 21.30 Uhr völlig aufgelöst zuhause aufgetaucht wäre. Wie erklären Sie sich das, Herr Marnot?«
»Woher soll ich denn wissen, wo sie sich die ganze Zeit herumgetrieben hat? Bei mir war sie jedenfalls nicht!«
»Haben Sie dafür eventuell auch Zeugen, Herr Marnot?«
»Nein, ich war ja wie gesagt alleine zuhause! Aber haben denn Sie Zeugen dafür, dass es anders war?«
Damit stand ja wohl Aussage gegen Aussage, und hieß es nicht »im Zweifel zugunsten des Angeklagten«?
Nun schaltete sich die Richterin wieder ein.
»Ich sehe schon, so kommen wir hier nicht weiter. Nicolas, nimm bitte neben deinem Verteidiger Platz. Wir hören als nächstes die Zeugin Anja Schlosser.«
Anja kam in den Saal, warf mir wütende Blicke zu und setzte sich dann auf den Stuhl, auf dem eben ich selbst noch gesessen hatte.
»Darf ich noch du sagen? Danke. Also, du heißt Anja Schlosser, bist jetzt 17 Jahre alt, zum Zeitpunkt der Tat warst du 16. Du wohnst hier in Bardegen bei deinen Eltern, gehst aufs Schiller-Gymnasium und bist mit dem Angeklagten weder verwandt noch verschwägert. Ist das richtig so?«
»Ja.«
»Gut. Ich muss dich noch belehren, du bist hier als Zeugin vor Gericht, das heißt, du musst die Wahrheit sagen. Solltest du das nicht tun, könntest du dafür bestraft werden. Hast du das verstanden?«
»Ja, habe ich. Ich werde die Wahrheit sagen.«
Na da war ich aber mal gespannt!
»Also, Anja, wir haben gerade den Nicolas vernommen, der schildert den Abend ganz anders als du es in deiner Aussage bei der Polizei getan hast. Er sagt, du wärest nur etwa eine Viertelstunde bei ihm gewesen, und du wärest es gewesen, die aufdringlich geworden wäre. Nachdem er dich abgewiesen hatte, seiest du wütend aus dem Haus gerannt.«
»Ha, dieser verdammte Lügner! Klar, der will jetzt seinen Kopf aus der Schlinge ziehen!«
Das wollte ich tatsächlich, aber ich hatte nicht gelogen.
»Na dann erzähl uns mal ganz genau, wie aus deiner Sicht der Abend abgelaufen ist.«
Und jetzt kam sie wieder, Anjas Phantasiegeschichte vom angeblichen romantischen Abend, an dessen Ende ich dann zudringlich geworden wäre und sie vergewaltigt hätte. Hach wie gut sie auf die Tränendrüse drücken konnte! Fast alle Anwesenden schauten jetzt vorwurfsvoll und voller Hass in meine Richtung. Mein Gott, das war fast eine Oscar-reife Vorstellung! Endlich war sie fertig, und mein Anwalt schaltete sich ein.
»Frau Schlosser, als Sie an diesem 17. Dezember nach Hause kamen, haben Sie niemandem etwas von einer angeblichen Vergewaltigung erzählt. Ja, Sie sind sogar erst am 28. Dezember überhaupt zur Polizei gegangen! Wieso?«
»Wieso wohl! Weil ich mich geschämt habe!«
»Ach, nicht etwa, weil es erst nach dieser Verspätung logisch nachvollziehbar war, dass es keinerlei äußere Anzeichen mehr für die angebliche Vergewaltigung gab?«
»Nein! Ich habe mich einfach geschämt und mich schmutzig gefühlt! Erst nach 10 Tagen war mein Kopf wieder einigermaßen klar und ich wusste, dass ich dieses Schwein nicht so einfach davonkommen lassen durfte!«
»Bitte keine Beleidigungen hier im Gerichtssaal!«
Darum wollte ich aber auch bitten.
»Das nehme ich Ihnen nicht ab, Frau Schlosser. Ich werde Ihnen sagen, wie es meiner Meinung nach abgelaufen ist. Sie haben sich in meinen Mandanten verliebt und wollten ihn an diesem Abend verführen. Als er sie abgewiesen hat, wurden Sie wütend, haben ihm eine runtergehauen und sind dann davongestürmt. Ein paar Tage später dann war ihnen das aber noch nicht genug, sie wollten sich für diese Abfuhr noch ordentlich rächen. Deshalb haben sie die Geschichte mit der angeblichen Vergewaltigung erfunden, die aber niemals wirklich stattgefunden hat!«
RA Schober war gut, das musste ich ihm lassen.
