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Quartett

Teil 27 - Trennung

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33. Trennung

„Wann sind wir eigentlich ins Bett gegangen?“

Henne lag, wie der Rest seiner Freunde, auf dem riesigen Sofa mitten im Wohnzimmer und rieb sich verschlafen die Augen.

„Mach nich so‘n Lärm, Diggi.“

Gerne hätte Ben noch etwas geschlafen, wurde aber durch Hennes Frage, die in seinen Ohren wie das schrilles Kreischen einer Säge in der Stille der Nacht klang, jäh aus dem Schlaf gerissen.

„Was für ein aufregender Abend! Kaffee, die Herren?“

Michel war offensichtlich schon länger auf und kam mit vier Pötten herrlich dampfenden Kaffees ans Sofa heran.

„Seit wann bist Du denn schon auf?“ Henne griff sich einen Pott, hielt seine Nase hinein und saugte den Duft des herrlich gerösteten Wachmachers in sich auf. „Aaahhh, jetzt geht’s mir gleich besser. Danke Michel!“

„Noch nicht so lange“, beantwortete Michel die Frage. „Zumindest war ich noch nicht beim Sport.“

„Okay, das will in der Tat schon etwas heißen. Du wirst nachlässig, Michel.“ Henne war dank des frisch gebrühten Kaffees schon munter und neckte seinen Freund: „Oder alt, je nachdem, wie man es sieht.“

„Hej, pass auch, mein kleiner bunter Freund! Wie machst Du das eigentlich, dass Dein Iro ach nach einer Nacht wie dieser so farbenfreudig und formstabil ist, als kämst Du gerade aus dem Bad?“

„Schätzelein, nun lass mir doch auch meine kleinen Geheimnisse.“

„Ach schaaade!“

Michel zog einen Schmollmund und wandte sich von Henne ab.

„Es sei denn ...“

„Oh, ja? Es sei was?“

Sofort war Michel wieder Feuer und Flamme, drehte sich zu Henne und schaute ihn gespannt und mit großen Augen an.

„Es sei denn, ich darf Dir auch einen Iro machen, dann verrate ich Dir das natürlich!“

„Im Leben nicht! Vorher höre ich mit dem Sport auf! Und dann womöglich noch solche Botten tragen, was?“

Abwertend trat Michel gegen Hennes ausgetretene Springerstiefel, die vor dem Sofa standen. Zweifellos hatten sie schon bessere Tage gehabt und man sah ihnen deutlich an, dass sie bereits etliche Kilometer hinter sich hatten.

„Hej, sag nichts gegen meine Stiefel. Die geb‘ ich nicht her, keine Sorge. Es gibt keine bequemeren Schuhe!“

„Und keine hässlicheren!“

„Diggis, haltet doch mal den Rand! Wie kann man am frühen Morgen nur schon so hyperaktiv sein!“

Ben hatte zwar versucht, die Augen wieder zu schließen und noch eine Runde zu schlafen, aber es mochte ihm ob der Unterhaltung seiner Freunde nicht gelingen.

„Wie früh is‘n das nu?“

„Mein lieber Ben, erstens ist es gleich drei Uhr und zweitens wird Dein frisch gemachter Kaffee langsam kalt, den unser Hauself kredenzt hat. Hier, halt mal Deinen Riechkolben rein. Das hebt vielleicht Deine Stimmung etwas.“

Henne reichte eine Tasse Kaffee zu Ben hinüber, der sie nur widerwillig in Empfang nahm, aber dennoch neugierig dran schnupperte.

„Das mit dem Riechkolben nimmste aber zurück, Diggi.“

„Und das mit dem Hauselfen ebenfalls!“

„Meine Güte, was seid Ihr denn heute Morgen wieder für Mimosen?“

„Mimosen? Ich glaub es hackt, Diggi!“ Ben hatte sich aufgesetzt und rieb sich seinen schmerzenden Nacken. „Ich möchte Dich mal sehen, wie Du schläfst, wenn Du die ganze Zeit auf dem blöden Gipsarm vom Langen liegst.“

„Was suchst Du Dir auch so ein hartes Kopfkissen aus? Ich hab‘ hervorragend geschlafen. Mein Kopfkissen war zwar auch fest, aber sehr angenehm.“

Mit einem süffisanten Lächeln streichelte Henne den muskulösen Bauch von Michel, der nur mit einer kurzen Trainingshose bekleidet auf der Kante des Sofas saß und ich liebend gerne seinen angespanntes Sixpack streicheln ließ.

„Na toll, Diggi, hole er das Salzfässchen raus und schmiere er noch extra Salz in meine Wunde! Wo hätte ich denn bei unserem langen Lulatsch drauf schlafen sollen? Der is doch sowieso nur Haut und Knochen!“

„Ich hörte meinen Namen?“

FX schlug die Augen auf und reckte sich genüsslich, wobei er dabei fast mit seinem Gipsarm Ben eine Kopfnuss gab.

„Siehste, Diggi, genau das meine ich! Der Typ ist nicht zum Kuscheln geeignet!“

Anklagend zeigte Ben auf das Corpus Delicti.

„Da hat aber einer ganz schlecht geschlafen, was? Also ich habe hervorragend geschlafen. Und ich sehe, wir werden auch bestens versorgt. Ein Dank an den unbekannten Barista!“

FX streckte einen langen Arm aus, um ebenfalls eine Tasse Kaffee zu bekommen. Michel drückte ihm die verbleibende Tasse mit einem „Immer wieder gerne“ in die Hand.

„So, und nun?“ FX trank einen Schluck Kaffee und blickte seine Freunde fragend an. „Das dritte Semester ist Geschichte, wir haben alle bestanden und nun kommt wieder ein entspannteres Semester. Also? Was stellen wir an? Wir werden eine Menge Freizeitüberschuss haben!“

„Diggi, wie kann ein Mensch nur so schnell von null auf hundert kommen?“

Ben drückte seinen Kaffee Henne in die Hand und vergrub seinen Kopf unter einem Berg von Sofakissen.

„Also ich geh ...“

„… jetzt zum Sport. Ist klar.“

Henne beendete Michels Satz mit der einzig logischen Variante.

„Woher weißt Du das?“

Henne zuckte nur mit den Schultern und musste sich Mühe geben, nicht die beiden Kaffees zu verschütten, die er in den Händen hielt.

