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Quartett

Teil 38 - Geschöpf

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44. Geschöpf

Verdutzt blickte FX ins Dunkel. Er hatte gute Augen, sehr gute sogar. Aber so schnell und lautlos, wie Emil verschwunden war, hatte er selten jemanden verschwinden sehen. Genauer gesagt kannte er nur einundvierzig andere Menschen, die das konnten. Nicht das kleinste Geräusch hatte er von sich gegeben und FX konnte nicht einmal genau sagen, wohin dieser Mensch eigentlich in der Dunkelheit verschwunden war. Diese Schattenjäger waren ihm irgendwie suspekt und ein Schauer lief ihn über den Rücken, als er das dachte. Er war sich sicher, dass es besser wäre, sie nicht zum Feind zu haben. Vielleicht war das ein Grund, warum dieses Protokoll vor Urzeiten entwickelt wurde. War es eine Warnung? Ungewollt löste sich ein Seufzer der ungehört in der sternenklaren Nacht verschwand.

Ratlos blickte er hinunter auf das tanzende Treiben der schwulen Strandparty. Bis vor ein paar Minuten hatte er sich noch köstlich amüsiert, hatte getanzt und ein sehr spannendes Gespräch mit Emil geführt. Eggsy war es tatsächlich gelungen, eine geile Feier am Strand zu organisieren. Sowohl er, als auch seine Freunde hatten mächtig viel Spaß, tanzten ausgelassen und hatten genau den richtigen Pegel an Alkohol. Und natürlich hatte ein jeder die Chance genutzt und hemmungslos mit anderen hübschen Menschen herumgeknutscht.

Und dann das! Henne war verschwunden. Spurlos. Nicht einmal FX konnte ihn mit seinen Fähigkeiten aufspüren. Und genau dieser Umstand war es, der FX die tiefsten Sorgenfalten auf die Stirn trieb. Normalerweise wusste er stets gut Bescheid über das Hier und Jetzt und insbesondere über das Bald. Aber diese Entführung traf ihn wie ein Blitz aus stahlblauem Himmel. Er war sauer auf sich selber, weil er diese Entführung nicht vorhergesehen hatte.

Man hatte Henne gekidnappt. Irgendein hinterhältiger Mensch hatte ihn einfach so verschwinden lassen, was FX deshalb so beunruhigte, weil Menschen normalerweise nicht einfach so verschwinden. Sie hinterlassen eine Spur. Immer. Menschen verschwinden von jetzt auf gleich nur, wenn es mit abnormalen Dingen zuging. Und das war es, was FX ein weiteres Mal erschauern ließ. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit war Henne an jemanden geraten, der Kräfte hatte, die hier nicht hergehörten. Dieser Widersacher war hier definitiv falsch und musste zur Strecke gebracht werden. Und dann hatte er sich auch noch ausgerechnet Henne als Opfer ausgesucht. Schon wieder der arme, kleine Punk. Inständig hoffte FX, dass er diesmal nicht gefoltert werden würde, wie vor gut einem Jahr im Kerker der Universität.

Zu allem Überfluss hatte ihm Eggsy dann auch noch verboten, in der Zeit zurückzureisen und das Geschehene einfach ungeschehen zu machen. Es wäre für FX ein Leichtes gewesen, ein Stündchen in die Vergangenheit zu reisen, Henne vor dem Typen zu retten und dann die Zeit wieder weiterlaufen zu lassen. Niemand, nicht einmal einer der anderen Zweiundvierzig hätte es bemerkt. Dafür war FX einfach ein Profi, der sich unbemerkt in der Zeit bewegen konnte, selbst seinen eigenen Leuten gegenüber.

Aber nein, Eggsy hatte sich so vehement dagegen gestemmt, dass FX ihm nur sehr widerwillig Folge leistete. Vermutlich führte Eggsy wieder einmal etwas im Schilde mit ihm. Er gab ja niemals auf und versuchte ständig, seine Ausbildung weiter zu vervollkommnen, obwohl er selbst sie schon vor sehr langer Zeit für beendet erklärt hatte. In einem Nebensatz erwähnte er nur mehrfach, dass der wahre Grund der Entführung ermittelt werden musste. Das Motiv. Sonst bestünde ein ums andere Mal die gleiche Gefahr, dass sich solch ein schreckliches Ereignis wiederholen könnte.

Im Gegensatz zum ersten Mal, bei dem Hennes Entführung zwar ein Streich war, wenn auch ein krasser, musste es sich bei diesem Male um etwas schwerwiegenderes handeln. Allein die Tatsache, dass Henne einfach so verschwunden war, deutete auf potentere Mächte hin. Und, da gab FX seinem Meister nur widerwillig Recht, bestand durchaus die Gefahr einer Wiederholung, wenn man nicht die wahren Gründe an den Tag brachte. Oder besser gesagt den wahren Verursacher zur Strecke brachte.

