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Quartett

Teil 43 - Protokoll

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Informationen

49. Protokoll

„Eggsy, Du bist der Beste!”

Freudig griff Michel nach einer der Tassen mit dem dampfenden und belebenden Inhalt und hielt sie mit beiden Händen fest unter seine Nase.

„Diggis, was für ‘ne geile Party!”

Ben strahlte von einem Ohr zum anderen und seine Zahnspange glitzerte in der aufgehenden Sonne. Er schenkte allen Dreien ein zufriedenes Lächeln.

„Wo sind eigentlich FX und Henne? Ich hab sie seit Stunden nicht mehr gesehen. Wisst Ihr, wo sie abgeblieben sind?”

Nachdem Michel etwas Kaffee in seinen Körper geflößt hatte, begann auch sein Gehirn wieder etwas schneller zu funktionieren und er erinnerte sich an seine Freunde.

Eggsy und Johannes wechselten kurz ein paar Blicke. Diese blieben weder Michel noch Ben verborgen, auch wussten sie, dass die anderen Beiden gerade mehr als nur Blicke austauschten und auf irgendwelchen geheimen Wegen gerade sehr heftig diskutierten.

Nach kurzer Zeit jedoch schon winkte Eggsy ab und entgegnete resigniert: „Es ist ein Grenzfall mit ihnen und ich bin dafür zu konservativ. Deine Show.”

Johannes wischte sich kurz den nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn, bevor er sich mit einem weiteren Schluck Kaffee stärkte.

„Emil ist hier und ...”

„Wie, Diggi, Emil ist hier? Und was is mit Paul? Ich dachte, die müssten nach Hause?”

„Ben, wenn Du Jo...”

In dem Augenblick, als er Johannes’ Namen in der Kurzform ausgesprochen hatte, wusste Michel schon, dass er gerade einen Fehler begangen hatte. Und tatsächlich spürte er auch, wie sich sofort ein unangenehmer Schauer von seinem Nacken her ausbreitete und in Windeseile seinen Hinterkopf empor kroch. So ein Gefühl hatte er noch nie zuvor gehabt. Es war eine Mischung aus Angst und Unwohlsein, nur viel stärker, als er es jemals zuvor hatte.

„...hannes.”

Fügte er spontan hinzu und war froh, dass dieses schreckliche Gefühl genauso schnell verschwand wie es aufgetaucht war. Der vorwurfsvolle Blick von Eggsy an Johannes war ihm entgangen, denn er war viel zu sehr mit diesem Gefühl beschäftigt. Schließlich gelang es ihm doch, dieses kurze Intermezzo beiseite zu wischen, und seinen Satz zu beenden.

„… einfach mal aussprechen lassen würdest.”

„‘Tschuldige, Diggi.”

„Emil ist hier und musste etwas erledigen. Und er brauchte halt Hilfe von FX und Henne.”

Eggsy nickte leicht. So hatte Johannes immerhin nicht die Wahrheit gesagt, dafür aber auch nicht ganz gelogen. In seinen Augen ein passabler Mittelweg von Information an die beiden Außenstehenden. Dennoch konnte er es nach wie vor nicht gutheißen, solche Informationen außerhalb des Kreises der Zweiundvierzig preiszugeben.

Michel stellte seine leere Kaffeetasse auf den Tisch. Es klang plausibel, dass Emil die Hilfe von FX brauchte. Vermutlich konnte FX mit seinen Fähigkeiten so ziemlich jedes Problem lösen. Aber wieso Henne? Was hatte der damit zu tun? Und wieso sollte Emil von FX’ Kräften wissen? Das ergab keinen Sinn.

Vor lauter Grübeln vergaß Michel, die Kaffeetasse loszulassen, die er gerade auf den Tisch gestellt hatte. Stattdessen verharrte er in dieser Position und versuchte herauszufinden, was daran nicht stimmte. Er atmete aus. Ganz langsam. Ganz tief. Und während die Luft aus seinem Körper entwich, versuchte er FX oder Henne zu erreichen und einen Blick in deren nahen Zukunft zu werfen. Er wusste nicht, ob das funktionieren würde, denn er hatte seine neue Fähigkeit noch nicht so gut trainiert und noch nie richtig eingesetzt.

