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Müller
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Müller
Als ich ihn zum ersten Mal sah, torkelte ich gerade aus einer Kneipe hinaus. Das heißt, eigentlich sah ich ihn nicht, deshalb stolperte ich auch über ihn.
In einen langen dunklen Mantel gekleidet, einen schwarzen Schlapphut tief ins Gesicht gezogen, saß er auf der untersten Stufe der Treppe, die ich mich bemühte, möglichst unfallfrei hinunter zu kommen. Fast hätte es auch geklappt…..aber wie ich schon erwähnte, gab es da eine Stolperfalle.
Ich stolperte also über ihn, er gab einen Laut des Unmutes von sich, während ich dem Gesetz des Fallens folgte. So lag ich da vor ihm und hatte eigentlich nur noch den Wunsch, dort liegen bleiben zu können.
Der Typ kam näher, kniete sich vor mich hin und betrachtete mich.
„Mann, siehst du scheiße aus, “kommentierte er meine Situation und traf damit genau das, was ich fühlte.
Vergeblich versuchte ich mich wieder aufzurappeln, es klappte einfach nicht. Die Gestalt erhob sich und griff mir buchstäblich unter die Arme, zog mich hoch. Unter Aufbietung sämtlicher Kräfte versuchte ich, auf den Beinen zu bleiben, was mir mit der Unterstützung dieses Mannes auch gelang.
Während ich noch überlegte, wie ich ihm den Weg in meine Wohnung beschreiben konnte, zog er mich mit sich. Irgendwie kam es mir selbstverständlich vor, dass wir vor meiner Haustür standen, er aus meiner Hosentasche den Schlüssel zog und mich die Treppe raufschleppte.
In meiner Wohnung angekommen führte er mich sofort ins Schlafzimmer, wo 3 Betten lustig durch den Raum wirbelten .Ich wusste nicht, für welches ich mich entscheiden sollte, aber der Typ fand sofort das Richtige heraus und ließ mich einfach drauf fallen.
Anschließend hatte ich das, was manche Leute einen Filmriss nennen, andere Schlaf oder was auch immer.
Am nächsten Morgen oder Mittag wachte ich auf. Mühsam und zögerlich und sehr ungern. Nach einem heftigen Zusammenprall mit dem Stoff Alkohol beschreiben die Menschen den Zustand am nächsten Tag als „man hat einen Kater“. Ich dagegen kann behaupten, bei mir handelte es sich um ein komplettes Katzengehege.
Dann kam der Typ ins Zimmer, ohne Mantel und Schlapphut. Mehr konnte ich von ihm nicht erkennen, denn ein Tablett zog meine Aufmerksamkeit auf sich, das er vor sich hielt.
Es stand eine Kanne mit einer dunklen Flüssigkeit drauf, vermutlich Kaffee, ein Glas mit einer gelblichen Substanz, es muss Orangensaft gewesen sein… und ein Teller, von dem aus sich der Duft nach gebratenem Speck und Eiern verbreitete… ich weiß nicht, wie ich es schaffte, aber irgendwie torkelte ich aus dem Bett hoch und schaffte es gerade noch ins Bad.
Nachdem ich mir die Seele aus dem Leib…entfernt hatte, schleppte ich mich ins Bett zurück. Der Typ kam aus der Küche, wo er das Tablett mit dem Essen hingestellt hatte:
„Entschuldige, aber es heißt doch immer, ein gutes Frühstück wäre hilfreich in deinem Zustand. Ich verstehe das nicht, was ist denn los mit dir?“
„Verdammt, war ja nett gemeint, aber der Geruch… nee, also, ich kann nichts essen.“ Stöhnend sank ich wieder in die Kissen zurück und wollte eigentlich nur noch sterben. Stattdessen muss ich eingeschlafen sein, denn als ich erwachte, stand der Typ wieder an meinem Bett, diesmal mit einem Glas Wasser in der Hand: „Aspirin“, meinte er, „ich habe auch noch Zwieback gefunden und Tee, möchtest du was?“
Ich nickte zögerlich mit dem Kopf, er blieb oben, schwindelig wurde mir auch nicht. „Okay, vielleicht ein Stückchen Zwieback.“
Wieder verschwand er in der Küche. Als er zurückkam, fragte ich:
„Hey, wie heißt du überhaupt?“
„Müller“
„Aha….und wie Müller? Hans, Peter, Christian?“
„Nichts, nur Müller.“
„Ähem… nun gut, wie du meinst,… Müller. War jedenfalls mächtig nett von dir, dich so um mich zu kümmern. Aber ich denke, ich komme jetzt schon alleine klar, weißt du, ich habe gestern nur zuviel gesoffen, es geht jetzt schon wieder. Also danke nochmals und mach’s gut.“
Ich hielt ihm die Hand hin, die er aber nicht nahm.
