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Quartett

Teil 40 - Tasche

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46. Tasche

FX sah die mannshohe haarscharfe Linie direkt vor seiner Nase. Sie leuchtete blass, wirkte jedoch nicht bedrohlich. Sie leuchtete auch in keiner bestimmten Farbe, sie war einfach nur da. Eigentlich müsste er Angst haben, dachte er bei sich. Hatte er aber nicht. Aufmerksam horchte er in sich hinein, auf der Suche nach alarmierenden Gefühlen, fand jedoch nichts. Weder Angst, noch Sorge oder Unsicherheit. Gleich diese Linie zu durchschreiten fühlte sich so selbstverständlich an, als sollte er einen Zebrastreifen überqueren. Diese Selbstverständlichkeit war es, die ihm zwar Unbehagen und doch ein Gefühl von Sicherheit bereitete.

Also schritt er voran, auf die Linie zu, in die Linie hinein. Den Erzählungen nach konnte man ein Taschenuniversum nur betreten, wenn man den Eingang im exakten Winkel traf. Ein Taschenuniversum existierte ausschließlich auf der Linie und nur vom richtigen Winkel aus. Man konnte beliebig dicht um diese Linie herum gehen, ja man könnte sie sogar als Stange verwenden, um beispielsweise erotische Tänze daran vorzuführen. Wenn man sie denn hätte greifen können. Sie war da, aber auch wiederum nicht. Ohnehin konnte man den Eingang zu einem Taschenuniversum kaum sehen, wenn man nicht über die entsprechenden Fähigkeiten verfügte. Und um hinein zu gelangen, musste man den vierdimensionalen Einstiegsvektor treffen. Nur aus der richtigen Zeit und Richtung kommend, würde man es schaffen, hinein zu gelangen. So die Theorie nach den vagen und blumigen Berichten der anderen.

Eines war sicher: Den richtigen Zeitpunkt hatten sie erwischt, denn sonst hätte FX den Eingang gar nicht erst gesehen. Jetzt galt es nur noch, den richtigen Weg zu nehmen; dreidimensional wohlgemerkt, denn es war nicht klar, ob man vom Boden aus hinein kam. Ebenso hätte man auch hinein fliegen oder aus der Erde herauf kommend in das Taschenuniversum einsteigen müssen. Aber FX war sich sicher, dass das Biest von Zeitfresser solch komplexe Ideen nicht haben würde. Da er ausgiebig in dessen Verstand herum gesucht hatte, war er sich sicher, dass dieses schreckliche Wesen eher einfach gestrickt war und damit der Eingang in das Taschenuniversum ein simpler Gang über den Strand war. Lediglich die Richtung musste stimmen.

FX hielt inne, schloss die Augen, drängte seine ohnehin gerade nur spärlich vorhandenen Gefühle ganz in den Hintergrund und öffnete sich dem Raum. Aber soweit brauchte er es gar nicht kommen lassen. Kaum, dass er seine Augen geschlossen hatte, war ihm der Weg in die Linie des Taschenuniversums klar. Man musste lediglich parallel zum Wasser gehen, drei Meter vor dem Strich im rechten Winkel den Strand hinauf gehen und sich von der Linie entfernen. Dann nach zwei Schritten wiederum schräg direkt auf die Linie zu laufen. Man musste schlichtweg nur einen Haken schlagen. Mehr war es nicht. Etwas enttäuscht war er schon, dass dieses Monster mit seinen morbiden Absichten nur solch einen billigen Schutz für seinen Schatz vorsah. Aber es sollte ihm recht sein.

Emil musste er gar nicht großartig hinter sich her ziehen. Er war sich ziemlich sicher, dass Emil weder die Linie sehen, noch den Pfad spüren konnte. Dennoch folgte Emil ihm, als kenne auch er den korrekten Weg. Es war eher, als könne er durch ihn hindurch ebenfalls den richtigen Weg lesen. Vermutlich lag es daran, dass Emil immer noch seine Hand festhielt und dieser Körperkontakt einen Teil seiner Fähigkeiten auf ihn erweiterte. Vielleicht. Zurzeit konnte und wollte FX jedoch keinen weiteren Gedanken daran verschwenden.

