Stories
Stories, Gedichte und mehr
So nah und doch so fern
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.
Informationen
- Story: So nah und doch so fern
- Autor: ReadmyLips
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Lovestory
Vorwort
Liebe Nickstories-Community,
diese Geschichte ist nun der zweite Versuch von mir, einen Beitrag zu dieser Seite zu leisten, und ich hoffe, dass sie Euch gefallen wird. Und (natürlich!) freue ich mich über Feedback, positives wie negatives.
Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen bedanken, die meinen Beitrag zur Osterchallenge „Luther und ich“ gelesen haben, und ganz besonders bei denen, die für ihn gestimmt haben. Die Mails, die ich zu dieser Geschichte bekommen habe, waren einfach umwerfend und damit auch ein Grund, warum ich mich wieder an ein neues Projekt getraut habe. 1000 Dank!
Alle Personen und Ereignisse in dieser Geschichte sind frei erfunden und einzig und allein ein Produkt meiner Phantasie. Ähnlichkeiten mit reell existierenden Menschen sind rein zufällig. Ach ja, Tiere kamen bei der Produktion nicht zu Schaden.
Die Copyrights der Lieder, die ich zitiere, liegen wahrscheinlich bei denen, die sie geschrieben haben.
So, genug der Worte. Viel Spaß beim Lesen!
Euer
readmylips
„On the day that you were born
The angels got together and decided to create a dream come true
So they sprinkled moon dust in your hair of gold
And starlight in your eyes of blue”
The Carpenters: „Close To You”
(geschrieben von Burt Bacharach und Hal David)
Eigentlich ist es unfair. Wie kann ein einzelner Mensch nur so… perfekt sein?! Die Haarfarbe ist eine Mischung aus goldenem Honig und einem spätsommerlichen Weizenfeld, die Augen strahlen in einem Blau, auf das die Karibik neidisch sein kann, die Lippen sehen so sanft und rot aus wie reife Kirschen, dazu eine sportliche Erscheinung, die jede seiner Bewegungen geschmeidig ablaufen lässt. Dazu hat er gute Noten, spielt Handball, und, ach ja – nett ist er auch noch.
Darf ich vorstellen: das ist Lukas.
Lukas ist siebzehn und relativ neu in meiner Klasse, der 11b. Er ist erst im letzten Sommer mit seiner Familie hierher gezogen.
Und ich bin bis über beide Ohren in ihn verschossen.
Darf ich vorstellen: ich bin Tim.
Ich bin auch siebzehn und finde, dass ich nicht annähernd halb so gut aussehe wie Lukas. Die Natur konnte sich bei meiner Haarfarbe nicht so wirklich entscheiden, weshalb dabei eine Mischung aus dunkelblond mit braunen Einflüssen raus kam. Meine Augen sind einfach nur grau, und obwohl ich sportlich gebaut bin, ist mein Bewegungsapparat weder federnd noch leicht, sondern wirkt eher unbeholfen. Und jeder Fisch hat vom Fahrradfahren mehr Ahnung als ich vom Tanzen.
Und da ich mit Sport nichts anfangen kann, habe ich eine andere große Leidenschaft: die klassische Musik. Ich habe seit knapp 10 Jahren Klavierunterricht, und wenn ich dem Urteil meines Lehrers trauen darf, bin ich wohl ganz gut geworden. Vor einem Jahr haben mir meine Eltern dann so ein Klavier geschenkt, das man auf lautlos stellen und dann über Kopfhörer hören kann. Seitdem hat sich auch unser Verhältnis zu den Nachbarn deutlich verbessert…
Jedenfalls leide ich nun an jedem verdammten Schultag still und leide leise vor mich hin. Lukas sitzt immer neben mir, und ich beobachte seine zarten Finger, die den Füller halten und schaue ihm dabei zu, wie er seine wunderschöne und leserliche Schrift zu Papier bringt.
Es kribbelt. Überall. Mein ganzer Körper kribbelt, wenn… nein, weil ich neben Lukas sitze. Seine pure Anwesenheit lässt mir den Schweiß auf die Stirn treten. Ich vergesse das Denken, wenn er morgens „Hallo“ sagt. Ich schaue auf den Boden, wenn er mich mit seinen unglaublichen Augen anschaut. Und wenn ich dann nach Hause komme, setze ich mich ans Klavier und versinke in meiner eigenen kleinen Traumwelt, in der ich nur für Lukas spiele.
Hatte ich erwähnt, dass er auch mein bester (weil einziger männlicher) Freund ist? Seitdem er in unsere Klasse gekommen ist und neben mir sitzt, haben wir ziemlich schnell einen guten Draht zueinander entwickelt. Wir quatschen oft, gehen ins Kino oder daddeln am Computer.
Er ist so nah und doch so fern…
Es ist Februar. Es ist nass. Es ist kalt. Es ist deprimierend.
„Denkst du schon wieder an Lukas?“
Darf ich vorstellen: das ist Tine.
Tine ist meine beste Freundin. Eigentlich heißt sie ja Christine, aber wenn man sie so nennt, fährt sie ihre Krallen aus. Sie ist toll! Wir üben zusammen Mathe und quatschen über alles Mögliche. Sie erzählt mir, wie es in ihren Beziehungen läuft (momentan ist sie mit Andreas aus der 11d zusammen), und ich erzähle ihr meinen neuesten Kummer in Bezug auf Lukas. Damit ist sie auch der einzige Mensch auf der Welt, der weiß, dass ich schwul bin. Außer mir natürlich.
Ich sitze mal wieder auf dem Boden in ihrem Zimmer und rühre lustlos meinen Tee um. Natürlich denke ich an Lukas. Ich nicke.
„Och, Hase“, sagt sie und legt ihre Arme um mich. „Hast du denn schon mal mit ihm darüber geredet?“
Ich schüttele den Kopf. „Nee… du weißt doch, dass ich mich das nicht traue.“
„Das solltest du aber, sonst wirst du nie wissen, was er fühlt. Immerhin hat er keine Freundin“, meint sie spitz.
