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Quartett

Teil 54 - Zirkel

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60. Zirkel

„Wasn nu eigentlich mit diesen Kreisen?“

Der Frühling hatte Einzug erhalten und zeigte sich von seiner besten und sonnigsten Seite. Das sechste Semester hatte begonnen und damit war auch wieder Ruhe in das Leben der Studenten eingekehrt, denn die Sommersemester waren immer deutlich einfacher und entspannter, als die im Winter. Daher war auch keiner der Freunde am Lernen, sondern sie genossen die ersten Sonnenstrahlen gemeinsam am See im Wald. Zwar war das Wasser noch kalt, aber dennoch lud die Szenerie zum Verweilen ein und die Sonne hatte zumindest am Mittag ausreichend Kraft, dass man sich etwas in ihr wärmen konnte.

“Ben, manchmal hab ich das Gefühl, mit Dir in einer Zeitschleife gefangen zu sein. Und daran ist ausnahmsweise nicht FX schuld, sondern Du selbst!”

Michel, der Ben am nächsten saß, griff den erstbesten Gegenstand in seiner Reichweite und warf einen Tannenzapfen nach Ben. Dieser hätte ihn auch am Kopf getroffen, aber Ben war schlauer und hatte sich kurz vor dem Aufprall des Tannenzapfens mit der umliegenden Materie verschränkt, so dass Michels Wurf ihn zwar nicht verfehlte, jedoch einfach durch ihn hindurch ging.

Doch auch Michel war nicht untätig gewesen und hatte in seine persönliche Trickkiste gegriffen. Seine Fähigkeit zur Präkognition hatte ihm bereits prophezeit, dass Ben kurzzeitig verschwinden würde. Außerdem kannte er auch den Augenblick, an dem er wieder zurück gesprungen sein würde. Daher traf Ben der zweite Tannenzapfen dann doch dort, wo Michel ihn haben wollte.

“Autschn! Diggi, Du bist blöd!”

“FX, sind Deine Kinder eigentlich immer so?”

Emil, der mit seinem Kopf auf Pauls Bauch lag, rührte sich keinen Millimeter, und auch seine Stimme klang wie üblich monoton und gleichförmig.

“Nur, weil ich ein kleines bisschen älter bin als die Rotznasen da drüben, bin ich noch lange nicht für sie verantwortlich und schon gar nicht deren Papa!”

“Aber zurück zu Bens Frage …”

Henne hatte seine Augen nach wie vor verschlossen und genoss die Sonne, wie sie sein Gesicht wärmte.

“Also bei der Nummer sind Emil und ich raus, tut mir leid. Die Instruktionen unseres Rates sind in diesem Falle eindeutig: Wir, also die Schattenjäger, sind zwar die Hüter des Portals, dürfen uns an dessen Aktivierung aber in keinem Falle beteiligen.”

Paul hatte die Instruktionen, die sie wiederum von ihrer Führung übermittelt bekommen hatten, präzise zusammengefasst und Emil nickte zur Bestätigung und deutete ihm an, weiter zu erzählen, indem er mit dem Zeigefinger eine kleine Drehbewegung vollführte.

“Emil, dazu haben wir keine Freigabe.”

“Es wurde uns aber auch nicht explizit verboten. Die Info hat für die Junx keinen brauchbaren Mehrwert, dient aber vielleicht zum Verständnis des Großen und Ganzen.”

“Nur, weil es nicht verboten ist, ist es noch lange nicht erlaubt!”

“Schatz, ich weiß, was Du mir sagen möchtest und ich gebe Dir im Grundsatz Recht. Allerdings ist dieser Fall hier beim Zusammentreffen von uns Schattenjägern und den Zweiundvierzig alles andere als ein Normalfall, das weißt Du ganz genau!”

“Um so wichtiger ist es, dass wir an unseren Grundregeln festhalten!”

“Die Richtlinien für den ersten Kontakt geben uns den Spielraum, von diesen Grundfesten abzuweichen. Du kennst sie genauso, wie ich …”

“Meine Fresse, Emil, Du wirst ohnehin Deinen Kopf durchsetzen. Du und FX, ihr seid es schließlich, die den ersten Kontakt hatten, also kannst Du vom Prinzip her tun und lassen, was Du möchtest, solange Du unsere Existenz und damit die des Rests der Welt nicht gefährdest. Aber wenn Du Dich schon auf das Protokoll für den ersten Kontakt berufst, dann halte Dich auch bitte peinlich genau dran!”

Paul war stinksauer, weil Emil wieder einmal seinen Kopf durchgesetzt hatte. Mit versteinerter Miene und ohne ein weiteres Wort zu sagen, zeigte er zunächst auf seinen Freund Emil, dann auf FX und schließlich wies er in eine beliebige Richtung, quer über den See.

Die vier Freunde hatten schweigend den zusehends lauter werdenden Streit zwischen Emil und Paul verfolgt, und je länger er dauerte, desto stiller und kleiner wurden sie alle. Irgendwie empfanden sie diese Situation als sehr unangenehm und wären am liebsten geflüchtet. Henne mit seinen empathischen Fähigkeiten hatte alle Mühe, die hochkochenden Emotionen der beiden nicht zu sehr an sich heranzulassen. Ganz offensichtlich hatte Emil in seinem Inneren viel mehr Gefühle, als er es nach außen hin zeigte. Bisher kannte er den Schattenjäger als einen Menschen, der sich zu fast keiner Gefühlsregung hinreißen ließ. Freude oder Trauer, Schmerzen oder Angst, noch nie hatte Henne irgendetwas in dieser Hinsicht bei Emil gesehen oder gespürt. Um so überraschter war er nun, dass gerade eine Welle an Emotionen über ihn hinein brach, die er nicht beherrschen konnte.

