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Quartett

Teil 33 - Grün

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39. Grün

„Diggi, das war aber eine kurze Nacht!”

Ben saß immer noch auf seinem Board, seine Beine zum Schneidersitz gekreuzt. Der leere Kaffeepott stand auf dem Nachttisch und er legte das Buch, was er in dieser Nacht fast komplett durchgelesen hatte, daneben. Er fand, der Titel ‚Nachtschatten‘ passte gerade hervorragend zu seiner Mission, die er soeben erfolgreich beendet hatte.

Trotz seiner durchgemachten Nacht war er nach wie vor hellwach und grinste FX süffisant mit einem breiten Lächeln an. Seine Zahnspange glitzerte im halbdunklen Schein der Nachttischlampe geheimnisvoll.

FX hatte seine Augen nur ein Spalt breit geöffnet, war aber innerlich schon hellwach. Eigentlich genoss er diese Phase des Aufwachens, es war fast schon ein Morgenritual von ihm: Sein Geist erwachte zuerst, während sein Körper noch regungslos dalag und schlief. Erst, wenn er im Kopf ganz bei Sinnen war und der Schlaf endgültig verschwunden war, erlaubte er es sich, die ersten Muskeln zu bewegen. Ganz langsam ließ er Schritt für Schritt wieder das Leben in seinen Körper zurückkehren. Er öffnete erst ein Auge, dann das andere. Bewegte danach langsam einen Muskel nach dem anderen. Streckte erst ein Bein, dann das andere, bis er sich gemütlich und langsam wach geräkelt hatte.

Doch diese Nacht hatte er sehr schlecht geschlafen. Irgendetwas fehlte. Es fühlte sich komisch an. Er hatte starke Kopfschmerzen und der Morgengruß von Ben hallte wie ein Echo in seinem leeren Kopf hin und her. Er hatte große Mühe, den Teufelskreis zu durchbrechen, der sich aus dem gefühlten Widerhall in seinem Kopf und den Kopfschmerzen aufschaukelte. Aber als er das süße Lächeln von Ben sah, wie seine silbern glitzernde Zahnspange zwischen seinen Lippen funkelte, konnte er nicht anders und musste seinerseits zurück lächeln.

Dieser durchgeknallte Skaterboy hatte tatsächlich die ganze Nacht kein Auge zugetan und aufgepasst, dass ihm, FX, nichts passierte. Eigentlich passte es so gar nicht zu Ben, dass er Verantwortung übernahm. Ben war ein Chaot. Und wenn er nicht selber irgendetwas etwas vermasselte, so trug er stets zielstrebig dazu bei, dass Projekte seiner Freunde schnell zu einer Herausforderung wurden.

Und jetzt zeigte sich Ben vermutlich zum ersten Mal mehr als verantwortungsvoll und integer gegenüber seinen Freunden. Ganz offensichtlich hatte er sich enorme Sorgen um FX und seinen Zustand gemacht. Wie gerne würde er jetzt aufspringen, seinen Freund in den Arm nehmen und ihm ein riesiges Dankeschön-Küsschen auf dieses umwerfende Lächeln drücken.

Aber er traute sich noch nicht, sich zu bewegen, obwohl er seinem inneren Drang widerstehen konnte, durch Bens sorgfältig unordentlich frisierten leuchtend roten Haare zu fahren und sie wirklich komplett durcheinander zu bringen.

FX war anscheinend doch noch nicht ganz wach, sondern irgendwo im Halbschlaf kurz vor dem Aufwachen. Er war so ganz abseits seiner eigentlichen Morgenroutine. Heute war so ziemlich alles anders, als er es gewohnt war. Vorsichtshalber reduzierte er seine Bewegung auf ein Minimum und flüsterte nur: „Danke.”

„Diggi, gern! Weißt Du schon, wie es Dir geht?”

Ben hatte die ganze Nacht an der Wand gelehnt und auf seinem Skateboard gesessen. Geräuschlos rollte er nun im Sitzen hinüber zu FX ans Bett und sah seinem auf der Seite liegenden Freund direkt in die Augen.

„Weiß nicht. Es fühlt sich irgendwie komisch. Also ich fühle mich komisch. Wie spät ist es eigentlich? Wie lange habe ich geschlafen?”

„Oh Mann, Diggi, es is erst sechs Uhr morgens. Wir haben Dich gestern so gegen Zehn ins Bett gepackt, aber ich glaub Du bist schon vorher eingepennt.”

„Ich fühle mich so… nackt?”

„Michel und Henne haben Dich bettfertig gemacht. Ich hatte damit nix zu tun. Ich schwör! Aber Du hast bestimmt ‘ne Unterhose an, keine Sorge Diggi. Außerdem kenn ich sowieso schon alles von Dir.”

Natürlich kannte Ben seinen Freund FX nackt, genauso wie auch Michel und Henne. Etwas neidisch musste er gerade daran denken, wie gut FX zwischen den Beinen bestückt war. Andererseits war es auch kein Wunder, denn bei weit über zwei Metern Körpergröße war alles an FX riesig. Trotzdem hatte er Bens Meinung nach ein wunderschönes Glied, welches er unheimlich gerne vor ihm hockend in den Mund ...

Wirsch wurde Ben aus seinen Gedanken gerissen, als FX versuchte, sich vorsichtig aufzurichten. FX hatte Angst, dass das gesamte Universum sich bei dem Versuch sich in die Vertikale zu begeben, aus dem Rhythmus kommen würde. Natürlich war das vermutlich kompletter Blödsinn, aber so schlecht hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt, weshalb er für alle möglichen Konsequenzen gerade keine Verantwortung übernehmen wollte.

Prüfend blickte FX an sich herunter. Ob er eine Unterhose anhatte, war ihm egal. In der Regel schlief er ohnehin nackt, wie seine Freunde auch. Es gab keinen Grund, sich seines Körpers zu genieren, auch wenn er in den Augen anderer absolut nicht perfekt sein mochte. Das war egal, wichtig war nur, dass er sich so wohl fühlte.

Doch dann bemerkte er unvermittelt, was ihn bisher so irritierte, es jedoch bisher nicht benennen konnte: Sein rechter Arm. Der Gips. Er fehlte! Er schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern, was passiert war, fand jedoch keine Erinnerung daran. Er hatte definitiv einen Filmriss. So etwas war ihm noch nie passiert. Zumindest nicht einfach so. Sicherlich hatte er durch den einen oder anderen mentalen Kampf in seinem Leben schon einmal ein paar Gedankenfetzen verloren, aber noch niemals fehlten ihm ganze Sequenzen aus seinem Leben. Noch dazu solche, die anscheinend sehr signifikant gewesen sein müssen.

Wann er das letzte Mal seinen rechten Arm ohne Gips gesehen hatte, konnte er gar nicht sagen. Diese feste Hülle war in der Zwischenzeit Teil seines langen Lebens geworden und quasi eins mit ihm. Er gehörte genauso zu ihm, wie seine langen wippenden Dreads. FX gab es nicht ohne. Niemals. Umso bemerkenswerter müssen die Stunden gewesen sein, die ihm jetzt fehlten.

Sein Arm war dürr und mager. Ganz blass. Vorsichtig versuchte er, den Arm zu bewegen, doch seine Gelenke waren ganz steif. Er konnte weder seinen Ellenbogen noch das Handgelenk großartig bewegen. Nur wenige Millimeter und das begleitet von einem heftigen Schmerz, der aus dem normalen Schmerzpegel, den er ja gewohnt war, deutlich hervorstach. Seine Gelenke fühlten sich an, als hätte jemand Sand hinein gestreut. Es knirschte und rieb tatsächlich im inneren seines Körpers.