Das ist auch der rettende Strohhalm, an den ich mich klammere. Jeden Tag und jede Nacht. Er hat keine Freundin und, soweit ich weiß, hatte er auch keine.
„Aber was, wenn er mich auslacht oder mir aufs Maul gibt oder es weitererzählt?“
„Dann hat er dich nicht verdient und du solltest dir jemand anderes suchen. Auch andere Mütter haben schöne Söhne.“
Ich hasse diesen Spruch.
„Why do birds suddenly appear
Every time you are near?
Just like me, they long to be
Close to you”
The Carpenters: „Close To You”
(geschrieben von Burt Bacharach und Hal David)
Mittwoch. Noch zwei Tage, dann ist…
„PARTYTIME!“
Nein – „Wochenende“ wollte ich eigentlich sagen.
Darf ich vorstellen: das ist Thomas.
Er reißt die Arme in die Luft. „Kinder, Freitag geht’s ab!!!“
Wir stehen vor der Turnhalle, wo wir noch zwei Stunden Sport über uns ergehen lassen müssen, bevor wir in unseren wohlverdienten Feierabend entlassen werden. Meine männlichen Mitschüler stehen (wie eigentlich immer) im Halbkreis um Thomas, während er jedem einen Flyer in die Hand drückt. Lukas ist auch dabei.
„Das dürft ihr euch auf gar keinen Fall entgehen lassen, Leute! ‚Wet T-shirt contest’ im Depot am Freitagabend!“
Daher weht also der Wind. Das Depot ist so ziemlich der fürchterlichste Laden, den ich kenne. Thomas’ großer Bruder arbeitet dort als Türsteher und lässt ihn und seine Leute auch eigentlich immer rein, worauf sich dieser natürlich määächtig was einbildet.
„Geilomat! Tiitttttööööööööööööön!!!“
Darf ich vorstellen: das ist Jörg.
Unser Klassenproll. Eigentlich warte ich nur noch auf den Tag, an dem er in Aldiletten, Tennissocken, Unterhemd, Jogginghose und mit einer Blödzeitung unter dem Arm zur Schule kommt. Sein Lieblingswitz: Ein Wort mit dreizehn ö drin? – Fickööööööööööööön! Noch Fragen?
Thomas taucht nun auch vor mir auf. „Hier, Schröder, da haste auch ’nen Flyer!“
„Schröder“ ist mein Spitzname. Ich wurde nach der Figur von den Peanuts so benannt. Ihr wisst schon, dass ist dieser kleine, stille, blonde Typ, der dauernd nur an seinem Klavier hockt und von Lucy angehimmelt wird. Passenderweise ist das sogar mein richtiger Nachname. Die Parallelen sind also offensichtlich – wenn man davon absieht, dass ich nicht blond bin und es keine Lucy gibt, die mich dauernd anhimmelt.
Leider auch keinen Lukas…
„Aber ich fürchte, dass Mozart dort nicht auf der Playlist steht!“ grinst er.
„Du weißt, dass Peanuts-Schröder Beethoven bewundert und nicht Mozart, oder?“, werfe ich ein.
„Papperlapapp, alles dasselbe.“ Dieser Satz lässt mich innerlich erschauern. „Und deinen Beethoven gibt’s da auch nicht.“
„Oooch. Und ich hatte mich so darauf gefreut…“ erwidere ich trocken.
„Shit happens!“ lacht er und geht weiter.
Ich schaue mir den Flyer an. Typische Aufmachung: Eine Frau mit… ähm… großer Oberweite, einem rotem Tanga und äußerst knappen T-Shirt, das komplett nass ist und so eigentlich mehr zeigt als verhüllt. Ich zerknülle ihn und werfe ihn in den Papierkorb.
„Vorglühn Freitach ab acht bei mir’m Kella!“ grölt Jörg weiter. „Wer’s am Staaaart?“
Sofort findet sich eine Truppe von acht bis zehn Leuten, die auch umgehend mit der Planung beginnt. Ich stehe etwas abseits und lausche mit einem halben Ohr. Ich höre nur Gin, Wodka, Cola, Tonic, O-Saft, Bier, Bier, Bier… Auf einmal bekommt der Spruch „Ich glühe härter vor als du feierst!“ eine ganz neue Dimension für mich. Was haben die denn vor? Eine Orgie?!? Leute, wenn ihr das alles trinken wollt, werdet ihr nicht mehr dazu in der Lage sein, ins Depot zu gehen. Wahrscheinlich werdet ihr gar nicht rein gelassen, weil irgendeine Hupe von euch Thomas’ Bruder auf die Schuhe kotzt…
Zugegeben, ich vertrage ja selber nichts und bin schon nach zwei Bieren leicht angeschickert... aber ich weiß auch, dass ich dann aufhören sollte.
„Na, kommst du auch?“, Lukas ist zu mir rüber gekommen und schaut mich mit seinen unfassbar schönen blauen Augen treuherzig an, und sofort beginnt mein Herz schneller zu schlagen. Für einen kurzen Augenblick spiele ich mit dem Gedanken, einfach „ja“ zu sagen. Zum Glück fällt mir rechtzeitig ein, worum es hier geht. Ich habe erst einmal einen Abend auf Jörg und das Depot verschwendet, und dabei wird es auch bleiben. Aber das kann ich Lukas so natürlich nicht sagen. Ich muss also diplomatischer vorgehen.
„Danke der Nachfrage, aber: nein, danke. Du weißt, dass ich kein Diskogänger bin. Wenn ich mir dumpfe Gorillas mit schlechten Manieren in der Brunft anschauen will, die sich nur prügeln oder paaren wollen, dann gehe ich den Zoo.“ War das diplomatischer? Keine Ahnung.
Lukas lacht jedenfalls. „Bin ich etwa ein dumpfer Gorilla mit schlechten Manieren?“
„Ausnahmen bestätigen die Regel.“
„Vielen Dank für die Blumen!“ näselt Lukas und deutet einen Knicks an.
