Quartett
Teil 58 - Zeitsprung
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Informationen
- Story: Quartett
- Autor: ratte-rizzo
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Science Fiction, Fantasy und Mystery
58. Zeitsprung
Gerade noch im Weiß, stand Ben jetzt im dunklen Seitengang und wäre fast mit Emil und Henne zusammengestoßen, die unmittelbar vor seiner Tür standen. Ben erschrak kurz, waren die beiden doch bestimmt schon vor zehn Minuten gegangen. Aber dann erinnerte er sich daran, dass er ja einen kleinen Hüpfer in der Zeit gemacht hatte und FX das ganze vermutlich so gesetzt hatte, dass sie alle zum selben Zeitpunkt wieder auf der Party waren.
Den ersten Zeitsprung in seinem Leben hatte er sich viel aufregender vorgestellt. Noch dazu hätte er sich deutlich andere Vorzeichen gewünscht, als die, die jetzt herrschten. Alle Zeichen standen gerade auf Alarm, um Michel zu retten. Viel lieber hätte er diesen ersten Zeitsprung ausgekostet und mit allen Sinnen genossen, sofern es denn überhaupt etwas zu spüren gab. Gemerkt hatte er gerade nichts. Aber vielleicht hatte FX das alles auch so eingestellt, dass es möglichst unscheinbar und normal war. Aber jetzt war nicht die Zeit, darüber zu grübeln, denn er hatte eine Mission zu erfüllen.
Seine Freunde hatten ihn gerade noch im Augenwinkel gesehen, als Ben ihnen kurz zuzwinkerte und sich routiniert mit einem Sprung nach links mit der umgebenden Materie verschränkte und in die Achte Dimension verschwand. Für alle anderen war er nun unsichtbar. Für ihn selbst erschien die Welt jetzt halbtransparent. Jetzt war er froh, dass FX ihn so oft und so unnachgiebig mit nicht enden wollenden Trainingseinheiten gequält hatte. Seinen eigenen Sprung konnte er mittlerweile im Schlaf durchführen. Und auch andere Gegenstände und Menschen konnte er schon sehr sicher mitnehmen.
Aber seine neue Aufgabe flößte ihm gerade etwas Respekt ein. Er sollte nicht komplette Dinge mitnehmen, sondern nur Teile davon. Und dann auch noch Teile von Menschen! Ben schluckte erneut, jetzt wo es ganz konkret wurde. Diese Kraft brachte, unter dem neuen Aspekt betrachtet, auch viel Verantwortung mit sich. Nicht nur, dass er Menschen damit töten konnte, nein, das Dilemma fing schon viel früher an. Er konnte entscheiden, welchen Menschen er dafür nehmen wollte. Er konnte quasi ein bisschen Gott spielen. Ben wurde ganz flau im Magen.
Doch da kreuzte plötzlich ein etwas untersetzter Kommilitone seinen Weg. Ben entschied, dass dieser Mensch der ideale Kandidat für einen ersten Versuch sein würde. Der ausgeprägte Bauch bot viel Toleranzmöglichkeiten, sollte er nicht ganz so präzise treffen wenn er Teile davon mitnehmen würde.
Ben wusste genau, was er zu tun hatte. Es war so einfach, dass selbst ein Kind es tun könnte: Er müsste nur mit zwei Fingern durch den Bauch seines Gegenüber streichen, als würde er aus einer Schüssel mit Kuchenteig naschen. Wenn er sich dann darauf konzentrierte, und die Materie erfasste, wie er es auch sonst tat, dann würde er einfach etwas Gewebe seines Kommilitonen mit in die Verschränkung nehmen und die entstandene kleine Furche würde sich sofort schließen.
Theoretisch.
Sein Plan klang so gruselig. Kuchenteig. Ein Mensch war doch keine Schüssel aus Kuchenteig! Ben war sich sicher, er konnte das nicht. Er konnte nicht einfach so einen Menschen schaden, in quasi in Stücke reißen. Ihn fast in den Tod treiben.
Ben atmete durch.
Das Bild von Michel kam ihm wieder in den Sinn. Sein Freund, wie er ausgemergelt auf dem Boden des Weiß lag. Michel war am Ende, nur noch ein elender Haufen aus Haut und Knochen. Michel würde sterben. Ben war der Einzige, der das verhindern konnte. Nur er war entsandt worden, um rettendes Gewebe für seinen Freund zu besorgen.
