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Quartett

Teil 44 - Warten

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50. Warten

Wie ferngesteuert stapften Michel und Ben von ihrem versteckten Strandabschnitt hinüber zum größeren Teil des Strandes, an dessen Anfang sich der Kiosk von Eggsy befand. Viele Menschen waren auch an diesem Morgen nicht zugegen. Wie so häufig in den letzten Tagen.

Noch vor gut zwei Wochen hatten die Freunde auf einer der besten schwulen Strandparties überhaupt gefeiert, jedoch lag diese sagenumwobene Nacht gefühlt schon Jahre zurück. Irgendwann im Morgengrauen waren Henne und FX spurlos verschwunden und seitdem nicht wieder aufgetaucht.

Seit diesem Morgen hatten sich die beiden verbliebenen Freunde keine Minute vom Strand entfernt und warteten beharrlich auf die Rückkehr der Beiden. Im Laufe der Zeit ergab sich eine gewisse Routine: Mit Sonnenaufgang standen sie auf und gingen zum Frühstücken zu Eggsys Kiosk. Dann warteten sie und blickten auf das zumeist ruhige Meer hinaus, bis es Zeit zum Mittagessen war. Es folgte wiederum ein endloses Warten auf das Abendessen oder aber die Ankunft ihrer Freunde. Etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang trotteten sie wieder zurück in ihr Zelt.

Anfangs hatten sie noch die Kraft für Gespräche. Entweder untereinander, mit Eggsy oder einem der wenigen Badegäste, die sich an den kleinen Strand vor den Toren Tarragonas verirrten. Aber im Laufe der Tage, die immer frustrierender und gefühlt länger wurden, verging ihnen die Lust am Reden. Traurig starrten sie auf das Meer in der Hoffnung, am Horizont würden FX, Henne und Emil auftauchen.

Am Morgen nach der Party hatte Johannes noch ein bisschen was über Emil und seine Freunde erzählt, dass er ein Schattenjäger war und vermutlich gemeinsam mit FX auf Rettungsmission war, da Henne urplötzlich verschwunden war. Jedoch wussten weder er noch Eggsy, wo sie waren oder wann sie wieder kommen würden.

Ben enttäuschte jedoch am meisten die Tatsache, dass Eggsy und Johannes theoretisch herausfinden könnten, wo sich ihre Freunde aufhielten und wie es ihnen ging. Jedoch weigerten sich beide beharrlich, Nachforschungen anzustellen und verwiesen immer wieder auf ein Protokoll, was es zu befolgen galt. Somit war die Stimmung zwischen Eggsy und ihnen sehr angespannt. Auch der Abschied von Johannes fiel eher kühl denn herzlich aus.

“Michel, darf ich Dich in den Arm nehmen?”

Auch dies war zu einer traurigen Regelmäßigkeit geworden: Ben wurde ein ums andere Mal mitten in der Nacht durch ein unterdrückten Schluchzen geweckt. Das erste Mal blieb Ben vor Schreck das Herz stehen, konnte er die Geräusche nicht so richtig einordnen. Erst als er den zitternden Michel neben sich bemerkte, war ihm klar, dass sein Freund die anderen schmerzhaft vermisste und verzweifelt versuchte, seinen Weinkrampf zu unterdrücken.

Damals, es kam Ben tatsächlich schon wie eine Ewigkeit her, wusste er überhaupt nicht, was er tun sollte. Noch nie hatte er seinen Freund weinen gesehen und er fühlte sich so hilflos. Anfangs versuchte er, Michel ein paar Worte zu entlocken und fragte ihn, was denn los sei. Eine Antwort hatte er weder in der ersten noch in den folgenden Nächten bekommen.

Wann immer es passierte, war Michel nie ansprechbar gewesen. Daher ging Ben dazu über, seinen Freund einfach in den Arm zu nehmen, nachdem er kurz um dessen Erlaubnis gebeten hatte. Die Antwort auf diese Frage war stets nonverbal, Michel Umschlag Ben förmlich auf der Suche nach Geborgenheit. So manches Mal musste Ben auch den schraubstockartigen Griff seines durchtrainierten Freundes mit sanfter Gewalt lockern.

Irgendwann beruhigte sich Michel und fiel schließlich in einen unruhigen Schlaf in Bens Armen.

Ben war sich unsicher, ob er diesen Vorfall am nächsten Tag thematisieren sollte, entschied sich aber stets dagegen. Weder mit Michel noch mit Eggsy sprach er über die Vorkommnisse der Nächte, sondern er schluckte es ein ums andere Mal herunter. Auch ihm, der sonst schneller redete als er nachdachte, war in der Zwischenzeit die Lust am Reden vergangen.

Ihnen blieb einzig das gemeinsame Starren auf den Horizont tagein tagaus.

Warten.