Fast wie bei einer Polonaise schritten sie den vorgegebenen Pfad ab, der sie durch die Linie in die neue Welt führen sollte. So ging es ganz einfach hinein in das Taschenuniversum. FX war kurz verwirrt, dass es derart einfach war, als ginge man durch ein weit geöffnetes Tor. Doch dann kam ein Widerstand. Als ob es enger werden würde. Als ob sich das Tor rapide verengte und ihn nahezu umschließen wollte. Als würde ihn dieser Eingang quasi umarmen oder, viel schlimmer noch, erdrücken. Er musste etwas Kraft aufwenden, um vorwärts zu kommen. Dennoch: obwohl diese allumfassende Umarmung sehr stark war, kostete es nur wenig Kraft sie zu überwinden. Es war schon paradox, denn sogleich merkte FX, dass es wieder einfacher wurde.

Blubb.

FX war drin. Er war tatsächlich im Taschenuniversum dieses Monsters. Er hatte das Versteck gefunden. Diese Parallelwelt existierte also wirklich!

Blubb.

Emil war drin.

Ungläubig blickten sie einander an. Keiner traute sich als erster etwas zu sagen. Sie blickten umher, hielten sich nach wie vor an den Händen. Ganz automatisch, wie es in die DNS ihrer Krieger-Gene einprogrammiert war, sondierten sie aufmerksam die Umgebung. Hielten Ausschau nach Feinden oder anderen Gefahren für sich und ihr Leben.

Das Meer rauschte nach wie vor leise. Auch die Musik der Party drüben war weiterhin zu hören. Es schien sich nichts verändert zu haben, nachdem sie durch die Linie hindurch gegangen waren. Rein gar nichts. Außer den kaum merkbaren Widerstand mit dieser eigenartigen Umarmung durch den Raum gab es keinerlei Anzeichen, dass sich irgendetwas um sie herum verändert haben könnte. Aber es musste sich etwas geändert haben, dessen waren sich beide sicher. Sie hatten es nur noch nicht gefunden.

„Ich weiß es nicht.”

FX hatte bemerkt, wie Emil gerade etwas fragen wollte und er kam ihm mit der Antwort zuvor, obwohl er gar nicht wusste, was Emil wirklich fragen wollte und ob diese Antwort stimmen könnte.

„Aber eines ist gewiss: Das, was man hier sieht, ist nicht alles echt! Es sieht zwar echt aus, es riecht auch echt und klingt genauso wie drüber in unserem Universum, aber ...”

FX ließ Emils Hand los. Er war sich sicher, dass es hier weder für sie noch für Henne eine unmittelbare Gefahr gab. Hier konnten sie sich ungefährdet bewegen, das wusste er. Jedoch barg dieser unwirtliche Ort ein ganz anders Problem, welches er Emil nun demonstrieren wollte.

Er streckte Emil seine Handfläche entgegen und deutete ihm damit an, dort stehen zu bleiben wo er gerade stand. Er selbst hingegen ging von ihm weg, immer am Wasser entlang in die Richtung, wo ihre Zelte standen.

„… es ist alles ganz klein.”

„Was zum … Wieso kommst Du plötzlich von hinten?”

Emil erschrak, als FX plötzlich hinter ihm stand. Gerade eben noch war er in der Dunkelheit verschwunden. Als Schattenjäger hatte Emil exzellente Augen, die auch in nahezu absoluter Dunkelheit Dinge immer noch ausreichend genau erkennen konnte. Aber FX war viel zu schnell in der Dunkelheit verschwunden, als das in seiner Welt normalerweise passieren würde. Schon nach wenigen Metern war er buchstäblich von der Dunkelheit verschluckt worden. Stattdessen stand er plötzlich hinter ihm.

„Die Theorie stimmt also. Genial! Ein Taschenuniversum ist grenzenlos, aber nicht unendlich!”

„Hä?”

„Diese Welt hier hat keine Grenzen. Man stößt gegen keinen Zaun, es gibt keinen Abgrund oder keine Wände. Man kann ungehindert weiter geradeaus gehen. Grenzenlos halt.”

„Okay, verstanden. Weiter.”

„Aber es ist nicht unendlich.”

„Ja, verstanden. Und warum bist Du plötzlich hinter mir gewesen?”