„Wie lange kennen wir uns schon? Ich weiß, viel zu kurz. Also, Du bist in zwei Stunden wieder da. Bis dahin haben wir auch unseren Morgenmuffel hier aufpoliert und faltenfrei bekommen.“

„Hhhmmm...“

Ben gab ein leises Lebenszeichen unter den Sofakissen.


Zwei Stunden später, nachdem Michel vom Sport wieder da war, wiederholte FX seine Frage in der Hoffnung, etwas mehr als nur Lethargie zu ernten.

„So, und was machen wir nun? Junx, wir haben das ganze vergangene Semester auf 120% gebrannt, da können wir doch jetzt nicht hier nichts tun!“

„Also ich für meinen Teil ...“

Michel strich mit einem zufriedenen Lächeln über seinen ausgeprägten Trizeps.

„Also ich für meinen Teil“, FX griff Michels Satz auf, denn er hatte bereits einen Plan und musste ihn seinen Freunden nur irgendwie schonend beibringen, „würde gern nochmal die geheimen Gänge unserer Burg erkunden.“

„Oh, da hat wohl jemand Lust auf Abenteuer, was?“

Henne, der vor etwa einem Jahr in einem geheimen Verlies von einem Kommilitonen für Tage gefoltert wurde, war nicht so wohl bei dem Gedanken, andererseits reizte ihn das Geheime dennoch.

„Außerdem sind wir den einen Gang noch nicht bis ans Ende gegangen.“

Er ahnte, dass gleich ein Sturm der Entrüstung über ihn her fegen würde, weshalb FX den Satz nur halblaut aussprach.

„Dein Ernst, FX? Darf ich Dich dran erinnern, dass Du beim letzten Mal da fast krepiert bist? Darf ich Dich an das Blutbad erinnern, was Du dort veranstaltet hast? Darf ich Dich daran erinnern, dass es dort unten le-bens-ge-fähr-lich ist?“

Ben war ganz außer sich, als die Bilder mit FX‘ aufgespießten Arm in dem engen Gang wieder durch seine Erinnerungen kamen.

„Ben, entspann Dich. Du hast davon doch kaum etwas mitbekommen, weil Du Dir die Seele aus dem Leib gekotzt hast!“

Michel hatte sich damals um Ben kümmern müssen, so dass die meiste Arbeit für die Befreiung von FX bei Henne hängen geblieben war.

„Naja, wir waren schon etwas leichtsinnig, als wir da rein sind, oder?“

Henne war hin und her gerissen. Ihn reizte das Unbekannte, aber er wollte sich und seine Freunde auch nicht unnötig in Gefahr begeben.

„Vielleicht sollten wir uns daher also besser vorbereiten und das Ganze nochmal versuchen? Es ist ja nicht so, dass wir nicht lernfähig wären.“

Michel fand den Gedanken auch reizvoll und hatte sich innerlich schon entschieden. Mit Taschenlampen und Seilen würde solch eine Expedition sicherlich deutlich einfacher und sicherer werden, als nur mit den Handy-Leuchten.

„Ja, Diggi, lernen durch Schmerzen! Super Plan!“

Ben war nach wie vor wenig begeistert von der Idee, noch einmal in die muffigen Katakomben hinab zu steigen, auch wenn er die fluoreszierenden Bakterien, die ihn so sehr an den Film Matrix erinnerten, gerne noch einmal sehen würde.

Einen Joker hatte FX aber noch im Ärmel, auch wenn er wusste, dass es ein zweischneidiges Schwert war.

„Naja, letztes Jahr war das mit Euren zusätzlichen Fähigkeiten auch noch kein Thema. Aber jetzt habt Ihr einen Joker in der Tasche!“

„Ja, stimmt, Diggi! Ich könnte ja einfach verschränkt durch den Tunnel laufen und dann könnten mir irgendwelche Spieße und Fallen nichts anhaben!“

Bens Augen leuchteten auf einmal und er war plötzlich Feuer und Flamme für die Wiederholung der Expedition.

Als ob es FX geahnt hatte, kippte im selben Augenblick aber auch bei Michel die Stimmung. Seit dem gestrigen Abend war klar, dass er im Gegensatz zu seinen Freunden keine besonderen Fähigkeiten hatte. Und dadurch, dass FX das gerade so deutlich hervorgehoben hatte, kam diese Enttäuschung vom Abend zuvor jetzt erstmalig voll zum Vorschein. Michel, der sonst immer mit einer perfekten Körperhaltung stand oder saß, sank nun in sich zusammen und ließ die Schultern hängen.

Während Henne und Ben schon detaillierte Pläne schmiedeten, wie sie am sinnvollsten ihre Fähigkeiten zum Einsatz bringen konnten, wurde Michel immer stiller und zog sich teilnahmslos zurück. Natürlich war FX das nicht entgangen, jedoch war er sich unsicher, wie er damit umgehen sollte. Keinesfalls wollte er das Thema vor der Gruppe ansprechen, da das vermutlich für Michel nicht besonders aufbauend war. Kurz überlegt er, ob er seinen Freund mit ein paar positiven Schwingungen aufheitern sollte, entschied sich aber dagegen. Keine Tricks in dieser Situation.

In der Hoffnung, dass sich noch eine passende Gelegenheit für ein klärendes Gespräch ergeben würde, wagte FX es, den Gemütswechsel von Michel zu ignorieren.

„Cool, dann lasst uns die Sachen vorbereiten. Sobald es heute Abend ruhiger wird in den Gängen brechen wir auf.“

„Diggi, wo willste denn hin?“

Ben blickte hinter Michel hinterher, der gerade zur Wohnungstür ging.

„Ich wollte rüber zu Emil und Paul. Mit denen etwas plaudern und so. Ich glaub, ich störe hier gerade etwas.“

In Michels Stimme schwang eine gehörige Portion Enttäuschung und seine Stimme zitterte ganz leicht. Er war frustriert. Seine Freunde hatten alle irgendwelche coolen speziellen Fähigkeiten. Allen voran natürlich FX, der Großmeister der Zauberkräfte. Und dieser Meister hatte sich tolle Lehrlinge herangezüchtet. Nur ihn, Michel, hatte er ignoriert und übergangen. Einfach links liegen gelassen. Michel war enttäuscht von ihm. Gerade bei FX dachte er, dass er ein toller Typ sei. Aber anscheinend hatte er sich in FX geirrt.