Er hatte in der Uni schon oft einen Streit zwischen zwei oder gar mehreren Menschen gespürt, aber noch nie waren die Signale, die er dabei empfunden hatte, so intensiv wie dieses Mal. Was er jetzt als Dissonanz zwischen den beiden Schattenjägern empfand, war ein Vielfaches dessen, was er kürzlich von Emil alleine empfangen hatte. Es schien sich jetzt regelrecht zu potenzieren.

Henne hatte große Mühe, möglichst viel davon abzublocken, um selbst nicht davon überladen zu werden. Daher war er froh, dass Paul die Auseinandersetzung jetzt beendet hatte, denn viel länger hatte er dem Bombardement an Gefühlen nicht standhalten können.

Im Schneidersitz auf seinen Gipsarm gestützt, hatte FX die Diskussion der beiden verfolgt. Auch war ihm nicht entgangen, wie Henne unter dieser Situation litt. Aber FX wusste, dass sein Freund noch über ausreichend Reserven verfügte und er ihm noch lange nicht zur Hilfe eilen musste. FX wusste, dass Henne das alleine aushalten würde und war stolz auf seinen kleinen Punk, dem er so viel beigebracht hatte.

Gespannt wartete FX darauf, was als nächstes geschehen und wie Emil und Paul die Situation auflösen würden. Emil erhob sich schweigend und blickte zu FX hinüber und deutete ihm mit einem Kopfnicken an, ihm zu folgen. Er würde FX alleine weitere Informationen zum Portal geben und es ihm überlassen, wie er damit dann umging. Damit erfüllte er sowohl die Anforderungen seines Hohen Rates als auch die Regeln des Protokolls für den ersten Kontakt und war damit nicht angreifbar.

FX stand auf und trat einen Schritt auf Emil zu. Er überragte den ohnehin schon großen Schattenjäger um mehr als einen Kopf. Emil machte sich daran, am Ufer entlang spazieren zu wollen, um FX dann alles zu erklären, sobald sie außer Hörweite waren.

Doch FX hielt ihn am Arm fest und hinderte ihn daran, sich von den Freunden zu entfernen. Stattdessen dirigierte FX seinen ersten Kontakt zum Ufer des Sees. Zwar waren sie dann schon ein paar Meter weg von den anderen, aber mit Sicherheit immer noch in Hörweite der anderen.

FX mochte seine Gründe haben, das Gespräch in Gegenwart seiner Freunde führen zu wollen, doch dies konnte Emil zu seinem eigenen Schutz nicht zulassen. Instinktiv griff er an die Beintasche seiner Hose, um dort den feinen Stab mit der gläsernen Spitze heraus zu holen. Er würde am See, bevor er das erste Wort sprechen würde, die Rune der Stille aktivieren, damit ihr Gespräch von den anderen ungehört bleiben würde. Er würde sich nicht durch FX nötigen lassen, dass die anderen ihr Gespräch aus der Ferne mithören könnten. Das würde definitiv ein vorsätzlicher Bruch der Regeln sein.

Allerdings dachte FX gar nicht daran, am Ufer des Sees stehen zu bleiben. Stattdessen wechselte er auf dem letzten Meter die Seite von Emil und griff mit seiner linken Hand die Rechte von Emil, die gerade an seiner Hose etwas greifen wollte. Aber FX war schneller und bestimmter als Emil, so dass dieser von seinem Vorhaben abließ und nun ebenfalls FX Hand ergriff.

Hand in Hand schritten sie weiter vorwärts und es brauchte ein paar Meter, bis Emil realisierte, dass sie das Ufer bereits hinter sich gelassen hatten und gerade auf dem Wasser standen.

“Das hat vor zweitausend Jahren das letzte Mal jemand gemacht. Es fühlt sich erstaunlich unspektakulär an, wenn ich ehrlich sein soll.”

Die klanglose Stimme von Emil unterstrich das Wort ‘unspektakulär’ in fast schon spektakulärer Weise, wie FX schmunzelnd feststellte.

“Nun, sagen wir mal so: Wir achten seitdem sehr darauf, dass nicht mehr so viel über uns geschrieben wird. Besonders in Schriften, die die Zeit so gut überdauern! Aber wenn Du es wirklich spektakulär haben möchtest, musst Du mich nur loslassen.”

Emil schüttelte den Kopf und ging nun seinerseits voraus und zog FX hinter sich her, als würde er jeden Morgen einen Spaziergang über das Wasser machen.

“Ihr streitet Euch nicht sonderlich oft, oder?”

Die beiden hatten mittlerweile die Mitte des Sees hinter sich gelassen und FX war sich sicher, dass drüben niemand mehr hören würde, was sie sagten. Aber Emil schien anderer Meinung zu sein, denn er ignorierte seine Frage schlichtweg.

Abrupt blieb Emil stehen und blickte zu FX hinauf.

“Kannst Du irgendwie maximale Diskretion herbei zaubern oder soll ich das tun? Abstand alleine reicht diesmal nicht, es muss quasi rechtsverbindlich sein.”

“Wir könnten rüber gehen und dann mache ich uns eine Tür ins Weiß auf. Aber ich bin für ein unmoralisches Angebot Deinerseits stets offen!”

“Na, wenn das keine vertrauensbildende Maßnahme wird, dann weiß ich auch nicht. Wir brennen hier grade ein wahres Feuerwerk an Fähigkeiten ab.”