„Das wäre ich auf unserer Welt genauso. Allerdings hätte es etwas länger gedauert. Sieh mal: Wenn man auf einer Kugel immer geradeaus weiter läuft, dann kommt man zwangsläufig wieder dort heraus, wo man losgelaufen ist. Die Oberfläche ist definitiv nicht unendlich, allerdings grenzenlos.”

„Klingt logisch.” Emils Augen leuchtete plötzlich auf. „Nur, dass diese Weltkugel hier wesentlich kleiner ist, stimmt’s?”

„Korrekt Emil. Dieses Taschenuniversum scheint etwa zehn mal zehn Meter groß zu sein. Und der Mittelpunkt dieser winzigen Welt ist dieser pilzförmige Felsen hier.”

„Das ist ja überschaubar. Dann sollten wir Henne ja fix finden.”

Voller Vorfreude rieb sich Emil die Handflächen aneinander und stapfte zum Wasser hinunter, dem charakteristischen Felsen entgegen.

Mit deutlich weniger Zuversicht folgte FX ihm. Er hatte seinen Gipsarm vor der Brust und seine verbundene Hand unter dem anderen Arm eingeklemmt, damit er nicht das gesamte Gewicht des schweren Gipses mit einer Schulter tragen musste. Gleichzeitig kratzte er sich so unbewusst mit seiner linken Hand am Kinn und überlegte.

Irgendetwas stimmte hier dennoch nicht. Es war alles doch irgendwie zu einfach. Für FX war es ein Einfaches gewesen, das Taschenuniversum zu betreten. Auch war es nicht sonderlich versteckt. Und die winzigen Dimensionen machten es eher einfacher, denn schwieriger. Dieses kleine Universum von zehn Metern im Durchmesser war viel zu schnell durchkämmt. Theoretisch hätten sie Henne schon lange sehen müssen, denn so weit konnte man selbst in diesem halbdunklen Discolicht hier sehen. Es musste also noch mehr Fallstricke geben, die FX bisher offensichtlich übersehen haben musste.

„Hast Du ihn gesehen, als Du ein Mal hier durchs Bild gelaufen bist?”

Emil war, genau wie FX zuvor, nun ebenfalls ein Mal komplett durch das kleine Universum gegangen und tauchte unvermittelt neben FX wieder auf.

„Fühlt sich schon etwas komisch an, wenn man einmal um die Welt gelaufen ist und am entgegengesetzten Ende wieder auftaucht, oder? Man merkt gar nicht, dass man auf der anderen Seite wieder herauskommt. Ist das in unserer Welt auch so? Irgendwie fühlt es sich schon gruselig an, findest Du nicht?”

FX wollte zu einer Antwort ansetzen, obwohl er gar nicht genau wusste, was er dazu sagen sollte. Es ging ihn prinzipiell genauso. Es war hier in etwa so, wie im Weiß. Aber nur ein kleines Bisschen. Auch die Universelle Verbindung der Zweiundvierzig war grenzenlos, aber im Gegensatz zu dem Universum hier war sie tatsächlich unendlich, weil das Weiß schließlich alle Zeitstränge aller Universen miteinander zu verbinden vermochte. Dennoch konnte man auch im Weiß einfach in eine Richtung laufen und auch wieder am selben Punkt herauskommen. Bei seinen ersten Besuchen im Weiß hatte es ihn noch sehr verwirrt, aber da er wichtigeres zu tun hatte, beschloss er damals, sich davon nicht weiter irritieren zu lassen.

Jäh wurde er in seinen Gedanken durch Emil unterbrochen, noch bevor er ihm seine Frage beantworten konnte.

„Meine Fresse, diese Musik nervt aber schon etwas. Jetzt spielt Dein DJ-Freund schon zum dritten Mal das gleiche Lied hintereinander. Hat der Pause und seine Musikliste ist durchgelaufen oder ist er mit einem der Süßis am Poppen oder was?”

„Emil, tu mir einen Gefallen, und das ist jetzt für uns extrem wichtig!”

Dank Emils genervten Kommentar hatte FX durch Zufall herausgefunden, was hier nicht stimmte. Eigentlich war es total logisch, aber er hatte es nur nicht bemerkt.