Beide hatten sie spannende Fähigkeiten von ihm verliehen bekommen. Michel verstand einfach nicht, warum er leer ausgegangen war. Es ergab für ihn keinen Sinn, warum er von FX keine Zauberkräfte bekommen hatte und nur so gemein geschnitten wurde. Der Vorschlag, jetzt mit den Superkräften noch einmal in die geheimen Gänge zu gehen, schmerzte ihn sehr, da er der Einzige der Gruppe war, der nichts dergleichen konnte und somit das fünfte Rad am Wagen war. Es tat ihm weh, so von FX geschnitten zu werden, zumal er ihm überhaupt nichts getan hatte. Ganz im Gegenteil war Michel immer als erster bereit, wenn es darum ging, Hilfe zu leisten oder etwas auszufressen.

Michel dachte, die Vier seien Freunde. Richtige Freunde. Dicke Freunde, auf die man sich verlassen konnte. Aber gerade fühlte er sich einfach nur überflüssig. Wie ein hässlicher Bremsklotz an einem schicken Wagen. Ein Dummerchen, was nicht einmal irgendwelche Zauberfähigkeiten besaß. Vermutlich gaben sich seine angeblichen Freunde nur aus Mitleid mit ihm ab. Aber deren Mitleid brauchte er nicht. Was er brauchte waren Freunde. Richtige Freunde, auf die er sich verlassen konnte.

FX wollte und konnte das so nicht stehen lassen. Michel störte hier überhaupt nicht. Und er wusste genau, was dessen Beweggründe waren. Nur hatte er gehofft, dieses Gespräch später in Ruhe führen zu können, aber anscheinend musste es jetzt sein.

Michel hatte bereits die Tür geöffnet und war in die kleine Eingangshalle vor den Apartments hinausgetreten, als FX aus dem Nichts vor ihm auftauchte. Plötzlich war er da und stellte sich ihm in den Weg, blockierte ihn. In dem Augenblick, in dem er vor Michel auftauchte war ihm aber auch klar geworden, dass das die falsche Taktik war, die Situation zu retten.

„Ja, genau! Das kannst Du!“

Michels Stimme klang verachtungsvoll. Er sprach nicht laut, aber es war klar, dass er sehr aufgebracht und sauer war. Sauer auf seine Freunde, dass sie ihn so im Stich gelassen und abgehängt hatten. Da kam die nächste Folge der FX-Zaubershow gerade recht.

„Vielleicht kannst Du mich mit Deinen tollen Tricks aufhalten, FX, aber glaub mir, so einfach werde ich es Dir nicht machen!“

„Bitte bleib.“

Es war nur ein Flüstern von FX. Mehr brachte er nicht über die Lippen. Flehend sah er Michel in die Augen, in der Hoffnung, ihn ohne irgendwelche Fähigkeiten zum Bleiben überzeugen zu können.

„Geh weg und lass mich durch. Sofort! Hier hält mich nichts mehr!“

Entweder war Michel zu ungeduldig oder FX zögerte zu lange, in jedem Falle war das Ergebnis dasselbe: Michel boxte den vollkommen unvorbereiteten FX mit voller Kraft in den Magen, so dass FX sofort die Luft wegblieb, er die Augen verdrehte und vor Schmerzen ohnmächtig auf den Boden sank.

Wortlos stieg Michel über den bewusstlosen FX hinweg und lief den Gang entlang. Er war total verwirrt. Er lief zwar nicht, aber er war im schnellsten Schritt unterwegs, den sein Körper aufbringen konnte, ohne dass es zu hektisch wirkte. Er wusste nicht, wohin er ging. Er bog rechts ab und links. Nahm Treppen hinauf und hinunter. Er war sich nicht sicher, aber er rempelte auf seinem Irrweg vielleicht den einen oder anderen Kommilitonen an. Er ignorierte alles und jeden, was sich ihm in den Weg stellte.

Irritiert stellte er irgendwann fest, dass er die Uni und die Burg verlassen hatte. Er musste über den Hof und die Zugbrücke gegangen sein, denn mittlerweile befand er sich auf dem leicht gewundenen Pfad, der den Berg hinab in das Tal und den Wald führte.

Er setzte sich auf einen Stein am Wegesrand und versuchte, etwas zur Ruhe zu kommen und seine Gedanken zu sortieren. Er war vollkommen außer Atem und sein Puls war so hoch, wie sonst nur, wenn er sein krasses Zirkeltraining absolvierte.

Sein Blick ging zur Burg hinauf. War das der Turm, wo ihre Wohnung war? Er wusste es nicht. Es war ihm auch egal. Das war nicht mehr seine Wohnung. Nicht mehr seine Freunde. Die waren jetzt in einer anderen Welt. In einer Welt, in die er nicht hineinkommen könnte, selbst wenn er sich noch so anstrengen würde. Michel war hartes Training gewöhnt. Er liebte es. Er machte sich selbst gerne fertig, weil er wusste, dass er hinterher umso stärker und besser draus hervorgehen würde.

Aber jetzt, mit diesen Zauberkräften von FX und den anderen Beiden, konnte er beim besten Willen nicht mithalten. Das konnte man nicht erlernen. Selbst wenn er noch so hart trainieren würde, war schon von Anfang an klar, dass er versagen würde. Er hatte verloren, noch bevor es begonnen hatte.

Erfolglos versuchte er die aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Er hatte sich so wohl gefühlt mit seinen Freunden. Seinen ehemaligen Freunden. Hatte gehofft, dass sie für immer zusammenbleiben würden. Er hatte sie geliebt. Alle Drei. Jeden auf eine andere Weise, aber jeden gleich intensiv und innig. Er hatte sie begehrt, sowohl körperlich als auch seelisch. Sie waren so stark und intensiv miteinander verbunden gewesen. Umso bitterer war nun die Enttäuschung, dass das jetzt alles vorbei sein sollte.

Ihm war kalt. Erschrocken stellte Michel fest, dass er immer noch nur eine kurze Trainingshose und immerhin schon ein T-Shirt anhatte. Aber es war für den späten Nachmittag definitiv zu leichte Kleidung und seine Lauferei hatte ihn schwitzen lassen, was ihn jetzt nun noch mehr frieren ließ.

Lustlos und mit gesenktem Kopf trottete er zurück zur Burg und stieß in einem der Gänge prompt mit Emil und Paul zusammen, die dort Hand in Hand aus der Cafeteria kamen und sich angeregt unterhielten.