„Kein Problem, mach dir keine Gedanken, deswegen bin ich ja hier, ich werde mich ein wenig um dich kümmern. Soll ich deine Wohnung mal durchsaugen? Hätte es nötig. Wo ist denn der Staubsauger? Nee, bleib mal liegen, ich finde ihn schon.“
Damit wanderte er durch die Wohnung und ließ mich reichlich sprachlos zurück. Himmel noch mal, was war denn das für einer? Ich sprang für meinen Zustand doch recht flott aus dem Bett: „Hallo? Sag mal, was bist du denn für einer? Wie ich schon sagte, war ja nett, dass du mir geholfen hast, aber jetzt ist Schluss mit lustig, würdest du dich bitte auf der Stelle verpfeifen?“
„Geht leider nicht, ich habe hier noch etwas zu erledigen. Nun reg dich doch nicht so auf, ich werde dir doch nur helfen, mit deinem Leben wieder ins Reine zu kommen. Dann ist meine Aufgabe erfüllt und dir geht es wieder besser.“
Seelenruhig zog er den Staubsauger aus dem Schrank, den ich ihm ebenso seelenruhig abnahm. Ich war schon immer stolz auf meine Selbstbeherrschung.
„Okay…äh, Müller, setz dich mal hin und erzähle in aller Ruhe. Fangen wir noch mal damit an, dass du einfach Müller heißt. Nun sag mir mal deinen Vornamen.“
„Ich habe wirklich keinen. Weißt Du, früher, als ich noch lebte, da wurden wir einfach mit unserem Beruf angesprochen, und ich war nun mal Müller.“
„Früher, als du noch… okay, alles klar, wir sollten uns nicht aufregen. Wann war das?“
„Ach Junge, das haben mich schon viele gefragt, aber im Laufe der Jahrhunderte habe ich es einfach vergessen, ist doch auch nicht so wichtig.“
„Nein, entschuldige, natürlich ist das nicht wichtig.“ Langsam wurde ich kribbelig. Wen hatte ich da vor mir? Hatte einer meiner Kollegen sich da einen Spaß erlaubt und diesen Typen angeheuert? Dem Peter würde ich es zutrauen, der wollte sich immer schon mal an mir rächen, weil ich ihn hatte abblitzen lassen… oder war er ein Penner, der versuchte, sich für ein paar Tage ein warmes Plätzchen zu verschaffen? Wie sollte ich reagieren, ihn einfach rausschmeißen, oder sollte ich einfach auf ihn eingehen und versuchen, mehr zu erfahren? Im Hinblick auf seine kräftige Statur und meinen leicht geschwächten Zustand entschloss ich mich für letzteres.
„Okay, Müller, du hast Recht, es geht mir wirklich nicht gut, und ich könnte Hilfe gebrauchen. Also fang mal an mit dem Staubsaugen, aber ordentlich bitte.“
Mit diesen Worten verzog ich mich wieder ins Bett.
„Es hat sich noch nie jemand über mich beklagt“, grummelte Müller vor sich hin.
„Ach so, dann machst du das hier nicht zum ersten Mal?“ Raffiniert, der Kerl, suchte sich wahrscheinlich vor Kneipen immer so angetrunkene Typen und kroch ein paar Tage bei ihnen unter.
