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Quartett
Teil 34 - Feuer
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Informationen
- Story: Quartett
- Autor: ratte-rizzo
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Science Fiction, Fantasy und Mystery
40. Feuer
Genauso bewegungslos wie Michaela auf dem Weg stand, starrte FX sie aus ihrem Versteck im Wald an. Als seien ihre Füße festgeklebt stand sie auf dem Weg. FX war ebenso regungs- wie sprachlos.
„Die Rune des Stillstands. Wer sie berührt, muss dort verweilen.”
Emil hatte die Rune kurz zuvor mit seiner Stele auf den Weg gezeichnet und Michaela war die erste, die auf sie getreten und damit in die Falle geraten war.
„Krass. Und wenn man sie von außen umstoßen würde? Gibt es gar keine Chance, dass sie dort wieder wegkommt?”
„Vermutlich würdest Du ihr die Beine brechen. Keine Ahnung, versuch es lieber nicht. Du brauchst einen Bagger, um sie von dort weg zu bekommen. Und selbst der müsste hier ein halbes Fußballfeld ausgraben. Man kann der Rune des Stillstands nicht entkommen. Selbst ein Schattenjäger nicht.”
„Das ist aber schon fies!”
„Ich sagte bereits: Runen sind unsere mächtigste Waffe.”
FX lief ein Schauer über den Rücken, als Emil diesen Satz wieder in voller Gleichgültigkeit sagte.
„Und wie bekommen wir sie wieder los?”
„Mit der Stele zeichnet man eine Rune. Man verändert sie aber auch. Wenn man sie nicht exakt zeichnet, ist sie wirkungslos oder hat schlimmstenfalls eine komplett andere Wirkung. Aber natürlich ist es mehr, als nur ein Stich im Sand. Ein kleiner Strich an einer beliebigen Stelle, und sie ist frei.”
Mit diesen Worten hielt Emil FX seinen Stele entgegen. FX’ Herz setzte für einen Schlag aus. Er war sich nicht ganz sicher, ob Emil gerade wirklich von ihm wollte, dass er Michaela befreien sollte. Vielleicht wollte er aber auch, dass er, FX, mit der Stele von Emil eine andere Rune zeichnen sollte. Wenn die Runen so viel Macht bedeuteten und die Stele die Verbindung zwischen den Schattenjägern und den Runen war, dann war das Aushändigen seiner Stele die größte Ehre, die einem zuteilwerden konnte. Immerhin konnte FX dieses Werkzeug vielleicht zerbrechen, zumindest jedoch damit abhauen.
FX schluckte trocken. Er war verwirrt. Wie kam er zu solch einer großen Ehre, dass er so etwas kostbares von einem nahezu unbekannten Menschen jetzt benutzen sollte? Er rätselte, ob es sich dabei um ein Friedensangebot für einen Krieg handelte, der hoffentlich noch nicht ausgebrochen war. Allerdings war es auch möglich, dass er von früheren Auseinandersetzungen gar nichts wusste. FX war unsicher, was er tun sollte.
Schon wieder so eine lästige Pionieraufgabe. Warum immer er? FX war sich unsicher, ob er das Angebot besser ausschlagen sollte weil er damit womöglich einen Krieg hervorrufen könnte. Andersherum hätte er auch nach der Stele greifen können und sich damit vielleicht in irgendeine Abhängigkeit der Schattenjäger begeben können. Er wusste einfach nicht genug über die Kultur und Geschichte dieser Menschen, als dass er eine sinnvolle Entscheidung treffen könnte.
Wie so oft in solchen Situationen verließ sich FX auf sein Herz. Und das sagte ihm, dass dieser Mensch, der ihm gegenüber stand, nichts Bösartiges im Schilde führte. Er konnte diese große ihm noch unbekannte Macht mittlerweile spüren. Er hatte sich mittlerweile auf Emils Schwingungen eingestellt. Er hatte versucht, auf der empathischen Ebene etwas zu sehen, aber Emil war dort noch kälter, als er es normal schon war. Wo FX sonst bunte oder gar wabernde und flimmernde Wolken sah, war Emil maximal unspektakulär. Und dennoch, irgendetwas in ihm sagte, dass es Emil von Grund auf ehrlich mit ihm meinte. Alle Sinne von FX sagten ihm, dass der Mensch ihm gegenüber keine böse Absicht im Schilde führte.
FX atmete tief durch und griff danach beherzt den Stab. Er war leichter als gedacht. Eigentlich wog er fast gar nichts. Und er lag ganz natürlich in der Hand. Er fühlte sich an wie eine natürliche Verlängerung seines Fingers. Er war glatt und etwas wärmer als er vermutet hatte. Er fühlte sich gut an. Und mächtig.
Emil deute ihm an, hinüber zu gehen und die von ihm gezeichnete Rune zu verändern, so dass sie ihre Wirkung verlor und Michaela frei ließ. FX hatte genau das vor, jedoch fiel ihm beim Hinübergehen ein, dass Michaela sich natürlich an den Stillstand und die Befreiung durch FX erinnern würde. Innerlich rollte er mit den Augen. Es ärgerte ihn, dass Emil an so etwas nicht gedacht hatte. Man konnte doch nicht einfach so einen unbekannten Menschen mit etwas dermaßen Abgefahrenen konfrontieren. Und eigentlich war es FX’ Aufgabe, solche Verwerfungen zu verhindern. Wobei er normalerweise die Verwerfungen unerlaubter Zeitreisen und deren Auswirkungen wieder einrenken musste. Dass er irgendwelche magischen Zeichen aus den Erinnerungen fremder Menschen tilgen musste, ist bisher noch nie vorgekommen.