Weil hier offensichtlich starke und unbekannte Mächte lauerten, hatte sich FX entschieden, diesmal nicht auf die Hilfe von Ben oder Michel zurückzugreifen, um sich gemeinsam, wie seinerzeit an der Universität, auf die Suche nach Henne zu begeben. Es war ihm schon unangenehm genug, Michel um seine Fähigkeiten der Präkognition zu bitten. Idealerweise wollte er die beiden da dieses Mal komplett raushalten. Wobei er sich selbst in Gedanken korrigierte, weil es mit Sicherheit kein nächstes Mal geben würde. Nie wieder würde er es zulassen, dass einer seiner Freunde entführt wurde. Noch dazu von einem Geschöpf mit außerordentlichen Fähigkeiten. Ja, auch seine Freunde hatten allesamt ganz besondere Fähigkeiten, aber dennoch sollten sie nie wieder ein Opfer von anderen werden. Nie wieder.

Umso erfreuter war FX, dass Emil als Überraschungsgast des Abends zugegen war und spontan seine Hilfe angeboten hatte. Er vertraute Emil, zumindest hatte sich FX jetzt dafür entschieden, dass man diesem doch noch recht Fremden und Unbekannten vertrauen konnte. Ob er wirklich richtig lag, würde die Zukunft zeigen. In der Regel irrte er sich nicht, was Freund-Feind-Entscheidungen anbelangte. Daher war er guter Dinge, dass Emil ihn nicht enttäuschen würde. Im Gegenteil, FX hoffte, dass Emil Fähigkeiten haben könnte, die vielleicht gegen diese fremden Mächte hilfreich waren. Emil schien zu ahnen, auf was er sich hier einlassen würde. Das konnten FX’ Freunde definitiv noch nicht abschätzen, weshalb er Emils Anwesenheit bei der Rückholaktion definitiv bevorzugte.

Obwohl Henne erst vor wenigen Minuten verschwunden war, und sie bis dahin alle noch ausgelassen auf der Tanzfläche oder der Bar gestanden haben, kam FX die Strandparty schon Dekaden weit weg vor. Dabei saß er hier an der Abbruchkante und beobachtet das im Takte von Johannes’ Musik hüpfende Gemenge live aus nur geringer Entfernung. Die Musik drang in angenehmer Lautstärke zu ihm herüber und er würde vermutlich im Takte der Musik mit dem Fuß wippen, wäre die Situation nicht so ernst. So war die Erinnerung an die Freude und den Spaß am Tanzen und Anbaggern schon fast verblasst. Hennes Verschwinden hatte seinen Fokus verschoben.

„Es ist ein Schattengeschöpf!”

Vor Schreck zuckte FX zusammen. Man konnte ihn für gewöhnlich nicht erschrecken, da er durch seine Ausbildung immer auf alles gefasst war. Aber Emil war so schnell wieder aufgetaucht wie er zuvor verschwunden war, dass selbst FX es nicht bemerkt hatte. Anscheinend trug er die Bezeichnung Schattenjäger zu Recht. Wie es sich für einen Jäger gehörte, war er schnell und lautlos, um seine Beute nicht zu vertreiben. FX war froh, dass er offensichtlich auf der richtigen Seite stand. Dennoch machte sich wieder ein kleines Ziehen in seiner Magengegend bemerkbar, wie er es schon häufiger in Emils Gegenwart hatte, wenn er unvorhergesehene Dinge tat.

„Meine Fresse, musst Du mich so erschrecken?”

„Entschuldige, das wollte ich nicht, aber wenn ich laut und polterig wäre, wäre ich schon lange tot.”

„Wie alt … Ach, egal. Das ist hier und heute unwichtig. Hat jedenfalls geklappt. Ich hab nur selten jemanden so schnell und lautlos verschwinden und wiederkommen sehen wie Dich gerade.”

„Wie gesagt: Wir sind Schattenjäger. Wenn wir nicht schnell und leise sind, sind wir tot.”

„Wo warst Du?”

FX entschloss sich, seiner Neugierde nicht weiter nachzugehen und verzichtete darauf nachzufragen, was oder wer genau Emil und seine Freunde denn so schnell umbringen würde. Diese Frage hob er sich stattdessen für später auf, wenn sie denn wieder ruhigeres Fahrwasser erreichen würden.

„Zuhause. Ich musste schnell ein paar Nachforschungen anstellen.”