„Nein, natürlich nicht, ich sagte dir doch schon, dass ich eine Aufgabe zu erfüllen habe.“
„Okay, du sagtest es, aber du hast mir diese Aufgabe nicht erklärt… Müller? Müller!!“ Ach so, er konnte mich ja nicht hören bei dem Krach, den mein Staubsauger machte. War halt noch so ein uraltes Ding, ich hätte mir längst schon mal einen neuen kaufen sollen. Vielleicht hatte Müller ja Recht? Ich sollte wirklich mal was in meinem Leben ändern. Ich hatte einen tollen Job, verdiente gutes Geld, aber ich war eben alleine. Mal wieder. Hatte gedacht, nun hätte ich jemanden gefunden. Wütend drosch ich auf das Kissen ein. Nix war, enttäuscht hatte er mich, betrogen hatte er mich, ausgenutzt hatte er meine Verliebtheit… mein Arm befand sich plötzlich in einer Art Schraubstock.
„Hey Junge, nun lass das Kissen heil. Das kann nichts dafür und so kräftig bist du noch nicht.“
Ups! Ich hatte gar nicht gemerkt, dass es wieder ruhig war, und ich immer noch auf das Kissen einschlug.
Ich schluckte kurz, sah zu ihm auf… meine Güte, ein echt kräftiger Kerl… und meinte: „Schon gut, ist alles okay.“
„Nun, okay ist zwar nichts, aber das kriegen wir schon hin, verlass dich auf mich.“ Mit diesen Worten nahm er auf meinem Bett Platz. Hoppla! Was kam denn jetzt? Hatte vielleicht doch mein lieber Kollege… na warte, Burschi, lass mich erst mal wieder in der Firma sein…
„Ich sollte dir mal was erklären, Joschi.“
Nanu? Das wurde ja immer besser, der Typ kannte meinen Spitznamen. Nun war es also klar: mein lieber Herr Kollege gönnte sich einen Streich.
„Joschi, ich bin ein Geist.“
„Du bist ein Geist? Aha, so ähnlich hatte ich es mir auch schon gedacht.“
„Nein, im Ernst. Weißt du, ich habe mir das Leben genommen, weil ich nicht mehr klar kam. Und dafür wird man bestraft. Nun bin ich also seit vielen Jahrhunderten verdammt, als Geist bei Menschen aufzutauchen, denen es ähnlich geht wie mir. Und wenn ich genügend Menschen geholfen habe, dann werde ich endlich ein Engel sein.“
Ich schluckte kurz und beschloss dann, das Spiel mitzumachen, immerhin war das mal eine originelle Idee. Der Typ war offensichtlich ein arbeitsloser Schauspieler, von meinem Kollegen engagiert, um mir einen Streich zu spielen.
„Du, das tut mir echt Leid, muss kein leichtes Leben sein so als Geist. Wenn du also willst, dann helfe ich dir gerne, ein Engel zu werden, ist doch kein Problem, wir beide werden das schon schaffen.“
„Ich danke dir, Joschi“, meinet er sehr ernst, was mich zu einem kleinen Lachanfall animierte, der mir sofort wieder Leid tat, schließlich tat der Mann nur seinen Job.
„Müller, sei doch so nett, und besorge mal im Kaufland ein paar richtig gute Steaks, ein bisschen Salat und Brot, allmählich bekomme ich Hunger.“
„Du, das tut mir Leid, aber du weißt so einiges noch nicht. Außer dir sieht mich im Moment niemand, daher kann ich auch nicht einkaufen gehen.“
Ach so, allzu viel Geld hatte mein lieber Kollege wohl doch nicht investieren wollen, der Typ hier gab wohl nur eine Kurzvorstellung.
„Kein Problem, ich mache das schon selber, ich verschwinde mal eben ins Bad.“
Die Dusche prasselte und ich pfiff ein Liedchen vor mich hin, irgendwie machte es ja Spaß… da ging die Tür der Duschkabine auf…
„Hey Müller, was fällt dir ein… so was mag ich ja nun gar nicht“
„Entschuldige, Joschi, aber es hat geklingelt.“
„Ja Himmel, dann mach doch auf!“
„Geht nicht, ich sagte dir doch schon, dass mich niemand außer dir sehen kann.“
Im Nu verflog meine gute Laune, irgendwie wurde das Spiel jetzt doof. Seufzend schnappte ich mir ein Handtuch und latschte zur Tür, Müller ging neben mir, auch das störte mich.