»Nein! Er hat mich vergewaltigt! Ich war nie in ihn verliebt, und das konnte ER nicht verkraften, deshalb hat er mir das angetan!«
Träum weiter, du dumme Kuh.
Die Richterin seufzte.
»Ich glaube, wir können hier abbrechen. Vielen Dank, Anja, du kannst dich dahinten hinsetzen. Wir hören als nächstes die Zeugin Elvira Schlosser, die Mutter von Anja.«
Frau Schlosser kam in den Saal, und wenn Blicke töten könnten, hätte sich die Verhandlung in diesem Moment in Ermangelung eines Angeklagten erledigt gehabt.
»Nehmen Sie bitte Platz, Frau Schlosser.«
Es folgte die Aufnahme der Personalien sowie die übliche Zeugenbelehrung.
»Frau Schlosser, wir haben jetzt zwei völlig verschiedene Geschichten gehört. Ihre Tochter hat von einer Vergewaltigung berichtet, der Angeklagte hingegen hat ausgesagt, dass außer einem kurzen Streit nichts vorgefallen wäre und Ihre Tochter schon nach wenigen Minuten wieder sein Haus verlassen hätte.«
Die Schlosserin fuhr auf.
»Ja, das sieht diesem reichen Pack ähnlich! Die glauben doch, dass sie wegen ihrem Geld alles haben können! Und nun wollte er auch noch meine arme Tochter haben, und als sie da nicht mitspielte, hat er sich einfach genommen was er wollte!«
Na klar, die arme Anja, das Unschuldslamm. Irgendwer sollte ihre Mutter vielleicht mal darüber aufklären, was für ein Früchtchen da unter ihrem Dach lebte!
»Frau Schlosser, ich kann Ihre Aufregung verstehen, aber bitte mäßigen Sie sich etwas.«
»Ich werde es versuchen, Frau Richterin.«
»Vielen Dank. Erzählen Sie uns jetzt bitte einmal, wie Sie den Abend des 17. Dezember erlebt haben.«
»Meine Tochter wollte an diesem Abend den da drüben besuchen, er wollte ihr bei irgendwelchen Hausaufgaben helfen. Ich dachte mir nicht viel dabei, obwohl Anja mir ein paar Mal erzählt hatte, dass der Typ sie immer so komisch anschaut. Sie fand ihn ja auch ganz nett, sie konnte ja nicht ahnen, was für ein Verbrecher das ist!«
»Vorsicht mit solchen Bezeichnungen, Frau Schlosser! Mein Mandant ist kein Verbrecher!«
»Natürlich ist er einer, ein ganz brutaler Vergewaltiger!«
»Nun beruhigen Sie sich bitte alle mal wieder ein wenig. Wir sind ja hier zusammengekommen, um herauszufinden, ob es ein Verbrechen gegeben hat und ob der Angeklagte dieses Verbrechens schuldig ist. So, Frau Schlosser, bitte erzählen Sie jetzt weiter. Was hat sich an diesem Abend zugetragen.«
Wenigstens die Richterin schien mich noch nicht komplett verurteilt zu haben.
»Anja kam so gegen halb zehn nach Hause. Sie war völlig verstört und verheult und rannte sofort auf ihr Zimmer.«
»Sie sind sich sicher, dass es gegen 21.30 Uhr war?«
»Ja, mein Mann und ich hatten ›#187;Wer wird Millionär‹ geschaut und als die Sendung vorbei war ein wenig herumgezappt. Etwa 10 Minuten später kam Anja nach Hause.«
»Hat Ihre Tochter Ihnen irgendetwas darüber erzählt, was vorgefallen war?«
»Nein, Herr Staatsanwalt, an diesem Abend hat sie nichts erzählt. Ich wollte noch mit ihr reden, aber sie hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen.«
»Wann hat sie Ihnen von der Vergewaltigung erzählt?«
»Von der ANGEBLICHEN Vergewaltigung, Herr Kollege!«
»Das werden wir noch herausfinden, wie angeblich die Vergewaltigung war, Herr Kollege!«
»Meine Herren, bitte bleiben Sie doch sachlich! Frau Schlosser, beantworten Sie bitte die Frage des Herrn Staatsanwalt.«
»Das war erst einen Tag nach Weihnachten. Anja war die ganze Zeit sehr verstört und verschlossen gewesen, und ich habe sehr lange gebraucht, um zu ihr durchzudringen und die Wahrheit aus ihr herauszubekommen.«
Die Wahrheit? Dass ich nicht lache!