Als er die gesamte Luft aus seinen Lungen gepresst hatte, war er auch nicht sonderlich enttäuscht, dass er keinen seiner beiden Freunde irgendwie gesehen oder anderweitig erreicht hatte. Die einzige Szene in der nahen Zukunft, die sich vor seinem inneren Auge abgespielt hatte, war Ben, wie er seinen Kaffee verschüttet hatte. Aber Ben war ohnehin immer schusselig, weshalb er diese Szene einfach ignorierte.

Ben jedoch war es nicht entgangen, dass sowohl Eggsy als auch Johannes sehr unruhig in ihren Sesseln wurden, als Michel anfing, die nähere Zukunft nach seinen Freunden abzusuchen. Eigentlich wollte er gerade an seiner Tasse nippen, aber die schnellen Blicke, die sich die anderen beiden zuwarfen, hielt ihn vom weiteren Trinken ab.

„Was hat denn Henne damit zu tun? Und wieso hat uns keiner der Beiden Bescheid gesagt? Da stimmt doch was nicht.”

Michel pokerte gerade ein bisschen, denn eigentlich waren das alles nur Vermutungen, wenn auch durchaus begründete.

„Johannes, wie gesagt, Deine Show. Ich geh Gläser spülen. Es ist besser, wenn es für dieses Gespräch keine Zeugen gibt. Du weißt, dass das nicht erlaubt ist, was Du gleich vor hast.”

Eggsy stand auf und verließ die Gruppe. Natürlich wusste er ganz genau, dass Michel keine Ahnung hatte und nur blind spekulierte. Andererseits war Eggsy der Meinung, dass FX’ Freunde mittlerweile durchaus über solche Belange informiert werden durften. Aber da Johannes damit angefangen hatte, überließ er es nur zu gern ihm, das auch zu vollenden – und gegebenenfalls eine Rüge dafür zu bekommen.

„Jaja, drück Dich nur. Und die Gläser bitte streifenfrei!”

Johannes verabschiedete Eggsy mit einer Geste, als würde er etwas hinter ihm herwerfen.

„Diggi, dann hattest Du also doch recht?”

Ben gab Michel einen freundlichen Stupser in die Seite. Mit einer gleitenden Bewegung zog er seine Füße aus den lose geschnürten Schuhen heraus und ließ diese im Sand stehen. Er selbst setzte sich aufrecht im Schneidersitz in seinen Sessel, um ganz sicher zu gehen, dass er auch noch das kleinste Detail aufschnappen würde.

„Ja, also Michel hat schon Recht. Da steckt etwas mehr dahinter.”

„Ha!”

Ben streckte jubelnd beide Arme in die Luft.

„Ben, entspann Dich und lass Johannes doch erstmal ausreden.”

Michel war die Ruhe selbst, doch er wollte jetzt endlich wissen, was hinter der ganzen Geschichte steckte.

„Ich versuche mich kurz zu halten, sonst sitzen wir morgen noch hier, haben einen Sonnenbrand und die Geschichte ist immer noch nicht zu Ende erzählt.”

„Diggi, Du machst es nu aber spannend!”

„Ben!”

„Also, dass es uns Zweiundvierzig gibt, muss ich Euch ja nicht erzählen. Aber es gibt noch andere Menschen die über ... naja, nennen wir es mal ‚erweiterte Fähigkeiten’ verfügen.”

„Krass, Diggi, is die Welt etwa voll von Supermännern?”

„Ben, jetzt ist aber langsam mal gut, sonst fessle und kneble ich Dich gleich!”

Michel blickte vorwurfsvoll zu seinem Sitznachbarn, der sich aus Angst selbst den Mund zuhielt.