Ben blieb es nicht verborgen, dass sein Freund sich selbst untersuchte. Etwas enttäuscht stellte er jedoch fest, dass FX’ Arm offensichtlich nicht spontan geheilt wurde bei der aufregenden Show gestern Abend. So schmerzverzerrt wie sein Freund gerade schaute, war vermutlich eher das Gegenteil der Fall. Ben wusste gar nicht, was er genau erwartet hatte. Aber jetzt tat es ihm leid, als er frustriert zusehen musste, dass der Arm seines Freundes anscheinend immer noch gebrochen war. Was auch immer Emil gestern versucht hatte, es hatte definitiv nicht geklappt.

Hingegen verspürte FX innerlich eine gewisse Beruhigung, dass anscheinend alles noch oder wieder so wie vorher war, von dem fehlenden Gips einmal abgesehen. Er hätte sich sehr geärgert und geschämt, wenn all das gesammeltes negatives Potenzial verschwunden wäre. Nicht, dass er darauf hätte verzichten können, aber wenn es nicht mehr bei ihm war, wäre es woanders und genau das wollte er nicht. Solch eine geballte Ladung an Negativität sollte man besser nicht freilassen. Das würde selbst breit verteilt einen erheblichen Schaden anrichten.

„Ben, begleitest Du mich zur Krankenstation?”

„Ich begleite Dich überall hin, FX.”

Fast wäre FX in Tränen ausgebrochen, aber in letzter Sekunde konnte er sich noch zusammenreißen und schluckte stattdessen mehrmals trocken. Ben hatte gerade nicht ‚Diggi’ gesagt, wie er es sonst immer tat, sondern hatte ihm bei seinem Namen genannt.

„Komm, Diggi. Wenn wir leise sind, wecken wir die anderen nich auf und sind vielleicht sogar zum Frühstück wieder da.”

Vorbei war einer dieser seltenen Momente bei Ben.

Wenig später erreichten sie Krankenstation im Ostflügel. Ihre Elite-Universität leistete sich eine ständige Besetzung der Krankenstation mit einem ganzen Team aus hervorragenden Fachärzten. Zwar wurde deren Hilfe selten in Anspruch genommen, nötig war es jedoch, weil das nächste Krankenhaus oder anderweitige ärztliche Versorgung mehrere Stunden entfernt waren. Und schließlich konnte man sich solch eine erstklassige ärztliche Versorgung schlichtweg leisten.

„Hallo, guten Morgen. Können Sie mir bitte wieder einen Gips anlegen?”

Zusammen mit Ben betrat FX die Krankenstation. Er hielt seinen rechten Arm mit dem Linken fest, als wiegte er ein Baby in den Armen. Alleine der Weg zur Krankenstation mit seinem gebrochenen Arm war beschwerlicher und schmerzhafter, als er gedacht hätte. Es kam ihm bei jedem Schritt vor, als schösse der Impuls des Auftretens durch seinen gesamten Körper um sich in seinem Arm zu fokussieren und einen Schmerzreiz auszulösen. Das Adrenalin, was den Schmerz zu dämpfen vermochte, war längst verklungen.

„So einfach geht das hier nicht! Guten Morgen erstmal. Wir sind hier nicht bei ‚wünsch Dir was‘. Das muss ich erst einmal röntgen.”

Natürlich kannte die diensthabende Ärztin FX mit seinem Gipsarm, auch wenn er kein Dauergast in der Krankenstation war. Durch seine Größe und seine auffallende Frisur war er in der Uni bekannt wie ein bunter Hund. Man kannte ihn nicht unbedingt beim Namen, jedoch in jedem Falle vom Sehen her.

Direkt im ersten Semester, kurz nach der Ankunft der vier Freunde an der Universität, wurde FX von einem der Ärzte beiseite genommen. Dieser wollte nähere medizinische Details zu seiner offensichtlichen Verletzung haben, damit das ärztliche Team bereits vorab über mögliche Komplikationen Bescheid wusste und entsprechende Vorkehrungen treffen konnte. Da der Arzt aber immer wieder betonte, dass die Angabe dieser Dinge freiwilliger Natur seien, zog es FX vor, seinen Gegenüber mit ein paar allgemeinen Floskeln abzuspeisen und definitiv nicht die wahren Hintergründe für seinen Zustand preiszugeben. So ganz glauben konnte der Arzt die Geschichte damals nicht, weil schlichtweg zu viele ungeklärte offene Enden vorhanden waren. Und spätestens nach vier Semestern hätte sich der Zustand von FX rein aus medizinischer Sicht signifikant bessern müssen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war seine Geschichte unglaubwürdig geworden.

Nun aber gab es endlich eine offizielle Gelegenheit, dass FX eingehender untersucht werden und seiner obskuren Dauerverletzung näher auf dem Grund gegangen werden konnte. FX hingegen gefiel diese Vorstellung nicht sonderlich, jedoch war er gerade auch nicht in der Stimmung, dagegen anzugehen. Der fehlende gestrige Abend machte ihm zur Zeit viel mehr zu schaffen als das mögliche Ergebnis der gleich folgenden medizinischen Untersuchung.

„Nun, Sie sind die Chefin hier. Sie kennen sich damit aus.”

Ein herausforderndes Lächeln konnte sich FX dennoch nicht verkneifen, war er doch selber etwas gespannt, was auf den Röntgenbildern gleich zu sehen sein würde.

Das Röntgen mit dem digitalen Gerät dauerte nicht lange und schon kurze Zeit später starrte die Ärztin irritiert auf den Bildschirm. Sie klickte ein paar Mal, schüttelte den Kopf und kratzte sich am Kinn.

„Von so etwas habe ich ja noch nie gehört, geschweige denn, dass ich es selbst gesehen hätte. Also das kann nicht sein, da muss ein Fehler vorliegen.”

Mit verschränkten Armen und die Lippen zu einem schmalen Strich gepresst, stand sie regungslos vor dem Gerät, während FX immer noch auf dem Röntgentisch lag.

„Was’n los? Darf ich mal sehen?”

Ben mit seiner verminderten Impulskontrolle konnte seine Neugierde ohnehin nur selten unterdrücken und wurde nur von einem Räuspern von FX davon abgehalten, näher an den Bildschirm zu treten.

„Ich glaube, ich muss da erst mal eine zweite Meinung einholen. Ich bin gleich wieder da.”

Mit diesen Worten verschwand die Ärztin.

„Ben! Nun sei doch nicht immer so schrecklich neugierig!”

FX hatte sich mittlerweile aufgesetzt und ließ die Beine vom Röntgentisch baumeln. Seinen rechten Arm hielt er wieder mit dem linken fest. Offensichtlich war er höchst vergnügt, denn er konnte sich ein breites Grinsen kaum verkneifen.

„Diggi, was’n nu los?”

„Du, ehrlich gesagt weiß ich das auch nicht, aber ich find’s gerade total spannend und deswegen lasse ich mich überraschen.”

„Überraschungen sind so gar nich meins, Diggi. Ich kann doch einfach fix mal auf den Bildschirm ...“

Die Ärztin war mit einem Kollegen im Schlepptau wieder zurückgekommen und nun starrten sie beide wortlos auf den Monitor.

„Hilde, Du bist Dir sicher, dass Du den Apparat richtig ...”

Weiter kam der andere Kollege in Weiß nicht, denn er wurde harsch von Ärztin Hilde unterbrochen.

„Roman, wenn Du mir sagst, welchen Knopf ich drücken muss, damit man so etwas reproduziert, dann wäre ich Dir sehr dankbar!”

„Also, entweder ist der Apparat kaputt oder der Patient.”

„Grandiose Diagnose, Doktor Roman, ich gratuliere!”

„Felix, wir würden Sie gerne etwas eingehender untersuchen.”