»Was hat sie Ihnen erzählt?«
Und wieder durften wir uns die Lügengeschichte von diesem kleinen Miststück anhören.
»Es ist mir dann gelungen, sie davon zu überzeugen, dass sie die Sache anzeigen müsse, also sind wir am 28. Dezember gemeinsam zur Polizei gegangen.«
Während der Aussage ihrer Mutter saß Anja mit verheulten Augen im Gerichtssaal, wie ein Häuflein Elend. Was für eine schauspielerische Meisterleistung - und damit der nächste Nagel in meinem Sarg.
Die Richterin entließ Frau Schlosser aus dem Zeugenstand, und als nächstes wurde mein Bruder aufgerufen.
»Herr Marnot, Ihr Bruder hat mir erlaubt, ihn noch zu duzen, darf ich das bei Ihnen auch?«
»Ja klar, nur zu.«
»Gut. Also, du heißt Dominic Marnot, bist 17 Jahre alt, wohnst hier in Bardegen bei deinen Eltern, bist noch Schüler auf dem gleichen Gymnasium wie der Angeklagte und die Zeugin Schlosser.«
»Stimmt.«
»Dominic, der Angeklagte ist dein Bruder, daher musst du hier keine Aussage machen. Wenn du aber aussagst, dann muss alles was du sagst der Wahrheit entsprechen, ansonsten würdest du dich strafbar machen.«
»Ich möchte aussagen.«
»Das habe ich mir fast gedacht, schließlich hat dich der Verteidiger deines Bruders als Zeugen benannt. Also, was kannst du zu dem Tatvorwurf gegen deinen Bruder sagen.«
»Zur Tat selber kann ich nichts sagen, ich war ja mit unseren Eltern bei Verwandten in Dorleben. Aber ich kann einiges zu Anja sagen!«
Ob das helfen würde?
»Na dann schieß mal los!«
»Anja war schon eine ganze Weile hinter meinem Bruder her, sie verfolgte ihn in der Schule beinahe auf Schritt und Tritt.«
Einsatz Dr. Schober.
»Hat dein Bruder irgendwann auf irgendeine Weise auf diese Annäherungsversuche reagiert?«
»Nicht wirklich. Er war davon etwas irritiert, hat Anja aber nie irgendwie ermutigt. Im Gegenteil, er hat verschiedene Versuche von ihr, mit ihm etwas zu unternehmen, immer wieder unter Vorwänden abgeblockt.«
Nur bei dieser dämlichen Englisch-Hausarbeit hatte ich meine Prinzipien vergessen.
»Das können übrigens auch noch andere Klassenkameraden von uns bezeugen. Anja war richtig aufdringlich Nicolas gegenüber. Aber das kannte man von ihr ja schon.«
»Wie meinen Sie das, Herr Marnot?«
Interessierte das den Staatsanwalt wirklich?
»Anja verknallt sich alle zwei Monate in einen neuen Typen, und den verfolgt sie dann regelrecht. Egal ob der nun auch was von ihr will oder nicht.«
»Und mein Mandant wollte nichts von ihr, habe ich das richtig verstanden?«
»Absolut! Nic hatte keinerlei Interesse an Anja!«
»Du kannst dir also auch nicht vorstellen, dass er sie tatsächlich unter einem Vorwand ins leere Haus gelockt und dann dort vergewaltigt hat?«
»Niemals! Nicolas würde so was nie tun! Auf gar keinen Fall!«
Mit hochgezogener Augenbraue schaute ich Dom warnend an. Mein Bruder schien das zu kapieren, aber so recht glücklich war er damit wohl nicht.
»Vielen Dank, Dominic. Gibt es noch weitere Fragen an den Zeugen? Nein? Dann bist du entlassen und kannst dich dort hinten hinsetzen.«
Dominic nickte mir aufmunternd zu, dann setzte er sich auf den Stuhl, der am weitesten von Anja entfernt war. Auch eine Art Aussage...