Er hatte keine andere Wahl. Emil hatte ihm die Führungsrolle übergeben und erwartete nun, dass er etwas tat, was er für richtig hielt. Also ging FX hinüber zu Michaela und setzte mit der Stele einen weiteren Strich in den Sand und ruinierte die bisher perfekt gezeichnete Rune.
Michaela war frei und tat einen Schritt vorwärts.
„Hej, hallo FX, gut, dass Du mich befreit hast. Ich weiß auch nicht, warum ich hier plötzlich kleben geblieben bin. Irgendein Spaßvogel hat hier was Klebriges auf den Weg geschmiert. Aber dass man den Kleber einfach hinten am Schuh lösen kann, darauf wäre ich nie gekommen. Oh, was ist mit Deinem Arm? Grün?”
„Hej, Michaela. Tschüß Michaela, tut mir leid.”
Mit diesen Worten berührte FX sie mit einem Finger am Nacken. Michaela stutzte kurz, drehte sich wortlos um und ging den Weg weiter, den sie gehen wollte. Sie erinnerte sich an nichts.
„Tschüß FX.“
Er sah zu, dass er wieder in das schützende Dickicht des Waldes kam, wo Emil bereits auf ihn wartete. Verstört hatte er eine Hand im Nacken und rieb sich dort, als hätte er Schmerzen. Fragend sah er FX an, als wüsste dieser, warum ihm plötzlich der Nacken weh tat.
Peinlich berührt blickte FX zu Boden. Er traute sich nicht, Emil in die Augen zu blicken, weil er genau wusste, warum dieser sich plötzlich den Nacken rieb. Wortlos streckte er ihm seinen Stab entgegen, den Emil ebenfalls schweigend in seine Hosentasche gleiten ließ, ohne die andere Hand herunter zu nehmen.
„Ich habe da noch etwas.”
Emil war zwar groß, aber bei weitem nicht so groß wie FX. Trotzdem schaffte FX es doch, irgendwie devot von unten her in Emils Augen zu blicken.
„Ich habe da noch etwas, was Dir gehört. Ich würde es Dir gern zurückgeben. Darf ich?”
FX schloss kurz die Augen und stellte sich hinter Emil. Ganz behutsam fasste er dessen Hand an und nahm sie von seinem Nacken herunter. Er hatte so sehr daran gerieben, dass seine sonst so perfekt nach hinten gestriegelten Haaren dort ganz zerzaust waren. Vorsichtig wischte FX eine Strähne beiseite und berührte Emil behutsam mit einem Finger am Nacken.
Erschrocken richtete sich Emil plötzlich auf und stand ganz kerzengerade mitten im Wald. Es war, als hätte er ein Teil im Puzzle seines Lebens gefunden, von dem er nicht wusste, dass es fehlte, weil der Untergrund, auf dem das Puzzle lag, genau dieselbe Farbe hatte, wie das fehlende Teil.
Aber nun ergab alles einen Sinn: Er hatte im Augenwinkel gesehen, wie Ben mit Michel während der Semesterparty durch die Wand verschwunden waren. Es war so surreal und verrückt was er sah. Zwei Menschen verschwinden in einer Wand, wo keine Tür war. Er wusste in dem Augenblick nicht, ob er nicht vielleicht zu viel getrunken hatte. Was er jedoch wusste war, dass gerade zwei Menschen durch die Wand gegangen waren. Gerade wollte er sich umdrehen und seinem Freund davon berichten, da hatte er es auch schon wieder vergessen. Er erinnerte sich nicht einmal mehr daran, dass er etwas vergessen hatte. Und nun, heute, war alles wieder da. Glasklar, als hätte er nur darauf gewartet, dass es passieren würde.
„Entschuldige, Emil, Du durftest das damals nicht sehen. Du und elf andere durften so etwas damals nicht sehen, durften nicht wissen, dass es so etwas gibt. Ihr musstet es vergessen. Ich habe es für Euch vergessen.”
FX stand wieder vor Emil und sah ihn an. Er wusste nicht, ob Emil ihn gleich in der Luft zerreißen würde oder was geschehen würde. Emil ließ sich bei Leibe nicht hinter seine eiskalte Fassade blicken. Er war reglos, wie fast immer.
Angst hatte FX keine, vermutlich könnte er sich effektiv zur Wehr setzen. Zwar wusste er nicht, wie mächtig Schattenjäger waren und wozu sie im Stande waren, aber eine Ahnung sagte ihm, dass er den Schattenjägern überlegen war. Und seine Tat damals war definitiv richtig gewesen. Unter den damaligen Bedingungen würde er sie fraglos genauso wiederholen. Allerdings hatte sich die Ausgangsbasis mittlerweile geändert.
„Damals wusste ich nicht, wer Du warst. Wer Ihr wart. Deswegen durftet Ihr nicht wissen, was passiert war. Aber jetzt ist klar, dass Du so etwas wissen darfst. Deswegen habe ich Dir Deine Erinnerung zurückgegeben. Und bevor Du fragst: Paul hat es seinerzeit nicht gesehen.”
„Du hast ‘ne Menge drauf, oder?”
Es war erstaunlich, wie schnell sich Emil wieder gefasst hatte. Er war wieder ganz der Alte, als sei nichts gewesen.
„Ja, eine ganze Menge.”
„FX, Du bist ein guter. Es war richtig.”
„Danke.”
Nach einem peinlichen Moment der Stille im Wald fiel FX aber noch eine Ungereimtheit ein.