Er musste es tun, ob er wollte oder nicht. Machte er dabei einen Fehler, würden vielleicht Menschen sterben. Tat er es jedoch nicht, würde garantiert jemand sterben. Er musste einfach nur sehr präzise arbeiten und sich voll darauf konzentrieren.
Theoretisch.
Ben versuchte sein Glück. Doch war er skeptisch, ob es wirklich so einfach sein sollte. Er erinnerte sich nur ungern an die Anfänge seines Trainings, als FX ihn Stunde um Stunde mit einer neuen Trainingseinheit gequält hatte, damit er es endlich lernte, fremde Materie im Handumdrehen zu erfassen und mitzunehmen. Der Weg zur Routine war bei ihm steil und steinig gewesen. Daher machte er sich gerade wenig Hoffnung, dass es auf Anhieb klappen würde. Vermutlich würde er den ganzen Abend der Party benötigen, um überhaupt einen Bruchteil der Menge zusammen zu bekommen, die sein Freund Michel gerade so dringend brauchte. Andererseits erinnerte er sich daran, was FX zu Emil gesagt hatte und was er eigentlich schon selber wusste: Durch das Weiß konnten sie beliebig oft in der Zeit etwas zurückspringen und alles so oft wiederholen, wie es nötig war. Und zum anderen stand für Michel die Zeit in der Universellen Vermittlung ohnehin still, bis er sie wieder verließ. Es gab also keinen Grund zur Hektik.
Eigentlich war es gar nicht nötig, da man in der Achten Dimension nicht atmen musste und konnte, dennoch hielt Ben vor Anspannung die Luft an und schloss die Augen, als er mit zwei Fingern durch die imaginäre Teigschüssel strich, in der Hoffnung, dass etwas an seinen Fingern hängen bleiben würde.
Ein lautes Quieken entfuhr ihm vor lauter Freude. Theoretisch zumindest, denn in der verschränkten Materie konnte man nicht sprechen. Dennoch machte sein Herz vor Freude Luftsprünge, als er feststellte, dass er tatsächlich eine Hand voll Bauchfett aus seinem Kommilitonen herausgeholt hatte und nun quasi als Trophäe in der Hand hielt. Er konnte gar nicht glauben, dass es so einfach war, daher griff er erneut zu. Sein Mitstudent war etwas korpulenter, weshalb Ben beschloss, dass das schon okay sein würde, wenn er sich ein weiteres Mal bedienen würde.
Natürlich wusste er, dass das eigentlich alles andere als okay war. Er wusste, dass der Zweck eben nicht die Mittel heiligste. Dennoch war er für sich im Reinen, dass er niemandem großen Schaden hinzufügte und stattdessen ein Menschenleben retten würde.
Er griff dieses Mal etwas beherzter zu und holte deutlich mehr heraus, als beim ersten Mal.
Und auch jetzt klappte es einwandfrei! Ben war stolz auf sich und wie effektiv er an dieser Herausforderung arbeiten konnte. Hochkonzentriert und aufmerksam entging ihm nicht, dass dem Kommilitonen, an dem er sich gerade bedient hatte, etwas schwindelig wurde und offensichtlich auch flau im Magen, denn dieser hielt sich gerade den Bauch, als habe er etwas falsches gegessen.
Das führte ihm wieder vor Augen welch große Verantwortung auf ihn lastete. Seine Kraft konnte er anscheinend problemlos auch missbrauchen und anderen schnell und heimlich großen Schaden zufügen. Es war so unglaublich einfach.
Noch bevor seine Gedanken wieder zu seinen Freund Michel und dessen Rettungsaktion zurück wanderten, beschloss Ben für sich, dass er niemals in seinem Leben anderen Menschen mit seiner Kraft Schaden hinzufügen würde! Das könnte er sich selbst niemals verzeihen.
„Henne, hast Du das schon einmal gemacht?”
Emil war hinter dem kleinen Punk durch die Tür vom Weiß zurück in die Party gegangen. Es umgab die beiden jetzt fast schon schwarze Finsternis, obwohl es nur die übliche schummerige und gemütliche Partybeleuchtung war.