»Also in meinen Augen war das eine reine Gefälligkeitsaussage für den Bruder. Frau Vorsitzende, ich würde vorschlagen, jetzt noch die psychologische Gutachterin zu hören.«
»Ja, das scheint mir auch der richtige Zeitpunkt zu sein.«
Die Gutachterin wurde aufgerufen, und kurz darauf betrat eine aufgetakelte Frau in den Vierzigern den Gerichtssaal. Die Personalien wurden aufgenommen, die Belehrung erfolgte, dann ging es mit der Vernehmung weiter.
»Frau Doktor Schulze-Rosenthal, Sie haben im Auftrag des Gerichts mehrere Gespräche mit der Zeugin Anja Schlosser geführt. Was haben Sie dabei über die Zeugin und über den Tatvorwurf der Vergewaltigung herausgefunden?«
»Nun, in unseren Sitzungen stellte sich Anja als eine mittlerweile wieder recht starke junge Frau heraus, die zwar noch Schwierigkeiten mit der Verarbeitung des Geschehens hat, aber auf dem besten Wege zur Bewältigung der Angelegenheit ist. Sicher trägt auch diese Verhandlung und die Bestrafung des Täters dazu bei.«
»Sie gehen also davon aus, dass der Tatvorwurf gegen den Angeklagten tatsächlich zutrifft und nicht - wie vom Angeklagten behauptet - einzig der Phantasie der Zeugin Anja Schlosser entspringt?«
Na da hatte sich ja ein Pärchen gefunden, Staatsanwalt und Gutachterin schienen genau auf der gleichen Wellenlänge zu liegen.
»Ja, für mich gibt es da gar keinen Zweifel. Alle Anzeichen deuten auf eine reale Vergewaltigung hin, die anfängliche Verstörtheit und Verschlossenheit, das erst allmähliche Vertrauenfassen den Eltern und mir gegenüber, später dann der Wille, das alles trotzdem durchzustehen und den Täter seiner gerechten Bestrafung zuzuführen. All das ist absolut typisch für das Opfer einer solchen Tat, ich sehe daher auch keinen Grund, an Anjas Aussagen zu zweifeln.«
Das war's dann wohl. RA Schober versuchte noch, die Doppelnamen-Tante etwas in ihrer Meinung ins Wanken zu bringen, aber das war wohl nicht von Erfolg gekrönt. Die Richterin entließ die Gutachterin, und als nächstes war der Vertreter der Jugendgerichtshilfe dran. Dieser malte zwar ein sehr positives Bild von mir, aber das würde wohl kaum etwas am Gesamteindruck und an meiner Verurteilung ändern. Genüsslich erhob sich der Staatsanwalt zu seinem Plädoyer.
»Hohes Gericht, Herr Kollege, die heutige Hauptverhandlung hat in meinen Augen den Tatvorwurf gegenüber dem Angeklagten eindeutig belegt. Er hat tatsächlich die Zeugin Anja Schlosser in sein Haus gelockt, um ihr dort körperlich näher zu kommen. Als sie jedoch seinen Avancen widerstand und ihm klarmachte, dass sie nicht bereit wäre, mit ihm zu schlafen, hat er sich das was er wollte einfach mit Gewalt genommen. In vollem Bewusstsein was er da tut hat er die Zeugin Schlosser vergewal...«
»DAS IST DOCH ALLES SCHWACHSINN!«
Oh nein, alles, nur nicht das!
»NIC HAT DIE DUMME TUSSIE NICHT VERGEWALTIGT!«
Alle Augen drehten sich zu dem Zuschauer, der durch seinen Aufschrei den Staatsanwalt unterbrochen hatte.
»Ruhe im Saal! Was ist denn das für ein Benehmen vor Gericht! Wer sind Sie, und wieso unterbrechen Sie den Staatsanwalt bei seinem Schlussplädoyer?«
Ich ahnte, was jetzt kommen würde, und verzog schmerzhaft das Gesicht.
»Ich bin Jan Vollmer, ein Klassenkamerad, und ich kann die ganze Sache hier aufklären! Nicolas hat Anja nicht vergewaltigt!«
Ich musste versuchen, das doch noch zu stoppen.
»Lass gut sein, Jan! Sag nichts!«
»Nein, Nic, jetzt muss alles raus! Ich kann dich doch nicht in den Knast wandern lassen!«
Ich seufzte und blickte auf den Tisch vor mir.