„Emil, da stimmt noch etwas nicht. Du hast gesagt, dass man sich nicht von der Rune des Stillstands befreien kann. Es war doch aber ganz einfach für mich, die Rune zu zerstören und Michaela so zu befreien. Hätte sie Dir nicht auch einfach sprichwörtlich einen Strich durch die Rechnung machen können?“
„Nein.“
„Ja?“
„Nein, so einfach ist es nicht. Erstens kann jemand, der mit der Rune des Stillstandes festgehalten wird, nicht selbst die Rune zerstören, weil man sie aus dieser Position gar nicht sehen kann. Zweitens kann auch nicht ein x-beliebiger Mensch die Rune einfach verändern und so den anderen befreien.“
„Aber ich …“
„Du hattest meine Stele. Du hattest die Stele, mit der die Rune gezeichnet wurde. Das macht es deutlich einfacher, die Kraft zu beenden. Dennoch ist es eigentlich nur Schattenjägern vorbehalten, die Kraft von Runen zu beenden.“
„Eigentlich ...“
„Genau, eigentlich.“
Wieder machte sich eine bedrückende Stille im Wald breit, die nur ein Kuckuck und ein Specht hin und wieder unterbrachen.
„Hast Du nochmal so ‘ne Tür? Müssen wir laufen? Oder soll ich uns teleportieren?”
Leider war FX schneller, als Emil seinen Satz beenden konnte. Zwischen den Bäumen erschien eine Tür und FX ärgerte sich etwas über seine Schnelligkeit, wurde jedoch umgehend entschädigt.
„Ich sehe schon, Du bist ein Mann der schnellen Taten. Nun, Du hast einen gut bei mir. Nächstes Mal mache ich das Taxi und teleportiere uns. Aber diese Tür ist schon cool!“
FX öffnete sie und ließ Emil wieder den Vortritt, bevor er selber hindurch schritt. Auf der anderen Seite schloss er wieder die Tür. Es war die Tür zu den Toiletten im Westflügel bei den Hörsälen und Emil und er traten gerade in den Flur.
„Euer Ernst?”
Michel stand mitten im Gang und die beiden wären ihm und den anderen fast in die Arme gelaufen.
„Ihr geht zusammen aufs Klo? Also entweder Ihr seid Teenagermädchen oder ...”
„Diggis, habt Ihr es etwa auf’m Klo getrieben oder was?”
Ben würde sich nie ändern. Wenn er doch wenigstens die Lautstärke etwas reduzieren würde.
„Leute, kommt mir jetzt nicht mit der ich-kann-alles-erklären-Nummer, okay?”
Paul konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Er hatte keinerlei Bedenken, was das Thema Fremdgehen anging und vertraute seinem Mann uneingeschränkt.
„Und nun müssen wir leider Tschüss sagen, denn wir werden morgen im Morgengrauen schon aufbrechen müssen. Wir sind über die Ferien nicht da und haben eine weite Reise vor uns.”
Dann ging die große Umarmungszeremonie los. Es dauerte etwas, bis jeder jeden einmal in den Arm genommen und geknuddelt hatte. Als letztes waren Emil und FX dran.
„Erzähl mir von Rumänien. Das ist vermutlich kein normaler Erholungsurlaub. Ich bin neugierig!”
Die Umarmung der beiden dauerte deutlich länger als die der anderen und FX flüsterte Emil derweil leise ins Ohr.
„Mach ich. Und Du erzähl Deinen Junx von uns. Für uns geht das in Ordnung. Die Entscheidung ist Deine. Auf bald.”
„Diggis, und nu?” Ben saß unruhig auf seinem Board mit den anderen am See.
„Kann mal jemand diese Nervensäge abstellen? Michel, Du hast doch Seile, hab ich irgendwann mal gesehen, oder? Können wir Ben nicht einfach fesseln und knebeln und ihn auf seinem Board festbinden?”
Henne lag in der Sonne und genoss einfach nur die Stille. Nachdem die Semesterferien begonnen hatten, war die Universität und damit auch der Badesee nahezu menschenleer. Die meisten Kommilitonen hatte es in ihre Heimat gezogen oder sie waren, was viel wahrscheinlicher war, in irgend einen teuren Urlaub weit weg gefahren. Und nun war es wieder einmal Ben, der die Ruhe dermaßen störte.
Der gerade angesprochene Michel hatte angesetzt, um einen Schluck aus der Wasserflasche zu trinken und spuckte nun vor Schreck und Überraschung alles wieder in hohem Bogen aus.
„Diggi, Du Pottsau!”
Ben hatte das meiste von Michels Fontaine abbekommen und versuchte vergeblich, sich trocken zu wischen.
„Also ich hätte schon noch eine nette Freizeitaktivität, bevor wir losfahren.”
FX versuchte das Thema wieder auf die Ursprüngliche Bahn zu lenken, um Michel etwas aus der Schusslinie zu nehmen. Zwar fand er das Thema Bondage – Aufgabe der Selbstkontrolle – durchaus interessant, jedoch gab noch ein anderes Thema, was besonders Ben unter den Nägeln brannte, allerdings hatte er es in seiner Schusseligkeit vermutlich gerade vergessen.
Ihr Plan war es, erst in der nächsten Woche an die Costa Brava zu fahren, wo Eggsy ihnen eine grandiose Strandparty versprochen hatte. Nun galt es, die Zeit bis dahin zu überbrücken, was Ben offensichtlich am schlechtesten gelang, denn er langweilte sich bereits seit Tagen.
„Naja, wir haben da ja noch ein angefangenes Kapitel.”