„Was meinst Du? So einen Zeitsprung? Nein, noch nie. FX hat uns ein paar Mal mit ins Weiß genommen, aber wir sind hinterher immer an der Stelle heraus gekommen, wo wir rein gegangen sind. Oder zu dem Zeitpunkt, sollte ich vielleicht besser sagen.”
„Und fühlt es sich anders an? Ich meine, mal von dem Hell und Dunkel abgesehen, fühlt es sich ganz normal an, als ginge man durch eine Tür wie jede andere auch.”
„Ja, da geb ich Dir Recht. Sowohl mit als auch ohne Zeitsprung fühlt es sich ganz normal an, als ginge man durch eine beliebige Tür. Und ich konnte bisher auch nicht einmal etwas spüren. Wobei …” Henne hielt kurz inne und horchte in sich hinein, bevor er fortfuhr: „Es ist hier draußen irgendwie ‚lauter’. Also sowohl vom normalen Geräuschpegel her, als auch von dem, was ich als Empath spüren kann. Das Fehlen der Menschen im Weiß, das ist das, was ich spüre.”
„Stimmt, zumindest den Teil mit dem Geräuschpegel kann ich bestätigen. Es ist, als ginge man in einen schalldichten Raum. Und auch mein Gespür, Feinde aufzudecken, fühlt sich irgendwie an, als sei es in Watte gepackt. Irgendwie auf Standby, als brauchte man es dort nicht.”
„Komisch.”
Beide seufzten gleichzeitig dasselbe Wort, sahen sich kurz an und mussten lachen. In diesem Augenblick sahen beide im Augenwinkel, wie Ben ebenfalls durch die Tür schritt, jedoch mit einem kurzen Kopfnicken sofort verschwand.
„Was zum …”
„Oh, das hast Du noch nie gesehen, oder, Emil?” Der Angesprochene schüttelte nur kurz den Kopf. „Ben kann sich mit der Materie verschränken, also quasi durch sie hindurch gehen, wie ein Geist. Dabei ist er unsichtbar. Er kann auch andere mitnehmen. Das ist total abgefahren.”
„Ihr seid aber schon etwas … gruselig!”
Henne blickte Emil zunächst wortlos von unten her an, bevor er betreten und verlegen zu Boden schaute.
„’tschuldige”, murmelte er nur.
„Moment, mein kleiner süßer Punk, so nicht!” Emil griff vorsichtig, aber sehr bestimmend nach Hennes Kopf und hob ihn hoch, so dass er in seine Augen blicken musste. „Erstens war das absolut wertneutral gemeint und zweitens weißt Du gar nicht, wie ‚gruselig’ wir sind!”
Um Henne zu beweisen, dass er mindestens genauso komisch war, wie Henne, zog er mit einer routiniert geschwungenen Bewegung einen kleinen verzierten Stab aus der Hosentasche und strich ihn über eines seiner Tattoos am Unterarm, das sogleich golden zu leuchten begann.
Noch bevor Henne etwas in seiner Überraschung erwidern konnte, legte Emil ihm seinen Zeigefinger auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen.
„Wir sollten jetzt unseren Job erledigen, glaube ich.”
Henne nickte stumm und folgte Emil zur Tanzfläche. Dort weiter hinten, bei den Fässern, da würden sie, Henne und Emil, jetzt stehen und sich unterhalten, während Michel sich gerade verabschiedet hatte und gleich zu ihnen zum Tanzen kommen würde.
Ohne ein Wort zu wechseln, postierten sich die beiden strategisch günstig an gegenüberliegenden Ecken der Tanzfläche, so dass sie beide Michel aus verschiedenen Blickwinkeln im Auge haben konnten.
Mittlerweile hatte Ben eine gewisse Routine entwickelt und manchmal gelang es ihm sogar, von zwei Menschen gleichzeitig etwas Gewebe mitzunehmen. Wie ein Geist bewegte er sich durch die tanzende Menge und stibitzte hier und dort immer wieder so wenig, dass es den einzelnen gar nicht auffiel, in der Summe bei ihm jedoch schon zu einem bemerkenswerten Haufen zusammengekommen war.