Emil setzte sich zu FX auf den Boden und starrte auf die tanzende Menge unten am Strand. FX hingegen ärgerte sich ein wenig, dass er Emil gerade offensichtlich jede noch so kleine Information aus der Nase ziehen musste. Seiner Meinung nach war Zeit schinden in dieser Situation definitiv fehl am Platze.

„Verstehe. Zuhause. Du bist also nicht nur schnell, sondern sehr schnell.”

„FX, willst Du jetzt wissen, was ich herausgefunden habe, oder wollen wir weiter Smalltalk betreiben und uns über die Fähigkeiten der Schattenjäger und unsere Arbeit plaudern?”

„Du hast mit Deinem Tod angefangen! Das würde ich nicht unbedingt in die Schublade ‚Smalltalk’ stecken.”

„Ich gebs auf.” Emil strich sich eine blonde Strähne hinters Ohr, bevor er fortfuhr. „Es ist ein Schattengeschöpf, ein Zeitfresser.”

„Ein was?”

FX, der im Schneidersitz nur eine Hand breit von der Abbruchkante entfernt auf dem Boden saß, hüpfte aus dem Sitzen seitwärts weg von Emil und drehte sich dabei so, dass er ihm frontal gegenübersaß. In diesem Augenblick hatte er seine volle Aufmerksamkeit auf Emil gerichtet. Seine blauen Augen schienen in der Nacht zu leuchten und bohrten sich förmlich in die von Emil hinein.

Diesen Begriff hatte er noch nie in seinem Leben gehört, konnte ihn daher auch nicht richtig einordnen. Aber der Name an sich ließ nichts Gutes erahnen und war vermutlich auch selbsterklärend. Sorge breitete sich in FX aus. Aber er war jetzt, da der Gegner identifiziert war, erst recht auf das Problem fokussiert und versuchte so schnell wie möglich eine Lösung zu erfinden.

„Ein Zeitfresser. Vereinfacht gesagt saugen sie anderen Menschen die Lebenszeit aus dem Körper und verlängern somit ihr eigenes Leben. Wenn sie genug zu fressen bekommen, dann leben sie ewig und töten eine Unmenge an Menschen. Und glaub mir, das ist kein schöner Tod, wenn Du am eigenen Leib im Schnelldurchlauf siehst, wie Du ein Greis wirst. Sie schnappen sich einen Zwanzigjährigen und wenn sie mit ihm fertig sind, kommt er zurück mit dem Körper eines Neunzigjährigen und stirbt alsbald.”

„Klingt gruselig.”

FX schüttelte sich, weil ein Schauer über seinen Rücken lief. Seine Dreadlocks tanzten dabei wild um seinen Kopf herum, was im Flackerlicht der Stranddisco noch verrückter aussah. Nur sehr schwer konnte er sich vorstellen, wie dieses Monster an einem nagte und einem die Lebenszeit aussaugten, wie ein Vampir das Blut. Von so einem Wesen hatte er noch nie gehört und seine Meinung stand fest, dass diese Art von Geschöpfen nichts auf dieser Welt verloren hatten, zumal sie ganz offensichtlich sehr grausam waren.

„Ist es auch. Wie jagen sie schon seit Urzeiten, aber man kann sie nicht umbringen. Sie müssen einfach alt werden und dann daran sterben. Wir haben in all den Jahrhunderten keine andere Möglichkeit gefunden. Wir jagen sie, sperren sie ein und vergessen sie dann. Man lässt sie quasi verhungern.”

„Klingt doch einfach.”

„Ist es aber nicht. Darin liegt das Problem! Sobald sie jemanden schnappen, saugen sie ihn aus und Schwupps, leben sie nochmal ein paar Jahrzehnte länger. Und wenn sie einen von uns erwischen, dann sind es gleich ein paar Jahrhunderte! Und sie sind sehr wandlungsfähig, wie Du ja schon herausgefunden hast. Und hinterhältig. Sie haben ihre Taktik über tausende von Jahren verfeinert, weil jedes einzelne Individuum sehr, sehr alt ist. Sie können auf eine Unmenge an Erfahrung zurückgreifen.”

„Wie alt … Ach egal. Du meinst also, der Typ hat Henne geschnappt und saugt ihn nun aus wie eine Spinne ihr Opfer? Und dann? Was meinst Du eigentlich genau mit ‘wandlungsfähig’? Können sie ihre Gestalt verändern?”