„Hi Jonas, gestern wurde ein Päckchen abgegeben für dich.“ Mit diesen Worten überreichte mir mein Nachbar das Päckchen und wollte sich wieder umdrehen, als ich einen Geistesblitz hatte: „Moment bitte noch, Manni, sag mir doch bitte mal, wie der Typ hier aussieht, der grad neben mir steht.“
Manni schaute mich an, schaute neben mich, dann wieder zu mir und seine Miene verfinsterte sich. „Jonas, sei mir nicht böse, aber ich wollte schon länger mal mit dir reden. Ich mache mir ein wenig Sorgen um dich… also, wenn du mal Zeit hast, sollten wir reden. Wer zuviel trinkt, der braucht Hilfe… ich kenne da eine sehr gute Selbsthilfegruppe… also nichts für ungut, aber wenn du wieder nüchtern bist, dann klingel doch einfach mal und wir reden, okay?“
Mit diesen Worten drehte er sich um und ging in seine Wohnung.
Und ich stand etwas verblüfft da.
Ach soooo… jetzt dämmerte es mir, ja klar… man soll niemanden fragen, wie der Typ, der grad neben einem steht, aussieht… das macht auch wirklich nicht grad den nüchternsten Eindruck… Mist!
Nun gut, ich beschloss also, dieses Spielchen einfach mal mitzumachen, hatte ja an diesem Wochenende ohnehin nichts weiter vor, als trübsinnig alleine in meiner Wohnung zu hocken und über die Sinnlosigkeit des Lebens nachzudenken.
„Okay, Müller, dann gehe ich mal eben einkaufen, und dann machen wir es uns gemütlich.“
„Gute Idee. Ich komme mit. Aber denk bitte dran, dass du nicht mit mir redest, das sieht dann etwas merkwürdig nach Selbstgespräch aus.“
Ich grinste. Allmählich machte es mir Spaß. Mal sehen, ob ich ihn nicht aus seiner Rolle raus bringen konnte.
Auf der Straße ging er immer ein wenig hinter mir, so dass ich nicht mit ihm sprechen konnte, aber im Supermarkt konnte ich es mir dann doch nicht verkneifen:“ Müller, mir ist heute nach Steak, aber was möchtest du essen? Essen Geister überhaupt etwas?“
„Nein, ich esse und trinke nicht, aber du solltest hier lieber die Klappe halten.“
„Hey komm, nun übertreibe nicht, du musst etwas essen, das weißt du ganz genau, du Blödmann!“
„Junger Mann, was fällt Ihnen eigentlich ein? Ob und wann ich was esse geht Sie überhaupt nichts an und wenn Sie es wagen sollten, mich hier noch einmal zu beschimpfen, zeige ich Sie an wegen Beleidigung!“
Verdammt, da stand ein älterer Herr direkt neben mir und schaute mich wütend an. Müller stand neben ihm und grinste unverschämt: „Ich habe dich doch gewarnt, warum glaubst du mir eigentlich nicht?“
Verdattert zog ich, eine Entschuldigung murmelnd, schnell mit meinem Einkaufswagen weiter. Müller musste sich schnell abseits gestellt haben, als der alte Herr kam, und ich hatte das nicht gesehen, weil ich mir das Fleisch angeschaut hatte. Peinlich. Nun gut, der Punkt geht an dich, Müller. Aber warte, ich kriege dich schon.
Ich kaufte noch Salat und Brot, etwas Käse, Wasser, Cola und 2 Flaschen Rotwein… alles nur für mich. War gespannt, wie er das so durchziehen wollte ohne Essen und Trinken.
Zuhause angekommen kochte ich mir erst einmal einen starken Kaffee und forderte Müller auf, mir seine Geschichte zu erzählen.