Ich schaue wieder zu Jörg rüber. Das Alphamännchen der Gorillas plant immer noch und macht ein paar deutliche Gesten in Bezug auf die Oberweiten, die er zu erwarten scheint.
Nein, ich werde definitiv nicht dabei sein.
„So, ihr Zuckerpüppchen, dann bewegt euch mal!“
Darf ich vorstellen: das ist Herr Reuther.
Unser Sportlehrer, der unserer Meinung nach eher einem Drill Sergeant ähnelt als einem Pädagogen. Deswegen hat er an unserer Schule auch den Spitznamen „G.I. Reuther“ weg.
Aber er ist fair. Ich habe mit ihm ein „Gentlemen’s Agreement“ abgeschlossen: Ich versuche eine Übung, bis ich sie einmal halbwegs hingekriegt habe, egal, ob die gesamte Klasse Hilfestellung leistet oder nicht und egal, wie bescheuert und schlecht es aussieht, und kriege dafür meine Vier minus, dafür lässt er mich die restliche Zeit in Ruhe. Das klappt seit Jahren ganz gut – unter anderem auch deshalb, weil er am Anfang allen Ernstes versucht hat, in mir so etwas wie „sportliche Begeisterung“ zu wecken und dabei hoffnungslos gescheitert ist. Damit war er ähnlich erfolgreich wie Helmut Kohl mit seinen „blühenden Landschaften“.
Als der Mann jedenfalls einsah, dass eher der nächste Papst eine evangelische Lesbe wird, als dass ich mit Begeisterung und Erfolg eine Turnübung schaffe, fiel es ihm auf einmal gar nicht mehr so schwer, diese Abmachung einzugehen.
Warum das jetzt nicht alle aus der Klasse versuchen? Nun, niemand schafft es, sich absichtlich so dämlich anzustellen beim Sport wie ich mich von Natur aus anstelle. Und das ist eine sportliche Leistung, auf die ich fast ein wenig stolz bin. Aber auch nur fast.
Und so verläuft auch heute der Sportunterricht wie immer. Ich blamiere mich am Reck, hole mir meine 4- für den jämmerlichen Versuch ab und verziehe mich unter Reuthers verächtlichem Blick zurück in die Umkleide.
Der Vorteil dabei ist, dass ich jetzt allein und in aller Ruhe duschen kann. Ich stehe unter dem heißen Strahl und lasse das Wasser auf mich runterprasseln. Da ich mich ja kaum in der Halle bewegt habe, bin ich ein wenig durchgefroren.
Herrlich! Keine Eltern, die rufen, dass man kein Wasser verschwenden soll. Keine Klassenkameraden, die eventuelle unkontrollierbare körperliche Reaktionen hervorrufen.
Nach zwanzig (!) Minuten gehe ich mich abtrocknen und ziehe mich um. Nach Hause darf ich leider nicht, immerhin ist ja Anwesenheitspflicht. Wenn ich ginge, wäre ich „unerlaubt abwesend“ und bekäme eine Sechs. Deswegen suche ich mir wie immer eine ruhige Ecke in der Sporthalle, setze mich auf die Bank und mache dort meine Hausaufgaben. Heute: Ableitungen von Termen. Pfui.
Besser: ich beobachte die anderen, wie sie sich weiterhin abrackern.
Oder noch besser: ich beobachte Lukas… Der hat es echt drauf. Bei ihm sieht das so… einfach aus! Der Aufschwung an die Stange, das Drumrumschwingen (keine Ahnung, wie man das nennt), die Landung auf der Matte… Ich würde Eintritt zahlen, um ihm öfter dabei zuzusehen!
Als er fertig ist mit seiner Übung, kommt er zu mir rüber. „Na, wie war ich?“
„Keine Ahnung. Das musst du denjenigen fragen, der hier für die Noten zuständig ist“, antworte ich und deute mit meinem Kuli in Richtung Reuther.
„Ich möchte keine fachliche Meinung, sondern eine ästhetische“, grinst er.
„Das ist ja quasi, als wenn eine Gazelle einen Elefanten fragen würde, ob sie schön springt.“
„Genau. Und was sagt der Elefant?“
„Törööh.“
„Spinner!“ lacht er und geht wieder.
Ich schaue ihm nach. Keine Sorge, kleine Gazelle. Der Elefant findet, dass es perfekt war…
Freitagabend. Es ist sechs Uhr.
„Tim, Liebling, du musst dir zum Essen eine Pizza oder so bestellen, okay?“
Darf ich vorstellen: das ist meine Mutter.
„Geld liegt in der Küche auf dem Tisch!“
Sie rennt im Bademantel durch unsere Wohnung, ein Handtuch um ihren Kopf gewickelt und versprüht pure Hektik.
„Schatz, so beruhig dich doch endlich, wir haben noch eine halbe Stunde Zeit!“
Darf ich vorstellen: das ist mein Vater.
Er ist ebenfalls alles andere als die Ruhe in Person, auch wenn er versucht, diesen Anschein zu erwecken. Er hat zwar schon seine schwarze Anzughose an, aber keine Socken an den Füßen, keinen Schlips um den Hals, und sein weißes Hemd steht auch noch offen.
„Hast du meine Strümpfe gesehen?“, fragt er mich mit einem Hilfe suchenden Blick durch die offene Zimmertür.
Ich seufze, trinke den Rest meines Tees aus und stehe von meiner Fensterbank auf, von der ich die ganze Stadt überblicken kann, und gehe in das Schlafzimmer meiner Eltern. Ein Griff genügt, und ich finde die zusammengerollten Socken unter seiner Anzugjacke. Mit einem leicht genervten Gesichtsausdruck, der aber durch meine zuckenden Mundwinkel verraten wird, halte ich sie Papa unter die Nase.
„Ah, da sind sie ja! Danke, mein Sohn. Ach, übrigens…“ Er zieht sein Portemonnaie aus seiner Hosentasche und nimmt einen 20-Euro-Schein heraus.