FX lag zusammen mit Henne auf der Decke und sonnte sich ebenfalls. Beide waren oben ohne und hatten die Augen geschlossen.
Doch nun richtete sich Henne auf und starrte ihn an.
„Das ist jetzt nicht Dein Ernst, oder?”
Hennes Aufregung war nicht gespielt, sondern er meinte es ernst. Entsetzt blickte er auf FX herunter und schüttelte fortwährend den Kopf.
„Du willst ein drittes Mal in diesen tödlichen Horror-Gang? Nachdem Du erst aufgespießt wurdest und Ben danach nur durch einen glücklichen Zufall dem Tod von der Schippe gesprungen ist? FX, Du spinnst!”
„Nein, Henne, überleg doch mal: Wir sind jetzt doch bestens ausgerüstet. Michel kann in die Zukunft schauen! Das sollte uns vor dem allerschlimmsten bewahren. Seine Fähigkeit ist zwar noch lange nicht perfekt, aber das wird bestimmt als Rettungsanker reichen. Und dann ist da noch Ben.”
Der so angesprochene hing FX ohnehin schon an den Lippen, seitdem das Thema auf die geheimen Gänge angebrochen wurde. Er sehnte sich doch nach irgendeiner Abwechslung, gleich was es auch sein mochte.
„Mit Ben können wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Erstens hat er eine Beschäftigung und zweitens ist er die Hauptfigur in der Expedition.”
„Diggi, versteh ich nich. Soll ich wieder vorweg laufen?”
„Ja, das außerdem. Das ist aber nicht der große Trick bei der Sache. Denn wir werden alle wie im Kindergarten Hand in Hand gehen und Du, mein lieber Ben, wirst uns alle mit einem Sprung nach Links aus dieser Materie heraus schieben. Vier Leute, das ist doch mal eine gute Trainingsherausforderung, oder?”
FX lag immer noch mit geschlossenen Augen auf der Decke, zog allerdings eine Augenbraue hoch und erwartete von seinen Freunden tosenden Applaus für seine grandiose Idee.
Jedoch erntete er nur Schweigen, was immerhin besser war, als eine sofortige Ablehnung.
„Falsch, FX. Der größte Vorteil daran wäre, dass Du dann endlich Ruhe gibst!”
Michel hatte sich von seinem Hustenanfall wieder erholt und sah sich nun im Stande, ebenfalls etwas zu diesem verrückten Vorschlag bei zu tragen.
„Aber echt, Diggi. nich immer auf mich, sondern auch mal auf Dich!”
Ben pikste FX mit dem Finger in die Seite, der wie von einer Tarantel gestochen aus dem Liegen aufsprang und dann den Attentäter von oben herab betrachtete.
„Alter, Du kannst mich doch nicht so erschrecken!”
Grimmig funkelte er Ben an, der natürlich wusste, dass das nur Spaß war.
„Außerdem bin ich ja auch noch dabei. Ich helfe Dir beim Verschränken mit der Materie und im Notfall kann ich Euch alle drei halten, das ist für mich kein Problem. Aber Du sollst ja was lernen.”
„Okay, dann lasst es uns hinter uns bringen. Nach dem Abendessen?”
Michel war nach seinem Horror-Erlebnis vom letzten Mal immer noch nicht ganz wohl bei der Sache, aber immerhin gefiel ihm der neue Plan, da dieser deutlich sicherer war, als alle Aktionen zuvor. Aus diesem Grunde trat er nun die Flucht nach vorne an und unterstützte FX.
Nach dem Abendessen standen sie einmal mehr am Tiefpunkt des südwestlichen Turms vor der schweren alten Tür.
„Ben, Deine Show!”
FX trat einen Schritt zur Seite und überließ es Ben, seinen Freunden zu erklären, was gleich passieren würde. Dieser trat mit stolz geschwellter Brust vor und erklärte seinen Freunden, wie er sie gleich berühren und erfassen würde. Danach würden sie dann gemeinsam einen Sprung nach Links machen und sich so mit der umgebenden Materie verschränken. Michel hatte das ja schon einmal mit Ben zusammen gemacht, was auf der Semesterabschlussparty allerdings eher unfreiwillig passiert war.
Ben unterstrich noch einmal, dass definitiv nichts passieren könnte, es aber dennoch wichtig war, dass sich alle permanent bei den Händen halten müssten. Andernfalls würde derjenige, der loslassen würde, unweigerlich wieder zurück in die Welt ploppen. Und was ihn dann dort erwarten würde, wüsste niemand. Ziel ihrer Aktion war es jedenfalls, mit heiler Haut am Ende dieses Ganges anzukommen, um dessen Geheimnis zu lüften.
Nachdem Ben seinen Monolog beendet hatte, konnte sich FX eine Kleinigkeit nicht verkneifen und fügte noch eine Feinheit hinzu.
„Diggi, Du hast nicht einmal das Wort ‚Diggi’ benutzt! Was stimmt mit Dir nicht? Aber Spaß beiseite. Eine Kleinigkeit gibt‘s noch. Sprechen kann man in der achten Dimension nicht.”
Aber dafür können wir anders kommunizieren.
Vor allem Michel zuckte erschrocken zusammen, als er FX’ Stimme im Inneren seines Kopfes hörte, ohne dass dieser die Lippen bewegt hatte. Es war, als würde er gerade gedacht haben, dass FX diesen Satz sagte. Die Wörter kamen nicht durch seine Ohren in sein Gehirn, nein die Wörter waren schon da. Sie sind dort entstanden, in seinem Kopf. Es war, als hätte er sich diese Worte überlegt. Aber es waren nicht seine Worte, nicht seine Stimme. Das alles gehörte FX.