Dann erblickte er plötzlich Michel in der tanzenden Menge und sein Herz setze einen Schlag aus. Ben musste sich sehr zusammenreißen, nicht zurückzuspringen und Michel zu warnen. Oder noch besser, ihn am besten gleich komplett zu verschränken und so vor den Unbekannten zu retten. Aber er vertraute FX, der ihnen allen eindringlich nahegelegt hatte, nicht von dem Plan abzuweichen. Immerhin war er ja der Experte, was Eingriffe in das Zeitgeschehen anging. Daher würde auch Ben seinen Auftrag peinlich genau befolgen, obwohl es ihm in diesem Moment sehr schwer fiel.
Da er den Anblick und das seinem Freund drohende Schicksal nur schwer ertragen konnte, wandte er sich von der Tanzfläche ab und geisterte weiter hinten durch die Katakomben, in Richtung der Fässer, wo ebenfalls viele Menschen standen und sich unterhielten. Dort sollte er ohnehin noch einfacheres Spiel haben, da sich die Leute dort nicht so sehr bewegten, wie auf der Tanzfläche.
Unterdessen saß FX im Weiß der Universellen Vermittlung. Wie üblich, hatte er es sich im Schneidersitz bequem gemacht und hockte genau zwischen dem bewusstlosen Michel und dem mittlerweile vor Erschöpfung eingeschlafenen Paul. Eigentlich sollte er seinen Aufenthalt im Weiß genießen, wo die Zeit still stand und man einfach mal nichts tun konnte und brauchte. Normalerweise konnte er hier hervorragend abschalten und seine Gedanken einfach ausknipsen und an nichts denken. Aber heute wollte ihm das nicht gelingen. Egal ob er seine Augen schloss oder in die weiße Unendlichkeit blickte, ständig kreisten seine Gedanken entweder um Michel oder um Paul.
Gerade dieses vollkommen atypische Verhalten von Paul war es, was ihn zwar nicht beunruhigte, aber zumindest zum Grübeln anregte. So eine eigenartige Reaktion in der Universellen Vermittlung hatte er in all den Jahrhunderten noch nie erlebt. Und sein Gehirn liebte es, solche Rätsel zu knacken.
Eigentlich, da war sich FX nahezu sicher, konnte es nur an der Tatsache liegen, dass es sich bei den beiden neuen Freunden um Schattenjäger handelte, die ihrerseits über eigene Fähigkeiten verfügten. Eine andere Erklärungsmöglichkeit gab es in FX’ Augen schlichtweg nicht. Bisher hatte es immer nur zwei mögliche Reaktionen gegeben. Entweder passierte gar nichts bei jemandem, der zum ersten Mal im Weiß war, oder aber demjenigen wurde fürchterlich schlecht. Dann übergab er sich und das war es. Danach herrschte auch für diese Menschen die Normalität im Weiß.
Was genau das allerdings hier mit den Schattenjägern war, darüber konnte er lediglich spekulieren. Aber ihm war schon mehrfach aufgefallen, dass Emil und Paul über eine ihm unbekannte, aber anscheinend sehr effektive Art kommunizierten.
Immerhin hatte Emil ihm ja in Aussicht gestellt, dass er das Geheimnis lüften würde, sobald sie Michel gerettet hatten. Wieder einmal ärgerte sich FX darüber, dass fast alle Menschen immer nur sequentiell und besonders zeitlich linear dachten. Gerade hier im Weiß hatten sie unendlich viel Zeit, um dieses Phänomen zu erklären, aber nein, Emil bestand darauf, erst Michel zu retten und dann zu quatschen, obwohl man auch beides hätte gleichzeitig machen können.
FX schmollte.
Ben war etwas in Gedanken verloren, weil er darüber nachdachte, wie er denn messen sollte, wie viel rettendes Gewebe er schon gesammelt hatte. Hier, in der verschränkten Materie gab es kein Gewicht und er konnte es nur schwer abschätzen, ob er schon genug gesammelt hatte oder noch weitere Runden drehen musste.
Und urplötzlich stand er sich selbst gegenüber. Fast wäre er durch sich selbst hindurch gewandert, wie er es schon ganz selbstverständlich durch unzählige andere Partygäste gemacht hatte. Aber mittlerweile war er durch sein Umhertreiben an ihrem eigenen Tisch gelandet, wo er neben sich selbst noch Henne und FX sah, sowie die beiden tätowierten Schattenjäger, die er nach wie vor unglaublich sexy fand.