So schnell wie die Fragen in seinem Gehirn entstanden, konnten er sie gar nicht aussprechen. FX war klar, dass er den Gegner nur besiegen konnte, wenn er möglichst alles über ihn wusste. Jedes noch so unwichtige Detail könnte im entscheidenden Augenblick der Vorteil sein, der ihm zum Sieg verhelfen würde. FX brauchte Informationen. Und eigentlich brauchte er auch Zeit, um all dieses Neue zu verarbeiten und zu analysieren. Zeit, die er nicht hatte, weil Henne ebenfalls keine Zeit hatte.

„Wir dachten, wir hätten sie alle erwischt. Früher war es schlimm, da gab es extrem viele und es war sehr gefährlich. Aber wir haben sie irgendwann vernichtet. Aber es scheint immer noch ein paar wenige von ihnen zu geben. Sie haben ihrerseits weiter dazugelernt. Jetzt haben wir vermutlich wieder einen vor der Flinte. Irgendwo hier. Es passt zumindest genau ins Schema: Die Opfer verschwinden urplötzlich und tauchen dann ein paar Tage oder Wochen später wieder auf. An derselben Stelle, wo sie verschwunden waren. Aber uralt. Und dann sterben sie innerhalb weniger Stunden oder Tage an Altersschwäche. Erinnern kann sich niemand an etwas Besonderes. Sie trafen einen Menschen, taten belanglose Dinge und schwupps waren sie alt. Dazwischen gibt es keine Erinnerungen, obwohl genau dieser Teil nachweislich mindestens ein paar Tage dauerte. Wir konnten nie herausfinden, was genau mit ihnen wo und wie angestellt wird. Wir haben die Zeitfresser nie mit einem Opfer zusammen erwischt, sondern immer nur bevor oder nachdem sie jemanden in der Mangel hatten.”

Ein weiterer Schauer lief FX den Rücken hinunter. Noch nie hatte er von so einem schrecklichen Monster gehört oder gelesen, was ihn sehr verwunderte. War er doch Experte bei allem, was irgendwie mit Zeit zu tun hatte. Zumindest glaubte er das bis zu diesem Moment. Nie hatte einer der Zweiundvierzig jemals von einem Monster berichtet, welches die Lebenszeit anderer Menschen in sich aufsaugte. FX mochte sich gar nicht ausmalen, was passieren würde, wenn aus einem dummen Zufall heraus einer aus ihrer Gruppe ein Opfer eines Zeitfressers werden würde. Für dieses Geschöpf wäre es definitiv ein Sechser im Lotto gewesen, müsste es sich um künftige Lebenszeit keine Sorgen mehr machen, sondern würde von dem Augenblick an schlichtweg ewig leben.

Es war keine Angst, die in ihm aufstieg, aber ein bisschen Sorge um seinen Freund machte sich schon breit. Denn jetzt war klar, dass, je länger sie warteten, desto länger würde Lebenszeit aus Henne heraus gesaugt werden, desto älter wäre er, wenn sie ihn endlich befreit hätten. FX hatte nun mehr Sorge als noch vor wenigen Augenblicken. Irgendwie wäre ihm eine klassische Entführung jetzt deutlich lieber gewesen. Zumal jetzt die Zeit wirklich drängte. Eile war geboten.

Erneut kam ihm der einfache Gedanke in den Sinn, eine Stunde in der Zeit zurückzuspringen, dem Kerl eins in die Fresse zu schlagen und Henne vor ihm zu retten. Jetzt, wo sie wussten, wer hinter diesem Akt der Barbarei steckte. Aber zusammen mit diesem Gedanken erwachte ein weiterer in seinem Kopf und der hatte Eggsys Stimme, die ihn wieder ermahnte, eben dies nicht zu tun. FX wusste, dass es nicht Eggsys Stimme in seinem Kopf war, weil er ihn vorsorglich ausgesperrt und blockiert hatte. Dennoch war sein Meister durch die Ausbildung immer präsent, weshalb er ihn schon oft verflucht hatte.

„Also, was können wir tun?” Auffordernd blickte FX zu Emil. „Was weißt Du über diese Typen, wie können wir ihn fertig machen und noch viel wichtiger, wie können wir Henne retten?”

Die weiteren Informationen, die Emil zu bieten hatte, waren eher ernüchternd und je länger er berichtete, desto tiefer zeigten FX’ Mundwinkel gen Boden. Also so konnte das nichts werden, dessen war sich FX sicher. Emil und seine Schattenjäger-Truppe schien in diesem Falle eher eine Hau-Drauf-Mentalität zu haben anstelle eines ausgeklügelten Plans. FX bezweifelte, dass sie so in der Lage wären, Henne jemals lebend aus der Situation zu befreien. Zumal auch die Schattenjäger noch niemals ein Opfer aktiv aus der Gewalt eines Zeitfressers befreit hatten. Sie wussten schlichtweg nicht, wo sie sich versteckten, wie sie die Lebenszeit aussaugten oder welche Gewohnheiten diese Biester sonst noch hatten. FX beschlich der Gedanke, dass die Schattenjäger eigentlich gar nichts wussten. Die einzige Chance, sie zu erwischen schien derzeit, sie in flagranti zu ertappen. Was wiederum aber für Henne zu spät war. Um seine Frustration etwas zu kaschieren, fuhr FX mit der Hand durch seine Dreads und mischte sie gehörig auf. Lichtblitze von Johannes Bühne hüllten ihn dabei in ein unwirkliches Flackerlicht.