Instinktiv wollte Emil mit seiner Rechten an seine Hosentasche greifen, stellte aber fest, dass er immer noch FX an der Hand hatte. Er vermutete, dass diese physische Verbindung bestimmt elementar dafür war, dass er ebenfalls auf dem Wasser stand und griff mit seiner Linken nach seinem Stab.

“Das mache ich doch mit Links!” Ein Hauch an Freude schwang in der sonst so emotionslosen Stimme von Emil mit und dann fügte er noch hinzu: “Genau wie Du!”

Er holte den Stab aus seiner Tasche und führte ihn zu einem Tattoo, welches halb im Haaransatz hinter seinem rechten Ohr verborgen lag. Mit der gläsernen Spitze fuhr er die Linie seiner Rune ab, die sogleich golden zu leuchten begann.

Erstaunt stellte FX fest, dass das bis dahin allgegenwärtige Geräusch des Waldes wie der leicht rauschende Wind und das Knacken im Unterholz komplett verstummte. Die nun herrschende Stille war identisch mit der in der Universellen Vermittlung. Nur das helle Weiß fehlte, sie waren nach wie vor in der Mitte des Sees und standen auf dem Wasser.

“Ich gebe zu, dass es hier durchaus gemütlicher ist, als bei mir im Weiß.”

“Naja, stehen müssen wir dort wie hier.”

“Ich sitze zwar gern auf dem Boden, weil es mich irgendwie erdet, aber da es hier eh keinen Boden gibt, können wir uns auch einfach so setzen.”

Aus dem Wasser erhob sich eine Art Bank und FX zog Emil herunter und sie setzten sich nebeneinander und blickten über den See hinaus in den Wald.

“Wir streiten uns eigentlich nie. Um Deine Frage von gerade zu beantworten. Paul und ich sind miteinander verbunden. Wir nennen es Parabatei. Es ist ein Ritual, was zwei Schattenjäger untrennbar miteinander verbindet. Was ich fühle, fühlt er und umgekehrt. Stirbt einer, so stirbt auch ein Teil des Anderen. Wir brauchen in der Regel nicht zu streiten, da jeder fühlt, was der andere fühlt. Sei es physisch oder psychisch. Wir sind nahezu immer im Gleichklang. Und das war auch der Grund, warum es Paul im Weiß damals so total zerlegt hat. Mir ging es auch schlecht.”

“Das ergeht jedem so beim ersten Mal.”

FX nickte zustimmend, war jedoch verwundert, dass Emil zugab, dass ihm dort auch schwindelig war, denn er, FX, hatte davon nichts bemerkt.

“Aber wir beide haben uns blitzschnell dazu entschlossen, dass nur einer von uns beiden diesen Trip durchmachen wird und haben über unsere Verbindung gezielt ein Ungleichgewicht hergestellt. Deswegen ging es Paul so extrem beschissen, während ich gar keine Probleme hatte. Paul hat das Leid für mich mit ertragen.”

Reflexartig versuchte FX, seinen Gipsarm mit der gesunden Hand zu greifen und zu streicheln, weil ihm dieses Prinzip so sehr vertraut vorkam. Aber er konnte sich gerade noch davon abhalten, Emil los zu lassen. Stattdessen berichtete er kurz von sich und was es mit seinem Gipsarm auf sich hatte.

“Danke für Dein Vertrauen und Deine Offenheit, FX!”

“Gern! Dafür sind wir ja hier, oder?”

“Genau. Die Zirkel und das Portal. Also, generell hat es damit Folgendes auf sich.”

Noch einmal rutschte Emil auf der Sitzbank aus Wasser hin und her, um es sich richtig gemütlich zu machen, denn er wusste, dass die ganze Geschichte gleich etwas länger und ausartender werden würde. Dass er beim Sitzen auf einer Bank aus Wasser keinen nassen Hintern bekam, wunderte ihn hingegen nicht. Schließlich war hier die Physik von FX ohnehin komplett außer Kraft gesetzt. Innerlich war er zu dem Schluss gekommen, dass wenn jemand auf dem Wasser laufen kann, auch keinen nassen Hintern beim darauf Sitzen bekommen kann.

Obwohl er direkt neben Emil saß, hing FX förmlich an den Lippen von Emil und saugte jedes einzelne Wort auf, was er zu berichten hatte und überlegte und analysierte. Es machte sich durchaus bezahlt, dass er extrem schnell im Denken war, so konnte er immer wieder sinnvolle Zwischenfragen stellen.

Bei den Portalen handelte es sich offensichtlich um eine sehr effektive und schnelle Methode der Fortbewegung. Zumindest wenn man wusste, wie man sie zu bedienen hatte. Mehrfach warnte Emil davor, ein Portal alleine zu benutzen, wenn man nicht zuvor peinlich genau darin instruiert wurde.

Die Schattenjäger unterschieden zwischen natürlichen bzw. permanenten Portalen und solche, die sie kurzzeitig selber erschaffen konnten.

„Alternativ nennen wir sie auch primäre und sekundäre Portale. Letzteres ist natürlich mit einem gewissen energetischen Aufwand verbunden, hat aber den Vorteil, dass man es überall erzeugen kann, wo man es braucht. Die natürlichen Portale hingegen sind deutlich mächtiger, als die selbst erschaffenen, haben eine größere Kapazität und sind ständig verfügbar.“

Niemand der Zweiundvierzig hatte jemals von Portalen gehört, geschweige denn eines gesehen. FX konnte nur mutmaßen, aber da es sich dabei offensichtlich um natürliche Phänomene handelte, waren sie für ihn und seine Kollegen der Wächter der Raumzeit unkritisch und konnten daher nicht aufgespürt werden und machten auch keine Fransen in der Raumzeit. Außerdem, und da fragte er mehrfach nach, waren Portale ausschließlich zum Transport im Raum verwendbar. Emil bestätigte glaubhaft, dass es keinerlei Portale zum Zeitreisen gab. Dies war ein weiterer Punkt, warum solche Dinge den Zweiundvierzig und dem Club noch nie aufgefallen waren, weil dadurch anscheinend gar keine Verwerfungen der Raumzeit verursacht werden konnten.