Als er so vor sich selber stand und in seine eigenen Augen blickte, als sei es ein Spiegel, wurde ihm ganz flau im Magen. FX hatte ja angedeutet, dass es kein Problem sei, wenn man sich selbst mit einem kurzen Zeitversatz begegnen würde. Aber wenn FX ‚kein Problem’ sagt, konnte das für den Großteil der Menschen durchaus immer noch recht schwierig sein. Und so spürte auch Ben gerade eine Mischung aus Unbehagen und Neugierde auf sich selbst.
Er war sich nicht sicher, ob er durch sich selbst hindurch schreiten sollte oder überhaupt konnte. Es juckte ihm buchstäblich in den Fingern, einmal durch seinen eigenen Körper hindurchzugehen und sich selbst von innen zu sehen. Doch Ben entschied sich für die Taktik ‚Vorsicht’ und wollte nur einen einzigen Finger in seinen eigenen Körper bohren. Einfach nur um zu wissen, wie es sich anfühlte, ob es sich überhaupt irgendwie anfühlt.
Und dann, sein Finger war weniger als einen Zentimeter von seiner Selbst entfernt, nickte sich Ben plötzlich selber zu! Er erschrak so sehr, dass er mehrere Schritte rückwärts ging und fast stolperte, wobei er in der Verschränkung zwar nicht stolpern, jedoch das Gleichgewicht verlieren konnte und dann unkontrolliert umher schweben würde.
Ben verstand die Welt nicht mehr. Wieso konnte er sich selbst sehen? Wenn er mit Materie verschränkt war, war er für alle anderen unsichtbar. Nur, wenn jemand anders ebenfalls verschränkt war, konnte man sich gegenseitig sehen. Aber dass jemand von außerhalb zwischen die Materie gucken konnte, war absolut unmöglich. Zumindest hatte er es so von FX gelernt. Wie also konnte er sich selber sehen?
Und schon hatte sein eigenes Ich aus der Vergangenheit wieder weggeschaut und unterhielt sich mit seinen Freunden. Es war nur ein kurzer Blickkontakt zwischen ihnen und dann dieses verräterische Nicken.
Nur sehr langsam kam es Ben wieder in den Sinn, was FX über die Begegnung mit seinem eigenen Ich in der Vergangenheit oder Zukunft sagte. Man würde sich erkennen, man würde sich kurz zunicken und dann seiner Wege gehen. Nur hatte er nichts davon gesagt, dass das auch in der Verschränkung funktionieren würde, dieser Lump! Ben war etwas sauer auf FX, dass er ihm dieses kleine Detail vorenthalten hatte. Aber es war letzten Endes ja auch logisch. Ben hatte die Fähigkeiten. Hatte sie jetzt, in der nahen Vergangenheit und auch in der nahen Zukunft. Warum sollte er dann nicht wissen, wann sein eigenes Ich in der Nähe war.
Dennoch war es gruselig. Mehr als gruselig sogar!
Doch nun entsann sich Ben wieder auf seine eigentliche Aufgabe. Er trug das gesamte gesammelte Gewebe aus Körperfett und Muskelmasse quasi Huckepack. Er musste ständig Körperkontakt dazu halten, damit das fremde Gewebe nicht aus der Verschränkung entglitt und in die normale Welt verschwand. Glücklicherweise hatte hier in der Achten Dimension nichts ein Gewicht, so dass er problemlos mit so viel Ballast herumlaufen konnte. Und da hier die Schwerkraft auch nicht griff, fiel es auch nicht zu Boden, sondern blieb als riesiger Klumpen an seinem Rücken hängen.
Ein Blick über seine Schulter bestätigte, dass er innerhalb der kurzen Zeit eine beachtliche Menge angesammelt hatte. Vom Volumen her in etwa so viel, wie sein eigener Oberkörper. Daher entschied Ben auch, dass es ausreichend sei, da es immerhin mehr als die Hälfte seines Körpergewichts war.
Ben nahm den kürzesten Weg durch den Saal, durch die Menschen und die Wände zurück zu dem Raum, wo die Tür war, aus der er vorhin gekommen war. Gleich würde er zurückspringen und die Verschränkung lösen und dann würde sich hoffentlich sogleich die Tür vor ihm zeigen, damit er zurück zu den Anderen konnte.