Der hinzugezogene Arzt wusste genau wie seine Kollegen überhaupt nicht, wie er das Röntgenbild interpretieren sollte und versuchte lediglich, seine Unwissenheit zu kaschieren und etwas Zeit zu gewinnen, damit er sich einen Reim auf das gesehene machen konnte.

Natürlich hatte FX damit gerechnet, dass diese rhetorische Frage kommen würde, aber dazu hatte er jetzt gerade überhaupt keine Lust, zumal er das Resultat ohnehin kannte. Sie würden ihn tage-, wenn nicht gar wochenlang untersuchen, um am Ende zu keinem Ergebnis zu kommen. Günstigstenfalls käme ein Artikel in einer Fachzeitschrift heraus oder gar ein weiterer Doktortitel für einen Patienten mit einem ominösen Leiden.

Da jedoch die vorlesungsfreie Zeit nahte und FX besseres zu tun hatte, denn als Versuchskaninchen für seine Uni-Ärzte zur Verfügung zu stehen, schüttelte er den Kopf. Zwar war seine Kopfbewegung nahezu unmerklich, jedoch wurde diese leichte Bewegung von seinen Dreads derart verstärkt, dass diese wild nach rechts und links tanzten.

„Okay, Roman, wir können den Patienten nicht zu seinem Glück zwingen. Dann schlage ich vor, dass wir den Arm zur Sicherheit mit einem zirkulären Verband ruhigstellen. So, wie es in der Vergangenheit ebenfalls der Fall war.”

„Ja, ich denke, diese konservative Behandlung ist das Effektivste bei dieser indifferenten Diagnose. Das ist definitiv nicht mehr nach dem Stand der heutigen Behandlungsmethoden, aber auf jeden Fall gehen wir damit auf Nummer Sicher. Zur Dokumentation würde ich mir das gerne noch auf Film belichten.”

„Roman, mach sicherheitshalber zwei Abzüge.”

„Ähm, ‘tschuldigung, aber können wir vielleicht auch…?”

FX war klar, dass Bens Neugierde noch lange nicht gestillt war, weshalb er ihm bei der Frage gerne den Vortritt ließ, bevor Ben komplett vor Wissbegierde explodierte.

„Ich weiß zwar nicht, ob Sie solche Bilder lesen und interpretieren können, aber wir schauen es uns nebenan im Gipszimmer an.”

Mit diesen Worten drehte sich die diensthabende Ärztin um und deutete den Beiden an, ihr zu folgen.

Während FX wieder auf dem Präsentierteller, in diesem Falle der Behandlungsliege platznehmen musste, postierte sich Ben direkt neben dem Röntgenbildbetrachter in der Hoffnung, dass er endlich einen Blick auf die Aufnahmen von FX’ Arm werfen konnte. Er brannte darauf zu erfahren, was denn auf den Bildern nun zu sehen war, was so viele Fragezeichen in die Gesichter gleich zweier Ärzte bringen konnte. Er hatte nicht im Geringsten eine Vorstellung davon, was ihn auf dem Röntgenbild erwarten würde. Aber was sollte es schon anderes sein als ein gebrochener Knochen.

Seine Neugierde wurde befriedigt, denn Frau Doktor knallte die große starre Folie mit dem Schwarz-Weiß-Bild von FX’ Arm mit Schwung auf das Gerät, wo es mit einem lauten Klacken einrastete.

„Können Sie mir das vielleicht erklären, Felix?”

Die Frage der Ärztin klang eher anklagend als fragend, als sie vorwurfsvoll mit dem Zeigefinger auf das Röntgenbild zeigte und FX mit einem funkelnden Blick zu durchbohren versuchte.

Er wusste zwar selber nicht, was ihn erwartete, aber damit hatte selbst FX nicht gerechnet. Auf dem Bild war prinzipiell das Röntgenbild eines Armes zu erkennen: Oberarmknochen, Speiche, Elle, Handwurzel- und Handmittelknochen sowie seine Finger. Allerdings ergab sich auf dem Röntgenbild anstatt der zu erwarteten klassischen Fraktur von Speiche und Elle etwas komplett anderes. Seine Knochen waren nicht etwas gebrochen, nein, sie bestanden vielmehr aus unzähligen kleinen Puzzleteilchen. Und diese Teile waren nicht fein säuberlich zusammengesteckt und ergaben einen menschlichen Knochen, sondern sie lagen vielmehr wild durcheinander in seinem Arm verteilt und ließen nur ganz wage erkennen, dass sie eigentlich ganz anders als Knochen zusammengesetzt gehörten.

„Diggi, krass!”

Eigentlich hatte Ben sich fest vorgenommen, ganz still und unauffällig zu sein, aber sein Mund war wieder einmal schneller als sein Hirn. Peinlich berührt und mit hochrotem Kopf hielt er sich mit beiden Händen den Mund zu und trat ein paar Schritte zurück. Dabei stieß er jedoch aus Versehen gegen einen fahrbaren Tisch aus Metall gegen, der wiederum in Bewegung geriet und mit einem lauten Scheppern an der nächstgelegenen Wand zum Stehen kam. Als wolle er sich ergeben, riss Ben beide Hände hoch und versuchte ein möglichst unschuldiges Lächeln hervor zu bringen, was jedoch eher in einer undefinierbaren Grimasse endete.

Er zog es vor, keine weiteren Kommentare abzugeben und verzichtete auf eine Entschuldigung. Am liebsten wäre er mit einem Sprung nach Links durch die Wand entschwunden, aber das wiederum würde mich Sicherheit noch mehr Fragen aufwerfen und damit würde er sich definitiv den Zorn von FX einhandeln. Er schwieg.

„Danke für Ihre qualifizierte Diagnose, Ben.”

Die Ärztin war sehr pikiert von Bens flapsiger Art und das kleine Chaos, was er gerade veranstaltet hatte. Jedoch beschloss sie, die kleine rothaarige Nervensäge in der viel zu großen Hose zu ignorieren und sich stattdessen wieder ihren ominösen Patienten zuzuwenden.

„Nun?”

„Es tut mir leid.”

FX konnte sich ein Lachen nur mit viel Mühe verkneifen, jedoch gelang es ihm, weder hämisch zu grinsen noch seine Stimme irgendeinen verräterischen Unterton durchscheinen zu lassen. So viel Humor hätte er seinem Körper gar nicht zugetraut, aber es gefiel ihm, was er so alles machen konnte.

„Ich bin selbst ja nur ein Student, und dann noch nicht einmal in der Medizin. Davon habe ich absolut keine Ahnung. Ich weiß auch nicht, wie so etwas passieren kann. Und wenn Sie das als hochspezialisierte Spezialistin nicht wissen, dann kann das doch nur eine Laune der Natur sein, oder?”

Um die Diskussion für beendet zu erklären und als Aufforderung, endlich mit Ihrer Arbeit zu beginnen, streckte FX der Ärztin seinen rechten Arm entgegen.

Frau Doktor war ganz offensichtlich eingeschnappt, denn sie ließ nur ein Grunzen vernehmen. Ganz offensichtlich wusste dieser Schnösel von Student mehr, als er preisgeben wollte. Aller Wahrscheinlichkeit hatte er mit einem Trick nur das digitale Röntgengerät gehackt und dort in einem unbemerkten Moment irgendeinen Virus aufgespielt. In jedem Falle würden sie die Geräte von der IT-Abteilung auf Herz und Nieren überprüfen lassen müssen, was wiederum bedeuten würde, dass die Krankenstation für mehrere Tage geschlossen werden müsste.