Etwas entspannt lehnte sich FX zurück. Es schien nicht so zu sein, dass die nächste temporale Katastrophe bevorstand und sie sich eine Kontrolle des Reisens durch diese Portale hätten überlegen müssen. Auch unterstrich Emil, dass Schattenjäger zwar die Antipoden-Portale nicht öffnen, diese aber sehr wohl zum Reisen verwenden durften, waren sie einmal aktiviert. Von Reisen anderer Menschen durch die Portale hingegen riet er dringend ab, zumindest ohne Begleitung, denn die Bedienung dieser Portale war sehr verzwickt und der Teufel steckte im Detail.

“Du siehst, es gibt also eine gewisse Art von Darwinismus beim Reisen mit den Portalen.”

“Verstehe. Und Euer Rat vermutet jetzt ein Portal in unserer Universität?”

“Ja, genau. Aber nicht irgendein Portal. Es gibt nämlich noch eine dritte Sorte, wobei die eher eine Unterkategorie der natürlichen Portale ist. Oder eine Oberkategorie, wenn man ganz pingelig ist.”

An dieser Stelle wurde Emil allerdings nicht mehr ganz so präzise, wie zuvor. Er unterstrich, dass auch für ihn und seinen Rat jetzt Neuland begann. Deren Forscher meinten, dass es auf der Welt exakt sechs dieser Super-Portale geben müsste. Besonders große, besonders mächtige. Und sie hatten eine besondere Anordnung, die ihnen auch den Namen verlieh.

“Es sind orthogonale Antipoden.”

“Antipoden? Du meinst, diese Portale liegen sich auf der Erde immer gegenüber?”

“Korrekt. Sie treten immer paarweise auf und immer genau am anderen Ende der Erde. Und diese drei Paare liegen mit ihren Achsen rechtwinklig zueinander, sprich orthogonal. Wie ein dreidimensionales Koordinatensystem mit dem Mittelpunt der Erde als Nullpunkt.”

“Aber wenn dem so wäre, müsste man sie doch ziemlich einfach finden können. Zumindest immer das gegenüber liegende.”

“Und das ist das Problem. Portale halten nicht ewig. Sie können zerstört werden. Und bei den antipodalen Portalen kommt hinzu, dass sie auch ein- und wieder ausgeschaltet werden können.”

Seinen Erklärungen nach gab es zur Zeit keines der sechs großen Portale, oder zumindest war keines aktiv. Außerdem wusste niemand bei den Schattenjägern mehr, wie man solch ein Portal aktivieren oder deaktivieren konnte. Dies gehörte noch nie in der Geschichte zu ihren Aufgaben und ist auch nicht überliefert. Aber die wage Möglichkeit, dass es hier eines dieser Super-Portale geben könnte, machte den Rat der Schattenjäger gerade sehr nervös und erfreut zugleich.

“Verstehe. Ihr dürft sie benutzen und müsst sie bewachen. Aber die Aktivierung ist Euch verwehrt. Und vermutlich kommen nun wir ins Spiel. Die Zweiundvierzig sind Eurer nicht ausgesprochenen Theorie nach also diejenigen, die den Strom ein- und wieder ausschalten sollen.”

“Diese Aussage ist korrekt. Unser Rat hat auch keine andere Theorie dazu.”

“Na, dann wirds also noch einmal spannend werden. Dann müssen wir jetzt nur noch den Lichtschalter finden. Ich vermute mal, dass man vier Schalter drücken muss, damit das Licht angeht?”

“Davon ist auszugehen, FX. Allerdings leuchten die Portale nicht. Es ist definitiv nicht so, wie Dein Weiß. Es ist … anders ... einfach … faszinierend! Du wirst sehen.”

“Okay, dann lass uns zurück gehen. Wir haben anscheinend noch viel vor!”

“Gern, aber eine Frage noch.” FX war aufgestanden, jedoch hielt Emil ihn zurück, so dass er sich wieder hinsetzen musste. “Wirst Du es ihnen erzählen?”

“Was? Das mit den Portalen? Nein. Nein, ich denke, dass das zunächst einmal etwas zwischen Euch und uns ist. Meine drei Jungs gehören ganz offensichtlich nicht den Zweiundvierzig an, daher ist diese Information auch nicht für sie bestimmt. Andersherum sind sie aber auch nicht ganz unbefleckt, weshalb ich für sie einen neuen Mittelweg finden muss. Das gehört zu der Sorte Dinge, die ich besonders liebe.”

“Dankeschön! Ich wusste, dass Du mich nicht enttäuschen und mein Vertrauen auch nicht missbrauchen würdest.”

“Apropos missbrauchen. Wolltest Du mir noch etwas sagen?”

“Was meinst Du?”

Es war einer der extrem seltenen Momente, dass Emils Herz für einen Schlag aussetzte. Normalerweise brachte ihn nichts aus der Fassung, aber diese Frage, zumal sie im Anschluss an dieses Gespräch kam, ließ ihn für einen Augenblick schaudern.