Gerade wollte er zurückspringen, als ihm einfiel, dass er sich noch keine Gedanken gemacht hatte, wie er zig Kilo fremdes Gewebe für Michel mit zurückbringen sollte. Schließlich konnte er es schlecht mit seinen beiden Händen vor sich her tragen.
Henne beobachtete unentwegt seinen Freund Michel, wie er im Rhythmus der Musik auf der Tanzfläche seine Runden drehte. Keinen einzigen Augenblick ließ er ihn aus den Augen, zwinkerte nicht einmal. Dennoch ließ er parallel dazu seine Gedanken schweifen, um etwas zu trainieren. Die Emotionen so vieler Menschen auf einmal wahrzunehmen war durchaus eine Herausforderung, wenn man sich auf nur einen von ihnen konzentrieren wollte. Es war quasi, als würden hunderte Menschen einen Monolog mit unterschiedlicher Lautstärke führen und man wollte einem ganz speziellen Redner zuhören. Die anderen dann auszublenden, erforderte höchste Konzentration. Und dazu kam dann noch, dass Henne natürlich seine Aufmerksamkeit nicht von Michel abschweifen lassen wollte. Er musste also mit den begrenzten Ressourcen sehr gezielt umgehen.
Während er seine empathischen Finger ausstreckte und hier und dort bei den Partygästen fühlte, musste er zu seiner Langeweile feststellen, dass die meisten eher ausgelassen und fröhlich unterwegs waren. Kein Wunder eigentlich, war es doch die Abschlussparty eines anstrengenden Semesters. Da gab es allen Grund, ausgelassen und fröhlich zu sein.
Aber dennoch, eine Person stach aus dem empathischen Grundrauschen sehr deutlich hervor. Dieser Mensch glänzte durch absolut keinerlei Emotionen. Er war quasi ein schwarzes Loch in der bunten Menge an Gefühlen. Ganz automatisch beschäftigte sich Henne mit diesem zweifelsfrei spannenden Menschen, der unpassender Weise ganz emotionslos hier auf einer Party zu sein schien. Er versuchte, ihm auf empathischer Ebene näher zu kommen.
Er setzte zum Spagat an: Einerseits behielt er Michel fest im Blick, andererseits machte er einen empathische Ausflug zu diesem spannenden Menschen. Viele Menschen waren zwischen ihnen, die er galant umrundet, bevor er mit seinen empathische Fähigkeiten quasi direkt vor diesem schwarzen Loch stand. Leider musste er im selben Augenblick feststellen, dass diese interessante Person Emil war. Und leider hatte Emil seinerseits bemerkt, dass er von Henne quasi gefilzt wurde, oder dieser es zumindest versuchte.
Henne zuckte kurz zusammen. Er war verwirrt, wieso es überhaupt jemand bemerken konnte, wenn er ganz vorsichtig eine empathische Verbindung aufzubauen versuchte. Schließlich war das Kapitel ‚Diskretion’ bei seiner Empathie-Ausbildung eines der Wichtigsten gewesen und FX hatte extrem großen Wert darauf gelegt, dass er immer im Geheimen agieren sollte. Umso erstaunter war Henne jetzt, dass er von Emil ertappt worden war.
Emil seinerseits war gar nicht verwundert. Der kleine süße Punk mit dem heute regenbogenfarbenen Iro hatte sich verdammt gut angestellt, seinen Vorstoß zu verschleiern. Aber dadurch, dass er, Emil, eine sehr breite Ausbildung in multidimensionaler Abwehr durchlaufen musste, blieb ihm dieser freundschaftliche Vorstoß von Henne natürlich nicht verborgen.
Fast unmerklich schüttelte Emil den Kopf und lächelte Henne quer über die Tanzfläche hin an. Er wollte unbedingt ein Zeichen setzen, dass er das nicht als feindlichen Angriff gesehen hatte, sondern Henne nach wie vor als Vertrauten und Freund ansah. Kurz überlegte er, ob er seine Fassade fallen lassen sollte und entschied sich schließlich dazu, für einen winzigen Augenblick seine Abwehr gegen Hennes empathischen Finger zu öffnen. Er war einfach zu neugierig, wie der Kleine darauf reagieren würde.