“Zähl bitte mit, wie oft dieses Lied hier gespielt wird. Ich fürchte, es wird hier in diesem Taschenuniversum nur dieser eine Titel gespielt werden. Wir sind nicht nur in einem räumlich sehr engen Universum, sondern auch zeitlich auf mehr oder weniger drei Minuten begrenzt.”

„Nicht Dein Ernst, oder?”

„Doch. Du hast doch gerade selbst gesagt, dass der Titel schon drei Mal durchgelaufen ist. Und ich verwette meinen Gipsarm drauf, dass er auch noch ein viertes und sechstes Mal gespielt wird!”

“Danke, ich passe. Den kannste gerne behalten! Das nervige Ding würde ich ja sofort wegflexen. Aber klar, ich zähle gerne mit.”

“Ich fürchte außerdem, dass es noch viel schlimmer kommt. Schließlich haben wir Henne in dem kleinen Universum hier nicht gefunden. Man kann von hier aus alles sehen, was es gibt. Und wir sind hier auch schon jeder ein Mal komplett hindurch gelaufen. In beide Richtungen. Und? Genau. Wir haben Henne nicht gesehen! Ich vermute daher, dass es hier vielschichtiger ist.”

„Vielschichtiger?”

Emil kratzte sich fragend am Kopf ohne seine akkurat nach hinten gegelten Haaren durcheinander zu bringen. Er hatte eine Befürchtung, was FX damit ausdrücken wollte, hoffte jedoch inständig, dass er sich irrte.

„Ja, vielschichtiger im wahrsten Sinne des Wortes. Das selbe Universum diverse Male hintereinander oder übereinander oder ineinander. Ich weiß es nicht. Aber eines steht fest: dieser Typ ist jetzt nicht die hellste Kerze auf der Torte. Also hat er nicht das komplexeste Taschenuniversum entworfen. Um eine Flucht aber zu erschweren, verwirrt er die Bewohner dieser Welt einfach, indem er immer wieder das selbe Taschenuniversum ineinander steckt.”

„Matroschka.”

„Was?”

Jetzt war es FX, der sich am Kopf kratzte, wobei seine abstehenden Dreads dabei munter durcheinander tanzten und im Takte der sich ständig wiederholenden Musik wippten.

„Na diese russischen Puppen, die immer wieder ineinander gesteckt werden. Kennst Du bestimmt. Und jedes Mal, wenn man eine öffnet, dann ist eine neue drin. Es scheint bei den Puppen nie aufzuhören. Nur dass man sich da immer freut, wenn man noch nicht am Ende angekommen ist. Das freut uns hier eher weniger.”

„Ja, vermutlich so ähnlich. Nur, dass das Universum hier nicht immer kleiner wird. Hoffentlich.”

„Ups.”

„Und wir sollten zusammen bleiben.”

Zusammen umrundeten sie den pilzförmigen Felsen, der selbst FX noch deutlich überragte. Er stand in der seichten Brandung, so dass man problemlos um ihn herum gehen konnte, während das warme Wasser ihnen die Füße schmeichelte.

Eine weitere Runde gingen sie, jedoch ohne auch nur die kleinste Veränderung zu bemerken. Es folgte die nächste Runde: Hinunter ins flache Wasser mit den kleinen Wellen. Lediglich bis zu den Knöcheln reichte das warme Mittelmeer. Es fühlte sich toll an, lud zum Verweilen ein, wenn sie denn nicht eine wichtige Mission gehabt hätten. Dann ließen sie den Felsen rechts liegen und gingen wieder an den Strand. Auf der Landseite passierten sie erneut den Felsen und landeten wieder an ihrem Ausgangspunkt.

Und nun bemerkte auch Emil mit Schrecken, dass FX offensichtlich Recht hatte. Denn obwohl sie definitiv wieder an ihrem Ausgangspunkt angekommen waren, befanden sich keinerlei Fußspuren von ihnen im Sand!

„Parkhaus” hauchte Emil ehrfürchtig.

„Was?”

„Vier.”

„Hä? Emil, Du sprichst in Rätseln.”

„Du wolltest doch, dass ich die Wiederholungen von diesem schrecklich schwulen Lied hier zähle. Und ich kann Dir sagen, dass ich es schon jetzt nicht mehr hören kann und ich Dir diese Quälerei später heimzahlen werde!”