Nein, ich weiß, dass Du etwas sagen willst, aber Du brauchst es nicht auszusprechen. Denk einfach nur, dass Du es sagst, dann höre ich es, wie Du mich hörst. Und alle anderen auch.
Es war tatsächlich die Stimme seines Freundes. Mitten drin in seinem Kopf. Erstaunlicherweise kam überhaupt kein Unbehagen in Michel auf. Es fühlte sich erstaunlich normal an. Neu, ungewohnt aber nicht besonders abwegig.
Ein bisschen komisch ist das aber schon, oder?
Michel stellte sich vor, dass er diese Worte aussprach. Er hörte sie auch. Aber genau wie zuvor FX hörte er sie von innen heraus in seinem Kopf. Und dann war da noch ein leises aber etwas Gehässiges kichern, was eindeutig Henne gehörte. Aber Michel hatte jetzt keine Muße, Henne real oder verbal in den Hinter zu treten. Zu aufregend war das alles. Er konnte es nicht fassen, aber irgendwie hatte FX es gemacht, dass er irgendwie Gedanken lesen konnte.
Entschuldige, Michel, ich muss Dich korrigieren. Es ist kein Gedanken lesen. Okay, ich gebe zu, ich habe gerade ungefragt Deine Gedanken gelesen, weil ich sicherstellen musste, ob es Dir damit auch gut geht, oder Du kurz vor dem Durchdrehen bist. Aber es geht Dir gut und ich verspreche Dir, dass ich ab jetzt ungefragt nicht mehr in Deinen oder Euren Gedanken lesen werde.
Michel überlegte kurz, ob das bedeutete, dass FX schon früher heimlich ihre Gedanken gelesen hatte. Aber er musste nicht lange grübeln, bevor er zu dem Schluss kam, dass FX so korrekt war, dass er es zumindest hinterher immer gesagt hätte. Genau wie jetzt gerade auch.
Aber das, was wir jetzt gerade machen, ist kein Gedankenlesen im klassischen Sinne. Ich habe vielmehr zwischen uns allen eine mental-verbale Verbindung aufgebaut. Jeder einzelne muss schon explizit denken, dass er etwas sagt, damit die anderen das auch hören können. Niemand kann ungefragt in den Gedanken des anderen stöbern. Diese Verbindung ist sehr diskret. Damit können wir uns aber im Tunnel gleich noch etwas unterhalten.
Drei Mal Nicken von seinen Freunden bestätigte FX, dass sie es alle verstanden hatten und dass sie ihm soweit vertrauten.
Und zweitens habe ich Dich, Michel, auf empathischer Ebene etwas entspannt, damit Du mit diesem Gedankenaustausch nicht gleich durchdrehst. Für Dich ist diese Verbindung vielleicht sonst zu intensiv. Ben kennt das schon, weil wir beide uns schon öfter durch die Dimensionen verschoben haben. Und Henne sind solche Spiele zwar fremd, aber trotzdem nicht ganz unbekannt. Vielleicht kannst Du das ja auch eines Tages selber.
FX zwinkerte Henne auffordernd zu, seinen Trainingsplan etwas weiter auszubauen und vielleicht neue Gebiete zu erkunden.
„Okay, Diggi, wie gesagt, das Wichtigste ist, dass wir uns immer alle berühren müssen. Wer loslässt, ploppt aus der Achten Dimension zurück und landet wer weiß wo.”
Ben, der jetzt sehr selbstsicher die Führung übernommen hatte, blickte jeden einzelnen noch einmal an.
„Diggi, vielleicht gehst Du nicht am Ende, sondern hast je einen von den Beiden auch an der Hand. Also nur für den Fall der Fälle meine ich.”
Dennoch war er sich seinen eigenen Fähigkeiten gerade nicht mehr so ganz sicher und er spürte, welche Last und große Verantwortung auf einmal auf seinen Schultern ruhte. Zweifel machten sich in ihm breit, ob er den Ansprüchen genügen würde.
„Ben, was ist los? Wo ist Deine große Klappe hin? Hast Du Angst, dass Du das nicht schaffst? Also die Befürchtung habe ich definitiv nicht, aber Dein Wunsch ist mir Befehl!”
Die vier reihten sich auf. Vorneweg Ben, der Henne an der Hand hatte. Dieser wiederum hielt FX in der Hand und Michel am Ende legte seine Hand auf FX’ Gipsarm.
„Neee, Michel, tut mir leid, das geht nicht. Körperkontakt brauchen wir schon. Du musst Dich irgendwie mit meinen Fingern verhaken.”
Michel verdrehte im Dunkel die Augen und seine Finger wanderten den Gipsarm hinunter, bis sie die warmen und langen Finger von FX fanden. Er schnappte sich zwei der vier Finger und hielt sie dann mit der Hand fest.
Vorne stand Ben und schloss die Augen. Jetzt wurde es knifflig für ihn. Er musste vier Menschen, deren Kleidung und sonstige Accessoires erfassen und behalten, bevor er mit allen den Sprung nach Links machen konnte. Sein Herz raste wie wild vor Aufregung und er spürte seinen eigenen Pulsschlag bis zum Hals hinauf.
Er rief sich zur Ruhe und konzentrierte sich. Zunächst auf sich selbst. Er zwang sich, ruhiger und tiefer zu atmen. Mit jedem Atemzug entspannte er sich etwas mehr und als er schließlich bemerkte, dass auch sein Herzschlag deutlich langsamer wurde, begann er.