„Hier, Sohnemann, nimm. Mach dir auch einen schönen Abend.“
Ich zögere, ob ich das Geld nehmen soll, denn schließlich habe ich nicht vor, heute nochmal wegzugehen.
Papa nimmt mir die Entscheidung ab und drückt mir den Schein in die Hand. „Dann mach dir morgen einen schönen Abend. Oder an einem anderen Tag, ok?“ Als ob er meine Gedanken lesen könnte.
„Danke, Papa.“
Er lächelt mich an und klopft mir auf die Schulter. „Und nochmals danke für die Karten, Sohnemann.“
Die beiden gehen heute nämlich groß aus. Das war mein Weihnachtsgeschenk für sie. Da sie beide berufstätig sind, haben sie nämlich kaum noch die Gelegenheit dazu, wie Mama irgendwann mal beim Abendessen bemerkte. Damit war mir klar, was ich ihnen schenken wollte. Und so habe ich ihnen zwei Karten für das Theater gekauft, wo heute „Grease“ aufgeführt wird. Und vorher wollen sie noch schick essen gehen.
Und das ist auch der Grund, warum meine Eltern wie aufgescheuchte Hühner durch die Wohnung rennen.
Schließlich ist es halb sieben. Es klingelt an der Tür. Papa geht zur Gegensprechanlage und nimmt den Hörer ab. Durch meine (inzwischen geschlossene) Zimmertür höre ich, wie er mit dem Menschen am anderen Ende der Leitung redet.
„Hallo? ...Ja, wir kommen sofort runter.“ Er hängt den Hörer wieder ein. „Schatz, das Taxi ist da!“
„Ich komme!“, höre ich Mama zurückrufen.
Ich sitze immer noch auf einem Kissen auf meiner Fensterbank, mit dem Rücken an die seitliche Wand gelehnt, trinke Tee und betrachte die Lichter der Stadt, während meine Anlage sanft Mahlers Fünfte Sinfonie spielt. Bis auf meinen Deckenfluter, den ich auch noch etwas runtergedimmt habe, ist es dunkel in meinem Zimmer.
Es klopft an meiner Tür.
„Herein.“
Mama öffnet und kommt vorsichtig rein. Sie trägt ihr langes schwarzes Kleid und sieht umwerfend aus. Auch ihr Make-up steht ihr gut. Sie stellt sich neben mich an die Fensterbank.
„Tim, Liebling, wir fahren jetzt los“, sagt sie sanft.
Ich nicke. „Viel Spaß!“
„Und du, gehst du auch noch weg?“
Definitiv nicht.
„Vielleicht“, erwidere ich aber stattdessen. „Ein paar Leute aus meiner Klasse treffen sich nachher bei Jörg und wollen dann noch ins Depot. Ich weiß noch nicht, ob ich da mitgehe.“ Sie soll nicht denken, dass ich vorhabe, den ganzen Abend auf meiner Fensterbank zu verbringen und Mahler zu hören. Obwohl genau das mein Plan ist.
„OK“, lächelt sie. „Überleg’s dir.“ Sie streicht mir durch die Haare und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. „Ich hab’ dich lieb.“
„Ich hab’ dich auch lieb, Mama.“
Dann geht sie wieder, und kurz darauf höre ich die Wohnungstür ins Schloss fallen.
Es ist still. Kein Lärm von draußen, kein Lärm in der Wohnung. Ich nehme einen Schluck Tee und lausche Gustav Mahler.
Ich denke nach.
Eigentlich geht es mir gut. Ich habe tolle Eltern, die ich super lieb habe und mit denen ich mich prächtig verstehe. Dass die sich auch jetzt noch lieben, selbst nach fast 20 Ehejahren, grenzt heutzutage ja fast schon an ein Wunder. Meine Noten in der Schule können sich auch sehen lassen, und ich werde deswegen noch nicht mal geärgert oder bin der Außenseiter. Ich bin einfach nur der stille Typ aus der 11b, der „wie-heißt-er-noch-du-weißt-wen-ich-meine“.
Ich bin gesund und habe zwei gute Freunde. Das ist nicht viel, aber ich brauche auch keine 20 Leute an jedem Finger. Bei Tine und Lukas weiß ich, was ich habe. Und das ist viel wert.
Lukas. Mein wunder Punkt. Ich merke mal wieder, dass ich hoffnungsloser Romantiker hoffnungslos verliebt bin. Ich hätte liebend gern den Abend mit Lukas verbracht, aber erstens habe ich wirklich keinen Bock auf Jörg und das Depot, und zweitens habe ich Angst, dabei zuschauen zu müssen, wie er dort vielleicht irgendein Mädchen aufgabelt.
C’est la vie. Was soll’s.
„Mach dir einen schönen Abend, Lukas“, sage ich leise zu mir und proste mit meiner Teetasse der hell erleuchteten Stadt auf der anderen Seite meines Fensters zu.
„PS: Ich liebe dich.“
Um Viertel vor Acht sitze ich immer noch auf meiner Fensterbank, diesmal allerdings in Begleitung: Meine Pizza ist gekommen und inzwischen zu drei Vierteln aufgegessen. Ich bin satt. Mein Plan, zuhause zu bleiben und Mahler zu hören, hat sich insofern geändert, dass ich jetzt Chopin höre.
Auf einmal klingelt es an der Tür.
Wer mag das wohl sein? Ich gehe in den Flur und nehme den Hörer von der Gegensprechanlage ab.
„Hallo?“
„Ich bin’s, Lukas. Kann ich kurz rauf kommen?“
Was will er denn jetzt hier? „Äh… klar!“
Mein Herz macht einen Freudensprung. Ich drücke auf den Summer, öffne die Tür und gehe zurück in mein Zimmer. Erstens kennt er den Weg, zweitens dauert es eine Weile, bis er mit dem Fahrstuhl bei uns im 8. Stock ankommt, und drittens machen wir das immer so.
Ich sitze wieder auf meinem Lieblingsplatz, als ich die Wohnungstür schließen höre und Lukas mein Zimmer betritt.