Stöhnend und total in sich zusammen gekrümmt vor Schmerzen lag FX auf dem Boden der Eingangshalle. Langsam kehrten seine Lebensgeister wieder zurück, jedoch traute er sich nicht, die Augen zu öffnen. Hatte sein bester Freund ihn gerade k.o. geschlagen? Ja, das hatte er. Und ein Stück weit auch zurecht, obwohl Gewalt nie eine Lösung, allenfalls ein Überdruckventil war.

„Diggi, der hat ihn einfach in die Magenkuhle geboxt und is dann abgehauen! Is der total durchgeknallt oder was?”

Kaum dass die Schrecksekunde vergangen war, waren Ben und Henne zur Tür geeilt und hatten sich über den bewusstlosen FX gebeugt. Michel war unterdessen schon um die nächste Ecke gebogen.

Henne konnte Ben gerade noch an seiner weiten Baggyhose festhalten und ihn so an der Verfolgung von Michel hindern, denn das hatte zu diesem Zeitpunkt ohnehin keinen Sinn. Jetzt galt es, sich um ihren Freund FX zu kümmern.

„Hej, Diggi, lass mich los. So soll der nicht davonkommen!”

Ben protestierte lautstark, denn er wollte sich an Michel rächen. Er hatte nicht die geringste Idee, wie er das anstellen wollte, zumal er ihm körperlich absolut unterlegen war. Aber Michel sollte so nicht davonkommen. Irgendetwas würde ihn schon einfallen. Ben verstand die Welt nicht mehr. Auf der Party haben sie geknutscht, als gäbe es kein Morgen mehr und jetzt hasste er Michel auf einmal so abgrundtief.

„Nein, lass mal gut sein, Ben. Hier haben gerade einige sehr überreagiert. Da nützt es nichts, wenn wir die Situation unnötig aufheizen. Jetzt muss erstmal wieder Ruhe in den Hühnerstall einkehren.” Und während er versuchte, den langen FX wieder auf die Beine zu stellen, fügte er noch hinzu: „Hilf mir lieber dabei, ihn in die Wohnung zu bekommen. Der Arme kann vor Schmerzen ja immer noch nicht laufen.”

Mit vereinten Kräften schafften sie es schließlich, FX auf das Sofa zu legen, wo er sich sofort wieder in der Embryonalstellung zusammenkauerte. Jetzt, da er genau andersherum lag, sah man auch die handtellergroße rote Stelle an seiner Schläfe, wo vermutlich sein Kopf auf den Steinboden aufgeschlagen war.

„Na, das wird wohl eine schöne Beule geben, was? Hauptsache, Du hast keine Gehirnerschütterung.”

Henne strich ihm ein paar Dreads aus der Stirn und legte einen mit Wasser getränkten Waschlappen zum Kühlen auf die Stirn.

„Diggi, kannst Du mir jetzt vielleicht mal erklären, warum ich Michel nich einfangen durfte? Meine Fresse, ich würde den sowas von zusammenfalten, das glaubst Du gar nich!”

Ben kochte vor Wut und ohne, dass er es wollte, ballte er seine Hände unablässig zu Fäusten bis seine Knöchel weiß wurden.

„Nimm’s nicht persönlich, aber ich glaube nicht, dass Du gegen Michel eine Chance hättest.” Ben hatte zwar mit Henne gesprochen, jedoch kam die Antwort, die alle Drei schon wussten, jetzt von FX, der langsam seine Augen öffnete. „Jesses, mir ist so schlecht! Ich glaub, das war genau auf die Zwölf.”

„Wohl eher die Sechs in Deinen Bauch, aber das Ergebnis ist das Gleiche”, korrigierte Henne nüchtern. Und an Ben gewandt: „Sieh doch mal, Ben. Hier waren gerade so viele Emotionen im Spiel. Von Michel und von FX. Und auch wir sind nicht ganz unschuldig, wenn Du ehrlich bist.”

„Was hab ich denn damit jetzt wieder zu tun?” Ben war total außer sich und empört über diesen Vorwurf. „Wieso is’n der überhaupt so ausgetickt? Wir haben doch gar nix gemacht!”

„Ja, eben. Vielleicht ist es genau das!” Henne blickte Ben tief in die Augen und versuchte Ben zu beruhigen, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte. „Ich glaube, Michel hat sich schlichtweg ausgeschlossen gefühlt von uns.”

So richtig ließ sich Ben noch nicht beruhigen, denn er ließ Henne gar nicht weiterreden, sondern unterbrach ihn unwirsch.

„Ausgeschlossen? Diggi, wir sind doch alles beste Freunde. Hier wird niemand ausgeschlossen!”

„Bist Du Dir da so sicher?”

Henne legte seinen Kopf schief und ließ seinen Gegenüber nicht aus den Augen. Er wusste, dass Ben für die eine oder andere Erkenntnis manchmal etwas länger brauchte. Gerade wenn es um emotionale Dinge ging, war Ben mitunter etwas langsamer als andere. Und er, Henne, hatte bei solchen Themen schon immer eine sehr empfindliche Antenne. Und seit der vergangenen Nacht war das auch durch FX bestätigt und erklärt worden, warum er so sensibel auf die Gemütszustände anderer reagieren konnte.

„Diggi, Du meinst, weil wir plötzlich alle ein bisschen was können, was er nich kann?”

Ben hatte es erfasst.

„Ja, genau. Wir Drei sind halt plötzlich ein bisschen anders, als er. Wir haben da nie weiter drüber gesprochen, ihn nie abgeholt oder so. Wir haben uns gefreut, haben experimentiert und gelacht.”

Betroffen fuhr sich Henne durch seinen Iro, der sich kurzzeitig flach legte, nur um sich gleich darauf wieder wie von einer Feder gespannt aufzurichten.

„Nur auf Michel hat niemand geachtet. Wir haben ihn nicht einmal gefragt, ob das okay für ihn ist oder wie er sich gerade fühlt. Immerhin hat er ja nichts.”

„Hhhmmm… Anscheinend hat er sich nich so gut gefühlt, was Diggi? Und nu?”

„Neee, hat er nicht. Und dann hat FX als letzte Verzweiflungsaktion auch noch versucht, mehr oder weniger in einer Hauruck-Aktion mit Michel zu sprechen und sich ihm dabei mit seinen Superkäften in den Weg gebeamt. Das war natürlich etwas, was genau in dieselbe Kerbe geschlagen hat, in die wir ohnehin schon die ganze Zeit unbewusst rein gehauen haben.”

„Krass, Diggi. Naja, den Rest haben wir wohl gesehen.”