„Wieso hast du dir das Leben genommen?“
Müller setzte sich mir gegenüber in den Sessel und begann zu erzählen:
„Wie gesagt, es ist schon ein paar Jahrhunderte her. Mein Vater war Müller, ich war der älteste Sohn und übernahm eben eines Tages die Mühle. Ich wunderte mich immer mehr über mich, weil mich die Mädchen nicht interessierten. Dabei gab es sie scharenweise und einige waren wohl erpicht, die Frau des Müllers zu werden. Der Job war hart, es gab viel Arbeit, aber es ging mir und meiner Familie immer gut. Außerdem sah ich nicht schlecht aus, wie du vielleicht bemerken wirst.“
Das stimmte allerdings. Er war recht groß, hatte markante Gesichtszüge, dunkle Locken… alles in allem ein wirklich ansprechender Typ. Er mochte so Mitte bis Ende dreißig sein.
„Es wurde immer schlimmer mit der Zeit, denn meine Eltern drängten mich, zu heiraten. Es musste eine junge Frau ins Haus, meine Mutter schaffte den Haushalt nicht mehr so. Enkelkinder sollten geboren werden, die Generation musste doch weiter gehen und wie gesagt, es gab genügend junge Mädchen, die sich für mich interessierten. Aber in mir kamen überhaupt keine Gefühle auf. Dafür entdeckte ich eines Tages mit Entsetzen, wie ich unseren Lehrjungen anstarrte, als der im Sommer mit nacktem Oberkörper die Säcke schleppte. Er war braun gebrannt, die Haut glänzte vom Schweiß, und ich konnte meine Augen nicht abwenden. Nicht nur das, da kamen Gefühle… mir wurde ganz warm und… naja, du weißt schon. Ich war einfach nur entsetzt, flüchtete in meine Kammer und versuchte, mich wieder zu beruhigen. Die Tage darauf ging ich ihm aus dem Wege. Und beschäftigte mich mehr mit Marie, der Tochter des Bäckers aus unserem Dorfe. Wir waren quasi zusammen aufgewachsen, sie war hübsch, lieb und brachte mich durch ihre fröhliche Art immer zum Lachen. Ich mochte sie. Und sie mich wohl auch, denn ich bemerkte schon, dass ihre Blicke nicht mehr nur kameradschaftlich waren. Ich will es kurz machen: ich habe sie geheiratet. Wir waren gute Kameraden, sie war genau die richtige Frau für den großen Haushalt, sie war fleißig und ihre Fröhlichkeit blieb. Zunächst. Irgendwann wurde sie immer stiller. Ich dachte mir, dass es an der Arbeit läge, denn sie bekam unsere beiden Kinder recht schnell hintereinander und war vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf den Beinen.
Eines Tages zerriss ich mir bei der Arbeit die Hose. Also ging ich in die Kammer, um mir eine neue anzuziehen. Und dort saß meine Marie und weinte. Ich nahm sie in die Arme und fragte erschrocken, was denn los sei, denn ich hatte sie noch nie weinen sehen. Sie trocknete ihre Tränen und lächelte mich an: „Ach Lieber, bitte verzeih, ich hatte nur plötzlich wieder so eine Sehnsucht nach dir. Wenn du mich doch nur lieben könntest. Du hast mich zur Frau genommen, du bist der Vater meiner Kinder, aber du hast mich noch nie geliebt.“ Dann stand sie auf und ging in die Küche hinunter. Erschüttert setzte ich mich auf unser Bett. Wie hatte sie das erkennen können? Ich gab mir doch alle Mühe. Und zum hundertsten Male fragte ich mich, warum ich sie nicht lieben konnte! Ich verstand es doch selbst nicht, wie sollte ich es ihr dann erklären?
Die Jahre vergingen. Ich achtete stets darauf, Marie öfter einmal in die Arme zu nehmen und zu sagen: Ich liebe dich“… aber da es kein Gefühl war, das von innen kam, klang es hohl. Sie nahm es immer wortlos zur Kenntnis.
Und eines Tages traf mich am helllichten Tag der Blitz. Ein Mann kam auf unseren Hof geritten und verlangte, den Müller zu sprechen. Er hatte sich in der Nähe mit seiner Familie angesiedelt und wollte Geschäfte machen.