„Fass mich mal bitte an.”

FX hatte sich unterdessen wieder von Emil weggedreht und blickte auf die tanzenden Menschen am Strand. Eigentlich wäre er jetzt viel lieber dort unten am Tanzen, aber es sollte nicht sein. Dafür hatte er eine Idee, die sie vielleicht einen Schritt näher an ihr Ziel bringen konnte.

„Neee, nicht meine linke Hand, die brauche ich gleich noch. Es ist eigentlich egal, wo Du mich anfasst, es muss nur Haut auf Haut liegen.”

Vorsichtig aber bestimmt schüttelte FX die Hand von Emil ab, die dieser gerade auf seine eigene Hand gelegt hatte.

Emil stutzte, weil er nicht wusste, was FX vorhatte. Aber ihre Vereinbarung war, dass er das Sagen hatte. Daher nickte er nur stumm und wechselte von FX linker Seite auf dessen rechte. Emil spürte, dass sein Freund hier eine zündende Idee haben könnte, die ihrem nicht enden wollenden Kampf gegen die Zeitfresser vielleicht von Vorteil sein konnte.

„Ist das so okay für Dich?”

Emil saß jetzt direkt rechts Schulter an Schulter neben FX und hatte seinen Arm unter den von FX hindurch geschoben. Er verschränkte seine Finger mit denen von FX, die vorne aus seinem Gipsarm heraus schauten. Für FX fühlte es sich nicht unangenehm an, aber es war sehr ungewohnt. Nur selten nutzte er seine rechte Hand und noch viel seltener hatte er mit seinen Fingern Körperkontakt mit fremden Menschen.

„Du magst Hände, kann das sein?”

FX blickte mit einer hochgezogenen Augenbraue auf seinen Nachbarn.

„Ja, sehr. Sie verraten viel über den anderen, viel mehr, als die Menschen bereit sind zu erzählen. Und man hat in dem Bereich generell eine große Empfindlichkeit. Es ist eine wundervolle Möglichkeit, einen sehr intensiven Kontakt mit anderen Menschen herzustellen. Hände sind einfach toll.”

Emil spielte einen Augenblick mit FX’ Fingern, bevor er fortfuhr. Er nahm jeden einzelnen Finger von FX in die seinen und tastete ihn genau ab. Die Fingerkuppe, den Nagel, jedes einzelne Gelenk. Passend zur Körpergröße hatte FX sehr lange und dünne Finger, so dass Emil recht viel zu tun hatte, als er jeden einzelnen von der Spitze bis zu den Knöcheln neugierig abtastete.

„Und dieser Gips. Irgendwie spannend. Der ist innen ja ganz kuschelig und weich. Hätte ich gar nicht gedacht. Von außen ist er so schrecklich unkomfortabel und hart wie Beton. So unsympathisch irgendwie. Innen ist er komplett anders, fast schon angenehm.”

„Ja, wie ich: Außen hart und innen weich.”

Da FX als Antwort nur ein lustiges unterdrücktes Quieken bekam, fuhr er fort. Ohnehin drängte langsam die Zeit, denn niemand wusste so recht, wie schnell diese Zeitfresser beim Aussaugen waren.

„Die Sinne des Menschen sind begrenzt. Ebenso auch die Aufnahmekapazität des Gehirns. Wenn man mehr wahrnehmen möchte, ist es anfangs daher ratsam, andere Eindrücke zu reduzieren. Es ist ein bisschen vergleichbar mit einem blinden Menschen, der zur Kompensation sein Gehör deutlich besser trainiert hat, als die meistens anderen.”

„Hhhmmm.”

Ein für Emil typisches eintöniges Geräusch. Jeder andere Mensch würde die Tonhöhe variieren, so dass man zwischen einem fragenden und bestätigenden Geräusch unterscheiden konnte. Nicht so Emil. Bei ihm klang fast immer alles gleich und deswegen schwer zu interpretieren.

FX entschied, dass Emil ihm soweit folgen konnte und fing an, mit seiner linken Hand vor ihren Gesichtern zu wedeln, als wischte er eine Tafel sauber.