“Du weißt, was ich meine. Wir hatten dieses Gespräch so ähnlich bereits vor ein paar Monaten. Genauer gesagt zu Silvester im Whirlpool.”

“Ich verstehe nicht genau, was Du meinst.”

Emils sonst so sichere und tonlose Stimme bekam ein leichtes Vibrato und er wurde zusehends unsicherer.

“Ach Emil, ich bin ja nicht blöd. Du glaubst doch etwa nicht, dass ich nicht bemerkt habe, dass Ihr am Neujahrsmorgen versucht habt, unser Gedächtnis zu löschen, nachdem Ihr Euch zu Silvester im Blubberwasser schön angeschickert verplappert habt, oder?”

Emil wollte Luft holen, um etwas zu entgegnen, jedoch war FX schneller.

“Mit Sicherheit hätte das bei normalen Menschen funktioniert. Die Kopfschmerzen hinterher hätte ein jeder bestimmt dem übermäßigen Genuss des Champagners zugeschrieben. Aber so einfach funktionieren wir Zweiundvierzig nun auch wieder nicht. Und auch bei Henne bin ich mir nicht ganz sicher, ob der nicht mit ein Bisschen Führung wieder auf den richtigen Pfad kommen würde.”

“FX, also ich muss Dir sagen, dass …”

“Bitte schweig, Emil. Reiben macht den Fleck nur größer!“


“Ich schlage vor, die weitere Diskussion auf neutralem Terrain durchzuführen.”

Ungefragt hatte er sich und die beiden Schattenjäger in die Zentrale Vermittlung teleportiert, obwohl er eigentlich gerade mit Emil ein sehr vertrauliches Gespräch geführt hatte. Dennoch war er der Meinung, dass für den folgenden Teil beide anwesend sein sollten.

Ihm war etwas Unbehagen zu mute, wusste er doch nicht, ob die beiden Schattenjäger wirklich seine Freunde waren oder nicht doch Feinde. Letzteres hatten definitiv nichts im Weiß zu suchen. Natürlich wusste er auch, dass man mit schwarz-weiß-Denken nie gut beraten war, dennoch war er sich in der jetzigen Situation mehr als unsicher. Aber seine Hoffnung war noch nicht ganz versiegt, weshalb er diesen Kriegern eine letzte Chance geben wollte.

Wie üblich saß er im Schneidersitz auf dem imaginären Boden in der Unendlichkeit.

Überraschenderweise waren die anderen beiden wenig irritiert ob des plötzlichen Ortswechsels. Anscheinend waren auch sie zu ähnlichen Aktionen in der Lage, schlussfolgerte FX. Er beobachtete sie dabei, wie sie routiniert die Umgebung nach eventuellen Feinden überprüften, bevor sie sich entspannten, jedoch vor FX stehen blieben und die Arme vor der Brust verschränkten.

“FX, was soll der Scheiß?”

Obwohl Emil wie üblich mit seiner monotonen Stimme sprach, war er dennoch in der Lage, seine Empörung eindeutig zum Ausdruck zu bringen.

“Also, ich könnte Dich dasselbe fragen, tue es aber nicht. Können wir, bevor wir irgendeine Entscheidung fällen, erst mal vielleicht alle Fakten auf den Tisch bringen? Das würde die Sache vielleicht etwas vereinfachen.”

Da keiner der beiden Schattenjäger Anstalten machte, das Wort zu ergreifen, fuhr FX nach einer kurzen Pause fort.

“Also, wenn ich das richtig sehe, habt Ihr Euch an Silvester anscheinend etwas verplappert und wollt das Geschehene jetzt rückgängig machen, korrekt? Die Sache mit den Portalen steht ja nicht in jeder Tageszeitung auf der Titelseite und ist deswegen für Menschen eine Information, die sie besser nicht haben sollten, korrekt?”

Unbeirrt setzte FX seinen Monolog fort, da kein Einspruch erhoben wurde.

“Ich bin immerhin froh, dass Ihr Euch nicht für eine Liquidation entschieden habt. Anscheinend bedeuten wir Euch doch ein kleines bisschen was.”

Emil holte Luft, um etwas zu sagen, wurde jedoch von FX sogleich abgewürgt.

“Nein, jetzt rede ich erstmal, Ihr wolltet gerade nicht. Ihr habt Euch freundlicherweise dazu entschieden, uns nicht in den Tod zu schicken, sondern unseren wundervollen letzten Abend des Jahres im Whirlpool unter dem Sternenhimmel auszuradieren. Einfach so.”

Immerhin quittierten Emil und Paul diese Aussage nun mit einem fast unmerklichen Nicken.

“Ich weiß nicht, wie das bei Eurem Volk so ist, aber die Manipulation von Gedanken und Erinnerungen ist ein derart intensiver Eingriff in ein Individuum, dass er fast mit dessen Liquidation gleichgesetzt werden kann. Fast. Bei uns jedenfalls. Was ich damit sagen will: So etwas macht man bei uns nicht. Jedenfalls nicht leichtfertig und mal so nebenbei zu Hause im Stehen.”

“Aber Du hast doch auch bei mir …”

“Korrekt, Emil, ich habe in der Tat einen Teil Deiner Erinnerungen gelöscht, vermutlich ähnlich, wie Du es bei uns tun wolltest. Mit dem kleinen Unterschied, dass ich damit zuvor aber bei unserem Rat, den wir übrigens den Club nennen, vorgesprochen habe und das nicht heimlich still und leise im wahrsten Sinne des Wortes am Küchentisch entschieden habe.”