»Frau Vorsitzende, wenn der junge Mann tatsächlich etwas zur Aufklärung beizutragen hat, dann sollten wir ihn doch noch anhören. Schließlich geht es hier um einen sehr schweren Tatvorwurf.«
»Ich stimme Ihnen zu, Herr Schober. Haben sie Einwände, Herr Borinski?«
Borinski hieß der Staatsanwalt, und er hatte überraschenderweise keine Einwände.
»Gut, dann treten wir nochmals in die Beweisaufnahme ein. Kommen Sie bitte nach vorn, Herr Vollmer, und nehmen Sie Platz.«
»Danke. Sie können mich übrigens duzen.«
»Schön. Also, du heißt Jan Vollmer. Wie alt bist du?«
»16.«
»Du wohnst sicher noch bei deinen Eltern, und hast ja schon gesagt, dass du ein Klassenkamerad von Nicolas und damit auch von Anja bist.«
»Das ist richtig.«
»Du bist jetzt Zeuge vor Gericht, du musst also die Wahrheit sagen, ansonsten würdest du bestraft werden. Da ich nicht weiß, was du hier aussagen wirst, weise ich vorsorglich schon einmal darauf hin, dass du nichts sagen musst, wodurch du dich selber belasten würdest. Hast du das verstanden?«
»Ja, das habe ich.«
»Gut, dann erzähl uns jetzt mal bitte, wieso du so überzeugt bist, dass Nicolas die vorgeworfene Vergewaltigung nicht begangen hat.«
»Ganz einfach, er war zu dieser Zeit mit mir zusammen!«
»Wie meinst du das?«
»An diesem Abend rief Nic mich gegen 19.20 Uhr an. Er war ziemlich verstört und bat mich, zu ihm zu kommen, er müsse mir etwas Wichtiges erzählen. Er sagte am Telefon nicht, worum es genau ging, aber ich spürte, dass da irgendwas vorgefallen war. Wir wohnen nur ein paar hundert Meter von einander entfernt, ich bin also sofort losgerannt und war gegen halb acht bei ihm. Von da an bin ich bis zum nächsten Morgen bei ihm geblieben - wie soll er da halb neun Anja vergewaltigt haben?«
»Na das ist ja interessant. Was hat mein Mandant Ihnen denn erzählt, weshalb hat er Sie so schnell sprechen wollen?«
»Er hat mir genau das erzählt, was er auch hier ausgesagt hat. Anja hat versucht, sich an ihn ranzumachen, er hat sie abblitzen lassen, sie hat ihm eine gescheuert und ist dann abgezogen. Zwei Minuten später hat er mich angerufen.«
»Sie wollen also behaupten, dass der Angeklagte hier das Opfer ist, dass er gar nichts von der Zeugin Schlosser wollte und sie sich das alles nur hat einfallen lassen, um sich an ihm für die Abfuhr zu rächen?«
»Genau so ist es! Nicolas hatte nicht einmal ansatzweise Interesse an der Tussie!«
»Wieso können Sie sich da so sicher sein? Ich glaube nämlich, dass Sie hier lügen und ihrem Freund ein falsches Alibi verschaffen wollen!«
»Ich lüge nicht! Nicolas wollte nichts von Anja, gar nichts! Er ist näm...«
»Jan, lass es!«
»Nein, Nic, das muss jetzt endlich raus!«
»Ja was muss denn nun raus! Nicolas, unterbrich bitte den Zeugen nicht! Jan, erzähl jetzt bitte alles!«
»Ganz einfach, Nicolas ist schwul, ich bin es auch, und wir sind seit einem halben Jahr ein Paar!«
Rrrrrummmssss. Das schlug im Saal ein wie eine Bombe. Überall klappten Kinnladen herunter. Ich schaute zu meiner Familie. Dominic grinste vor sich hin, na ja, der wusste es ja schon vorher und hatte nur geschwiegen, weil ich ihn darum gebeten hatte. Unsere Eltern schauten etwas verdutzt, dann aber zeigte sich auch auf ihren Gesichtern ein Lächeln. Puh, das schien ja gut zu gehen. Okay, ich hatte kaum etwas anderes erwartet, ein Bruder meiner Mutter war auch schwul, und es gab niemals irgendeine blöde Bemerkung darüber, ganz im Gegenteil.
»WAS? DU BIST EIN ARSCHFICKER?«
Anja war aufgesprungen und kreischte durch den Saal!