„Ich muss mich allerdings etwas korrigieren, denn bis gestern hätte es heißen müssen, dass es diese anderen Leute GAB. Sie heißen Schattenjäger und wir hatten eigentlich nie etwas mit ihnen zu tun. Über Jahrtausende lang haben wir und sie friedlich nebeneinander her gelebt. Jeder hatte seine Aufgaben, um das Gleichgewicht der Welt und des Universums aufrecht zu erhalten.”

Obwohl er sich kurzhalten wollte, erzählte Johannes doch sehr ausschweifend von den Kämpfen der Schattenjäger gegen viele verschiedene Mächte der Schattenwelt. Er berichtete davon, dass sie magische Wesen wie Vampire oder Werwölfe im Zaum hielten.

Die Zweiundvierzig hielten sich aus den Aktionen der Schattenjäger heraus und umgekehrt ebenso. Jedoch brach der Kontakt eines Tages unvermutet ab und niemand der Zweiundvierzig hatte jemals wieder etwas von den Schattenjägern gehört. Über viele Generationen hinweg gerieten die Schattenjäger so in Vergessenheit und da es zeitgleich auch um die Wesen aus der Unterwelt still geworden war, geriet auch all das Wissen in Vergessenheit.

„Das einzige Überbleibsel und der eigentliche Kern all unseres Wissens heute ist nur noch das Protokoll.”

„Ein Protokoll?”

Nun war es Michel, der Johannes kurz unterbrach, ihn aber sofort mit einer Geste aufforderte, weiter zu sprechen.

„Nicht ein Protokoll, sondern DAS Protokoll. Unsere Vor-Vor-Vorfahren, und Du weißt, dass wir ziemlich alt werden können, haben das mehr oder weniger kurz nach dem Verschwinden der Schattenjäger aufgesetzt. Für eben den Fall, dass sie wieder auftauchen.”

„Und was steht in dem Protokoll drin?”

Michel nutzte die Pause von Johannes, um Ben gar nicht erst in die Verlegenheit zu bringen, etwas zu sagen oder zu fragen.

„Im Prinzip regelt es den ersten Kontakt zwischen uns, den Zweiundvierzig, und den Schattenjägern, wenn wir uns über längere Zeit nicht gesehen haben. Es steht zwar nicht explizit drin, aber wir gehen davon aus, dass auch die Schattenjäger ein ähnliches Protokoll haben. Deswegen sind wir uns auch nicht ganz einig darüber, ob das Protokoll nicht schon vorher entstanden sein muss.”

Den Ausführungen von Johannes nach zu urteilen, gehörte das Protokoll zu einem der wichtigsten Dokumente während der Ausbildung der Zweiundvierzig. Er konnte sich mit einem Schmunzeln jedoch nicht verkneifen zu sagen, dass FX auf diese und ähnliche theoretische Abhandlungen wenig Wert gelegt hatte.

Aus dem Protokoll wurde demnach sämtliches Wissen über die Schattenjäger abgeleitet, obwohl es eigentlich nur den ersten Kontakt zwischen den beiden Parteien regeln sollte. Mit anderen Worten war sehr viel Mutmaßung mit im Spiel, die Johannes zwar unterstrich, aber sich auch zunutze machte, indem er seine Ausführungen sehr stark ausschmückte, obwohl er gar nicht wusste, ob das alles wahr war, was er den beiden Freunden gerade vortrug.

„Jedenfalls ist die Kernaussage des Protokolls unterm Strich”, so schloss Johannes seinen Monolog ab, „dass bei einem ersten Kontakt lediglich die beiden als erste involvierten Personen kommunizieren dürfen. Und zwar darf eine gegenseitige Öffnung erst dann erfolgen, wenn die beiden Ersten erfolgreich ein gemeinsames Projekt absolviert haben.”

„Und das läuft gerade?”

„Unfreiwilliger Weise ja. Die Informationen, die ich Euch gleich nennen werde, sind noch vager, als die über die Schattenjäger selbst. Denn aufgrund des Protokolls weiß ich selbst leider auch keine Details.”