Hilde hielt kurz inne. Eine geschlossene Krankenstation in Kombination mit der vorlesungsfreien Zeit würde bedeuten, dass sie unplanmäßig frei hatte, so dass sie mit dem Chefarzt Roman vielleicht ein paar Tage aus dem Alltagstrott entfliehen konnte. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, was sie jedoch sofort wieder einfing und in einen eisigen Blick einfror. Dieser vorlaute Student sollte nicht glauben, dass er ihr damit einen Gefallen getan hatte. Er sollte schön leiden dafür, dass er hier mit solch einem Schabernack aufwartete. Ohne eine weitere Miene zu verziehen begann sie mir ihrer Arbeit.

Wortlos und etwas rabiat drückte sie FX nach hinten, so dass er sich auf die Behandlungsliege legen musste, wo er bisher gesessen und die Geschehnisse beobachtet hatte. Dann holte sie ein Gestell hervor, wo sie den Zeige- und Ringfinger von FX einhängte, so dass daran sein Arm frei hängen konnte. Erstaunlicherweise war die Position gar nicht so unbequem, wie FX zunächst befürchtet hatte. So musste er sich nämlich nicht anspannen und seinen Arm halten. Gleichzeitig war er auch schon in der richtigen Position für die nächsten Schritte.

Zunächst zog sie einen langen weißen Schlauchverband über den gesamten Arm und die Hand, schnitt jedoch ein paar Löcher für Daumen und Finger hinein. Nachdem sie den Verband faltenfrei glattgezogen hatte, folgte als zweites mehrere Lagen Polsterung, die sie sehr präzise um Arm, Hand und den Daumen wickelte.

„Welche Farbe?”

Frau Doktor war sehr einsilbig und klang genervt und gelangweilt.

„Entschuldigung, was meinen Sie?”

FX war die Situation mittlerweile sehr unangenehm. Eigentlich wollte er der Ärztin gar nicht auf den Schlips getreten haben, aber irgendwie schien sie die Sache persönlich zu nehmen. Leider wusste er gerade nicht so recht, wie er aus dieser Sackgasse wieder herauskommen sollte. Die Sache mit den Puzzleteilchen war überhaupt nicht geplant gewesen, sein Körper selber war auf diese verrückte Idee gekommen und jetzt im Nachhinein bereute er es ein wenig.

„Ihr Gips. Welche Farbe soll er haben?”

Obwohl FX der einzige Patient in der Krankenstation war, mimte die Ärztin große Ungeduld und blickte genervt an ihn vorbei und starrte auf die große Uhr an der Wand.

„Ähm. Ich weiß nicht. Vorher war das ja weiß und ...”

„Ja, Sie hatten vorher einen klassischen Gipsverband. So etwas antiquiertes haben wir hier nicht. Zirkuläre Gipsverbände sind ohnehin etwas aus den 90ern, da sollten sie ohnehin froh sein, dass wir so etwas hier noch machen!”

Chefärztin Hilde rollte einmal mit den Augen, bevor sie in nicht weniger anklagendem Tonfall fortfuhr.

„Wir verwenden hier modernen Kunststoffgips aus Fiberglas. Es gibt ihn in allen möglichen Farben. Er lässt sich viel einfacher verarbeiten und trägt sich hinterher deutlich leichter, so dass Sie weniger Einschränkungen haben. Ich hoffe nur, dass sie mit der gewonnenen Freiheit nicht noch mehr Unfug anstellen!”

Sie deutete dabei auf das Regal, was direkt hinter FX befand und damit außerhalb seines Sichtfeldes. Als FX versuchte, sich umzudrehen, hielt sie seinen Arm fest, so dass er das Regal nicht sehen konnte.

„Was gibt’s denn sonst so für Farben? Was denken Sie denn, was mir am besten stehen würde?”

FX versuchte eine Charmeoffensive und blickte die Ärztin mit großen kugelrunden Augen an und ließ sie wieder in einem satten Blau erstrahlen. Dazu setzte er das freundlichste Lächeln auf, das er zu bieten hatte und zeigte seiner Gegenüber eine Reihe weißer Zähne. Ein exklusiver Schlag mit seinen langen Wimpern setzte er als Sahnehäubchen noch oben drauf.

Das hatte gesessen!

„Entschuldigen Sie bitte, Felix, Sie müssen leider still liegen bleiben. Also, wir haben wirklich alle Farben zur Auswahl: rot, orange, gelb, grün, blau, lila, pink, neon-gelb, neon-grün, hellblau, dunkelblau, schwarz, weiß, hell...”

„Auch dunkelgrün?”

Es tat FX ein bisschen leid, dass er Frau Doktor unterbrechen musste, aber dafür tat er es mit so viel gespielten Enthusiasmus und Interesse, dass sie ihm einfach nicht böse sein konnte. Er hatte sie bei dem Thema gepackt, was sie interessierte: Der Medizin. Madame war in ihrem Element und lief geradezu Höchstformen auf. FX hatte sie quasi um den kleinen Finger gewickelt und er wusste, dass sie ihm von nun an quasi aus der Hand fressen würde.

„Selbstverständlich, das soll es sein?”

FX nickte.

„Ben, bitte holen Sie mir doch bitte aus dem Regal einen Karton von oben rechts.”

Ben zuckte zusammen, weil er gar nicht erwartet hatte, angesprochen zu werden. Er hatte still die Hoffnung gehabt, dass alle im Raum vergessen hatten, dass er da war. Er hatte sich in den letzten Minuten weder bewegt oder gar auch nur einen Ton von sich gegeben.

Ganz leicht stieß er sich mit seinem Board ab und rollte fast lautlos in Richtung Regal und griff im Vorbeifahren nach dem entsprechenden Karton. Mit einer leichten Gewichtsverlagerung machte er eine Kurve und rollte in einem Fluss weiter zur Ärztin und stellte den Karton auf der Behandlungsliege ab.

„Dankeschön. Und nächstes Mal lassen Sie bitte Ihr Spielzeug draußen. Das hier ist eine Krankenstation und kein Skaterpark!”

„Jawohl, Madam Captain.”

„Für Sie immer noch Doktor Holtz. So, und jetzt wieder stillhalten, Felix!”

Da war er wieder, der Kasernenton. Im Geiste bedankte sich FX bei Ben, dass er die gerade so mühevolle Entspannung der Ärztin mit dem blöden Skateboard zunichte gemacht hatte. Wie auch immer Ben das fertig brachte, er schaffte es ein ums andere Mal, die sicherste und beste Situation gegen die Wand fahren zu lassen. Zu Gute halten konnte man ihm lediglich, dass er das niemals mit Absicht machte, sondern dass es einfach seiner angeborenen Tollpatschigkeit zu verdanken war.

Sie holte die erste Gipsbinde aus der Verpackung und öffnete sie. Eine Rolle aus sattem dunkelgrünem Kunststoff, die sie sogleich um FX’ Hand wickelte. Nach zwei Runden um die Handfläche wickelte die Ärztin die nächste Tour um seinen Daumen.

„Ähm, der war beim letzten Mal aber nicht mit drin.”

FX versuchte es erneut und ließ seinen ganzen Charme spielen, aber er ahnte schon, dass es dieses Mal vergebens war. Die Ärztin hatte sich von Ben wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringen lassen und war von außen wieder aalglatt wie Teflon.

„Sie sagten doch vorhin selbst, dass Sie keine Ahnung davon hätten. Also lassen Sie mich doch einfach machen, Felix. Ich habe das schließlich studiert.”

Sie sagte es mit einem Lächeln, aber FX war sich nicht sicher, ob sie das auch wirklich so meinte. Resigniert ließ er den Kopf hängen, während die Ärztin in Windeseile bereits seine gesamte Hand und Daumen verbunden hatte und sich nun langsam Richtung Ellenbogen vorarbeitete. Immerhin hatte sie seine Finger freigelassen. Es war zwar schon ewig her, dass FX den anderen Gips bekommen hatte, aber er erinnerte sich daran, dass es ewig gedauert hatte. Vor allem, bis das schwere Ding schließlich trocken war, dauerte es über einen Tag.