Und plötzlich verstand ich! Mit grausamer Gewissheit nahm ich alles an ihm wahr: seine edlen Gesichtszüge, die wunderschöne schlanke Statur, die strahlend hellen Locken, seinen feinen Mund, diese blitzenden Augen, feingliedrige Hände, diese kräftige, sichere Stimme. Ich war verliebt! Verliebt in einen Mann. All meine Beherrschung musste ich zusammennehmen, um in ruhigem Ton mit ihm das Geschäftliche zu besprechen.
Die nächste Zeit war einfach nur noch grausam. Ich war in einen Mann verliebt. Warum? Warum ich? Wie konnte das sein? Natürlich hatte ich schon davon gehört, aber warum hatte es mich getroffen? Und wie sollte es weitergehen?
Er kam sehr häufig zu unserer Mühle. Jedes Mal konnte ich es kaum erwarten, ihn zu sehen, aber dann stand wieder die Qual im Vordergrund, ruhig und geschäftlich mit ihm reden zu müssen, es war kaum zu ertragen.
Eines Tages passierte es dann. Er stand dicht neben mir, leicht vorne über gebeugt prüfte er konzentriert Korn mit der einen Hand, ließ durch die andere Hand Mehl rieseln, die Haare fielen ihm leicht über sein Gesicht… ich weiß nicht, wie es passiert ist, jedenfalls strich ich ihm mit meiner Hand leicht über seine Wange. Er zuckte entsetzt zurück, erst völlig fassungslos, dann voller Abscheu und Verachtung schleuderte er mir schlimme Worte ins Gesicht. Das alles sehe ich heute nur noch wie durch einen Nebel. Seine grausamen Worte gellten hinter mir her, als ich wie im Traum die steile Treppe nach oben ging, den äußeren Ring der Mühle betrat und mich hinunter stürzte. Wie betäubt lag ich einen Moment unten im Staub. Verwundert darüber, dass ich doch noch am Leben war, erhob ich mich. Stell dir mein Erstaunen vor, als ich die Schreie meiner Familie hörte, die entsetzt angelaufen kam. Ich wollte ihnen erklären, dass mir doch gar nichts passiert sei, als ich meinen merkwürdig verdrehten Körper sah. Und ich stand aufrecht neben ihm! Ich begriff überhaupt nichts mehr und wollte mich zu dem Körper hinunter bücken, als ich eine Stimme hörte. Eine Lichtgestalt kam auf mich zu. Wie selbstverständlich ging ich ihr entgegen. Sie hatte eine böse Miene und sprach sehr zornig zu mir. Ich hätte meinem Leben selbst ein Ende gesetzt, hätte meine Familie in Kummer und Trauer gestürzt, dafür würde ich nun bestraft werden. Viele, viele Jahrhunderte müsste ich als Geist auf der Erde bleiben, mich um andere Menschen kümmern, die unglücklich seien. Und begreifen, dass man sich nicht wegen eines Kummers einfach das Leben nimmt. Wenn ich eines Tages einmal alle Anforderungen erfüllt hätte und einsichtig geworden sei, dann dürfte ich ein Engel werden und endlich meine Ruhe finden.
Und nun ist es bald soweit.“
Och Mensch, ich war total gerührt. Was für eine tragische Geschichte. Der arme Kerl! Er tat mir sehr Leid. Noch völlig in die Vergangenheit seines Lebens versunken saß er da im Sessel mit trauriger Miene… ja Hallo? Geht’s noch? Jetzt war ich doch drauf und dran gewesen, mich in dieses Schauspiel reinziehen zu lassen. Verdammt, der Kerl war richtig gut. Um ein Haar hätte er mich doch von seiner Story überzeugt. Aber eben nur um ein Haar. Ich grinste und stand auf.