Zunächst erfasste er sich selber. Das war einfach und ging schnell. Mittlerweile kannte er sich und seinen Körper so gut, dass er nur wenige Augenblicke brauchte, denn er musste sich nur die letzten Veränderungen wie seine Kleidung einprägen. Er übersprang zunächst Henne und nahm sich FX vor. Auch ihn kannte er relativ gut, musste er seinen besten Freund doch im Training des Öfteren mit durch die Wand nehmen.
Doch halt. Da war etwas komplett anderes bei FX. Fast hätte er es übersehen. Dieser blöde Gipsarm war nicht mehr derselbe wie vorher, aber er hatte es dennoch gleich bemerkt. Nachdem er damit fertig war, wandte er sich Henne zu. In der Hoffnung, dass dieser einfach zu erfassen war, weil er schlichtweg der Kleinste der Gruppe war. Und tatsächlich war Henne auch sehr einfach zu erfassen, bis Ben beim Iro angelangt war.
Ein tiefes Stöhnen entfuhr Ben, als er versuchte, Hennes Iro in allen Einzelheiten zu erfassen. Jede Haarsträhne, das Haarspray, was sie verband, die unzähligen Farbpigmente der bunten Stachel. Ben riss sich zusammen und konzentrierte sich umso stärker auf die Spitzen der Frisur. Es war ein Akt und der Schweiß rann an seiner Stirn herunter.
Schließlich hatte er die erste aufgestellte Spitze von insgesamt Fünfen erfasst und er musste sich sehr zusammenreißen, um das Vorhaben nicht abzubrechen. Ben war am Rande seiner Leistungsfähigkeit und als er sah, was er alles von Hennes Frisur noch vor sich hatte und auch noch Michel nicht erfasst hatte, musste er eine Pause einlegen.
Er hielt im Geiste inne. Ben brauchte ganz dringend eine Pause, denn er konnte sich nicht weiter konzentrieren um noch mehr neue Dinge zu erfassen und gleichzeitig auch noch die bereits gescannten Teile zu behalten. Innerlich verfluchte er Henne, weil er solch eine filigrane und aufwendige Frisur hatte.
Ich glaube kaum, dass Du bei Deinem Tattoo jedes einzelne Farbpigment erfasst hast.
FX’ Stimme hallte unerwartet in seinem Kopf. Es gab eigentlich kein Laut und Leise, aber nach der Stille, die gerade herrschte und die er bitter nötig hatte, klangen diese Worte wie lautes Schreien.
Natürlich erfasste Ben bei seinem Tattoo nicht jedes einzelne schwarze Teilchen. Da würde er ja verrückt werden und es würde viel zu lange … Er brach seinen Gedanken ab. Wie erfasste er eigentlich sein eigenes riesiges Tattoo auf dem Rücken? Nachdem er es beim ersten Mal vergessen hatte, weil er es nicht besser wusste, blieben die Farbpigmente nach dem Sprung nach links in der normalen Welt zurück und fielen als eine Staubwolke zu Boden.
Ben erinnerte sich noch gut daran, wie peinlich es FX damals war, dass er ihn nicht darauf hingewiesen hatte. Nun, das Ganze hatte insofern seine gute Seite, als dass FX ihm ein neues Tattoo schenkte. Dasselbe Fraktal wie vorher, jedoch viel detaillierter und noch schwärzer als zuvor.
Und seit diesem Tag passte Ben sehr penibel auf das Tattoo auf, was seinen ganzen Rücken verzierte. Aber er war sich nach wie vor nicht sicher, wie er sein eigenes Tattoo überhaupt erfasste. Ein Tattoo. Das Tattoo. Sein Tattoo. Als Ganzes! Er kannte es in- und auswendig. Würde es auf Anhieb wiedererkennen.
Überrascht stellte Ben fest, dass es ihm nicht anders mit Henne und seinem Iro erging. Zwar hatte Henne fast jeden Tag eine neue Frisur, andere Farben oder andere Spitzen. Aber es war immer Hennes Frisur. Ganz klar seine Handschrift. Er würde ihn mit Sicherheit unter unzähligen anderen Punks nur anhand seiner Frisur erkennen, dessen war er sich sicher.
Ben wagte ein Experiment: Er erfasste Hennes Iro als Ganzes. Wumms. Mit einem Schlag. Überrascht stellte er fest, dass es einfacher war als gedacht. Das konnte doch nicht so einfach sein. Er kontrollierte ob er wirklich alles von Hennes Frisur erwischt hatte und stellte verwundert fest, dass es geklappt hatte.
Zwar meldete sich FX nicht erneut in Bens Kopf zu Wort, aber doch spürte er, wie sein Lehrmeister innerlich sehr zufrieden war und breit grinste.
Fehlte also nur noch Michel. Als letzter in der Kette war er am weitesten Weg, aber das spielte keine Rolle. Ben war überrascht, dass es ihn überraschte, dass er bei Michel so viele Muskeln vorfand. Dieser Mensch schien quasi nur aus Knochen und Muskeln zu bestehen. Ben war zutiefst beeindruckt. Aber da war noch etwas. Ganz genau konnte er das nicht einordnen, aber er nahm es ebenfalls mit und verbuchte es unter ‚kleines Ding in der Mitte von Michel’.
Theoretisch hatte Ben alles von sich und seinen drei Freunden erfasst und war demnach bereit für den Sprung nach Links. Praktisch war er sich alles andere als sicher, fand aber bei nochmaliger Überprüfung nichts, was er übersehen haben könnte.