„Ja, bitte, sehr gerne! Also das Zählen und das Heimzahlen. Zählen jetzt, heimzahlen später, wenn wir hier raus sind.”

FX konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, auch wenn es in dieser Situation nicht ganz passend war. Dass er seinen Humor nicht ganz verloren hatte, zeugte davon, dass er zuversichtlich war, diese Mission mit Erfolg zu Ende zu bringen. Er wollte Henne retten.

”Und was ist jetzt mit dem Parkhaus, Emil?”

„Ach so. Es kommt mir hier so vor wie in einem Parkhaus. Man dreht seine Kreise und es ist alles immer gleich.”

„Schöner Vergleich. Komm. Nächste Etage. Irgendwo in diesem Parkhaus muss Henne versteckt sein.”

Langsam wurde Emil schwindelig von all den Runden, die sie um diesen Felsen schon gedreht hatten. Doch plötzlich waren vor ihnen erstmals wieder Fußspuren im Sand, als sie wieder aus dem Wasser gekommen waren. Und von Ferne waren leise Geräusche zu hören.

„Fünf.”

Gleichzeitig waren sowohl Emil als auch FX voll konzentriert. Beide hatten diesen Instinkt des Jägers in sich, schalteten sofort um und schärften all ihre Sinne. Keiner von ihnen wusste, was oder wen sie gleich finden würden, sobald sie den Felsen ein weiteres Mal umrundet hatten.

Vorsichtig, den steinernen Pilz als Deckung nutzend, lugten sie um die Ecke um sich möglichst ungesehen der Szenerie zu nähern. Was sie schließlich auf der Rückseite des Felsens entdeckten, verschlug beiden die Sprache, denn damit hatten sie definitiv nicht gerechnet.

Henne stand da mit dem Spanier am Felsen gelehnt. Eng standen sie einander im Arm und sie waren in einer intensiven Knutsch-Orgie vertieft. Es war sehr erregend anzuschauen, wie sie sich beim Spiel abwechselten. Nur zu gerne hätten FX und Emil dieses Schauspiel weiter aus ihrer Deckung beobachtet, hatte es doch die Qualität eines erstklassigen Pornos. Mal hatte Henne die Oberhand, mal unterwarf er sich seinem Spielpartner und ließ sich von ihm innig liebkosen. Der Eine steckte dem Anderen seine Zunge tief in den Rachen hinein, sie saugten an einander oder knabberten an den Lippen ihres Liebhabers. Mal war der Spanier oben und hielt Henne im Arm, mal drückte Henne den gutaussehenden Menschen fest gegen die Felswand und ließ ihn nicht entkommen. Aber natürlich hatte der andere auch gar kein Interesse daran, sich aus den süßen Fängen von Henne zu entfernen und ließ die Liebkosungen mit großer Lust über sich ergehen.

Selbst im Dämmerlicht und dem Flackern der fernen Bühnenbeleuchtung waren die Beulen in ihren engen Hosen deutlich sichtbar. Immer wieder rieben sie sich gegenseitig den Schritt und es hatte den Anschein, dass sie auch halb angezogen kurz vor dem Orgasmus waren, diesen aber immer wieder gekonnt hinaus zögerten, um diesen Moment der Erregung möglichst lange in Ekstase genießen zu können. Wie zwei liebestolle Hunde trieben sie es hemmungslos hier am einsamen Strand.

In ihrem einsamen winzigen Taschenuniversum.

Weder FX noch Emils wussten, was sie hier vorfinden würden. Diese Show jedoch, dass sich zwei Menschen hier ihren sexuellen Gelüsten hingeben würden, hatten sie nicht erwartet. Nachdem sie sich wieder gefasst und die Darbietung auch etwas genossen hatten, blickten sich Emil und FX tief in die Augen. Gleichzeitig nickten sie sich zu und traten schließlich aus ihrer Deckung hervor.

„Sechs.”

Das Liebespärchen nahm jedoch keine Notiz von ihren Beobachtern, so dass sich FX mit einem etwas lauteren Räuspern bemerkbar machen musste.