„Tja, Müller, das Leben ist halt hart, bitter und ungerecht, und das Leben nach dem Tod scheint ja auch nicht viel besser zu sein. Da bist du ja echt in einen Schlamassel rein geraten. Aber wenn ich dein letzter „Fall“ bin, dann hast du es ja bald geschafft. So, und nun würde ich mir gerne mal mein Steak braten, langsam habe ich Hunger. Und du möchtest wirklich nichts?“
„Du glaubst mir nicht. Nun, das kenne ich. Macht nichts, ich habe Zeit. Nein, ich möchte wirklich nichts. Ich möchte jetzt mal einen Moment alleine sein, ich gehe raus, komme nachher wieder.“
Na klar, der arme Kerl brauchte ja auch mal was zu essen und Durst dürfte er auch ganz schön haben. Also ging er wohl gleich ins nächste Lokal. Halb spielte ich mit dem Gedanken, ihm heimlich zu folgen und ihn dann auffliegen zu lassen, aber dann wäre das Spiel doch zu schnell zu Ende.
Mein Essen hatte ich verputzt, es ging mir eigentlich schon wieder richtig gut angesichts des Katers, den ich mir in der letzten Nacht eingefangen hatte. Zufrieden und satt lag ich auf dem Sofa, als Müller wiederkam.
„Na, hat es geschmeckt“, fragte ich ihn. Kopfschüttelnd entgegnete er: „Du willst es wohl nicht verstehen. Ich war nicht in einem Restaurant, ich war bei Christian.“
Wie von der Tarantel gestochen fuhr ich hoch:
„Du warst wo? Sag das noch mal!“
„Ich war bei Christian. Und nein, er hat mich nicht gesehen, denn er kann mich nicht sehen. Ich habe daher auch nicht mit ihm gesprochen, ihn nur beobachtet. Er ist völlig fix und fertig und versteht dein Verhalten immer noch nicht.“
„Jetzt pass mal auf, mein Freund, es ist ja alles ganz witzig, dieses Spiel hier, aber über so was kann ich nun nicht mehr lachen. Halt dich da gefälligst raus!“ Ich war fuchsteufelswild, richtig stinkig, denn das ging mir zu weit. Grimmig schaute ich ihn an. Er erwiderte ganz ruhig meinen Blick und meinte:“ Setz dich doch wieder und lass uns reden.“
„Ich denke gar nicht dran, das geht dich nun wirklich nichts an. Noch einen Ton über Christian, und ich setze dich vor die Tür.“
Immer noch vor mich hinschimpfend holte ich mir eine Flasche Rotwein, schnappte mir ein Glas und zog mich auf mein Sofa zurück. Müller beobachtete mich stirnrunzelnd: „Möchtest du auch ein Glas Wasser? Du hast gestern Nacht ganz schön getrunken.“
„Auch das geht dich nichts an. Moralpredigten sind so ziemlich das Letzte, was ich heute will.“
„Kann ich mir gut vorstellen, wer hat die schon gerne. Aber wie du selber schon bemerktest: du bist mein „Fall“, ich werde mich um dich kümmern und dafür sorgen, dass du dein Leben nicht länger sinnlos vergeudest.“
„Ach tatsächlich“, grinste ich höhnisch,“ und wie willst du das bitte anstellen, wenn ich mich weigere?“
„Ich habe Zeit“, sagte Müller ganz ruhig und schaute mich dabei prüfend an. Hm, dieser Blick. Er sah wirklich nicht schlecht aus, der Gute. Sollte sich da etwas… ich meine, er hatte doch nun mehr als deutlich gesagt, dass er schwul sei… nett verpackt in eine etwas überdramatische Geschichte, aber immerhin. Wäre doch mal was Neues, mit einem Geist… ich musste unwillkürlich grinsen.
„Nun, deine Laune scheint sich zu bessern“, bemerkte Müller und machte es sich ebenfalls auf dem Sofa bequem.
Aha, dachte ich, also doch. Nun, dann auf ins Abenteuer. Ich rückte ein Stück in seine Richtung und legte meinen Arm um seine Schulter. Er wandte sich mir zu, sein Gesicht kam immer näher.
Diese Augen, dachte ich noch, bevor ich meine schloss und mit der anderen Hand durch seine weichen Locken fuhr.
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