“Und wer sagt, dass wir nicht …”

“Ich. Und Ihr wisst, dass ich Recht habe. Lasst uns deswegen da keine kindische Diskussion draus machen, sondern wie Erwachsene drüber reden. Euer Plan wäre ohnehin nicht aufgegangen. Bei Henne wärt Ihr auf die ersten Schwierigkeiten gestoßen. Und ob Ihr bei mir Erfolg gehabt hättet, wage ich zu bezweifeln. Ich kenne Euren Runen-Zauber nicht, aber ich bin mir sicher, dass das bei mir nicht unbemerkt bleiben würde. Aber um eine Lanze für Euch zu brechen: Auch Emil war damals kein einfacher Fall und es hat mir schon etwas mehr Mühe und deutlich mehr Fingerspitzengefühl gekostet, damit meine Löschung damals erstens funktioniert und zweitens auch unbemerkt geblieben war. Also was ich damit sagen will: Ihr wisst, was Ihr tut.”

“FX, was willst Du eigentlich? Warum entführst Du uns hier vor die Burg? Es ist arschkalt. Was sollen wir Deiner Meinung nach tun?”

“Eine berechtigte Frage, Paul. Ich möchte gemeinsam mit Euch eine Lösung finden. Eine Lösung, mit der sowohl die Schattenjäger als auch wir leben können. Eine Lösung, die weder Tod noch Vergessen beinhaltet.”

“Wir haben keinen Plan C, um ehrlich zu sein.”

“Dann lasst uns einen schmieden! Wenn nicht hier, wo dann? Wenn nicht wir, wer dann?”

Erwartungsvoll blickte FX die beiden Schattenjäger an, die ihm gegenüber standen. So ganz hatte sie sein Enthusiasmus noch nicht gepackt, aber er merkte, dass er sie gleich soweit hatte.

Und dann ging es los, das Eis war gebrochen. Die beiden waren plötzlich in Plauderlaune und hatten sich ihrerseits zu FX auf den Boden gesetzt. Sie erzählten, wie ihr Volk dachte und handelte. Was ihre innersten Triebe waren und die Beweggründe dahinter. Für FX ergab sich mit jedem Satz ein besseres Bild, weshalb die Beiden tatsächlich als erstes eine Liquidation in Betracht gezogen hatten, obwohl es doch die eigenen Freunde waren. Für FX stand fest, dass dieses noch so unbekannte Volk definitiv eines von Kriegern war, ohne dass es einen negativen Anstrich bekam. Seine Freunde waren im Krieg gegen das Dunkle und Böse und versuchten die Menschen davor zu bewahren.

Geheimhaltung war dabei ein elementarer Bestandteil ihrer Kultur, weshalb es verständlich war, dass Emil und Paul die Gespräche der Silvesternacht ungeschehen machen wollten. So etwas hätte nicht passieren dürfen, auch nicht gegenüber Freunden. Die anderen gehörten schlicht nicht dazu und durften gewisse Dinge nicht wissen.

FX hatte verstanden.

Jetzt galt es, einen neuen Plan zu entwickeln, der sowohl das Leben der vier Freunde erlaubte, als auch die Erinnerungen an die Silvesternacht samt ihrer aufschlussreichen Gespräche.

“Wenn ich mich recht entsinne”, FX konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen, “habt Ihr gesagt, dass die Schattenjäger noch nie ein solches Portal geöffnet haben, korrekt?”

Simultanes Nicken bestätigte, dass FX vergangene Nacht aufmerksam zugehört hatte.

“Die Schattenjäger sind ein Volk, was sehr auf Traditionen beruht und das seine Vergangenheit sehr akribisch dokumentiert hat.”

Erneutes Nicken.

“Mit anderen Worten ist es sehr unwahrscheinlich, dass Eure Vorfahren jemals ein solches Portal geöffnet haben, da es nicht dokumentiert wurde, richtig?”

“Ja, das ist korrekt. So weit waren wir schon. Wir haben so etwas noch nie gemacht. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass es dennoch passiert ist und nicht dokumentiert wurde. Aber wirklich sicher sind wir uns nicht. Und wir mögen keine Unsicherheit.”

“Dann stellt sich also die Frage: Wer war es, wenn nicht Ihr?”

“Du willst uns weismachen, dass Menschen die Zirkel und damit die Portale aktiviert haben?”

“Nun, es wäre doch eine Möglichkeit. Ohne Euch zu nahe treten zu wollen, aber irgendwie klang es gestern so, als wenn Ihr nicht den blassesten Schimmer hättet, was man mit den Zirkeln anstellt. Also auch, wie man das Portal aktiviert. Es muss doch schon zu einer Öffnung eines Portals gekommen sein. Woher wüsstet Ihr denn sonst so genau, wohin diese Portale führen und wie man sich zu verhalten hat? Je mehr ich darüber nachdenke, komme ich zu dem Schluss, dass es kein Zufall ist, dass wir uns hier und jetzt begegnet sind. Ich bin sogar davon überzeugt, dass Euer Rat und unser Club von uns Sechsen erwartet, dass wir neue Weg gehen sollen. Im besten Fall werden wir uns dadurch weiterentwickeln. ”

“Emil, irgendwie hat FX schon Recht. Niemand von uns hat auch nur den Hauch einer Idee, was er tun muss. Es ist alles geregelt, sobald das Portal aktiviert ist. Wir haben dafür ein wasserdichtes Kochrezept, was zu tun ist. Nur bis dahin tappen wir vollkommen im Dunkeln.”

“Dann lass uns doch an dieser Stelle den Plan C aus der Taufe heben.”