Ben konnte es nicht fassen, wie ihre Freundschaft in so kurzer Zeit zerbrechen konnte.

„Und nu?”

Ben wiederholte seine Frage und sprach aus, was alle in dem Raum dachten.

„Jetzt warten wir erst einmal ab. Er wird schon wieder nach Hause kommen. Und in der Zwischenzeit können wir uns einfach mal um FX kümmern.”


„Hej, Michel, was ist denn mit dir passiert? Du siehst ja hundeelend aus!“

Emil, der von Michel leicht angerempelt wurde, erkannte diesen erst nicht, weil er dermaßen verheult aussah und seine sonst so akkurat frisierten Haare einem wilden Chaos gewichen waren.

„Ach, es ist nichts.“

„Also dann will ich ja nicht wissen, wie Du wirkst, wenn mal was ist.“

„Ja, neee, ein anderes Mal.“

Michel wandte sich zum Gehen, um den Beiden nicht länger unter die Augen treten zu müssen, als er noch von hinten Pauls Worte hörte.

„Michel, ich weiß ja, dass wir uns nicht wirklich kennen, aber wenn Du mal jemanden neutrales zum Reden brauchst, dann weißt Du ja, wo wir wohnen.“

Michels Schritte verlangsamten sich, als sein Gehirn die gehörten Worte langsam verarbeitete. Schließlich drehte er sich um, wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht und machte einen Schritt auf Emil und Paul zu.

„Weiß ich nichtes ...“

„Oh Mann“, Emil verdrehte die Augen und fuhr in seiner monoton langweiligen Stimme sogleich fort: „Im vierten Semester sollte man das langsam draufhaben, wie das mit den Wohnungen funktioniert.“

„Emil!“ Paul starrte seinen Freund entsetzt an. „Ich möchte Dich mal in so einem aufgelösten Zustand sehen, ob Du dann noch geradeaus denken kannst.“ Und an Michel gewandt fuhr er fort: „Nord-Ost-Turm, dritte Ebene, Apartment zwei.“

„Tschuldige, war etwas unbedacht.“

Emil lief nach der Zurechtweisung durch seinen Freund rot an und ergänzte ihn aber noch rechthaberisch, weil er diesmal das letzte Wort haben wollte.

„Aber wir sind natürlich auch eine Vierer-WG. Wenn wir etwas mehr Ruhe brauchen, finden wir auch ein leeres Kaminzimmer oder sonst irgendwo eine ruhige Ecke.“

„Naja, vielleicht”, Michel zögerte noch, obwohl er sich eigentlich schon entschieden hatte. „Habt Ihr denn gerade ein bisschen Zeit für mich?”

Etwas später hatten sie ein leeres Kaminzimmer gefunden und hatten, da es bereits nach Sonnenuntergang war, der Gemütlichkeit halber auch ein Feuer entfacht. In einem Halbkreis saßen die Drei vor dem Kamin in Sesseln, schwiegen sich an und starrten ins lodernde Feuer. Jeder wartete darauf, dass sich Michel ein Herz fasste und mit der Sprache rausrückte. Selbst Michel wartete auf sich selber.

„Nein, das geht so nicht. Entschuldigt. So kann ich das irgendwie nicht.”

Michel konnte den Beiden nicht ins Gesicht blicken und gleichzeitig sein Herz ausschütten. Dafür kannte er Emil und Paul nicht genug, als dass er ihnen einen so großen Vertrauensvorschuss entgegenbringen könnte.

„Warte”, es war Paul, dem ein rettender Gedanke einfiel. „Ich habe eine Idee, die Dir vielleicht helfen könnte. Steht auf. Ihr beide.”

Nachdem sich alle erhoben hatten, drehte Paul die drei Sessel so, dass die Rückenlehnen einander zugewandt waren und dass man im Sitzen nach außen blickte und niemand die anderen mehr anschauen konnte.

„Wie fühlt sich das jetzt für Dich an, Michel?” Paul hoffte, dass er so die Hemmschwelle etwas senken konnte und dass es für Michel nicht mehr so schwer war, zu erzählen, was vorgefallen war.

„Ja, das ist viel besser so, danke.”

In Michels Stimme klang eine deutliche Erleichterung und seine Atmung beruhigte sich zusehends. Jetzt musste er nur noch rausrücken mit der Sprache, ohne gleich die ganzen Geheimnisse seiner Freunde, seiner ehemaligen Freunde, zu verraten. Zwar war er gerade gar nicht gut auf die Drei zu sprechen, nachdem sie ihn so behandelt hatten, aber das war dennoch kein Grund, gleich als Tratschtante zu agieren und deren Geheimnisse an die große Glocke zu hängen. Noch nicht.

„Genialer Gedanke, Paul! Der hätte auch von mir sein können.” Emil ärgerte sich, dass er nicht selber auf diese Idee gekommen war. „Und jetzt, Michel, ist es Deine Bühne. Bereit, wenn Du es bist.”

„Ja, danke. Ich muss das nur erst einmal irgendwie für Euch übersetzen, damit Ihr mein Problem auch versteht.”

Michel musste sich erst eine Parallelgeschichte ausdenken, wie er die jetzige Situation mit seinen Freunden empfunden hatte, ohne dass er ein Wort über die besonderen Fähigkeiten seiner Freunde verlor. Er wollte nur seine Gefühle vermitteln, wie er die letzten Tage erlebt hatte. Den konkreten Grund brauchten die beiden nicht zu wissen. Es ging hier gerade um ihn, nicht um FX, Ben und Henne.

„Also das ist so”, dann kam ihm der passende Vergleich für seine Erlebnisse der letzten Tage. „Wir kennen uns schon über ein Jahr und waren immer total dicke miteinander. Haben alles gemeinsam gemacht. Sind zusammen durch dick und dünn und hatten nie Geheimnisse voreinander.”

Michel musste allerdings innerlich zugeben, dass das nicht so ganz stimmt, da FX definitiv der größte Geheimniskrämer aller Zeiten war, aber das spielte jetzt zunächst keine Rolle. Diesbezüglich war er mit den anderen ja immer auf Augenhöhe gewesen, auch wenn FX über sich selbst genug Geheimnisse gemacht hatte.

„Und seit kurzem ist es etwa so, als wenn die anderen plötzlich die meiste Zeit auf Chinesisch miteinander reden. Die anderen sprechen das fließend. Nur ich nicht. Ich verstehe kein Wort. Nur Bahnhof. Und die anderen lachen und haben weiterhin Spaß. Und ich steh da, wie der letzte Depp. Genauso fühle ich mich gerade. Ausgeschlossen. Alleine. Verstoßen.”