„Hey Tim.“
„Hey. Komm rein und setz dich.“
Lukas nimmt seinen Rucksack ab und lehnt ihn an meinen Schrank. Ich höre ein paar Flaschen leise tüngeln.
„Sind das deine Vorräte für das Vorglühen heute Abend?“
„Jepp. Ein Sechserträger Bier und eine Flasche Apfelkorn.“
„Bah!!“, schüttele ich mich.
„Weichei!“
„Spritti!“
Lukas zieht seine Jacke aus, wirft sie auf mein Bett, schiebt meinen rollbaren Schreibtischstuhl vor das Fenster und setzt sich. Wir schweigen einen Moment und schauen gemeinsam auf unsere Stadt herab.
Ich bin jedes Mal nervös, wenn ich Lukas treffe. So viel Zeit in seiner Nähe zu verbringen, ist gleichzeitig schön und schrecklich. Einerseits genieße ich es, seine schöne Stimme zu hören und in seine Augen zu sehen. Andererseits finde ich es schrecklich, weil ich nicht so nah bei ihm sein darf, wie ich es gerne möchte.
Es geht mir dreckig, wenn er in meiner Nähe ist, und es geht mir dreckig, wenn er weg ist.
„Was hörst du denn da?“, fragt er nach einer Weile.
„Chopin.“
„Ah, ist das der aus dem Lied?“
„Was für ein Lied?“
„‚I Like Chopin’, ist aus den Achtzigern oder so.“
„Kenn’ ich nicht“, antworte ich achselzuckend. „Das ist jedenfalls die Romanze aus Chopins Klavierkonzert Nr. 1.“
„Kenn’ ich nicht.“
Ich glaube, musikalisch werden wir nie auf einen Nenner kommen.
Dann entdeckt er die Pizzaschachtel. „Sind deine Eltern heute Abend gar nicht da oder warum gab’s Pizza?“
„Die sind heute Abend im Theater. Ich habe ihnen zu Weihnachten zwei Karten für ‚Grease’ geschenkt.“
„Oh! Das ist aber nobel von dir.“
Ich zucke nur mit den Schultern. „Sie kommen halt so selten mal raus.“ Ich deute auf die Pizzaschachtel. „Willst du noch ein Stück? Ich bin satt, und ein Viertel ist noch da.“
„Isst du das wirklich nicht mehr?“
„Nö.“
„Dann immer her damit! Was ist es denn für eine?“
„Thunfisch. Soll ich sie dir eben nochmal im Ofen warm machen?“
„Geht so, danke.“
Ich stehe auf, um mir noch eine Tasse Tee zu holen. „Möchtest du was trinken? Wasser oder so?“
„Nee, danke, ich hole mir lieber ein Bier.“
Als ich aus der Küche zurückkomme, kniet Lukas vor seinem Rucksack und holt zwei Flaschen Bier raus.
„Brauchst du das nicht für Jörg?“
„Ich glaube, wir haben genug zu trinken. Außerdem ist ja noch Appelhorn da. Auch eins?“
„Nee danke.“ Ich setze mich wieder auf die Fensterbank und beobachte fasziniert, wie er die eine Flasche mit der anderen aufmacht, indem er sie kopfüber an den Kronkorken verhakt. Dann macht es „plopp!“, und die untere Flasche ist offen. Sowas können wohl nur richtige Männer. Ich habe das einmal versucht. Kurz darauf hatte ich 0,33l Bier auf meiner Hose…
„Prost!“ hält Lukas mir seine Bierflasche entgegen.
„Prost“, stoße ich mit meinem Tee an. Es ist zwar ein krasser Stilbruch, aber darüber will ich jetzt mal hinweg sehen. Mit Rotwein hätte ich das aber nicht gemacht!
Ich schaue wieder nach draußen und schweige, während Lukas den Rest Pizza verzehrt und ich mich nach ihm verzehre. Ich freue mich sehr über seinen Besuch, auch wenn es nicht so aussieht. Aber ich bin wie immer hin- und hergerissen, denn wie gerne würde ich jetzt…
Es ist zum Kotzen.
„Was verschafft mir eigentlich die Ehre deines unerwarteten Besuchs?“, frage ich nach einer Weile.
„Ich war gerade auf dem Weg zu Jörg und kam bei dir vorbei und dachte, ich schau mal rein“, antwortet er schmatzend mit halbvollen Mund und schluckt den letzten Rest Pizza runter.
„Das ist nett von dir“, meine ich ehrlich und lächele sogar zaghaft.
Sein Blick wandert durch mein Zimmer und bleibt auf dem Klavier heften. „Weißt du“, beginnt er langsam, „ich habe dich noch nie Klavier spielen gehört.“
„Nicht…?“, frage ich unsicher. Was soll das denn jetzt werden?
„Nö. Ich war zwar schon etliche Male hier, aber nie hast du auch nur einen Ton auf dem Klavier gespielt. Mach doch mal!“, hakt er nach.
„Ach, ich weiß nicht…“, nuschele ich schüchtern. Irgendwie fühle ich mich unwohl.
„Tiiiiiimmiiii…!“, schmollt er.
„Aber die Nachbarn…“ setze ich an.
„…werden es nicht hören, weil du das Ding ja auf stumm schalten kannst, wie du mir mal erzählt hast. Also?“
Ich sitze immer noch auf der Fensterbank und ziere mich. Irgendwie passt mir das gar nicht, dass er mich jetzt so ins Rampenlicht zerrt. Wenn ich mich jetzt vor Aufregung verspiele oder es ihm nicht gefällt oder was weiß ich?! Bei jedem anderen Publikum wär’s mir ja schnurzpiepegal, aber bei ihm?
Lukas steht abrupt auf, stützt sich mit seinen Händen auf der Fensterbank ab und lehnt sich zu mir rüber, so dass sein Gesicht nur noch etwa fünfzehn Zentimeter von meinem entfernt ist. Seine blauen Augen leuchten mich sogar im Halbdunkel meines Zimmers an. Er setzt einen Blick auf, den Fünfjährige einsetzen würden, wenn sie Eis oder Schokolade haben wollen, und raunt verführerisch: „Büüüüütteeeeee!“
Oh… mein… Gott...!