„Das klingt jetzt aber sehr geheimnisvoll.”

Ratlos kratzte sich Michel am Kopf.

„Ja, es ist auch für uns total neu, dass wir derart im Dunkeln tappen.” Und nach einer kurzen Pause fügte Johannes noch hinzu: „Müssen. Das Protokoll verbietet es uns, Informationen aus der Zukunft zu diesem Thema einzuholen, obwohl wir es problemlos könnten. Wir dürfen schlichtweg nicht nachschauen.”

„Krass, Diggi.”

Ben traute sich nach einer Ewigkeit wieder etwas zu sagen, auch wenn er nur flüsterte.

„Ja, das ist definitiv einzigartig in unserer gesamten Geschichte und man erkennt daran, wie wichtig das Protokoll ist und wie wichtig das Verhältnis zwischen uns und ihnen war.”

„Ja, und worum geht es nun?”

Michel war es nach wie vor, der im Dialog mit Johannes stand, während Ben unruhig in seinem Sessel saß und zuhörte.

„Naja, die Quintessenz ist vermutlich etwas ernüchternd.” Betreten blickte Johannes nach unten und zeichnete Figuren in den Sand. „Also eigentlich besagt das Protokoll nur, dass niemand außer der beiden des ersten Kontakts kommunizieren dürfen, bis ein gemeinsames Projekt der Beiden erfolgreich abgeschlossen wurde.”

„Das sagtest Du bereits. Also hast weder Du noch Eggsy mit Emil gesprochen, sondern nur FX?”

Michel fragte zur Bestätigung noch einmal nach, damit er auch sicher sein konnte, alles verstanden zu haben.

„Zumindest nichts konkretes, sondern nur Belanglosigkeiten wie ‚Hallo’ und ‚Tschüß’. So will es das Protokoll.”

„Und was hat das jetzt mit Henne zu tun?”

Michel besann sich auf seine ursprüngliche Frage.

„Henne ist weg.”

Johannes flüsterte den Satz ganz leise, während er seine Zeichnung im Sand mit den Füßen zu einem traurigen Gesicht vervollständigte.

Weder Ben noch Michel konnten sich jetzt noch zurückhalten. Beide waren aufgesprungen und standen sogleich vor Johannes und starrten ihn von oben herab an. Vor lauter Wut packte Ben den sitzenden Johannes an seinem T-Shirt und zerrte daran.

„Diggi, Du Arsch, warum sagst Du uns das erst jetzt? Biste total durchgeknallt oder was? Was bist’n Du für’n Freund? Ich dachte, Dir kann man vertrauen?”

Johannes sagte nichts, sondern ließ es mit sich geschehen. Ben packte ihn und rüttelte ihn. Sein Gesicht war rot angelaufen vor Wut und er schrie Johannes nur noch an, ohne dass man noch ein Wort verstehen konnte. Seine Stimme überschlug sich förmlich.

„Du weißt ganz genau, dass gerade Henne schon einmal entführt worden ist. Und jetzt schon wieder? Wieso hast Du das zugelassen? FX hätte so etwas nie zugelassen und Du willst sein Freund sein?”

„Ben.”

Michel hatte sich nach dem ersten Schock recht schnell wieder unter Kontrolle und legte eine Hand auf Bens Schulter, um diesen etwas zu beruhigen. Er hatte Angst, dass Ben komplett ausrasten würde und dann Johannes etwas antun würde. Zweifelsohne würde das schlechter für Ben als für Johannes ausgehen, aber es sollte am besten gar nicht erst dazu kommen.

Umso verwunderter war er, dass Ben tatsächlich von Johannes abließ. Erschöpft von seiner Wutattacke und total verzweifelt sackte er vor Johannes im Sand zusammen und wimmerte halblaut vor sich hin, ohne dass man etwas verstehen konnte.

Das Wimmern endete jäh, als Johannes unerwartet seine Hand auf Bens Schulter legte. Ganz langsam hob Ben seinen Kopf und rot verweinte Augen blickten direkt in die von Johannes.