Die Ärztin hatte ihr Werk vollbracht, sein Arm war nun komplett bis unter die Achsel in einem dunkelgrünen Verband verschwunden. Wortlos räumte die Ärztin ihre Utensilien weg und machte etwas sauber. Schließlich befreite sie seine Finger aus den Fingerfallen. FX war froh, dass der Zug an seinen Fingern endlich aufhörte. Er hatte fast den Eindruck, dass seine ohnehin schon langen Finger noch länger werden würden.

„So, fertig. Ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen sagen soll, dass der Gips eigentlich in 4 Wochen gewechselt werden müsste. ”

Die Anspielung hatte FX erwartet, war er doch niemals zum Gipswechsel in die Krankenstation gekommen. Warum auch.

„Dankeschön, Frau Doktor. Wie lange braucht der zum Trocknen?”

„Fertig.”

„Oh.”

„Und jetzt raus hier. Sie haben mir den ganzen Morgen versaut. Ich muss jetzt zum Frühstück.”

Ben und FX beeilten sich, die Krankenstation zu verlassen. Keiner von beiden hatte Lust auf einen weiteren Kontakt mit diesem unfreundlichen Drachen. Sie holten vom Uni-Kiosk frische Brötchen und machten sich auf den Weg zurück in ihr Apartment.


„Freunde der Zeit, wir sind durch mit dem vierten Semester!”

Michel öffnete den Kühlschrank und holte eine Flasche Sekt heraus.

„Was hast Du denn geraucht? Sekt zum Frühstück?”

Henne schüttelte den Kopf und warf Michel einen anklagenden Blick rüber.

„Guter Gedanke, Diggi! So lässt sich die letzte Vorlesung des Semesters viel entspannter ertragen.”

Ben war begeistert von der Idee und stellte in Ermangelung von passenden Gläsern einfache Wassergläser neben die Kaffeepötte.

„Noch ist das Semester nicht vorbei!” Henne war noch immer nicht ganz überzeugt von der Idee, Alkohol zum Frühstück zu trinken. „Und wer weiß, was sich unsere Profen noch überlegen, um uns am letzten Tag noch zu ärgern.”

„Henne, was bist Du denn heute für ein Miesepeter?” FX setzte sich an den Tisch und streckte Michel das leere Glas entgegen. „Komm, schenk ein, mach Striche!”

„Diggi, musste nu Deine ganze Garderobe umstellen? Ich weiß nich, ob das Grün so die beste Wahl war.” Ben musterte FX’ frischen Gips und blickte danach skeptisch auf sein blaues T-Shirt. „Grün und Blau schmückt die Sau!”

„Michel, mach hin!” Ungeduldig wedelte FX mit dem leeren Glas in Richtung Michel, der sich noch mit dem Korken der Sektflasche abmühte. „Ich kann das nicht länger nüchtern ertragen. Erst veranstaltet unser Skaterboy hier ein Chaos in der Krankenstation und nun das: Ich werde gemobbt!”

„Wessen Idee war das überhaupt? Und irgendwie ist das mit dem Daumen ja auch unpraktisch, oder? Also ich meine, noch viel unpraktischer, als so ein Gips überhaupt.”

Henne versuchte, seine Aufmerksamkeit zwischen dem neuen Gips von FX und Michels Kampf mit der Sektflasche zu teilen, denn langsam sah es gefährlich aus, was dieser mit der Flasche veranstaltete.

„Frag nicht”, meinte FX nur knapp.

„Ach komm, Diggi, das war schon auch ein bisschen lustig, oder?”

Ben musste schmunzeln, als er sich an das Röntgenbild mit den Puzzleteilen erinnerte.

„Und die Konsequenzen muss ich nun ausbaden!”

FX hielt seinen dunkelgrünen Gipsarm in die Luft und zeigte mit der anderen Hand auf seinen eingepackten Daumen.

„Naja, vielleicht lässt Du Dir einfach in vier Wochen einen neuen machen, als erst wieder in zwei Jahren.”

„Wieso? Was genau meinst Du?”

FX wand seine Aufmerksamkeit komplett von Michel ab und blickte Henne fragend an.

In dem Augenblick schoss der Korken mit einem lauten Knall aus der Sektflasche. Michel hatte im Kampf mit der Sektflasche komplett die Kontrolle verloren und der Korken flog zielstrebig direkt auf Hennes Gesicht zu.

Doch FX reagierte blitzschnell: Mit Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand fing er den Korken im Flug auf. Nur wenige Zentimeter vor Hennes Stirn hatte er ihn gefangen und hielt ihn still zwischen den Fingern, die aus dem Gips rausschauten.

„Findest Du, dass mich das irgendwie einschränkt? Offensichtlich geht’s auch ohne Daumen!”

FX blickte fragend in Hennes Augen, der nur stumm und unmerklich den Kopf schüttelte. Ihm stockte nach wie vor der Atem und er war kreidebleich. Hätte FX nicht so schnell reagiert, hätte ihn der Korken voll ins Auge getroffen und dann wäre er ein Fall für die Krankenabteilung gewesen. Nach der bisherigen Schilderung konnte er jedoch getrost auf einen Besuch dort verzichten. Der grüne Gipsarm verschwand mitsamt dem Korken aus seinem Blickfeld.

„Diggi, schenk ein!” Ben fand diese Showeinlage sehr amüsant. „Eigentlich hätte FX den ersten Schluck verdient, aber wenn ich Henne so anschaue, dann braucht der dringend was um seinen Kreislauf wieder anzukurbeln. Du bist ja blass wie ‘ne Kalkleiste!”

Nach dem Frühstück trotteten die Vier mit mäßigem Enthusiasmus zu den Hörsälen. Einstimmig hatten sie beschlossen, all ihre Unterlagen im Apartment zu lassen. Sie wollten den letzten Vorlesungstag so unbeschwert wie möglich hinter sich bringen und daraus lediglich ein Hörspiel veranstalten.

Als sie in den Westflügel einbogen, wo alle Vorlesungssäle untergebracht waren, mussten sie feststellen, dass die meisten ihrer Kommilitonen nicht nur ihre Unterlagen zuhause gelassen hatten, sondern auch sich selbst. Vermutlich taten sie das einzig Richtige und lagen nun unten am See in der Sonne oder hatten die Uni bereits verlassen und waren im wohlverdienten Sommerurlaub.

„Na toll, was sind wir nur für Streber!”

Michel war etwas sauer, wäre er doch auch viel lieber zum Schwimmen gegangen.

Doch plötzlich blieb FX unvermittelt stehen und starrte auf das weit entfernte Ende des Flures.

„Was’n los Diggi? Haste ‘nen Geist gesehen oder was?”

Ben gab FX einen freundschaftlichen Stupser in die Seite, worauf dieser jedoch nicht reagierte.

„Ben, mach doch einmal die Augen vor dem Mund auf!”

Henne gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.

„Autschn!“

„Da hinten sind Paul und Emil. Nicht, dass ich die beiden wirklich erkennen würde, aber diese wasserstoffblonden Haare von Emil leuchten vermutlich auch im Dunkeln!”

Auch Emil war kurz stehen geblieben, hatte er doch FX auch sofort anhand seiner Größe und den wirren Dreads aus der Ferne erkannt. Nach kurzem beiderseitigem Innehalten gingen die beiden Gruppen langsam weiter aufeinander zu, um sich in der Mitte des Flures schließlich schweigend gegenüber zu stehen.

Niemand traute sich, etwas zu sagen. Während Emil und FX sich steif anstarrten, waren die anderen zusehends unsicherer und blickten sich verstohlen an und dann wieder verlegen auf den Fußboden.