Erschrocken zuckte Henne zusammen, als Emil sich plötzlich hinter die Kulissen schauen ließ. Es war nur für den Bruchteil einer Sekunde, fast wie ein Blitzlicht, das einen stockdunklen Raum kurz erleuchtet. Das Auge nimmt alles auf einmal wahr, das Gehirn jedoch braucht etwas länger, um diese Eindrücke zu verarbeiten.
Was Henne in dem kurzen Moment sah oder besser gesagt fühlte, war alles auf einmal. Die ganze Palette an Emotionen, die er jemals selbst gefühlt oder bei anderen erlebt hatte, prasselten gleichzeitig von Emil auf ihn herein. Die optische Übersetzung wäre ein gigantisches Wimmelbild, was das reinste Chaos darstellt und in den Details unzählige verschiedene Geschichten erzählte.
Ein leises Kreischen entfuhr Henne, er konnte es einfach nicht unterdrücken, so überfrachtet war er gerade von Emils Gefühlen. Glücklicherweise hörte es niemand hier auf der Tanzfläche mit der lauten Musik, so dass seine Überraschung außer für Emil absolut unentdeckt geblieben war.
Emil konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Wer mit dem Feuer spielt, muss damit rechnen, dass er sich verbrennt.
Da stand er nun, auf der Zielgeraden. Ben war noch immer mit seiner Umwelt verschränkt, aber bereit, diese zu verlassen und durch die dann hoffentlich erscheinende Tür in die Universelle Vermittlung zurückzukehren zu Michel. Aber ihm war immer noch keine gute Idee eingefallen, wie er die schätzungsweise fünfzig Kilo an fremdem Gewebe für Michel mit hinüber nehmen konnte. Zwar trug er das alles in der Verschränkung bei sich, aber er war sich nicht sicher, was passieren würde, sobald er zurückspränge.
Er grübelte darüber, was sie alles in seinem Unterricht an Lektionen dran genommen hatten und wie er das für sein Problem nutzen könnte. Aber so recht einfallen mochte ihm auch nichts. Er wusste nur, dass das Verschränken so lange funktionierte, wie er Körperkontakt mit was auch immer hatte. Brach dieser ab, ploppte alles wieder zurück in die Realität.
Körperkontakt. Körper. Ben grübelte. Könnte er das ganze fremde Zeugs vielleicht in seinen Körper aufnehmen? Falls das möglich wäre, hätte er zwar keine Ahnung, wie er die überschüssigen Pfunde wieder los werden sollte, aber dann wäre ja auch FX da, der dazu bestimmt eine passende Idee hätte.
Mangels Alternativen entschied er sich, diesen Ansatz weiter zu verfolgen. Zunächst einmal musste er sich innerlich mit dem fremden Fett vereinen.
Überraschenderweise war das jedoch einfacher, als er zunächst angenommen hatte. Von seinem Depot auf dem Rücken verlagerte er alles in seinen Bauch, auf seine Brust. Nur ein kleiner Teil verblieb dort, wo er war. Er musste das Zeug lediglich durch sich hindurch in die Mitte seines Körpers drücken. Da hier in der Achten Dimension für ihn sowieso alles durchdringbar war, war es ein Leichtes für ihn.
In Windeseile hatte er so zig Kilo assimiliert. Er sah an sich herunter und stelle fest, dass er unglaublich fett geworden war. Seine sonst so schlaff und weit sitzenden Skater-Klamotten saßen eng und waren viel zu klein.
Doch das kümmerte ihn jetzt nicht. Es war Zeit, zu gehen. Er vollzog den Sprung zurück nach rechts und den Schritt nach links und löste sich aus der Verschränkung.
Fast gaben seine Knie nach, als er das überraschend hohe Gewicht auf seinen Beinen spürte. Er war sehr viel schwerer, als noch vor dem Sprung und jede noch so kleine Bewegung war anstrengend und fühlte sich irgendwie behäbig an.
Er war noch keine Minute wieder in dem kleinen Seitenraum und schon schwitzte er vor Anstrengung. Hoffentlich würde sich bald diese verdammte Tür öffnen, bevor ihn seine Kräfte verließen. Doch genau in diesem Augenblick erschien die Tür, die einen Spalt weit geöffnet war durch den das gleißende Weiß strahlte. Doch sie kam ihm ziemlich eng vor und war es auch. Ben musste sich förmlich hindurch quetschen und dabei auch noch die Luft anhalten, bevor er mit einem schmatzenden Geräusch ins Weiß fiel und sich die Tür sogleich schloss.