Michel war froh, dass es endlich raus war. Er war zufrieden, weil er seinen Vergleich mit dem Chinesisch ziemlich gut fand. Es war klar, dass das nur eine Analogie war, damit Emil und Paul ihn verstehen konnte. Und er war froh, dass er ihnen bei dieser Notlüge nicht direkt ins Gesicht blicken musste, auch wenn allen beteiligten klar war, dass es hier nicht um die Sprache ging. Aber so konnte er ihnen erzählen, wie es gerade in ihm aussah. Er konnte seine Gefühle dem Raum erzählen und musste die anderen dabei nicht anschauen. Das wirkte sehr erleichternd und befreiend auf ihn.

Unmittelbar nachdem er seinen kurzen Abriss beendet hatte, hörte er nur, wie einer der beiden scharf durch die Zähne Luft holte. Und danach folgte ein langes Schweigen. Offensichtlich mussten Paul und Emil diese Geschichte erst einmal verstehen und verdauen.

Nach einer quälend langen Stille, die nur durch das Knistern und manchmal dem Verrutschen von Holzscheiten im Kamin unterbrochen wurde, war es Emil, der zuerst das Wort ergriff.

„Also, Michel, großen Respekt, dass Du uns so offen gegenüber bist. Das ehrt uns wirklich sehr.”

Als wenn die beiden denselben Gedanken dachten, fuhr Paul fort zu sprechen, und es klang, als wenn ein und dieselbe Person sprechen würde, nur mit einer anderen Stimme. Wäre Michel nicht so sehr mit sich selber und seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen, wäre ihm aufgefallen, dass sowohl Emil als auch Paul wie durch einen großen Zufall anscheinend genau den gleichen Gedanken im Kopf hatten.

„Wir werden Dir hier aber keinen Rat geben, was Du tun oder lassen sollst. Das ist etwas, was Du selber herausfinden musst.”

Wieder wechselte der Sprecher und führte den Gedanken des andere aber nahtlos fort.

„Aber weil wir Deine Situation von außen vielleicht mit etwas mehr Abstand beurteilen können, haben wir vielleicht ein paar Tipps für Dich, wie Du mit dieser Situation besser umgehen kannst.”


Die Drei saßen auf dem Sofa in ihrer Wohnung, als Michel schließlich spät am Abend nach Hause kam. Natürlich waren sie nicht mehr auf ihre Expedition in die geheimen Gänge der Uni aufgebrochen. Der Drang nach Abenteuer war bei allen spontan verflogen. Wortlos durchschritt Michel das Wohn-Esszimmer, nahm sich einen Apfel und verschwand schließlich in seinem Zimmer und schloss die Tür.

„Ich glaube, ich schlafe heute Nacht auf dem Sofa.”

Henne war der erste, der sich traute etwas zu sagen. Teilte er derzeit doch mit Michel ein Zimmer, auch wenn die Verteilung der Zimmer je nach Lust und Laune immer wieder variierte.

„Diggi, wenn Du nicht alleine sein magst, können wir aber auch alle hier aufm Sofa pennen. Is ja nich das erste Mal.”

Ben konnte es nicht ertragen, dass sich jetzt noch jemand weiteres aus der Gruppe allein gelassen fühlte und sprach aus, was auch FX dachte.

Wortlos stand Henne auf, holte ein paar Decken und schaltete das Licht aus. Es folgte eine schlaflose Nacht für alle vier.


Nachdem sich das gleiche Spiel über mehrere Wochen lang hinzog, beschloss FX schließlich, die Initiative zu ergreifen. Michel ging den Dreien konsequent aus dem Weg und vermied jeglichen Kontakt. Er ging zu anderen Zeiten in die Mensa, setzte sich jedoch immer wieder an deren Stammplatz. Während der Vorlesungen suchte er ebenfalls einen größtmöglichen Abstand und überhaupt verbrachte er die meiste Zeit im Fitnessraum der Universität.

Und genau dort wartete FX auf Michel. Er hatte sich zumindest äußerlich bestmöglich darauf vorbereitet. Seine Chucks hatte er kurzerhand in die Waschmaschine gesteckt, damit sie für das Fitnessstudio sauber waren. Und auch eine kurze Trainingshose und ein halbwegs dazu passendes T-Shirt hatte er in seiner spärlichen Klamottenauswahl gefunden. Seine Dreads hatte er alle zu einem Zopf zusammengebunden, um ihr Eigenleben möglichst effektiv im Zaum zu halten. Das Training würde so schon anstrengend werden, befürchtete er, da wollte er sich selbst durch seine eigenwillige Frisur nicht auch noch weiter aus dem Konzept bringen.

Sonderlich wohl fühlte er sich nicht in dieser Situation. Er war definitiv kein Mensch, der Krafttraining machte oder sonstige Arten von sportlicher Ertüchtigung. Ein Fitnessstudio hatte er auch noch nie von innen gesehen und die Leute, die dort trainierten, bislang immer milde belächelt. Und nun saß er selber auf einer Bank eines Gerätes, dessen Funktion ihm nicht ganz klar war. Kurz studierte er die Anleitung auf dem Schild daneben und beschloss, dass er diesen Apparat vermutlich auch mit einer Hand bedienen könnte.

Er zog an einem langen Hebel und nichts passierte. Er zog kräftiger und noch kräftiger mit der linken Hand, bis seine Muskeln das Zittern anfingen. Schließlich bewegte sich der Hebel um wenige Zentimeter nach unten. Jedoch reichten seine Kräfte nur für kurze Zeit, weshalb ihm der Griff langsam aus seiner schweißnassen Hand entglitt und der Stapel mit Gewichten krachend in seine Ausgangsposition zurückfiel.

Vor lauter Schreck zuckte FX zusammen. Das war wirklich nicht seine Welt. Hoffentlich hatte niemand bemerkt, wie blöde er sich gerade angestellt hatte, als er von hinten eine sehr vertraute Stimme hörte.

„Dein Ernst?”

Michel stand plötzlich neben ihm und blickte ihn vorwurfsvoll an.

FX, der im Sitzen fast auf Augenhöhe mit Michel war, schaute betreten auf nach unten und schwieg. Schließlich raffte er seinen ganzen Mut zusammen und es gelang ihm sogar, mit fester Stimme zu antworten.