„Deswegen nutzen wir die Farben gleich für eine andere Information.”

Während FX weiter in der Luft herum wischte, verschwand das Partyvolk unten am Strand und das was blieb glich einem Röntgenfilm. Nicht ganz schwarzweiß, sondern eher mit einem leichten Blaustich versehen, tanzte die Menge unten unbehelligt weiter, als sei nichts geschehen. Allerdings waren die Farben verschwunden.

„Das, mein lieber FX ist wiederum ziemlich beeindruckend!”

Emil betrachtete die tanzende Menschenmasse und stellte fest, dass sie auch in diesem schwarz-weiß nicht mehr ganz so bunt und farbenfroh waren, was aber dem Eindruck eines bunt durchgewürfelten Volkes nicht minder Abbruch tat. Es fehlte die Farbe, aber der Eindruck einer genialen Party war nach wie vor der Gleiche.

„Warte, es geht noch besser, denn jetzt geben wir neue Informationen ins Bild: Zeitliche Irregularitäten!”

FX schnipste mit den Fingern.

„Ich seh nichts.”

Emil kratzte sich am Kopf und strich erneut eine Strähne aus seinem Gesicht nach hinten. Sein Blick schweifte über die bläulich-weiße tanzende Menschenmengen. Aber er erkannte keine Auffälligkeiten. Alles sah genauso aus, wie vor wenigen Augenblicken.

„Doch, guck nach rechts zur Strandbar.”

FX wies in die Richtung von Eggsys Kiosk.

„Oh, die beiden süßen Barkeeper sind ja ganz heiß!”

Emil hatte Eggsys Barkeeper bemerkt, die nicht wie die übliche Menschenmasse in graublau zu sehen war, sondern die signalrot leuchteten.

„Bingo! Nur, dass das Rot keine Temperatur darstellt, sondern ein Zeichen ist, dass diese Menschen nicht in diese Zeit gehören. Sie haben eine unpassende temporale Signatur, weshalb sie jetzt so auffallen.”

„Ach, Du meinst, dass Eggsy sie aus der Zukunft eingeflogen hat?”

„Zumindest den Rechten der beiden. Der Linke kommt aus den 70ern. Hätte man aber notfalls auch an der Kleidung erkennen können. Die ist echt, nicht Retro. Aber sie gehören beide nicht ins Jetzt, sie sind tatsächlich von Eggsy engagiert und extra dafür nach Absprache hierher gebracht worden.”

„Das ist doch total abgefahren. Und wo ist Eggsy? Man sieht ihn gar nicht. Müsste man ihn und den DJ nicht auch erkennen, wenn Du zeitliche Anomalien jetzt einfärbst?”

Emil war sich sicher, dass auch Eggsy hinter dem Tresen stehen müsste und genau wie seine beiden Barkeeper fleißig Cocktails mischen sollte. Doch er konnte ihn weder dort noch irgendwo anders ausmachen.

„Wir Zweiundvierzig gehören nirgendwo hin und fallen nirgendwo auf. Wir sind die Joker im Spiel und in dieser Ansicht hier unsichtbar. Wir haben keinerlei temporale Signatur und sind damit unsichtbar.”

FX zeigte zur Bestätigung auf die schwimmende DJ-Insel im Wasser, wo in dieser Projektion niemand hinter dem Mischpult stand, da auch Johannes einer der Zweiundvierzig war.

„Klingt aber auch etwas traurig, oder?”

Überrascht blickte Emil in FX’ Gesicht.

„Lange Geschichte. Kennst Du aber vermutlich in ähnlicher Form. Und es hat durchaus Vorteile, wenn man unsichtbar ist. Und ich hab ja nicht gesagt, dass wir immer unsichtbar sind.”

„Stimmt.”

Emil ließ sich zu einer seltenen Gefühlsregung hinreißen und seufzte leise, bevor er fortfuhr.

„Aber der Zeitfresser ist nicht da.”

„Jetzt enttäuscht Du mich aber, Emil. Das hätte ich nicht von Dir erwartet. Guck noch mal genauer.”

„Das dort drüben ist doch …”

„… Michel. Der gehört hier zwar in diese Zeit, fällt aber durch seine Fähigkeit zur Präkognition auf. Er kann begrenzt in die Zukunft blicken, hat also eine gewisse Affinität mit der Zeit und ist damit auch eine gewisse temporale Anomalie. Wenn auch nicht so krass wie die beiden Barkeeper. Deswegen leuchtet er auch nicht so in Alarmfarben, sondern ist ganz dezent in diesem dezenten grünlichen Ton. Aber den suchen wir gar nicht. Also, wo ist unser Zeitfresser?”