„Ich weiß.” Johannes fiel es auch schwer, die passenden Worte zu finden und er brachte sie nur langsam über die Lippen. „Natürlich kenne auch ich Hennes Geschichte. Aber sei gewiss: Mit FX ist definitiv der allerbeste Mann von uns an dieser Aktion beteiligt.”

Ben schaute weiterhin mit weit aufgerissenen Augen zu Johannes und war sich nicht sicher, ob er dem Glauben schenken sollte oder nicht.

„Es ist zwar nur eine Vermutung, aber ich halte auch Emil für einen extrem fähigen Typen und deswegen bin ich mir absolut sicher, dass sie Henne schon sehr bald retten werden.”

„Und ganz nebenbei beginnt dann ein neues Kapitel in Eurer Geschichte?”

Michels Gehirn arbeitete nach dem ersten Schock wieder auf Hochtouren und er hatte den Eindruck, dass sich Ben mittlerweile soweit beruhigt hatte, dass er wieder eine Frage stellen konnte.

„Sozusagen.” Johannes war kurz überrascht, dass Michel mit einem so großen Abstand zu dieser Sache weiterhin einen klaren Gedanken fassen konnte. „Wir wissen selber nicht, was die Zukunft diesbezüglich bringt, aber die meisten von uns sind guter Dinge.”

„Weißt Du, wohin sie gegangen sind?”

„Nein, wir dürfen das nicht nachforschen. Aber ich vermute, dass sie zwar hier sind, aber nicht jetzt sind.”

Johannes saß nach wie vor auf dem Sessel, hatte in der Zwischenzeit aber Bens Kopf in seinem Schoß liegen und streichelte dessen Haare. Er blickte zu Michel hinauf und zuckte nur mit den Schultern.

„Vielleicht kann ich sie deswegen nicht sehen”, murmelte Michel leise.

„Was kannst Du denn?”

Johannes wurde hellhörig und man hörte das Klirren eines zerspringenden Glases von der Theke her. Ganz offensichtlich hatte Eggsy die gesamte Diskussion von dort aus verfolgt.

„Wie?”

„Ach nun tu doch nicht so.” Johannes Empörung war nur gespielt und anklagend blickte er zu Michel hinauf. „FX hatte so Andeutungen gemacht, dass Ihr alle über besondere Fähigkeiten verfügt. Das kommt manchmal, wenn auch extrem selten vor, dass einzelne Menschen über erweiterte Fähigkeiten verfügen. Das hat nichts mit unseren Fähigkeiten zu tun, aber ist dennoch manchmal ganz hilfreich.”

„Ich kann in die Zukunft schauen.” Michel sah Johannes erwartungsvoll an und fügte danach noch etwas verlegen hinzu: „Aber ich kann das fast nicht kontrollieren und ich kann auch nur ein paar Minuten vorausschauen.”

„Präkognition? Donnerwetter, das ist in der Tat eine Perle, die Du in Dir hast. Das ist verdammt selten! Das ist sogar bei uns sehr selten.”

„Aber es kommt und geht. Meistens kommt es nur, wenn jemand von uns in Gefahr ist. Sonst muss ich mich schon extrem anstrengen, um irgendetwas von uns zu sehen.”

„Und was siehst Du von FX?”

„Ich hatte vorhin versucht, ihn zu sehen. Aber da war nichts. Gar nichts. Weder ein schlechtes noch ein gutes Gefühl. Geschweige denn Bilder.”

„Dann wird er definitiv in einer anderen Zeit sein. Weit außerhalb Deiner Reichweite.”

„Ist das gut oder schlecht?”

„Naja, zumindest sind sie auf irgendeiner Spur. Also eher gut als schlecht, würde ich sagen.”

„Unbefriedigend.”

Michel drehte sich zur Seite und blickte auf das Meer hinaus. Die Sonne stand schon ziemlich hoch am Himmel und heizte den Jungs ordentlich ein.