Ich spüre, wie sein Blick von meinen Augen aufgesaugt und direkt in den Bauch weitergeleitet wird, wo er eine wohlige Wärme verbreitet. Leichte Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn, sowohl aus Nervosität als auch wegen der plötzlichen Wärme in meinem Zimmer. Ich werde aus verschiedenen Gründen rot.
Wenn ich jetzt einfach meinen Kopf nach vorne bewegte, dann könnte ich ihn küssen.
Ich muss schlucken. „Mit deinem Dackelblick hier fährst du aber gerade ganz schon schwere Geschütze auf“, krächze ich heiser.
Ein diabolisches Lächeln umspielt kurz seine Augen, ohne dass er seinen Blick abwendet. „Ich weiß“, sagt er nur siegessicher.
Haltung bewahren, Schröder! Contenance, verdammt noch mal!!!
Tief in mir drin wächst die Erkenntnis, dass ich heute Nacht meine Boxershorts einsauen werde. Daran gibt es keinen Zweifel. Damit das nicht schon jetzt mit meiner Unterhose passiert, gebe ich mich geschlagen.
„Na gut“, seufze ich und ergebe mich. Alles, nur hör auf, mich so anzusehen! Weißt du denn nicht, was du mir damit antust?!
Wahrscheinlich nicht. Hoffentlich nicht. Oder…?
„Ha!“, ruft er triumphierend und klatscht in die Hände. „Dieser Blick funktioniert immer!“
Ich versuche, meinen Herzschlag zurück auf einen normalen Wert zu zwingen. „Du könntest ein Vermögen verdienen, wenn du ihn in Dosen packen und verkaufen könntest.“
„Jepp!“, grinst er schelmisch und deutet mit einer einladenden Handbewegung auf das Klavier. „Darf ich bitten, Maestro?“
„Grazie“, murmele ich und nehme auf dem Klavierhocker Platz, während Lukas Chopins Klavierkonzert stoppt und sich direkt hinter mich in den Schreibtischstuhl setzt. Ich reiche ihm einen der beiden Kopfhörer und setze mir den anderen auf. Während ich meine Finger massiere, überlege ich, was ich spielen könnte.
„Irgendein Wunsch?“
„Nö“, sagt er und schaut etwas verschämt drein, „such du’s dir aus… Ich werd’s wahrscheinlich eh nicht kennen…“
Mal überlegen. Ich suche ein Stück, das in diese Situation, in diese Stimmung passt. Eins, das gleichzeitig romantisch und aufgewühlt ist. Das sanft ist. Aber auch stark. Eins, bei dem man sich küssen möchte und gleichzeitig noch viel mehr. Und das ein harmonisches Ende hat, das Hoffnung macht.
Alles klar. „Dann spiele ich ‚Clair de lune’ von Claude Debussy.“
Einmal noch mit den Fingern knacken, tief einatmen und ausatmen.
Bevor ich anfangen kann, vernehme ich nochmal Lukas’ Stimme: „Hast du nicht was vergessen?“
Puff! Da geht sie hin, meine Konzentration. Irritiert drehe ich mich zu ihm um. „Was soll ich denn vergessen haben?“
„Ähm… die Noten vielleicht?“
„Brauch’ ich nicht.“ Ich habe das Lied schon tausendmal gespielt. Inzwischen wissen meine Finger, wann sie welche Tasten wie drücken müssen.
Also: nochmal tief durchatmen, und los geht’s. Ganz zart (und etwas langsamer als angegeben) schlage ich die ersten Takte an. Der sanfte Einstieg soll seine volle Wirkung entfachen können. Nach ein paar Takten wird das Stück intensiver, fast dramatisch, um sich direkt danach wieder beruhigen zu können und spielerisch oder sorglos ein wenig vor sich hin zu plätschern. Nochmal ein kurzer Anflug von Spannung, dann kommt das Ende in seiner gesamten harmonischen Auflösung in reinstem Dur. Ich lasse den Schlussakkord lange ausklingen.
Es ist totenstill in meinem Zimmer.
Als ich mich zu Lukas umdrehe, merke ich, dass er in Gedanken irgendwie ganz weit weg ist und anscheinend noch nicht bemerkt hat, dass das Privatkonzert nun vorbei ist. Nach einer halben Ewigkeit zeigt sich eine erste physische Reaktion in seinem Gesicht. Sein Mund beginnt wie in Trance, Worte zu formulieren.
„Das…“, setzt er an, „…das war … wunderschön!“ Er schaut mir in die Augen, aber sein Blick scheint irgendwie entrückt zu sein, etwas Trauriges, Ängstliches liegt darin.
Was habe ich denn jetzt schon wieder angestellt?!
„Danke“, sage ich verwirrt, denn irgendwie passt seine Aussage nicht zu dem Bild, welches seine Mimik gerade transportiert.
Auf einmal scheint er aus seiner Starre aufzuwachen. Er schaut schnell auf seine Uhr.
„Du, ich muss los. Die anderen warten sicher schon.“
Hektisch steht er auf, nimmt seine Jacke vom Bett und zieht sie an. Dann schultert er seinen Rucksack und geht eilig zur Tür.
„Wir sehen uns Montag!“, sagt er im Hinausgehen und wirft mir noch einen gehetzten Blick zu. Eine halbe Sekunde später höre ich unsere Wohnungstür zufallen.
Ich sitze immer noch auf dem Klavierhocker und kriege meinen Mund nicht mehr zu.
Was ist denn das jetzt bitte schön für eine Aktion?!
„Why do stars fall out of the sky
Every time you walk by?
Just like my, they long to be
Close to you”
The Carpenters: „Close To You”
(geschrieben von Burt Bacharach und Hal David)
„Ouvrez vos livres à la page soixante-treize, s’il vous plaît!“
Darf ich vorstellen: das ist Herr Schmidt.