„Michel, ich möchte mit Dir reden.”

„Dein Ernst? Das hier ist nicht der Ort zum Reden. Das ist der Ort zum Trainieren. Also? Was willst Du? Was willst Du hier?”

FX hatte sich das etwas anders vorgestellt. Etwas einfacher. Aber anscheinend musste er jetzt den steinigen und beschwerlichen Weg gehen, weshalb er auf das nur indirekte Angebot von Michel einging. Vielleicht konnte er ja über Umwege sein Ziel erreichen und während des Trainings ein paar Worte mit Michel wechseln.

„Kannst Du mir zeigen, wie das geht? Ich fürchte, ich bin etwas aus der Übung.”

„Klar. Aber vielleicht fängst Du nicht gleich mit der Königsdisziplin an, sondern machst erstmal ein paar einfachere Sachen. Es gibt ein paar effektive Geräte hier, die Du auch mit einer Hand bedienen kannst. Komm!”

Zwei volle Stunden lang quälte Michel den armen FX an den verschiedensten Geräten, mit Hanteln und anderen Folterwerkzeugen. War FX vollkommen außer Atem, dass er nicht einmal mehr sprechen konnte, gönnte Michel ihm ein paar Minuten Erholung, nur um danach noch eine härtere Gangart aufzufahren.

„Für den ersten Tag war das schon mal ein gutes Pensum. Ich denke, das sollte vorerst reichen.”

Nach einer gefühlten Ewigkeit erlöste Michel ihn doch und FX dankte und verfluchte ihn im Stillen gleichermaßen. Seine Muskeln brannten. Er saß auf einer Bank, rang nach Luft und konnte nur auf den Boden starren.

„Kommst Du mit in die Sauna?”

Michel, der parallel zu FX ebenfalls trainiert hatte, wenn auch mit deutlich anderer Geschwindigkeit, wollte ihn immer noch nicht in Ruhe lassen.

„Die Wärme ist nicht so mein Ding.”

FX wollte sich nur noch hinlegen. Er wusste nicht mehr, wie er in die Wohnung kommen sollte, denn seine Beine gehorchten ihn nur noch bedingt. Und wenn er sich denn schließlich hinstellen konnte, dann zitterten ihm die Knie und er hatte Angst, auch nur einen Schritt zu tun.

„Kommst Du mit in die Sauna?”

Als hätte er FX’ Antwort nicht gehört, wiederholte Michel seine Frage.

„Nein, Michel, ich bin vollkommen k.o.”

„Kommst Du mit in die Sauna?”

Michel wies eine Sturheit an den Tag, die FX gar nicht an seinen Freund kannte.

„Michel, ich glaube, die Wärme und das Schwitzen sind nicht gut für meinen Gipsarm hier.”

Einen Joker hatte FX noch im Ärmel oder besser gesagt am Arm. Immer wenn es unpassend wurde und er keinen anderen gesellschaftlich akzeptierten Ausgang aus der Situation sah, berief er sich auf seinen verletzten Arm.

„Kommst Du mit in die Sauna?”

FX holte Luft um Michel mit letzter Kraft klar zu machen, dass er kurz vor dem Sterben war und jetzt nur noch schlafen wollte, jedoch wurde er von Michel kurzerhand abgewürgt.

„Du wolltest doch reden.”

Dieser eine Satz weckte in FX wieder neue Lebensgeister. Mit wachen Augen blickte er zu Michel. Hoffnung keimte in FX auf, sollten die letzten Stunden tatsächlich zu etwas Nütze gewesen sein.

„In der Sauna?”

„Komm.”

Michel wandte sich ab und ging.

FX beeilte sich, um Michel in den Gängen der Umkleide und der Waschräume nicht zu verlieren, musste sich jedoch an den Wänden abstützen, da er der Tragkraft seiner Beine nach wie vor nicht traute. Nach einer kurzen Dusche, die einen Teil seiner Lebensgeister wieder reaktivierte, gingen sie mit Handtüchern bewaffnet in den Wellness-Bereich und Michel steuerte zielsicher eine der hinteren Türen an.

„Michel, ich bin wirklich kein Saunagänger und ...”

Weiter kam er nicht, denn Michel war bereits in der Sauna verschwunden. Nur widerwillig folgte er ihm. FX mochte es nicht zu schwitzen. Ihm war ohnehin immer warm, was ein Grund dafür war, dass er auch im Winter nur leicht bekleidet herumlief. Wenn er jetzt in die Höllenglut einer Sauna gehen sollte, würde er vermutlich nach zehn Sekunden zerfließen oder explodieren.

Leider sah er keinen anderen Weg, mit Michel noch ein klärendes Wort zu führen, da dieser schlichtweg verschwunden war. Vielleicht würde es ja ausreichen, nur kurz in die Gluthitze zu gehen, um seinen guten Willen zu demonstrieren. So viel war sicher: Einen Aufguss oder gar ein Auspeitschen mit irgendwelchen Birkenzweigen würde er definitiv nicht überleben.

FX hielt die Luft an und trat in die Sauna ein.

„Was ist das denn?”

Erstaunt blieb er im Eingang stehen und betrachtete den abgedunkelten Raum. Halbkreisförmig waren in der Wand gegenüber der Tür sechs kleine Nischen eingelassen. Sie sahen aus wie kleine Alkoven und waren, wie der gesamte Raum, von oben bis unten gefliest. In der Mitte des Raumes war ein ebenfalls halbrundes Podest gemauert. Und in eine der Alkoven saß Michel auf seinem Handtuch und hatte seine Füße auf das Podest gelegt. Überrascht stellte FX fest, dass es hier gar nicht so heiß war, wie er erwartet hatte.

Überhaupt entsprach dieser Raum so gar nicht seinen Erwartungen. Von der Temperatur abgesehen hatte er einen glühenden Ofen mit heißen Steinen und jede Menge Holz erwartet. Aber keinen komplett gefliesten Raum mit einer Temperatur, die mehr oder weniger Körpertemperatur entsprach.

„Es nennt sich Lakonium. Und wenn Du die Tür schließt, dann bleibts hier auch angenehm warm. Setz Dich, Du hast freie Auswahl.”

Unter normalen Umständen hätte sich FX in einen Alkoven direkt neben Michel gesetzt. Aber irgendwie fand er das gerade unpassend, weshalb er einen Platz frei ließ und erst im übernächsten Platz nahm.