„Auch wenn Du das jetzt nicht hören willst.” Johannes blickte mit einem Schulterzucken zu Michel. „Wir können nur warten.”


„Magst Du mir mehr über diese Rune erzählen?”

Emil zuckte vor Schreck zusammen. Er war in Gedanken, weit weg. Er war bei Paul. Der Mann, mit dem er schon seit über einhundert Jahren zusammen war. Der Mann, der ihm Jahr für Jahr die Rune des Lebens erneuert hatte, so wie er es für ihn an dessen Geburtstag getan hatte.

„Wir bekommen unsere erste Rune zum zwölften Geburtstag und sind damit offiziell in die Gemeinschaft der Schattenjäger aufgenommen. Gezeichnet werden sie mit der sogenannten Stele. Allerdings ist die Rune des Schutzes nicht die erste …”

Emil unterbrach sich selbst und starrte FX nur verwirrt an. Sie saßen beide im Sand und starrten aufs Meer hinaus, während Henne mittlerweile ruhig neben ihnen schlief und ganz sanft atmete.

„FX, nimm es mir nicht übel, aber ich möchte jetzt heim. Zu meinen Leuten und zu Paul. Die wenige Zeit, die mir bleibt, möchte ich gerne mit ihm verbringen.”

„Was wird passieren?”

„Mein Körper ist Mitte Zwanzig, ich lebe aber schon seit hunderten von Jahren. Innerhalb des nächsten Jahres werde ich auf achtzig oder neunzig Jahre altern und dann sterben. Wie jeder andere Mensch auf dieser Welt.”

„Und wenn wir es rechtzeitig geschafft hätten?”

„Hätte, hätte, Fahrradkette!” Aus dem Sitzen war Emil vor Wut aufgesprungen und schrie FX von oben herab an. „Was nützt mir das, was hätte sein können? Was nützt es mir, wenn wir rechtzeitig hier gewesen wären? Was nützt es mir, wenn ich dann weiterleben könnte wie bisher? Gar nichts nützt es mir! Denn wir sind ZU SPÄT!”

Die letzten Worte schrie Emil aus seinem innersten heraus. Seine Wut schwang über zu Verzweiflung und Tränen flossen über sein Gesicht. Er zitterte am ganzen Körper und es kam ihm vor, als stünde er ganz alleine an dem verlassenen Strand in Spanien. Alleingelassen von allen Freunden. Allein auf der Welt, um alsbald zu sterben.

„Zu spät für was?”

Durch Emils Gefühlsausbruch war Henne aufgewacht. Irritiert kratzte er sich am Kopf, blickte abwechselnd zum stehenden Emil hinauf und dann hinüber zu FX, der im Schneidersitz da saß und aufs Meer blickte.

„Hej, Henne, willkommen unter den Lebenden!”

Sogleich schlug sich FX mit der Hand auf den Mund, als könne er das gerade Gesagte doch wieder einfangen, doch das gesprochene Wort war bereits gehört. Er ärgerte sich, diesen Spruch gemacht zu haben, blickte Emil doch seinem Tod direkt ins Auge.

Mit einem Schnauben drehte sich Emil um und trottete langsam über den Sand hinüber zur Treppe, um den Strand und die beiden Freunde zu verlassen. Lustlos und traurig machte er sich auf den Weg nach Hause. Er drehte sich nicht noch einmal um, sondern ging ganz mechanisch den Strand entlang, Eggsys Kiosk entgegen.

„Henne, nicht jetzt. Ich erzähle es Dir gleich, wenn wir wieder alle zusammen sitzen. Es ist viel zu kompliziert, um es mehrfach zu erklären. Aber jetzt müssen wir erstmal Emil einfangen. Komm!”

FX war aufgesprungen, griff nach Hennes Hand und zog ihn hoch. Gemeinsam eilten sie hinter Emil her und holten ihn schnell ein. FX legte seine Hand auf Emils Schulter, um diesen aufzuhalten und herumzudrehen. Doch im gleichen Augenblick als er ihn berührte, hatte Emil schon nach seiner Hand gegriffen und ihn mit einem gekonnten Wurf im wahrsten Sinne aufs Kreuz und in den Sand gelegt.