Montagmorgen, acht Uhr. Franze. Ich weiß nicht, was größer ist: meine Müdigkeit oder meine Unlust. Selbst Herr Schmidt, unser Lehrer, scheint keine richtige Lust zu haben.
Nachdem ich mir das ganze Wochenende das Hirn zermartert habe über Lukas’ Verhalten am Freitag (und zu keinem auch nur ansatzweise zufrieden stellenden Ergebnis gekommen bin), muss ich nun feststellen, dass meine Verwirrung komplett ist, da Lukas sich wieder ganz normal verhält, als hätte es Freitagabend nie gegeben. Ich werde aus diesem Kerl einfach nicht schlau.
Mühsam hole ich mein Französischbuch aus meiner Schultasche und schlage es auf. Welche Seite war das? Ach ja, soixante-treize – sechzig-dreizehn, also dreiundsiebzig. Wieso haben die Franzosen eigentlich so ein bescheuertes Zahlensystem?!
Lukas sitzt wie jeden Morgen auf dem Platz neben mir, gräbt diesmal aber erstaunlich lange in seinem Rucksack.
„Lukas, warum dauert das denn so lange?!“, fragt Schmidt ihn genervt.
„Äh… ich habe mein Buch wohl zuhause vergessen.“
„Dann schau bei Tim mit rein.“ Yesss!!! „Und damit du die Vokabeln von dieser Lektion nicht auch noch vergisst, schreibst du sie bis morgen einmal ab, verstanden?“
Lukas grummelt etwas Unverständliches, und es ist auch besser so, dass Schmidt das nicht versteht. Ich muss kichern.
„Und wenn du das so toll findest, Tim, dann darfst du das natürlich auch“, drückt Schmidt mir die gleiche Strafe auf.
Na super. Besser kann so eine Woche doch nicht beginnen, oder?
„Hey“, flüstert Lukas neben mir, „lass uns das heute Nachmittag zusammen machen!“
Seine blauen Augen leuchten mich an. Mein überstrapaziertes Herz macht Luftsprünge. Ich schlucke und nicke zustimmend.
Besser kann so eine Woche doch nicht beginnen, oder?!
Halb drei. In einer halben Stunde müsste Lukas hier auftauchen. Ich beschließe, noch ausgiebig zu duschen. Sicher ist sicher. Außerdem vergeht so die Zeit schneller.
Um kurz vor drei trockne ich mich ab und wickele mir ein Handtuch um die Hüften. Zum Glück sind meine Eltern noch am Arbeiten. Die Wohnung ist also leer.
Als ich aus dem Bad komme, klingelt es an der Tür.
Das muss Lukas sein!
Nur mit dem Handtuch um meine Hüften öffne ich ihm. Er steht im Treppenhaus unseres Mehrfamilienhauses und schaut etwas verwundert, grinst aber.
„Hey.“
„Hey. Komm rein.“
Er geht direkt in mein Zimmer. Ich folge ihm und nehme mir frische Wäsche aus meinem Schrank.
„Ich geh mich kurz anziehen“, sage ich und will rausgehen.
„Meinetwegen brauchst du nicht zu flüchten“, meint er nur, während er es sich auf meinem Bett bequem macht.
„Das hättest du wohl gerne“, grinse ich und gehe trotzdem ins Bad, um mich dort anzuziehen. Ich Idiot! Warum bin ich nicht im Zimmer geblieben?!
Als ich zurück in mein Zimmer komme, sieht er irgendwie nachdenklich aus.
„Was ist los?“, frage ich ihn.
Er schaut kurz auf, weil er mich wohl nicht kommen gehört hat.
„Ach, nix.“
Ich glaube ihm zwar nicht, traue mich aber auch nicht, nachzuhaken. Ich habe keine Lust, dass er wieder einen Abgang wie am Freitag macht.
Also fangen wir an, die Vokabeln abzuschreiben. Zu zweit ist das wirklich angenehmer als allein. Ich sitze an meinem Schreibtisch, während er auf meinem Bett liegt. Im Hintergrund plärrt leise mein CD-Spieler.
Ich muss mich beim Abschreiben super zusammenreißen, um nicht dauernd zu ihm rüber zu schielen oder Fehler zu machen.
Nach fünfzehn Minuten bin ich fertig und schaue Lukas dabei zu, wie er die restlichen Vokabeln auf sein Blatt Papier kritzelt. In mir beginnt es wieder zu arbeiten. Warum nur ist er am Freitag so übereilt geflüchtet?
Ein Geistesblitz trifft mich unverhofft von links.
Ob er vielleicht etwas gemerkt hat? Ob er vielleicht ahnt, was ich fühle?
Mir geht der Arsch auf Grundeis. Das würde natürlich alles erklären! Auf einmal macht diese Aktion Sinn! Die Gedanken beginnen, durch meinen Kopf zu rasen.
Er kapiert, dass ich schwul bin und in ihn verliebt bin. Sein (heterosexuelles) Gehirn brennt durch, er will nur noch raus. Er flüchtet zu den Gorillas, gießt sich mit ihnen ordentlich einen hinter die Binde und schaut sich geschlechtsreife Weibchen mit gebärfreudigen Becken und laktierender Oberweite an, um seiner Heterosexualität zu frönen.
Aber warum ist er dann jetzt hier?
Gerade in diesem Moment ist Lukas auch fertig mit dem Abschreiben. Auf einmal spielt meine Anlage Debussys „Clair de lune“, und es wird wieder ruhig in meinem Zimmer. Das Lied von Freitagabend… Eine bedeutungsschwangere Stimmung macht sich breit. Wieder sieht Lukas nachdenklich aus.
Jetzt oder nie, Tim! Angriff ist die beste Verteidigung!
„Du, Lukas, wegen neulich...“, beginne ich zögerlich. „Ich weiß nicht, wie ich dir das jetzt sagen soll…“
Scheiße, habe ich eine Angst.
Er reagiert erstmal nicht. Das ist immerhin etwas, weil er mir nicht ausweicht oder das Thema abwürgt.
Ich schlucke, schaue auf den Boden und will gerade wieder ansetzen, als Lukas mir zuvorkommt.