“Emil, das können wir nicht machen. Wir können nicht irgendwelche Zivilisten auf die Zirkel loslassen in der Hoffnung, sie wissen was sie tun. Das wäre total verrückt! Es ist schon schlimm genug, dass sie das wissen, was wir ihnen gestern erzählt haben.”

“Nein, Schatz, es ist essenziell. Überleg doch mal. Wir mussten den Jungs das alles erzählen, damit sie verstehen, worauf sie hinarbeiten müssen. Sie wissen, dass man das Portal irgendwie aktivieren kann. Und sie sind vier. Verstehst Du es? Vier Freunde. Vier Elemente. Besser kann es doch gar nicht laufen. Unsere Freunde sind quasi prädestiniert dafür, ein Portal zu öffnen. Sie sind unbedarft, kennen nur einen Bruchteil des Ganzen, aber genug um zu wissen, wohin die Reise geht. Sie sind die idealen Personen, die die Zirkel in Gang setzen könnten.”

Emils Augen leuchteten plötzlich, hatte er doch anscheinend den perfekten Ausweg aus ihrem Dilemma gefunden. Jetzt musste er nur noch Paul davon überzeugen, der sich jedoch gerade sehr schwer damit tat, diese verrückte Idee zu akzeptieren.

Zugegebenermaßen hatte diese Lösung schon ihren Charme. Sie sicherte die körperliche und geistige Unversehrtheit ihrer Freunde und ermöglichte zugleich auch noch die Aktivierung eines riesigen Portals. Theoretisch zumindest.

Andersherum ging Paul gerade die Gegenargumente durch, doch die Liste war kurz. Sollte dieser neue Plan nicht funktionieren, so konnten sie immer noch Plan A oder B in Kraft setzten. Eigentlich hatten sie nichts zu verlieren.

“Okay, meinetwegen. Es ist zumindest einen Versuch wert.”

Sie nahmen sie sich in den Arm.

“Ihr und Euer Volk, Ihr werdet mir immer sympathischer. Ich bin so froh, dass wir uns über den Weg gelaufen sind. Mit Euch kann man ja echt hervorragend zusammenarbeiten.”

“Ich bin mir nur nach wie vor nicht sicher, ob unser neuer Plan funktioniert.”

Paul war es, der als erstes die Umarmung löste.

“Keine Sorge, Schatz, so wie ich FX kenne, lässt er in solch einem Fall nicht locker, bis Plan D steht.”

“Korrekt. Aufgeben ist keine Option. Niemals. Es gibt immer eine coole andere Idee, sie wartet nur darauf, gefunden zu werden.”

„Erhebt sich die Frage, wann wir das angehen sollen. Und letztlich auch WIE? Wir sollten uns eine Strategie zurechtlegen.“


Am Abend saßen die vier Freunde in einem der Kaminzimmer im Halbkreis um das prasselnde Feuer herum. Ben hatte bereits seit dem Rückweg am Mittag vom See mit allen möglichen Tricks versucht, auch nur ein Quäntchen Informationen aus FX herauszubekommen, aber wie sehr er sich auch bemühte, so hatte er absolut keinen Erfolg damit. Er hatte es auf die gutmütige, hinterhältige und sogar auf die gewaltbereite Tour versucht, wohl wissend, dass er gerade bei letzterer den Kürzeren ziehen würde. Aber er war schlichtweg viel zu neugierig, als dass er hätte in aller Ruhe abwarten können.

Nach dem Abendessen war daher nur eine oberflächliche Ruhe eingekehrt, dennoch spürte FX deutlich, dass gerade bei Ben nach wie vor alle Prozessoren am Limit liefen, weil er unbedingt wissen wollte, was genau Emil und er dort auf dem See besprochen haben.

Doch FX blieb standhaft und ließ sich nicht in die Karten schauen. Mit nur knappen Worten, immer wieder unterbrochen vom Nippen an seinem Glas Rotwein, kam er zu dem Schluss, dass sie sich alsbald den Zirkeln widmen müssten.

“Diggi, das soll jetzt alles gewesen sein? Dein Ernst oder was?”

“Ben, nun entspann Dich doch endlich mal. Du bist schon seit heute Mittag nicht auf Hundertachtzig, sondern auf Zweihundertachtzig!”

Henne spürte wie kein anderer die entsetzliche Unruhe, die Ben in sich trug und die er in Teilen auch auf seine Freunde übertrug. Aber das, was Henne in ihm spürte, war um einiges stärker als das, was Ben nach außen offenbarte.

“Diggi, ich frag doch schon seit Monaten, wasn nu mit diesen Kreisen is. Und kaum das Du mit dem bemalten Fraggle da gesprochen hast, wird das auf einmal wichtig oder was?”

“Sagte der bemalte Fraggle.”

Michel konnte sich ein Hinweis auf den ebenfalls tätowierten Ben nicht verkneifen, wusste er doch, dass die Zeichen von Emil und Paul aber nicht wirklich Tattoos waren, sondern sogar eine übernatürliche Funktion besaßen.

“Lenk nich vom Thema ab, Diggi! Ich weiß ja nich, was Ihr da besprochen habt, aber ich weiß, dass die Drecksarbeit dann wohl an uns hängen bleibt, oder?”

“Es zwingt Dich keiner, bei der Sache mitzumachen. Naja, außer Dein Ego mit seiner Neugierde vielleicht.”

Schallend musste FX auflachen, fand er den Witz von Michel doch dermaßen treffend. Allerdings wollte er sich keinesfalls über Ben lustig machen, weshalb er sich sogleich mit der freien Hand selbst den Mund zu hielt.