Dieser Augenblick gehörte zweifellos Emil und FX, dessen war sich selbst Ben bewusst, der ausnahmsweise nichts sagte, auch wenn die Stille für ihn vermutlich am schwersten auszuhalten war.

„Ich möchte mit Dir reden, FX.”

Es war Emil, der das Schweigen nach einer gefühlten halben Ewigkeit als erstes brach. Seine ton- und mimiklose Aussprache war besonders in dieser angespannten Situation sehr gruselig und trug definitiv nicht zur Entspannung bei.

„Das möchte ich auch, Emil.”

FX nickte. Unter normalen Umständen hätte er seinem Gegenüber ein freudiges und offenes Lächeln geschenkt, aber zurzeit konnte er sich dazu nicht durchringen.

„Geht doch bitte schon einmal in den Hörsaal. Ich komme nach.”

„Diggi, meinst Du, dass ...”

Ben war froh, dass es wieder einen Grund zum Reden gab, sonst wäre er vor Anspannung vermutlich geplatzt. Jedoch wurde er von FX sogleich in die Schranken verwiesen.

„Geht vor, ich komme nach. Macht Euch wegen mir keine Sorgen.”

Emil gab seinem Freund nur mit einem Blick, nicht einmal mit einem Nicken, das Zeichen, dass auch er nicht bei dem Gespräch dabei sein brauchte.

„Es ist übrigens meine natürliche Haarfarbe!“

Die Gruppe hatte ihnen zwar schon den Rücken zugekehrt und war am Gehen, aber dennoch waren sie noch in Hörweite, als Emil Henne hinterhergerufen hatte.

Als die beiden dann alleine waren, entspannte sich die Situation erstaunlicherweise merklich. Emil stand nicht mehr ganz so steif da und auch FX’ Puls verlangsamte sich zusehends.

„Lass uns etwas gehen, okay?”

„Gern. FX, wenn Du erlaubst, habe ich einen passenden Ort für uns. Glaube ich zumindest.”

Emil führte FX durch die Gänge der alten Burg. Von der zweiten Etage des Westflügels gingen sie in den Nordost-Turm und dort immer höher die Treppen hinauf. In diesem Turm wohnten Emil und Paul, so viel wusste FX noch. Es ging vorbei an der dritten Ebene für den dritten Jahrgang und noch weiter hoch. Die vierte Ebene war für den Abschlussjahrgang.

Weder FX noch seine Freunde waren je auf der letzten Ebene in einem der Türme gewesen, war sie doch für den vierten und damit letzten Jahrgang vorbehalten. Es brauchte noch etwas Zeit, bis sie endlich auch dort einziehen durften. In den Flügeln war er schon einmal, denn dort waren auch Hörsäle und auch das Fitnessstudio mit dem Whirlpool auf dem Dach. Aber in dem Wohnturm war er noch nie. Warum auch.

Das Treppenhaus im Turm ging jedoch noch weiter. Es endete ein Stockwerk höher auf einem kleinen Absatz an einer geschlossenen Tür, die Emil sogleich öffnete. Anhand der Höhe erkannte FX sofort, dass es sich um eine Art Zwischengeschoss handeln musste, denn die Raumhöhe war deutlich geringer als in den Zimmern oder gar Hörsälen. In dem Raum war nichts, außer einer Menge Staub und einer weiteren Tür.

Emil schloss die Tür, durch die sie gekommen waren. FX, der mitten in dem kreisrunden Turmzimmer stand, hörte ein leises Klicken, als die Tür verschlossen wurde. Wie ein Blitz schossen die Gedanken durch seinen Kopf. Er war sich unsicher, ob es einen Grund gab, nervös zu werden, oder gar in Panik zu verfallen. Panik, so entschied er sofort, war die denkbar ungünstigste Reaktion. FX horchte in sich hinein. In ihm war alles ruhig. Es gab keinerlei Anzeichen von Gefahr. Sein Körper war vollkommen entspannt, obwohl Emil ihn hier gerade eingeschlossen hatte. Es fühlte sich komisch an, dass es sich gerade sehr sicher anfühlte. FX war verwirrt.

Wortlos schritt dieser an ihm vorbei zur anderen Tür. Erneut hörte FX ein Schloss und Emil öffnete die andere Tür.

„Wenn es Dir nichts ausmacht, würde ich gleich voran gehen, okay?”

Während er durch die Tür schritt, nickte FX nur stumm und wartete am Fuße der Treppe hinter der gerade geöffneten Tür. Emil schritt an ihm vorbei und ging zügigen Schrittes die schmale Wendeltreppe weiter hoch, die erneut an einer Tür endete.

Wieder schloss Emil die Tür auf und dann traten sie ins Freie. Sie standen nun auf dem nordöstlichen Turm der alten Burg. Um sie herum waren lauter Zinnen auf den brusthohen Mauern. Man hatte einen unglaublichen Rundumblick auf die Landschaft. Die Sommersonne schien auf sie herab, es war angenehm warm und ein laues Lüftchen blies ihnen um die Nase.

„Ja, das ist ein angemessener Ort.”

FX saugte die Luft tief in sich hinein. Es roch überwiegend nach den Tannen aus dem Wäldchen links von ihnen, jedoch konnte er auch deutlich die Blütenpracht auf der Wiese vor der Burg schnuppern. Er schritt das Dach des Turmes einmal ab und blickte dabei sowohl in die Ferne als auch zu den anderen drei Türmen hinüber.

Seltsamerweise ist ihm nie in den Sinn gekommen, dass man die Türme auch besteigen konnte. Ein wenig ärgerte er sich darüber. Was hier wohl noch für interessante Geheimnisse verborgen waren? Diese Burg gefiel ihm immer besser, je länger er sie bewohnte. Erst die geheimen Parallelgänge, dann die Fluchttunnel mit den ausgeklügelten Fallen. Und jetzt auch noch die vier Türme. Es würde ihn nicht wundern, wenn es hier noch mehr Dinge zu entdecken gab, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte.

„Zu keiner Tageszeit, in keiner Richtung und zu keiner Jahreszeit sieht man hier auch nur ein Anzeichen von Zivilisation.”

Emil hatte ihn aus den Gedanken gerissen.

„Man erkennt nirgendwo auch nur ein bisschen Streulicht einer Stadt. Ganz selten fliegt mal ein Flugzeug hier direkt rüber. Man sieht sie nur im Norden in weiter Ferne und auch nur, wenn es dunkel ist.”

„Dann nehmen wir den Norden!”

FX schritt zielstrebig auf die Turmmauer im Norden zu und kletterte darauf. Die Zinnen hatten einen Abstand von gut einem Meter, so dass man einzeln sehr entspannt dazwischen sitzen konnte. Er ließ die Beine nach außen die Turmmauer herunter baumeln und schätzte die Höhe: Die vier Doppelgeschosse hatten eine Höhe von je etwa zehn Metern. Dazu kamen die mittelalterlichen massiven Decken. Das Sockelgeschoss war noch höher als die übrigen Stockwerke. Sie waren bestimmt sechzig Meter über dem Innenhof. Außen, da wo er gerade saß, war die Burg durch den Burggraben geschützt, der vermutlich seinerseits weitere zehn Meter tiefe hatte.

FX’ Herz schlug ruhig und kräftig.

Höhe machte ihm nichts aus. Er sah auf seine Füße und viel weiter unten den Burggraben. Er sammelte etwas Spucke und ließ den Tropfen fallen.

„Das geht nur, wenn es ganz windstill ist, FX.”