Sowohl Henne als auch sein knackiger Spanier, dem FX ja bereits auf der Tanzfläche im Original begegnet war, zuckten vor Schreck zusammen. Henne gab einen quiekenden Laut von sich, so überrascht war er, dass sie plötzlich ertappt wurden.

„FX Du Arsch! Was spionierst Du mir hier hinterher?”

Wütend schrie Henne seinen Freund an.

„Tschuldige, ich wollte ...”

„Gönnst Du es mir nicht, wenn ich auch mal Spaß habe?”

Henne war außer sich.

„Nein, ich bin nur hier weil ...”

„Immer musst Du alles und jeden kontrollieren. Immer musst Du Deine Finger irgendwo rein stecken. Kannst Du nicht einmal jemand anderen etwas zutrauen oder gar seinen eigenen Weg gehen?”

„Henne, es tut mir leid, aber ...”

„Hör endlich auf, Dich immer und überall einmischen zu wollen. Auch wir haben ein eigenes Leben, auch wenn es Dir nicht passt. Auch ich möchte mal eigene Wege gehen, ohne dass Du immer alles kontrollierst.”

„Emil hat gleich Geburtstag.”

„Was?” – „Was? ”

Fast unisono kam es sowohl von Henne als auch Emil.

„Tschuldige Henne, ich dachte, dass Du vielleicht mit uns reinfeiern willst. Tschuldige Emil, die Überraschung ist jetzt futsch. Paul hatte sich irgendwann kurz vor Eurer Abreise verplappert.”

Plötzlich herrschte verlegenes Schweigen, was nur in regelmäßigen Abständen von der zarten Brandung unterbrochen wurde.

„Sieben.”

Emils geflüsterte aber umso mechanischer klingende Zeitansage holte FX wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

„Wir sollten zurück zur Bar. Also falls Du mitkommen magst.”

„FX, ich ...”

Henne sah verlegen auf seine nackten Füße. Seine Zehen bohrten sich wie ferngesteuert in den Sand und er betrachtete sie, als seien es nicht seine. Irgendwie wusste er nicht, was er seinem Freund, den er gerade derart vor den Kopf gestoßen hatte, jetzt sagen sollte.

„Lass gut sein, Henne. Schwamm drüber. Kommst Du?”

„Und was ist mit ...”

Verlegen blickte Henne seiner Affäre ins Gesicht und suchte krampfhaft nach dessen Namen.

„Paco?”

FX half Henne mit dem Namen seines Gegenübers aus.

„Woher weißt Du ...”

„Darf ich Dir das unterwegs erklären?”

FX wandte sich zum Gehen um und ging dieses Mal auf der Landseite zuerst am Felsen vorbei, den selben Weg zurück, den sie gekommen waren. Emil folgte ihm in kurzem Abstand. Nur Henne konnte sich noch nicht endgültig zwischen Emil und seinem neuen Kerl entscheiden.

„Henne, er wird gleich wieder dort sein. Vertrau FX einfach. Klingt komisch, ist aber so. Du wirst gleich wissen, warum.”

Eigentlich konnte Henne das nicht mehr hören. Wie oft in den letzten Jahren sollte er FX schon vertrauen. Ständig sollte er Vertrauen in FX haben. Ständig wurden ihm Informationen vorenthalten. Immer wieder aufs Neue hatte FX nur Andeutungen gemacht, bis eines Tages das Fass zum Überlaufen voll war und es einen kleinen Eklat unter den Freunden gegeben hatte. Danach gelobte FX Besserung und dem war auch wirklich so. Und nun ging das Ganze wieder von vorne los. Und zu allem Überfluss hatte sich Emil jetzt auf FX’ Seite geschlagen, was es nicht besser machte.

Emils letzter Halbsatz gab schließlich den Ausschlag und Henne folgte den beiden. Die kleine Karawane ging durchs Wasser und kam dann an der Stelle wieder heraus, an der Henne und der Spanier vor wenigen Sekunden noch geknutscht hatten. Aber dieser Ort war nun verwaist. Keine Spur vom wilden Treiben oder gar von dem rassigen Spanier.

„Acht.”

„Aber wo ist er denn so schnell hin?”

Henne stellte sich genau an die Stelle, auf der er gerade noch gestanden hatte und starrte den Felsen an. Vor wenigen Augenblicken hatte er hier noch hemmungslos geknutscht und eine harte Erektion in seiner Hose gespürt, war von seinen Hormonen in den siebten Himmel katapultiert wurden und nun war hier nichts und niemand mehr.