Okay, Diggis, ich bin soweit. Jetzt kommt der Sprung nach Links. Wie gesagt, das heißt nur so, Ihr müsst nichts weiter machen und man merkt auch nichts.
Ein fast unmerkliches Nicken von FX signalisierte Ben entweder, dass er mit seiner Aussage zum Sprung richtig lag oder dass er wirklich fertig war und alle erfasst hatte oder beides. Noch nie war sich Ben so unsicher wie jetzt.
Wenn es geklappt hat, dann könnt ihr leicht durch die Wände hindurch blicken. Sie werden dann irgendwie halbtransparent. Am besten nicht nach unten gucken, denn das Gleiche gilt natürlich auch für den Boden.
Ein letztes Mal schluckte Ben und dann setzte er zum Sprung an. Wenn er etwas vergessen hätte, würde es zu Boden fallen. Das war für niemanden gefährlich, aber für Ben wäre es furchtbar peinlich.
Er sprang. Er sprang nach Links. Zusammen mit seinen drei Freunden, die sich alle als Kette an den Händen fassten.
Sofort ging sein Blick nach unten, ob etwas nicht Erfasstes zu Boden fiel. Aber es passierte nichts. Er hatte alles erwischt. Ein bisschen stolz war Ben schon auf sich. Sehr stolz sogar. Ehrlich gesagt hatte er nicht damit gerechnet, dass so eine große Aktion auf Anhieb klappen würde.
Wie er es selbst vorhergesagt hatte, konnte er mehrere Meter weit durch die dicken, nun halbdurchsichtigen Steinmauern blicken. Er sah eine uralte Mechanik in den Wänden, die die Fallen steuerte. Er blickte zurück ins Innere der Burg und sah dort unzählige Verliese und Kammern, die sie alle noch nicht kannten. Ganz neue Abenteuer schienen dort auf ihn und seine Freunde zu warten.
Aber das alles war zur Zeit egal. Sie hatten heute etwas anderes vor und so wandte er seinen Blick den Tunnel entlang und damit weg von der Burg.
Diggis, es geht los. Haltet Euch fest, ich fliege Euch jetzt langsam durch den Tunnel.
Durch reine Willenskraft setzte Ben die kleine Menschenkette langsam in Bewegung, denn in der Achten Dimension mit der verschränkten Materie konnte man weder etwas greifen noch sich durch Gehen bewegen. Dabei achtete er peinlich genau darauf, dass sie den Mauern nicht zu nahe kamen. Aus Erfahrung wusste er, dass es ein komisches Gefühl war, wenn man sich das erste Mal wirklich mit fester Materie verschränkt. Aber er wollte, dass sich seine Freunde erst einmal an diesen Zustand der Verschränkung an sich gewöhnten, bevor er sie wirklich mit fester Materie wie Wände vermischen würde. Diese Aktion des Fliegens durch eine halbtransparente Welt war so schon aufregend genug.
Zusätzlich zu den beiden bereits bekannten Fallen, passierten sie noch zwei weitere auf ihrem Weg, bevor sie durch eine unscheinbare kleine Tür das Freie erreichten. Die Helligkeit draußen war etwas ungewohnt nach der Dunkelheit im Gang, so dass Ben ihren Augen noch etwas Zeit gab, sich wieder an das Licht zu gewöhnen, bevor er die Verschränkung wieder auflöste und seine Freunde wieder in die drei Standard-Dimensionen zurückkehrten.
„Diggi, Du kannst mich jetzt loslassen. Du bist ja total verkrampft! So schlimm kann das doch gar nicht gewesen sein.”
Überrascht ließ Henne Bens Hand los. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er voller Anspannung da stand und die Reise schon beendet war. Immer noch traten seine Knöchel weiß hervor und Bens Fingerspitzen liefen bereits blau an.
„Tschuldige, das war gerade etwas sehr krass.”
„Michel? Alles cremig bei Dir? Du bist nur ein Bisschen weiß um die Nasenspitze herum. Kann so schlimm also nicht gewesen sein.”
FX klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter, um Michel möglichst schnell etwas Ablenkung zu verschaffen.
Viel Ablenkung gab es an diesem Ort indes nicht. Sie standen auf einem schmalen Pfad, der einerseits an der Tür endete, durch die sie gerade geflogen kamen. Andererseits führte der Weg nur wenige Meter weit zu einer hüfthohen Trockensteinmauer. Alles in allem waren sie jedoch in einem sehr dichten Teil des Waldes, denn um sie herum standen dicht an dicht die Tannen.
„Also ich weiß ja nicht, was ich erwartet habe, aber DAS bestimmt nicht.”
Henne hatte sich an Ben vorbeigeschoben und war in den Durchgang der Trockensteinmauer getreten. Er ließ seinen Blick langsam schweifen, bevor er sich wieder umdrehte.
„Hier ist ja nichts! Aber auch rein gar nichts!”
In der Zwischenzeit waren alle durch die Öffnung in der Mauer hindurch geschritten und standen in einem kreisrunden Bereich, der durch eben diese Mauer eingegrenzt wurde. Hinter der Mauer war dichter Wald und undurchdringliches Gestrüpp. Man konnte unmöglich auf einem anderen Weg hierher gelangen, als durch den Tunnel. Und damit war auch klar, dass es sich hierbei unmöglich um einen Fluchttunnel handeln konnte, denn dieser führte Geradewegs in eine Sackgasse. Selbst aus der Luft her dürfte es schwierig werden, diesen Kreis mit seinen wenigen Metern Durchmesser durch die dichten Baumkronen zu erspähen.