»Deshalb hast du mich weggeschoben, als ich es uns etwas romantischer machen wollte? Du verdammte schwule Sau!«
»Anja, sehe ich das richtig, dass du gerade zugegeben hast, dass es gar keine Vergewaltigung gegeben hat?«
Tja, meine liebe Anja, da bist du wohl in die selbstgegrabene Grube gefallen. Ihr wurde das wohl auch erst in diesem Moment klar, schweigend fiel sie wieder auf ihren Stuhl zurück. Die Richterin wusste offensichtlich ganz genau, was sie von diesem Ausbruch zu halten hatte.
»Das betrachte ich als ein ›Ja‹. Aber Jan, nun sag mir mal bitte, wieso du erst jetzt mit der Wahrheit herausrückst. Und warum hat Nicolas auch nichts davon gesagt! Hier ging es immerhin um eine hohe Strafe für ihn, und es sah von der Beweislage her gar nicht gut für ihn aus.«
»Nic wollte mich schützen.«
»Schützen? Wieso und vor was?«
»Na ja, uns war klar, dass die einfache Aussage, dass ich in der fraglichen Zeit bei ihm war, nicht ausreichen würde. Das hat ja auch der Staatsanwalt gerade gesagt, er hat uns ja vorgeworfen, dass wir ein falsches Alibi abgesprochen hätten. Wir mussten uns also outen. Nicolas hätte das getan, wenn es nur um ihn gegangen wäre. Aber er hat darauf verzichtet, weil er mich schützen wollte. Meine Eltern sind ziemlich konservativ und haben kein gutes Wort für Homosexuelle, daher wollte ich mich erst outen, wenn ich auf eigenen Füßen stehe. Aber ich konnte jetzt nicht einfach zusehen, wie Nic in den Knast wandert! Ganz egal, was jetzt mit mir und meinen Eltern passiert!«
»Stimmt das, Nicolas?«
Ich seufzte, nun war ja eh alles zu spät, das große Geheimnis war raus.
»Ja. Ich wollte, dass Jan in Sicherheit weiterleben kann. Er hatte solche Angst vor dem was passieren würde, wenn es seine Eltern erfahren würden.«
Jans Vater arbeitete auf dem Bau, war das, was man üblicherweise als »echten Kerl« bezeichnet, und hatte fast immer etwas an seinem Sohn rumzumäkeln. Seine Mutter hingegen war das typische Hausweibchen, das niemals auf die Idee kommen würde, irgendetwas selber zu entscheiden oder gar das Wort gegen den Herrn im Haus zu erheben. Blöderweise waren beide im Gerichtssaal anwesend, und ich hatte genauso großen Schiss wie Jan vor dem, was jetzt wohl passieren würde. Und es ging schon los. Herr Vollmer hatte sich von seinem Stuhl im Zuschauerbereich erhoben und stürmte nach vorne zum Zeugenstand. So schnell, dass selbst der anwesende Wachtmeister nicht mehr eingreifen konnte, griff er sich seinen Sohn.
»Jan, ich bin stolz auf dich!«
Häh?
»Ich muss ein verdammt schlechter Vater sein, wenn du solche Angst vor mir hast! Und trotzdem hast du dich jetzt überwunden und hast die Wahrheit gesagt!«
Ich war wohl im falschen Film. Herr Vollmer umarmte seinen Sohn und hatte genau wie dieser Tränen in den Augen!
»Du... Du... Du bist nicht wütend auf mich?«
»Nein, ich bin wütend auf mich selber. Auf dich bin ich stolz! Du hast dich benommen wie ein richtiger Mann!«
»Es freut mich ja sehr, dass die Befürchtungen des Zeugen Vollmer seine Familie betreffend anscheinend nicht eingetreten sind, aber trotzdem sollten wir jetzt wohl zusehen, dass wir mit der Verhandlung ein Ende finden. Herr Vollmer, nehmen Sie doch bitte mit Ihrem Sohn derweil noch hinten Platz.«
Von den Stühlen für die Zeugen war nur noch einer frei, aber das machte dem über zwei Meter großen Riesen vom Bau nichts aus, er setzte sich und nahm seinen deutlich kleiner geratenen Sohn auf den Schoß, welcher glücklich zu mir herüberlächelte. Und nun war es soweit, auch ich konnte zum ersten Mal seit Wochen wieder positiv in die Zukunft schauen, und ein Lächeln machte sich auf meinem Gesicht breit.