„Komm, Henne. Wir müssen uns beeilen.”

„FX, was genau geht hier vor sich?”

„Neun.”

„Gleich, Henne. Lass uns erst hier von dem Felsen weg kommen, dann erkläre ich es Dir und Du verstehst es dann auch besser.”

„Ja, warum gehen wir dann nicht einfach direkt rüber zur ...”

„Nein, STOP!”

Henne war im Begriff aus ihrer fortwährenden Kreisbahn um den Pilzfelsen auszuscheren und direkt hinüber zur Bühne und Bar zu gehen. Erst im letzten Moment erwischte FX ihn am Arm und zog ihn zurück.

„Henne, bitte. Wir haben nicht so viel Zeit und ich würde es Dir gerne nicht hier erklären.”

„Zehn.”

„Aber warum denn nicht? Es scheint wichtig zu sein und wir sind hier ohnehin alleine.”

FX rollte mit den Augen und blickte verzweifelt zu Emil.

„Meine Fresse, FX, Du bist aber auch immer ein Geheimniskrämer. Nun sag es ihm schon. Hier oder dort, ist es nicht egal?”

„Nein, ist es nicht. Hier haben wir keine Zeit! Das ist der springende Punkt. Wir vertrödeln hier nicht Minuten, während wer weiß wie viel Zeit in der realen Welt vergeht! Vergiss das nicht!”

„Elf. Stimmt.” Vor Schreck schlug sich Emil mit der Hand auf den Mund, um sogleich an Henne gewandt fortzufahren: „Tschuldige, Henne, aber FX hat echt recht. Wir müssen uns beeilen.”

Nach der nächsten Umrundung des Felsens blieb FX plötzlich stehen. Da war er wieder, dieser leuchtende Streifen, den er sich so herbeigesehnt hatte. Natürlich hatte er die Runden um den pilzförmigen Felsen mitgezählt, denn er wusste nicht, ob er die Linie aus dem Taschenuniversum zurück in ihre Welt wirklich so einfach sehen würde. Aber seine Vorsicht blieb unbegründet. Dieses Mal zumindest. Endlich konnten sie das Taschenuniversum wieder verlassen und in ihre sichere Welt zurückkehren.

Fast wäre Emil mit dem so abrupt bremsenden FX zusammengestoßen, aber da er zumindest wusste, dass FX den Ausgang suchte, war er auf der Hut. Im Gegensatz dazu lief Henne plan- und ahnungslos hinter beiden hinterher und verstand so gar nicht, was gerade passierte. Daher stieß er natürlich prompt mit Emil zusammen.

„Was zum ...”

Henne war überrascht, dass er von Emil unterbrochen wurde.

„FX, sind wir da?”

Reflexartig griff Emil nach FX’ Hand, schließlich wollte auch er sehen, wo genau sich das Portal befand.

Kaum, dass sich ihre Hände berührt hatten, erschien auch vor Emils Augen der schmale messerscharfe Streifen, der in seinen Augen irgendwie bedrohlich glimmte. Er wusste, dass dahinter ihre Freiheit wartete, dennoch machte dieser Strich keinen einladenden Eindruck. Ganz davon abgesehen, dass kein normaler Mensch je auf die Idee käme, dass man dort hindurch gehen konnte und dann in einer anderen Welt stehen würde. In ihrer Welt!

„Ja, was ist denn nun?”

Henne stand hinter den Beiden und wusste nicht so recht, was der unerwartete Stopp hier sollte. Erst mahnten beide zur Eile und nun legten sie unvermittelt eine Pause ein. Das ergab überhaupt keinen Sinn und seine Laune, ohnehin schon arg strapaziert, sank weiter ins Bodenlose. Viel lieber hätte er weiter mit dem süßen Spanier geknutscht, aber der schien sich mittlerweile auch vom Acker gemacht zu haben. Der war ja schon verschwunden, nachdem sie nur ein einziges Mal den Felsen umrundet hatten. Vermutlich fühlte er sich zu Recht verarscht.