FX wies auf einen Typen, der offensichtlich gerade sehr viel Spaß auf der Tanzfläche hatte und ein beeindruckendes Solo aufs Parkett legte. Der Typ genoss es ganz offensichtlich, im Mittelpunkt zu stehen, sich von anderen antanzen zu lassen und ihnen auch gerne mal eine Abfuhr zu erteilen.

„Aber der leuchtet doch gar nicht rot.”

Emil klang ein bisschen verwirrt.

„Nein, tut er nicht. Aber er versucht ganz offensichtlich etwas zu verheimlichen. Sieh genau hin: Mal ist er etwas heller als die umstehenden Jungs und dann wiederum eine Spur dunkler. Seine Helligkeit pulsiert etwas und er ist der Einzige, bei dem das passiert. Irgendetwas will er kaschieren, ist aber nicht besonders gut darin. Und da er vermutlich ein Zeitfresser ist, hat er auch eine Affinität zur Temporalität und kann sie auch in einem gewissen Ausmaß beeinflussen.”

So gerne er auch Emils Finger weiter zwischen seinen gespürt hätte, sein Puls war nun auf 180 und er war bereit, den Übeltäter zu stellen. Er wusste noch nicht, was er mit ihm anstellen würde. Diverse Horrorszenarien huschte durch seinen Kopf, doch war FX genug bei Sinnen um seine Emotionen und Rachegelüste im Zaum halten zu können.

Er sprang auf und als sich ihre Berührung löste, verschwand für Emil das graublaue Bild des schwulen Partyvolkes am Strand und ihm erschienen wieder die verrückt tanzende Menschenmenge. Emil brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um sich wieder an die neue Situation zu gewöhnen. Er bedauerte sehr, dass ihm dieser Filter gerade genommen worden ist, war es doch sehr spannend gewesen. Zu gerne wäre er etwas mehr ins Detail gegangen und hätte sich die einzelnen Menschen genauer angeschaut. Aber sie waren anscheinend fündig geworden und damit hatten sie nun eine ganz konkrete Aufgabe.

„Komm mit runter!”

Von einen auf den anderen Augenblick verschwand FX von der Abbruchkante und tauchte etliche Meter weiter unten am Strand wieder auf.

Er spürte einen leisen Luftzug im Nacken und drehte sich um. Offensichtlich war Emil nicht minder langsam und gerade die Klippe heruntergesprungen. Nahezu geräuschlos landete er neben ihm im Sand. Anerkennend zog FX eine Augenbraue hoch und blickte seinem blonden Gegenüber an.

„Das waren etwas mehr als zwanzig Meter. Keine Herausforderung für mich.”

Emil nickte in Richtung Tanzfläche, ließ aber FX den Vortritt, was er kurz darauf schon wieder bereute, denn FX legte mit seinen langen Beinen ein unglaubliches Tempo im Sand vor, so dass Emil ein bisschen Mühe hatte, mit ihm mitzuhalten und ihn im Discolicht nicht zu verlieren.

Von der Seite näherten sich die Beiden dem Partyvolk. Jetzt mussten sie sich nur noch durch die Menschenmassen einen Weg zur Tanzfläche bahnen, wo der Typ immer noch fleißig seine Performance abspulte. Aber durch seine Entschlossenheit und nicht zuletzt aufgrund seiner beeindruckenden Größe machten alle FX bereitwillig Platz, so dass sich ganz automatisch ein Weg durch die Menge bildete, dem er nur folgen musste. Emil seinerseits folgte ihm einfach im Windschatten mit kleinem Abstand. Nach ihm schloss sich die Menge wieder, als sei nichts geschehen und so pflügten sich die beiden durch die tanzenden Tunten.

Schließlich erreichte FX das Zentrum der Tanzfläche und hatte den Übeltäter auch schon ausgemacht. Durchschnittliche Größe aber ein perfekt trainierter Körper. Ein Schönling, der sich für diese Party noch einmal extra herausgeputzt hatte mit seinen perfekt frisierten Haaren und akkurat gezupften Augenbrauen. Er war geschminkt, aber FX war sich sicher, dass das gar nicht nötig war, denn auch unter dem Hauch an Mascara war bestimmt eine makellose und angenehm gebräunte Haut. Der Kerl sah gut aus. Übertrieben gut! Kein Wunder, dass die meisten des schwulen Partyvolkes ihm zu Füßen lagen und er von einem nach dem anderen angetanzt wurde. Der Kerl spielte mit allen ihn Umgebenen und vollführte geradezu einen Tanz, der einem balzenden Tier glich.