Normalerweise hätte FX solch einen Angriff problemlos abgewehrt. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für einen Kampf. FX wollte nicht kämpfen, er wollte helfen. Nach Luft ringend suchte FX nach den richtigen Worten.

„Emil, ich möchte ...”

„FX, ich möchte jetzt Heim! Es ist vorbei. Aus und vorbei!”

„Nichts ist vorbei!” Aus dem Liegen heraus gelang es FX mit einem Satz wieder auf die Beine und vor Emil in den Weg zu springen. „Du vergisst, wer ich bin.”

„Ich weiß nicht, wer Du bist, aber ich weiß, dass ich wegen Deines Freundes mein Leben geopfert habe. Und den Rest davon würde ich jetzt gerne mit dem Mann verbringen, den ich liebe.”

Unwirsch schob Emil den über einen Kopf größeren FX zur Seite. Zumindest versuchte er es, denn nun war Emil es, der unvermittelt in den Sand geschleudert wurde.

„Du vergisst, dass Zeit in diesem Universum für mich kein Problem darstellt.” Und während er Emil seine Linke entgegenstreckte, um ihn wieder hoch zu helfen, fügte FX noch hinzu: „Wir waren viel zu lange in der Zeitschleife des Taschenuniversums gefangen.”

Henne, der das kurze Scharmützel zwischen den Beiden wortlos verfolgt hatte, versuchte nun vorsichtig die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, indem er halblaut aussprach, was er gerade vermutete.

„Ich versteh zwar nur Bahnhof, aber ich glaube, FX hat uns gerade auf eine Zeitreise eingeladen, oder?”

„Drei Wochen und ein paar Stunden zurück. Kurz vor Emils Geburtstag, so wie es ursprünglich geplant war, nach Deiner Rettung.”

„Meiner Rettung?”

„Später, Henne. Oder besser gesagt: Früher.”

„FX, jetzt werd es albern!”

Emil hatte sich wieder vor FX aufgebaut und seine Fäuste in die Hüfte gestemmt. Jeder Muskel seines Körpers war angespannt und er war bereit, diesem albernen Treiben mittels eines Kinnhakens ein Ende zu setzen.

„Wo um alles in der Welt willst Du denn jetzt eine Zeitmaschine herbekommen?”

„Wir, die Zweiundvierzig, brauchen keine Zeitmaschine. Wir leben und reisen im Einklang des Universums und können uns frei in der Zeit bewegen. Das Einzige, was wir dafür brauchen ist eine Tür.”

Mit diesen Worten deutete FX auf die hölzerne Tür des Toilettenhäuschens an der Seite von Eggsys Kiosk. Die Tür, in der jemand ein kleines Fenster in Form eines Herzchens hineingesägt hatte.

„Spinner!”

Emil wedelte mit der flachen Hand vor seinem Gesicht um zu verdeutlichen, was er von FX’ Idee hielt.

„Du willst uns sagen, wenn wir durch diese Tür gehen, machen wir eine Zeitreise?”

Ungläubig kratzte Henne sich am Kopf und öffnete die quietschende Tür.

„So ähnlich. Wir gehen da zusammen rein, schließen die Tür und gehen wieder raus.”

Er blickte sowohl nach Links zu Henne als auch nach rechts zu Emil. Beide starrten ihn ungläubig mit halb offenem Mund an.

„Was?”

Da er nach mehreren Augenblicken immer noch keine Antwort auf seine mehr als offene Frage bekam, fuhr er fort.

„Wir sind hier nicht bei Star Trek. Hier gibts keine Lichtblitze oder so was. Also, wenn ich bitten darf ...”

FX nahm Henne die Tür aus der Hand und machte eine einladende Geste an die Beiden, sich in das enge Toilettenhäuschen zu zwängen. Rückwärts folgte er ihnen und zog dabei die Tür ins Schloss.

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