»Herr Borinski, Sie können jetzt ihr vorhin unterbrochenes Plädoyer fortsetzen, es dürfte ja jetzt ziemlich kurz ausfallen.«
Harhar, jetzt stehst du dumm da, nicht wahr?
»Ja, Frau Vorsitzende. Im allerletzten Moment hat sich herausgestellt, dass hier der falsche Täter auf der Anklagebank sitzt. Nicolas Marnot ist - genau wie die meisten von uns - das Opfer einer Intrige der Zeugin Schlosser geworden. Einer wohldurchdachten Intrige, bis zum späten Auftritt des Zeugen Vollmer deutete tatsächlich alles darauf hin, dass der Angeklagte die ihm vorgeworfene Tat wirklich begangen hat.«
Widerstrebend musste ich ihm da zustimmen.
»Es sind Fälle wie dieser, welche leider immer wieder die Glaubwürdigkeit echter Vergewaltigungsopfer in Frage stellen, von daher hat die Zeugin Schlosser einen viel größeren Schaden angerichtet, als »nur« einen Unschuldigen vor Gericht zu zerren. Frau Schlosser, Sie können sich schon mal darauf einrichten, demnächst dort drüben auf dieser Bank zu sitzen, dafür werde ich sorgen!«
Und ich würde mir diese Show nicht entgehen lassen!
»Der Angeklagte ist unschuldig und selbstverständlich freizusprechen.«
Genau! Was anderes hatte ich auch nie behauptet.
»Herr Schober.«
»Hohes Gericht, Herr Kollege, ich kann mich den Worten des Herrn Staatsanwalt nur anschließen. Ich hoffe nur, dass wir alle aus diesem Fall lernen werden, dass das anscheinend Offensichtliche nicht immer auch die Wahrheit sein muss. Ich beantrage Freispruch für meinen Mandanten.«
»Vielen Dank. Nicolas, du hast das letzte Wort.«
Sollte ich wirklich noch irgendwas sagen? Würde ich mich unter Kontrolle halten können?
»Ich... Jan... Du hättest das nicht zu tun brauchen, aber ich bin dir trotzdem sehr dankbar. Ich liebe dich, und wir werden das was jetzt kommt gemeinsam durchstehen. Und Anja... Ach vergiss es einfach.«
Ich wollte mir nicht jetzt noch eine Strafe wegen Beleidigung einhandeln.
Nach meinem Schlusswort zog sich die Richterin mit den beiden Schöffen zur Beratung zurück. Erwartungsgemäß brauchten sie aber für das Urteil nicht sehr lange.
»Bitte erheben Sie sich.«
Ich schob den Stuhl zurück und stand mit allen anderen Anwesenden auf.
»Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: der Angeklagte wird auf Kosten der Staatskasse, die auch seine notwendigen Auslagen trägt, freigesprochen. Nehmen Sie bitte Platz.«
Es folgte noch die Urteilsbegründung, die ich nur noch mit einem Ohr wahrnahm, der Rest von mir war bereits bei Jan und lauerte darauf, ihn endlich in die Arme nehmen zu können.
Dann war es soweit, ich bedankte mich noch kurz bei meinem Anwalt, dann schoss ich zu meinem Schatz, der vom Schoß seines Vaters aufsprang und mir in die Arme fiel. Alle Spannung in uns löste sich in Wohlgefallen auf, während wir uns wortlos in den Armen lagen. Wir bekamen gar nicht mit, wie sich der Saal leerte, und waren völlig überrascht, als plötzlich nur noch wir und unsere Familien herumstanden.
»Ähem... Wenn ihr zwei dann mal wieder von euch ablassen könntet... Frau Vollmer, Herr Vollmer, ich denke, es gibt jetzt einiges zwischen uns zu besprechen. Was halten Sie davon, wenn wir alle zusammen zum Italiener um die Ecke gehen? Schließlich gibt es auch was zu feiern.«
Überraschenderweise waren alle mit dem Vorschlag meiner Mutter einverstanden, sogar Jans Vater grinste vor sich hin. Selbst bei unserer sehr deutlichen Zurschaustellung körperlicher Nähe hatte er nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Anscheinend hatten sowohl Jan als auch ich ihn falsch eingeschätzt. Na ja, sollte mir nur recht sein. Wir zogen also los, raus aus dem Gerichtssaal und rein in eine zwar noch recht ungewisse, aber doch längst nicht mehr so unheilschwangere Zukunft...
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