Als sich FX schließlich den Hintergrund dieses Geschöpfes wieder ins Gedächtnis rief, wurde aus dem makellosen Gesicht eine hässliche Fratze. Er ließ sich nicht blenden von dem Schein, den dieses Wesen ausstrahlte, sondern war nun in der Lage, den Bann zu durchbrechen und hinter die Maske zu schauen.

Da war er also, der Zeitfresser, der vermutlich Henne in seine Gewalt gebracht und versteckt hatte. FX brauchte nicht das Hilfsmittel, was er Emil zur Verfügung gestellt hatte, um zu sehen, dass der Kerl hier nicht in diese Zeit gehörte, dass er eine Irregularität war. Er sah dessen jämmerlichen Versuch es zu kaschieren, auch ohne die Farben auszulöschen. Dieses Wesen gehörte weder in diese Zeit, noch hatte es die Berechtigung, anderen Menschen die Lebenszeit zu stehlen und sie so zum Tode zu verurteilen.

FX trat einen Schritt auf die Tanzfläche und machte nicht einmal den Versuch, sich im Takte der Musik zu bewegen oder sein Vorhaben anderweitig zu kaschieren, sondern ging mit wenigen Schritten gezielt auf den Kerl zu. Da dieser damit beschäftigt war, mit einem anderen tanzend zu spielen, hatte er FX gar nicht bemerkt und so war es für ihn umso überraschender, als FX mit langem Arm zugriff und er mit seiner großen Hand von unten den Unterkiefer des Zeitfressers packte und ihn gnadenlos festhielt.

Er hatte ihn erwischt und dabei vollkommen überrascht. Ganz unvorbereitet konnte FX ihn packen und griff fest zu, damit der Zeitfresser keinerlei Chance hatte, ihm zu entwischen. Allerdings wusste er nicht, ob er schon durch eine simple Berührung dieses Biests einer Gefahr ausgesetzt war oder nicht. Weder konnte Emil ihm das im Vorhinein sagen, noch spürte er positive oder negative Zeichen. Er spielte gerade mit maximalem Risiko, war sich dessen aber auch bewusst. Da die Zeit gerade gegen ihn spielte, war er bereit, dieses Risiko zu akzeptieren.

Dieser Griff war so einfach wie effektiv. Es war einer seiner liebsten Handgriffe, um sein Gegenüber in Schach zu halten. Durch seine langen Arme konnte FX fast jeden damit auf Distanz halten und ihn dennoch an der Flucht hindern. Der Trick dabei war lediglich, beherzt und fest zuzugreifen, um so seinem Opfer klar zu machen, dass es kein Entkommen gab. Denn es benötigte nur etwas mehr an Kraft, um den Unterkiefer des anderen zu brechen. Und so etwas tat höllisch weh. Je dichter die Schmerzen am Kopf waren, desto stärker war das Empfinden und desto effektiver war das Ergebnis. Das Ergebnis war, dass derjenige zumeist in eine Art Schmerzstarre verfiel und FX somit ungeteilte Aufmerksamkeit erntete.

Die Augen weit aufgerissen, starrte ihn der Typ an. Das Überraschungsmoment war definitiv auf FX’ Seite und nun wusste er auch, warum der Kerl den süßen Spanier übernommen hatte, um sich an Henne heranzuschleichen. Der Kerl hatte tatsächlich Kontaktlinsen in Form von Katzenaugen eingesetzt! Mit so einem Kinderkram konnte man vielleicht das allgemeine schwule Partyvolk um den Finger wickeln, aber Henne liebte dann doch eher das bodenständige und ehrliche. Mit seiner derzeitigen Maskerade hätte der Zeitfresser Henne definitiv nicht imponieren können. Als knackiger Spanier hingegen schon.

Blieb jedoch weiterhin die Frage nach dem Motiv. FX konnte sich nicht erklären, warum ausgerechnet Henne das Opfer war, wenn dieser Zeitfresser hier doch nahezu jeden haben konnte, den er wollte. Das ergab in seinen Augen zunächst keinen Sinn.

Die Katzenaugen blitzten auf und der Kerl hatte die Schrecksekunde überwunden. FX spürte wie eisige Kälte durch seine Fingerspitzen in seine Hand strömte. Eine bittere Kälte breitete sich in Windeseile aus, als fasste man im Winter gefrorenes Eisen an. Man verbrannte sich sprichwörtlich die Fingerspitzen daran. Und genau wie an gefrorenem Eisen konnte FX seine Hand nicht reflexartig zurückziehen. Seine Finger klebten quasi am Gesicht seines Gegenübers fest und er spürte, wie die Eiseskälte seine Hand umschloss und scheinbar unaufhaltsam den Arm hinauf wanderte.

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