Sie hatten schon bald aufgehört zu mutmaßen, wann ihre Freunde wohl wieder kommen würden. Aber die Hoffnung auf ein Wiedersehen hatte keiner der beiden aufgegeben. Sie waren sich sicher, dass FX mit Henne und Emil im Schlepptau hier am Strand wieder auftauchen würde.

Bald.

Hoffentlich


Natürlich entging Eggsy kein noch so kleines Detail, was sich zwischen Ben und Michel abspielte. Auch wusste er Bescheid über die tränenreichen Nächte der Freunde. Und es tat ihm weh zu sehen, wie die Freunde seines Zöglings litten.

Im Gegensatz zu ihnen wusste Eggsy immerhin, dass es FX gut ging. So viel konnte er spüren. Jedoch war es ihm aufgrund dieses vermaledeiten Protokolls verboten, aktiv seine Fühler nach seinem Schüler auszustrecken. Sowohl für ihn, als auch für Johannes, wäre es ein Leichtes gewesen, FX aufzuspüren und gegebenenfalls Unterstützung zu bieten. Aber das Protokoll verbot eben jegliche Einmischung. Darin waren sich alle verbleibenden Einundvierzig einig.

Eggsy beneidete Johannes, weil dieser sich kurz nach der Party einfach aus dem Staub machen konnte. Mit Sicherheit lenkte er sich mit irgendwelchen spannenden Missionen ab, jagte temporale Flüchtlinge und hatte seinen Spaß dabei. Er hingegen war dazu verdammt, die Saison in seinem Kiosk zu verbringen, Gäste zu bewirten und Michel und Ben beim Leiden zuzuschauen.

Ihre Beharrlichkeit, das Protokoll zu befolgen, hatte nach der Party zu sehr hässlichen Worten zwischen ihnen geführt. Beide Seiten waren nicht glücklich über die Situation. Bei den Jungen herrschte Unverständnis vor, gepaart mit fast schon Hass auf ihn und Johannes.

Sicherlich war das Warten und die damit verbundene Zeit für ihn ganz anders als für die Beiden. Zeit spielte für ihn nur eine untergeordnete Rolle, er ignorierte sie einfach. Zeit war ihm egal, er war im Stande, diese zu ignorieren. Das brachte sein Beruf und seine Berufung mit sich. Aber Michel und Ben konnten das nicht. Sie litten jede einzelne Minute, in der sie nicht wussten, was passieren würde.

Aber Eggsy wusste ebenfalls, dass dies nur eine vorübergehende Phase sein würde. Die einzige Frage, die sich stellte war, ob Ben und Michel an dieser neuen Situation der Einsamkeit zerbrechen oder diese Herausforderung meistern würden. Für diesen Fall traute sich Eggsy tatsächlich nicht, einen Blick in die Zukunft zu riskieren. Er hatte schlichtweg Angst vor der Wahrheit.


Ben war verwirrt. Diese Zerbrechlichkeit und Dünnhäutigkeit seines Freundes hatte er nicht erwartet. Michel war immer der Starke, er war der, der logisch dachte und die Schritte genau analysierte. Er behielt auch in den schlimmsten Situationen immer einen klaren Kopf und hatte einen Plan. Es sei denn, es war Blut im Spiel, denn das rote Elixier des Lebens konnte er nicht sehen. Dann brannten ihm alle Sicherungen durch und ihm schwanden binnen Sekunden die Sinne. Ben musste schmunzeln, als er an den blutigen Ausflug in die geheimen Gänge dachte, wo FX schwer verletzt wurde und Michel sich die Seele aus den Leib gekotzt hatte, bis er bewusstlos wurde.

Aber diesmal war alles anders. Eigentlich hätte Ben erwartet, Michel würde ihm Mut zusprechen und Zuversicht ausstrahlen, dass Michel ihn in den Arm nehmen und sagen würde, dass alles bald wieder gut werden würde.

Doch dem war nicht so. Michel hatte sich in ein Häufchen Elend verwandelt. Tagsüber konnte er noch halbwegs die Fassung bewahren, sobald sie jedoch allein in ihrem Zelt lagen, zerbröselte er förmlich vor Bens Augen. Sein sonst so aufrechter Gang verschwand mit jedem Schritt heim und schließlich trottete er mit hängendem Kopf zurück zu ihrem Zelt. Und wenn sie schlafen wollten, fand er keine Ruhe, sondern starrte im glasigen Augen die dunkle Zeltplane an.

Und so war es an Ben, der stärkere in der Beziehung und für Michel eine Stütze zu sein, wann immer er ihn brauchte. Und das war ziemlich oft. Er genoss die Nächte, in denen er mal durchschlafen konnte und nicht vom leisen Schluchzen seines Freundes geweckt wurde.

Doch es machte ihm nichts aus. Selbstverständlich war er für seinen Freund da und versuchte, ihn aufzuheitern, wann immer es ging und ihn aufzufangen, wann immer es nötig war.

Und es war oft nötig.

Das Warten schien kein Ende zu nehmen, aber Ben war sich sicher, dass seine Freunde wieder kommen würden.

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