Henne zuckte zusammen, als er plötzlich die warmen Finger von Emil in seiner Hand spürte. Und noch bevor er es richtig realisieren konnte, hatte Emil seine Hand schon fest umfasst. Ein Griff, fest aber nicht schmerzhaft, der ihm sagte, dass er keine Alternative duldete.

„Sieh selbst.”

Emil wich etwas zur Seite und gab den Blick frei nach vorne, damit auch Henne an ihm und FX vorbei schauen konnte.

Natürlich war er neugierig, aber er wollte auch etwas schmollen, weil er die Geheimniskrämerei der Beiden so gar nicht leiden konnte. Aber länger als einen Atemzug konnte er sich nicht zurückhalten und blickte erwartungsvoll nach vorne.

Eigentlich war dieser feine leuchtende Strich total unspektakulär. Keine Technik, die ihn erzeugte, kein Projektor oder sonst etwas. Das Fehlen jeglicher Apparate war es, die diese Erscheinung so faszinierend machte. Eine haarfeine Linie mitten am Strand. Sie leuchtete einfach nur, sie musste nicht einmal bunt leuchten oder pulsieren. Nein, diese Linie musste einfach nur da sein und alle Augen, die sie sehen konnten, richteten sich automatisch auf sie.

Henne wollte sich mit den Händen über die Augen wischen, um eine eventuelle Irritation zu vertreiben, aber Emil hielt die eine Hand nach wie vor unnachgiebig fest, so dass Henne sich sicher sein konnte, dass das hier real war, er es aber nur mit Emils oder besser gesagt FX’ Hilfe sehen konnte.

„Junx, seid Ihr soweit?”

FX blickte sich nicht um, sondern visierte ununterbrochen den leuchtenden Streifen an. Eigentlich war es sehr einfach, aber er wusste, dass er den Durchgang genau im richtigen Winkel treffen musste, sonst würde er davon abprallen, wie ein flacher Stein, den man flach über das Wasser wirft und der immer wieder von der Oberfläche abprallt.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Es war Emil, der wortlos das Kommando gab, indem er beide Hände, die von FX und Henne, einmal fest drückte. Henne stockte kurz der Atem. Der feste Griff seines Vordermanns wurde für einen kurzen Augenblick noch fester. Aber es war ein erstaunlicher Balanceakt, der kurz vor dem Schmerz endete. Er war überrascht, wie genau Emil seine Kraft dosieren konnte. Einen Moment zuvor hätte er gedacht, dass ein bisschen mehr Händedruck sofort schmerzhaft werden würde, aber er irrte sich. Anscheinend gab es auch jetzt noch viele Abstufungen.

Aber Henne war nach wie vor verwirrt. Er wusste nicht, was gleich geschehen sollte. Er hatte keine Ahnung, wofür sie bereit sein sollten. Henne spürte, wie die Unsicherheit ihm langsam den Rücken hinauf kroch. Er war sich sicher, dass jetzt der denkbar ungünstigste Zeitpunkt war, um in Panik zu verfallen, weshalb er alles daran setzte, dass das nicht passierte.

„Zwölf.”

Er schloss die Augen und atmete mehrere Male tief ein und aus. Er spürte, wie sein Herzschlag sich deutlich verlangsamte. Er entspannte sich. Vorsichtig öffnete er wieder die Augen. Und da war er wieder, dieser fad leuchtende Strich mitten in der Landschaft. Sein Hals schnürte sich zu. Er versuchte zu schlucken, aber es gelang ihm nicht. Er versuchte wieder, tief einzuatmen, aber auch das misslang ihm. Er bekam fast gar keine Luft mehr. Henne schloss die Augen. Er durfte jetzt nicht durchdrehen. Er wusste, dass es gerade wichtig war, zwar nicht warum, aber soweit vertraute er FX und Emil, dass es dennoch so seinen Sinn hatte. Keine Panik, sagte er immer wieder zu sich selber.

Gefasst öffnete er die Augen und blickte ins Leere.

Einzig seine schweißnasse Hand hielt er halb ausgestreckt in die Richtung, in der gerade noch Emil und FX standen. In die Richtung, in der auch dieser Leuchtstreifen war.

Nun war gar nichts mehr.

Keine leuchtende Linie.

Kein Emil.

Kein FX.

Er war alleine.

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