Henne hatte sich von dem Schreck erholt, den Emil ihn mit einem Einblick in seine Gefühlswelt gegeben hatte. Im Prinzip war es genau das gleiche Wirrwarr und Vielfalt an Gefühlen, wie er sie hier auch auf der Party oder auf jedem belebten Platz spürte. Überraschend war allerdings, dass solch ein Konzentrat gleichzeitig in einem einzigen Menschen herrschen konnte.
Vergessen hatte Henne diesen Einblick nicht, jedoch verdrängte er das Erlebte zunächst, denn jetzt gerade war wichtigeres zu tun. Er konzentrierte sich wieder voll auf Michel, der sich ganz entspannt auf der vollen Tanzfläche der Musik hingab.
Henne wusste nicht, ob er ihn erst spürte oder erst sah, aber urplötzlich war auch Nico, sein Peiniger, auf der Tanzfläche. Der Kerl, der ihn im ersten Semester gekidnappt und gefoltert hatte. Nie würde er das Erlebte dort vergessen. Nie könnte er diesen Kerl vergessen, der eigentlich schon längst seinen Abschluss hätte haben müssen, aber wegen Blödheit ein paar Semester dranhängen musste.
Dieser Nico verströmte eine unglaublich negative Energie und war geladen von Frust und Hass. Und er bewegte sich auf Michel zu! Henne konnte sich nur mit sehr großer Mühe zurückhalten und nicht zu seinem Freund laufen und ihn warnen. Die Versuchung war immens, aber er musste dem Plan von FX folgen, auch wenn es für ihn keinen Sinn ergab.
Aus dem Augenwinkel heraus erhaschte er einen Blick auf Emil, der auch den vermeintlichen Übeltäter im Blick hatte. Beide nickten sich unmerklich zu, so dass jeder wusste, dass es gleich ernst werden würde.
Und so kam es auch. Nico steuerte von hinten direkt auf Michel zu, während auch er sich unauffällig im Takte der Musik bewegte. Jedoch verriet sein Gesichtsausdruck jedem, dass er nicht der Musik wegen hier war. Aber niemand achtete auf ihn, er hatte ein einfaches Spiel in der unübersichtlichen Menge.
Während der DJ die tanzende Menge dazu aufforderte, die Hände zu heben um im Rhythmus zu klatschen, war Nico der Einzige, der der Aufforderung nicht nachkam, sondern irgendetwas in seiner Hosentasche zu suchen schien. Und dann, mit etwas Verzögerung, hob er doch die Arme, wobei er unverkennbar einmal an Michels Nacken entlang strich. Es war genau an der Stelle, an der FX später im Weiß dieses ekelige Zeug von Michel wieder abziehen würde.
Michel selber schien es gar nicht bemerkt zu haben, dass er gerade von jemandem hinten berührt wurde. Wie das ganze tanzende Volk war er schon fast in Trance versunken und ohnehin ständig in Körperkontakt mit irgendjemanden.
Kaum, dass Nico seine Mission erfüllt hatte, tanzte er sich auch schon wieder an den Rand der Tanzfläche und verschwand. Auf seinem Weg von der Tanzfläche und hinaus aus dem Keller kam er direkt an Emil vorbei, der seinen Widersacher noch einmal aus der Nähe musterte und sich sein Gesicht genauestens einprägte.
Irgendwie hatte Henne aus der Entfernung den Eindruck, als hätte Emil ihren alten neuen Feind mehr als nur angeschaut, aber er mochte sich auch getäuscht haben. Wieder kreuzten sich ihre Blicke und beide gaben sich zu verstehen, dass es Zeit wäre, die Veranstaltung zu verlassen.
Im Nebenraum der Party trafen sie zum ersten Mal wieder aufeinander und es war leise genug, dass sie ein Wort hätten wechseln können. Doch keinem der Beiden war nach Reden zu mute. Sie wollten einfach nur weg von hier, zurück in das Weiß der Universellen Vermittlung, zurück zu Michel, um ihm zu helfen.
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