“So, jetzt aber mal im Ernst.” FX hatte seinen Lachanfall glücklicherweise schnell unter Kontrolle bekommen, so dass er unbeirrt fortfahren konnte. “Ich denke, dass sich Ben erstens wirklich nicht der Sache entziehen möchte und zweitens das auch nicht tun sollte. Weder die beiden Schattenjäger noch ich haben irgendeinen Schimmer davon, was zu tun ist, aber soviel weiß ich schon einmal: Wir brauchen vier Leute dafür!”

Die darauf folgende Stille wurde lediglich durch das Knistern des Kamins unterbrochen, zu sagen traute sich erst mal niemand etwas.

“Wie jetzt, Diggi?”

“Och Ben, das sieht doch jetzt ein Blinder mit dem Taststock!” Jetzt war es Michel, der langsam ungehalten wurde. “Sag nicht, dass es Dir noch nicht aufgefallen ist, dass sich an dieser luxuriösen Uni alles um die Zahl 4 dreht. Viereckiger Grundriss, vier Türme, vier Stockwerke überirdisch, vier unter der Erde, vier Rüstungen in jedem Turm, vier Kerzenhalter an jeder Wand. Egal, wohin man schaut, überall begegnet einem die Zahl 4!”

“Vier Zirkel und wir, die vier Freunde?”

Henne wagte kaum laut zu sprechen, weshalb sein Flüstern fast im prasselnden Feuer unterging.

“Aber jetzt …” Michel machte betont künstlerisch eine Pause, bevor er seinen Satz beendete, “... bin ich wirklich gespannt, wie Deine Theorie zu den Zirkeln ist, mein lieber FX. Denn Du hast bestimmt schon eine.”

“Naja, es ist nur eine Theorie, aber ja, ich hab da eine Vermutung.”

“Och Diggi, bitte! Ich platze!”

“Die vier Elemente!”

Mit allerlei verrückten Ideen hatten sie gerechnet, aber diese Antwort erschien allen mehr als komisch und sehr wenig passend.

“Ich habe mich etwas in der Uni umgeschaut, genauer gesagt habe ich mich in den vier Türmen näher umgeschaut, nachdem wir bei unserer Exkursion damals durch den lebensgefährlichen Tunnel an dessen Eingang diese merkwürdigen Zickzack-Linien gefunden haben. Dieselben Linien finden sich überall in dem Turm wieder. In jedem Stockwerk des Turms. Unseres Turms! Geht einfach vor die Tür in den Vorraum und schaut Euch die Bögen der einzelnen Durchgänge an. Jeder Schlussstein eines jeden Bogens hat die vier senkrechten Zickzack-Linien. Vier!”

FX hatte seinen Satz noch nicht ganz beendet, da stand Ben bereits auf seinem Skateboard und war zur Tür gerollt, um gleich darauf wieder auf dem Rückweg zu sein.

“Krass, Diggi, Du hast Recht! Sach an, was weiter?”

“Naja, in den anderen drei Türmen gibt es ebenfalls Linien, jedoch andere Muster. Gerade senkrechte Linien, gerade waagerechte Linien und noch waagerechtes Zickzack. Aber es sind, wie sollte es anders sein, immer vier an der Zahl!”

“Und was sollen diese Linien nun bedeuten? Wie kommst Du auf die Vier Elemente?”

Henne spielte gedankenverloren mit einem der lange Stachel aus seinem Iro, der sich, sobald er ihn losließ, immer wieder wie durch Zauberhand aufrichtete.

“Naja, das ist ja eben die Theorie, die noch nicht bewiesen ist. Aber ich vermute folgendes: Zickzack aufrecht ist das Feuer, wie es nach oben lodert. Zickzack waagerecht ist das Wasser, mit den Wellen. Die senkrechten Linien sind der aufsteigende seichte Wind. Und die waagerechten Linien stehen für die Erde.”

“Das ist jetzt aber schon etwas weit hergeholt, oder?”

Michel strich sich nachdenklich über seinen angespannten Bizeps.

“Es ist nur eine Theorie. Aber erinnert Ihr Euch, was am Ende unseres Ganges war?”

“Diggi, was soll da gewesen sein? Nix war da. Nur ein leerer Steinkreis mit ein paar verkohlten … Oh.”

“Und was ist unser Turm für einer?”

“Feuer.”

Ben war ganz kleinlaut geworden.

“Okay, ich glaube, ich verstehe langsam Deinen Gedankengang.” Henne, der der Diskussion schweigend gefolgt hatte, meldete sich nun zu Wort. “Du meinst also, unser Nachbarturm hier hat vier waagerechte Linien und wenn wir da runter gehen, durch den Tunnel des Todes irgendwie durchkommen, werden wir an dessen Ende einen Steinkreis mit Erde finden?”

“Irgendwie so etwas, ja.”

“Okay, und beim nächsten Turm ist dann ein Steinkreis mit einem Planschbecken und beim vierten dann ein kleiner Wirbelsturm, der sich ständig dort im Kreis dreht?”

“Henne, ich weiß es doch auch nicht, was uns genau dort erwartet. Es ist halt nur so eine Idee.”

“Diggi, warum guckst Du nich einfach nach? Du bist doch der Meister-FX, der mal fix in die Zukunft oder Vergangenheit reisen kann und nachschauen kann.”

“Weils langweilig ist. Wenn einem das Leben schon spannende Rätsel aufgibt, dann sollte man doch nicht spicken, oder?”

“Diggi, wie kann man nur so selbstdiszipliniert sein!”

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