Er beugte sich vor und blickte nach links an der Zinne vorbei. Da saß Emil neben ihm und nur eine Zinne trennte sie. Jetzt konnte sich FX ein Lächeln nicht verkneifen. Er sah den jungen Kerl an, der zwei Armlängen weiter auf der Mauer saß. Er konnte sich keinen Reim auf diesen komischen Typen machen. Dieser Mensch war mehr, als er nach außen preisgab. Und gegenüber FX hatte er schon viel mehr preisgegeben, als er eigentlich wollte, so viel war sicher.

Wieder horchte FX in sich hinein. Nein, von diesem Menschen ging definitiv keine Gefahr aus. Zumindest nicht hier und jetzt. Aber er konnte gefährlich sein, das spürte FX sehr deutlich. Er wusste nicht, was es war, aber diese Kraft war da. Also kam er zu dem einzig logischen Schluss und wagte die Flucht nach vorne.

„Du bist ein Schattenjäger.”

FX stellte keine Frage. Er stellte fest. Sollte er falsch liegen mit seiner Behauptung, würde Emil es mit Sicherheit korrigieren oder aber gar nicht verstehen.

Mittlerweile hatten sich beide wieder aufrecht hingesetzt, so dass sie sich nicht mehr sehen konnten. Wie in Schießscharten war beiden der Blick zu den Seiten durch die Zinnen begrenzt und sie schauten geradeaus nach Norden auf den Horizont.

„Ja, wir sind beide Schattenjäger. Es ist lange her, dass mir jemand diese Frage gestellt hat. Wobei Du nicht einmal eine Frage gestellt hast, um ganz präzise zu sein. Damit hast Du Dich leider verraten.”

Ein Schauer lief FX über den Rücken. Er war also der Erste seit quasi immer, der einen Kontakt zu den Schattenjägern hatte. Niemand der Zweiundvierzig hatte jemals davon berichtet, einen gesehen zu haben. Es gab Geschichten und Vermutungen darüber. Aber nirgendwo stand es geschrieben und niemand kannte jemanden. Es war nur eine Legende.

„Und das mit meinem Arm?”

„Oh je, FX, es tut mir so leid!”

FX konnte Emil zwar nicht sehen, aber er war sich sicher, dass dieser gerade mit den Tränen kämpfte. Es dauerte dann auch einen Augenblick, bevor Emil mit leiser und etwas zitternder Stimme fortfuhr.

„Wir wissen nicht genau, warum, aber irgendetwas ist da schiefgelaufen. Es war die Rune der Heilung und die sollte eigentlich Deinen Arm endlich mal in Ordnung bringen. Aber es gab irgendwie eine paradoxe Wirkung. Also der Schuss ging voll nach hinten los. Und weder Paul noch ich können uns da einen Reim drauf machen.”

„Emil, Du wolltest mich heilen?”

„Ja, natürlich! Du hast mich geheilt. Du hast das getan, was weder ich noch irgendjemand anders aus unseren Familien geschafft hatte. Deine Kraft ist mächtiger, als all unsere Runen. Dafür wollte ich mich doch nur revanchieren.”

„Das hättest Du nicht tun brauchen.”

„Ich wollte es aber! Ich mag Dich. Ich mag Euch. Wir mögen Euch! Wir haben außerhalb unserer Familien fast keinen Kontakt. Dass Paul und ich hier sind und studieren, gilt schon als sehr großes Wagnis für die Welt der Schattenjäger. Aber Ihr seid irgendwie anders. FX, wer bist Du? Und wieso weißt Du, wer wir sind?”

Er wusste, dass irgendwann diese Frage kommen würde. Nur wusste FX nicht, was er antworten sollte. Er hatte schon ein paar Mal mit Eggsy und Jo darüber diskutiert und auch diese hatte sich beraten. Aber niemand der Zweiundvierzig hatte eine eindeutige Meinung zu dem Thema. Alle waren unschlüssig und keiner wollte eine Entscheidung treffen.

Eigentlich war es FX gewohnt, dass er einmal mehr der Pionier sein musste. Er sollte die Art von Entscheidung treffen, die nur sehr schwer in der Zeit korrigiert werden konnte. Zu tiefgreifend war sie, als dass sie einfach mit einem Fingerschnipp gelöscht werden konnte. Er hasste es, wenn ihm ungefragt solch eine Last übertragen wurde, zumal es definitiv nicht das erste Mal war, dass so etwas passierte.

„Ich bin einer von Zweiundvierzig.”

Diese Antwort konnte alles bedeuten: Für die Meisten war sie nichtssagend. Für einige Wenige bedeutete sie ganze Bände. Daher war die Wahrheit eigentlich gar nicht so unpraktisch. Ab und zu hatte FX diesen Satz seinem angetrunkenen Gegenüber schon vor die Füße geworfen und Gelächter geerntet. Und ein Freibier.

„Es gibt Euch also wirklich!”

Zwar konnte FX seinen Gesprächspartner nicht sehen, aber er spürte förmlich, dass Emil vor Überraschung gerade ganz aufgeregt war. Es war einmal mehr einer der seltenen Augenblicke, wo Emil Emotionen zeigte und nicht stocksteif reagierte und gefühlskalt auf sein Gegenüber wirkte.

„Noch niemand hatte jemals Kontakt zu jemandem von der Zeit-Polizei.”

FX musste lachen.

„Naja, wir passen auf, dass das Raum-Zeit-Gefüge nicht allzu sehr durcheinander gebracht wird. Zeit-Polizei hat uns aber noch niemand genannt. So ganz abwegig ist dieser Name tatsächlich nicht. Wir nennen uns offiziell die Temporalen Wächter und Temporalen Fänger.”

„Und Ihr habt wirklich übernatürliche Fähigkeiten?”

Emil war immer noch ganz außer sich.

„Die Einen mehr, die Anderen weniger. Aber unsere Fähigkeiten sind nicht übernatürlich, sonst hätten wir sie ja nicht. Ferner sind wir natürlich an die Gesetze der Physik gebunden, auch wenn wir sie mitunter zu unseren Gunsten verwenden und verbiegen können.”

FX musste erneut lachen. Irgendwie hatte er gerade den Eindruck, mit einem kleinen Kind zu sprechen und nicht mit jemanden, der an einer Eliteuniversität studiert.

„Und Deine Freunde? Was ist mit denen?”

„Das, mein lieber Emil, weiß ich auch noch nicht so genau. Das erforschen wir gerade alle gemeinsam.”

„Verstehe.” Und da war er wieder, der kalte Emil. „Das erklärt dann vermutlich auch, warum die Rune der Heilung bei Dir nicht geholfen hat. Du bist so ganz anders. Du bist weder im Licht wie wir noch im Schatten. Du scheinst alles zu sein und nichts.”

„Ich würde eher sagen: Ich bin überall und zu jeder Zeit. Aber was macht Ihr eigentlich so, wenn Ihr nicht im Hörsaal sitzt?”

Mit einem Sprung aus dem Sitzen heraus war FX von der Turmmauer, wo er bislang gesessen hatte, auf die flache Zinne gesprungen. Er stand nun weit über Emil und blickte im hellen Sonnenschein von oben auf ihn herab.

Emil war nicht sonderlich verwundert, sondern tat es FX gleich. Auch er sprang quasi aus dem Sitzen hoch und stand sicher auf der nächsten Zinne und blickte FX wiederum in die Augen. Es blies ein leichter Wind in dieser luftigen Höhe und seine Dreads bewegten sich etwas. Die akkurat zurückgegelten Haare von Emil hingegen waren wie festgeklebt und bewegten sich keinen Millimeter. Ein Lächeln huschte kurz über seine Lippen, war aber genauso schnell wieder weg, wie es gekommen war. Aber FX war es dennoch nicht entgangen und er freute sich, diesen interessanten Menschen getroffen zu haben.

„Wir halten die dunklen Mächte in Schach. Wir sind die Wächter des Lichtes.”