„Handtuch drunter!” Korrigierte Michel energisch. „Das Lakonium ist eine der wenigen gefliesten Saunen, wo man ein Handtuch braucht. Normalerweise gilt aber die Devise: Holz mit Handtuch. Fliesen ohne Handtuch.”

„Tschuldige”, kam es kleinlaut aus dem Halbdunkel von FX.

„Das Lakonium hat eine sehr geringe Raumtemperatur und arbeitet überwiegend mit Strahlungswärme. In etwa 10 Minuten wirst Du feststellen, dass die Wärme Deinen Körper durchdrungen hat und Deine Muskeln zusehends entspannt.”

FX hatte etwas Mühe, seinen langen Körper in dem Alkoven zu platzieren, der zwar ergonomisch geformt war, jedoch eher für durchschnittlich große Menschen. Auch seine Beine waren deutlich zu lang und er musste aufpassen, dass er nicht ungewollt Körperkontakt mit Michels Füßen bekam, so gerne er seinen Freund auch wieder berühren wollte. Aber derzeit war an so eine Nähe überhaupt nicht zu denken. Selbst ein ungewollter Körperkontakt würde vermutlich mehr kaputt machen, als dass er helfen würde.

Michel fuhr mit seinem kurzen Sauna-Kurs fort.

„Sauna ist nicht immer trocken und heiß. Es geht auch feucht und heiß. Das Dampfbad. Es geht auch trocken und lauwarm. Bio- oder Kräutersaunen. Und es geht auch mäßig feucht und mäßig warm. Unter anderem das Lakonium.”

Bisher kannte FX immer nur die Holzhammer-Methode unter den Saunen. Fichtenholz bei einhundert Grad mit intensiven, teils im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubenden Aufgüssen. Nicht, dass er jemals einen mitgemacht hätte. Seine bisherige Sauna-Erfahrung ließ sich im einstelligen Sekundenmaßstab zusammenfassen.

Aber Michel war noch nicht fertig.

„Und generell kann man sagen: Holzsauna ist schweigen. Fliesen erlauben reden. Das haben die alten Römer in ihren Dampfbädern schon so gemacht. Da wurden die wichtigsten Geschäfte nackt im Dampfbad beschlossen, damit man nicht tricksen kann. Im Gegensatz dazu sind die eher wortkargen Skandinavier in ihren Saunen eher nicht auf Reden aus. ”

Zwar konnte er es nicht sehen, aber Michel schloss seine Augen und übergab die Initiative somit wortlos an FX, der sich jedoch erst mit dieser neuen Situation zurechtfinden musste.

FX war immer noch hin- und hergerissen. Einerseits wegen der Sauna und dem Schnellkurs, den Michel ihm ungefragt aufgedrückt hat. Und dann war er natürlich umso irritierter, warum Michel das alles tat! Erst hatte er ihn geschlagene zwei Stunden lang an Trainingsgeräten gequält und nun schleppte er ihn in eine Sauna, wo er ursprünglich gar nicht hin wollte.

Und dann diese Sauna an sich. Die Fliesen waren unglaublich hart und für seine Körpergröße waren die Alkoven ebenfalls nicht ausgelegt. Dennoch musste er in der Zwischenzeit feststellen, dass er eine angenehme Sitzposition gefunden hatte und dass er mittlerweile spürte, wie sich eine angenehme Wärme in seinem Körper ausbreitete und seine Muskeln langsam aber sicher entspannten. Derzeit war ihm gar nicht nach schwitzen, denn es war wirklich nicht übermäßig heiß hier, aber alleine der Gedanke, gleich ein Gespräch mit Michel führen zu müssen, was über die Zukunft ihrer Freundschaft entscheiden sollte, ließ seine Schweißdrüsen plötzlich auf Hochtouren laufen.

Dafür, dass Michel ihn und seine Freunde die letzten Tage konsequent ignoriert hatte, war das hier ja schon eine Kehrtwende sondergleichen. Dennoch konnte FX diese Aktion nicht ganz einsortieren. Warum tat Michel das? Anscheinend gab es noch eine kleine Hoffnung, ihre Freundschaft zu retten.

So ganz wusste FX nicht, wie er anfangen sollte. Immerhin war sein Körper mittlerweile ganz entspannt und die Quälereien von vorhin waren fast vergessen. Müsste FX nicht gleich das Wort ergreifen, könnte er die Situation hier richtig genießen.

„Michel, also ich ...”

Weiter kam er nicht, denn er wurde unerwarteterweise von Michel unterbrochen.

„FX, entschuldige, dass ich Dich ausgerechnet jetzt unterbreche.”

Seine Stimme klang wirklich sehr zurückhaltend und es tat ihm offensichtlich leid, dass er FX genau in diesem Augenblick unterbrochen hatte.

„Ich hätte selbst nicht gedacht, dass ich Dich gerade in dieser Situation darum bitten würde, aber kannst Du bitte irgendwie dafür sorgen, dass uns hier keiner stört?”

Gerade hatte FX seinen ganzen Mut zusammengerauft, um den Kampf um Michels Freundschaft zu beginnen, und dann wurde er so abrupt unterbrochen, dass sein gesamter Plan wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel.

Er ließ die letzten Sekunden noch einmal kurz in seinem Kopf Revue passieren, weil er sich nicht ganz sicher war, um was ihn sein Freund gerade gebeten hatte. Er hatte den Eindruck gehabt, dass er, FX, mit seinen Fähigkeiten dafür sorgen, dass kein Fremder hier in die Sauna hineinkam. Diese Bitte musste Michel sehr schwergefallen sein, waren es doch genau diese Fähigkeiten, die Michel so ablehnte und die der Grund für das Zerwürfnis der letzten Tage waren.

FX überlegte kurz und betrachtete die Glastür, die den einzigen Zugang zu ihrer Sauna bildete. Er stand auf, ging um die gemauerte Fußablage herum und stand dann nackt vor der Glastür, die in den Vorraum zu den verschiedenen Saunen führte. Draußen war es heller als in der Sauna und blieb von seinem mehr als schlanken Körper im Lichte der Tür nur eine dünne Silhouette übrig.

Mit einem Blick nach rechts und links vergewisserte er sich, dass niemand in der Nähe war. Dann berührte er kurz mit dem Zeigefinger die Glastür, die im selben Augenblick milchig und undurchsichtig wurde. Gleichzeitig hörte man ein leises Klacken, was ihm die Sicherheit gab, dass diese Tür auch ohne Schloss jetzt verriegelt und nicht mehr zu öffnen war.

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