„Diggi, ich will ja nix sagen, aber dieser schwarze Kreis haut mich nich gerade von den Socken!”
Ben ließ seiner Enttäuschung freien Lauf und blickte anklagend zu FX.
„Na, Deine weißen flauschigen Skatersocken würden bei der Asche hier auf dem Boden auch nicht lange durchhalten.”
Henne deutete auf Bens Skaterschuhe, die mittlerweile nicht nur von unten schwarz von den verkohlten Überresten in dem Steinkreis waren.
„Aber ein bisschen komisch und unheimlich ist das hier doch schon, findet Ihr nicht?”
„Danke, Michel!”
Erleichtert stellte FX fest, dass er nicht der Einzige war, der diesen Kreis hier sehr sonderbar fand.
„Erstens: Es ist es ein von Menschen gemachter perfekter Kreis. Er muss also eine Funktion haben oder einen Zweck gehabt haben. Zweitens: Er ist uralt, sieht aber aus, als würde sich jemand darum kümmern. Hier wächst überhaupt kein Unkraut, obwohl drum herum der wilde Dschungel herrscht.”
„Drittens: Hier wurde anscheinend eine Menge an Krams verbrannt. Holz? Hexen? Wer weiß das schon. Asche liegt hier jedenfalls genug herum”, ergänzte Michel während er mit den Schuhen etwas in den verkohlten Holzresten bohrte.
„Na toll!”
Ben versuchte, den Dreck an seinen Schuhen abzuschütteln, wirbelte dabei aber noch mehr Asche auf, die sich wiederum an seiner Kleidung festsetzte und sie mit einem leichten aber deutlich sichtbaren Grauschleier überzog.
„Ich glaub, wir haben hier alles gesehen, Diggi. oder willste hier noch die verkohlten Reste umgraben und einen Schatz heben?”
„Was für ein Scheiß! Die Socken sind doch im Arsch!”
Ben stand an der Waschmaschine und stopfte seine Kleidung hinein.
„Die werden doch nie wieder sauber! Die kann ich gleich zurück in den Kreis bringen und sie da verbrennen. Und vor dem Urlaub bekomm ich meine Hose bestimmt auch nicht mehr rein!”
In seiner Wut bemerkte er nicht, dass er viel zu viel Waschpulver in die Maschine tat. Und dann war sie auch schon eingeschaltet.
„Ben, was ist denn los?”
Henne steckte den Kopf durch die Tür.
„Ich hab Dich ja noch nie so schimpfen gehört. Immer noch sauer wegen Deiner Socken?”
„Diggi, quatsch Du nur. Du hast gut reden mit Deinen Springerstiefeln. Die sind ja quasi unver… Oh, zeig mal Deinen Duft!”
Es war wieder einmal typisch für Ben, dass er innerhalb eines Wimpernschlags von einem Gemütszustand in den anderen wechselte. Neugierig inspizierte er die ausgetretenen Stiefel von Henne, die er immer halboffen trug. Mit einer lockenden Handbewegung gab er Henne zu verstehen, dass er herkommen sollte.
Dieser ahnte schon, was Ben vor hatte und machte es sich vorsichtshalber auf der Waschmaschine bequem, vor der Ben immer noch kniete.
Vorsichtig und mit etwas Ehrfurcht ergriff Ben einen der Stiefel von Henne. Von dessen Socken, auf die es Ben so abgesehen hatte, sah man zunächst einmal gar nichts. Hennes abgeschnittene rot karierte Hose endete auf Kniehöhe. Es folgte ein Stück leicht behaartes Männerbein und dann verschwand dieses auch schon in den halboffenen Springerstiefeln. Ben hatte sich nie irgendwelche Gedanken darüber gemacht, wie es kleidungstechnisch dort weitergehen konnte. Umso neugieriger war er jetzt, da sich diese Gelegenheit ergab.
Nachdem Ben den Stiefel behutsam vom Fuß seines Freundes abgestreift und beiseitegestellt hatte, nahm er vorsichtig Hennes weiß besockten Fuß in die Hand. Diese Socken waren bei weitem nicht so flauschig wie seine, aber sie waren immerhin schön weiß. Und warm. Und feucht. Und der Duft? Wie mochte der wohl sein? Wie lang war das her? Richtig! In Tarragona, genau vor einem Jahr, als Ben Henne das erste Mal an seinen Socken hatte schnüffeln lassen. Wie konnte in all der Zeit gar nichts zu dem Thema passieren?
Umso erregter war er nun, als er diese wohlgeformten Füße vor sich hatte und sich langsam mit der Nase näherte.
„Und das mit dem Schaum aus der Maschine da oben ist richtig so?”
Michel stand plötzlich in der Tür und deutete auf eine Seite der Waschmaschine, aus der Unmengen von Schaum heraus quollen.
Ben war sauer. Sauer wegen seiner Socken, von denen er immer noch nicht wusste, ob sie wieder sauber werden würden oder nicht. Sauer auf Henne, weil er nicht an dessen Socken kam. Sauer auf Michel, weil er sie gestört und das Schaummalheur entdeckt hatte.
Das alles ergab natürlich überhaupt keinen Sinn, denn eigentlich war er nur sauer auf sich selbst. Er saß mittlerweile in einer Sofaecke und schmollte. Ein absolut langweiliger und vergebener Ausflug durch den Tunnel, ein Steinkreis in der einst ein riesiges Feuer gelodert haben muss, versaute Klamotten und ein verpatztes Techtelmechtel mit Henne.
So hatte er sich den Anfang der Ferien nicht vorgestellt.
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