Der verrückte Gedanke, dass Emil das mit diesen goldenen Augen mit einem einzigen Blick erreichen konnte, schoss FX durch den Kopf. Er musste unweigerlich lächeln, was Emil aber nicht irritierte.

„Und was hat es jetzt mit diesen Runen auf sich?”

„Runen sind uralte Zeichen und die stärkste Waffe, die wir besitzen. Meistens setzt man sie in die Haut und diese Male verleihen einem dadurch spezielle Kräfte und Fähigkeiten. Es kann sowohl dauerhaft sein, als auch nur vorübergehen. Das hängt ganz von der Rune ab und der eigenen Kraft, die man besitzt.”

Emil machte eine kurze Pause. Es fiel ihm offensichtlich immer noch schwer, darüber zu sprechen.

„Die Rune der Heilung, die ich in Deinen Gips gesetzt habe, sollte eigentlich Deinen Arm heilen. Okay, dass das bei Dir nicht geht, weiß ich jetzt.”

„Emil, kannst Du mir das mal richtig zeigen?”

„Was? Wie eine Rune funktioniert?”

„Genau.”

„Meine Fresse, Du hast Nerven! Das ist kein Spielzeug, das sind mächtige Werkzeuge!”

„Naja, es gibt Feuerzeuge und es gibt Waldbrände. Mir würde ersteres reichen.”

„Okay, ich habe da eine Idee. Aber zeigst Du mir dann auch, was Du drauf hast?”

„Versprochen.”

FX hob grinsend seine rechte eingegipste Hand und spreizte zum Schwur zwei Finger.

„Okay, ich fange auch an. Aber zuerst müssen wir hier runter und dort drüben in die Nähe des Weges zum See. Ist ein Stückchen, ich weiß, aber mir fällt gerade nichts Ungefährliches ein, was man mit den Runen machen kann.”

Die zwei standen immer noch hoch auf den Zinnen des Turmes und Emil wies auf den Weg, der von der Zugbrücke in den Wald und dann an den See führte.

„Emil, dann ändern wir den Plan und ich fange an. Wo willst Du genau hin? Dort am Waldrand, wo Du Deinen anaphylaktischen Schock hattest?”

Fast unmerklich nickte Emil. Nicht, weil er sich nicht gerne an diese Situation erinnerte, sie gehörte ohnehin endgültig der Vergangenheit an, sondern weil er so minimal und neutral war, wie immer.

FX ging zu der schweren Eichentür, die zu dem Treppenhaus im Turm führte. Sie war noch angelehnt und er schloss sie. Für einen Moment legte er seine Hand flach auf die Tür, dann öffnete er sie wieder und machte vor Emil einen Diener, damit er vor ihm durch die Tür gehen konnte. Er folgte ihm.

Zu Emils Überraschung führte die Tür jedoch nicht durch das dunkle Treppenhaus in das Zwischenzimmer vom Turm, sondern sie standen urplötzlich zwischen lauter Bäumen im Wald. FX musste Emil etwas vorwärts schieben, damit er selber ebenfalls durch die Tür schreiten konnte. Dabei fasste er Emil instinktiv an den Po, wie er es bei seinen Freunden auch getan hätte. Zu spät erinnerte er sich, dass dieser muskulöse und feste Hintern nicht zu einem seiner drei Freunde gehörte. Aber er fühlte sich gut an. Emil hatte ganz offensichtlich einen sehr durchtrainierten sexy Hintern.

„Oh, ‘tschuldige”, murmelte FX, doch das blieb von Emil ungehört.

Dieser schaute sich noch verwirrt um und konnte durch die Bäume hindurch die Burg auf dem Berg in einiger Entfernung sehen. Fast unmittelbar vor ihnen verlief besagter Weg, auf den er noch vor wenigen Augenblicken vom Turm herabgeblickt hatte.

„Willst Du noch kurz einen Blick auf die Tür werfen? Sie verschwindet nämlich, wenn ich sie schließe.”

Fast wie ferngesteuert drehte sich Emil um und blickte überrascht in FX’ Augen. Als wäre es eine Überraschung, ihn hier zu treffen, zuckte er kurz zusammen und war daraufhin wieder ganz der Alte. Mit einem leichten Nicken gab er FX zu verstehen, dass er die Tür nun schließen könne.

Leise drückte FX die Tür ins Schloss. Das Knarren, was zu hören war, erinnerte weniger an das einer alten Tür als mehr an das, was man manchmal bei Wind im Wald hört, wenn alte Bäume sich leicht wiegen. Kaum, dass das Schloss leise klickend eingerastet war, versank die Tür auch im Boden und war einen Atemzug später verschwunden.

„FX, ich bin beeindruckt!”

„Dankeschön.”

„Ich weiß nicht, ob ich da mithalten kann. Wir können zwar auch teleportieren, aber irgendwie ist diese Tür schon irgendwie cool!”

Er blickte kurz in beide Richtungen den Weg hinunter und als er sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, trat er hervor und zog einen Stab aus der Hosentasche. Damit, FX konnte beim besten Willen nicht erkennen, was es war, denn Emil kehrte ihm fast ständig den Rücken zu, zeichnete er etwas in den Sand des Weges.

Dann trat er wieder zurück in die Deckung des Waldes. Jetzt sah FX, war Emil zuvor in den Boden gemalt hatte: Die Zeichnung erinnerte an eine eckige, aus zwei Rauten aufgebaute Zahl Acht, die dann von oben herab durchgestrichen war.

„Jetzt müssen wir nur noch warten, bis jemand kommt.”

„Was hast Du da eigentlich für einen Stock in der Hose?” FX deutete auf Emils Schritt. „Und ich meine nicht Deinen Schwanz!”

Langsam zog Emil den Stab aus seiner Tasche und hielt ihn mit ehrfurchtsvoll mit zwei Fingern, damit FX ihn von allen Seiten aus betrachten konnte. Ein Ende war aus mattschwarzem Material und mit vielen verschlungenen Ornamenten verziert. Der Rest des Stabes war einheitlich aus einer Art Glas, was jedoch von innen heraus gelb-golden leuchtete.

„Gold ist so Deine Farbe, was?” FX konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen und zeigte auf sein eigenes Auge, wobei er eigentlich das von Emil meinte. „Aber das ist ja ein beeindruckender Zauberstab. Harry Potter wäre neidisch!”

„Stele.” FX würde sich nie an diese monotone Stimme gewöhnen. „Kein Zauberstab, es ist eine Stele. Oder besser gesagt ‚meine Stele’. Durch sie fließt unsere Energie in die Rune und wieder zurück. Sie ist die Verbindung zwischen uns. Mit einem normalen Stift oder Zauberstab, den es gar nicht gibt, würde es nicht funktionieren.”

„Verstehe. Und was ist das jetzt für eine Rune?”

„Warte einen Augenblick.”

Emil deutete auf eine junge Frau, die gerade von der Burg herunterkam und ihn wenigen Augenblicken bei ihnen sein würde.

Sie war nun fast auf ihrer Höhe und FX erkannte, dass es Michaela war, Michels Bekannte aus dem Jahrgang über ihnen. Er wusste gar nicht mehr, ob die Beiden überhaupt noch Kontakt hatten. Irgendwie hatte er sie total vergessen. Menschen kamen und gingen.

Nur Michaela ging plötzlich nicht mehr. Sie blieb vielmehr plötzlich und unerwartet mitten in der Rune stehen. Irritiert schaute sie zu Boden. Sie versuchte, ihre Füße zu heben, jedoch war es, als seien sie auf dem Boden festgeklebt. Sie konnte keinen Schritt gehen oder sich drehen. Selbst schlürfend konnte sie sich nicht fortbewegen. Sie war am Boden fixiert.

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