„Wir sind Freunde, oder?“, fragt er mich fast flehend. Mir ziehen sich die Eingeweide zusammen.
Er dreht seinen Kopf in meine Richtung und schaut mich mit seinen blauen Augen an. Eine Mischung aus Angst, Traurigkeit und Verzweiflung liegt in seinem Blick.
„Natürlich sind wir das! Warum fragst du?“ Die Situation wird immer gefährlicher für mich. Denkt er jetzt, ich hätte ihm nicht vertraut? Oder unsere Freundschaft verraten? Oder was?!
Er zögert. Das Blau in seinen Augen hat eine andere Färbung angenommen. Es sieht irgendwie dunkler aus.
„Ich… ich muss dir etwas sagen…“, fängt er an, bricht aber gleich wieder ab.
Du? Mir? Nein. Ich! Dir!
Oder wie jetzt?
Ich nutze seine Pause und sage vorsichtig: „Nein, du musst mir nichts sagen. Aber du kannst, wenn du möchtest.“ Ich meine, wenn er so dringend möchte, dann lass ich ihm doch gerne den Vortritt.
Ein kurzes Lächeln fliegt ansatzweise über sein Gesicht, verweilt dort aber nicht lange.
Die Verzweiflung in mir versucht, die Situation mit einem Witz zu entkrampfen.
„War mein Klavierspiel denn so schlecht neulich?“
Anscheinend hat er den Witz nicht verstanden, denn seine Augen fangen an zu schwimmen. Eine Träne läuft an seiner linken Wange herunter, kurz darauf gefolgt von einer zweiten auf der anderen.
Er schnieft. Lukas weint!
Ich bin platt. War mein Witz so daneben?! „Hey… was ist denn?“, frage ich ihn leise. Es bricht mir das Herz, ihn so zu sehen. Was hat er denn nur?!
Er steht auf und geht rüber zu seinem Rucksack, holt ein Taschentuch hervor und wischt sich über die Augen. Dann setzt er sich wieder auf die Bettkante und vergräbt sein Gesicht in seinen Händen. Er schluchzt.
Unschlüssig bleibe ich an meinem Schreibtisch sitzen. Soll ich zu ihm rüber gehen oder lieber nicht?
Schließlich sagt er unter Tränen: „Tim… ich bin verliebt.“
Das ist toll, aber HÄH?! Ich verstehe nicht, in welche Richtung wir da gerade galoppieren.
Mir werden die Knie weich. Gut, dass ich sitze. Ich begrabe meinen Notfallschlachtplan und die Idee, ihm meine Gefühle zu gestehen, und beschließe, nur noch der Dinge zu harren, die da kommen mögen.
„Aber das ist doch etwas Schönes… eigentlich…“, gehe ich schüchtern auf seine letzte Äußerung ein.
Er schaut auf, seine blauen Augen sind nun rot vom Weinen und verquollen. „Eigentlich schon, ja…“ Ich sehe, dass er zittert. „Aber so leicht ist das nicht in meinem Fall…“
Ich beginne mich zu fragen, was da noch alles gelaufen ist im Depot am Freitag…
Trotz meiner wackeligen Beine beschließe ich, zu ihm rüber zu gehen. Ich setze mich neben ihn auf das Bett und lege meinen Arm um seine Schultern.
„Wieso?“, frage ich vorsichtig. „Ist sie vergeben?“
Wieder versteckt er sein wunderschönes Gesicht, das ich nachts in meinen Träumen sehe, in seinen Händen. In meinem Arm, der noch immer auf seinen Schultern liegt, spüre ich, wie das Weinen ihn durchschüttelt.
„Ich habe nie gesagt, dass es eine ‚sie’ ist…“, heult er los.
Mir fällt die Kinnlade aus dem Gesicht. Habe ich das gerade richtig gehört???
„Heißt das,… du… bist…?!“ Ich stehe völlig neben mir.
„Schwul! Ja! Genau das soll das heißen!“ heult er weiter in sein Taschentuch.
Nee. Moment mal, das ist mein Text! Du kannst nicht schwul sein, weil ich es doch bin! Das kann doch nicht angehen… oder etwa doch?!
Doch, es kann. Rein theoretisch.
Langsam wird mir die Tragweite seines Geständnisses bewusst. Das ist der Traum meiner schlaflosen Nächte! Und er wird wahr!!! Ich kann es kaum fassen…!
Lukas schluchzt weiterhin herzzerreißend. „Du bist der erste, dem ich das erzähle…“
Wow…! „D-danke für dein Vertrauen…“
Er schaut wieder auf. Ich meine, ein schüchternes Lächeln in seinem Gesicht zu entdecken. „Heißt das, du hast kein Problem damit?“
„Ach Quark!“, Wie könnte ich!
Auf einmal hat sich das Blatt komplett gewendet. Er ist sich neulich nicht darüber bewusst geworden, dass ich schwul bin, sondern dass er es ist! Deswegen ist er geflüchtet! Und nun fühlt er sich mies und will sich auskotzen!
Während Lukas sich neben mir beruhigt, habe ich kurz Zeit für eine schnelle Bestandsaufnahme.
Erstens: er ist schwul. Kann man als sicher gelten lassen, hat er ja selber gesagt.
Zweitens: er ist verliebt. Gilt auch als sicher, hat er ja schließlich auch gesagt.
Drittens: aber in wen?
Ich ahne, was gleich passiert… Könnte es sein, dass er… in mich…?
Ich muss grinsen und gebe ihm einen Knuff auf den Oberarm. Am liebsten würde ich ihn sofort küssen, aber ich traue mich nicht. Noch nicht. „Aber wer ist denn dann der Glückliche, in den du verliebt bist?“
Ich muss mich zusammenreißen, um nicht allzu glücklich auszusehen. Oder zu ungeduldig. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt, mein Herz schlägt wie wahnsinnig in meiner Brust. Es kitzelt in meinem Arm, der ihn noch immer hält. Ich spüre die Wärme, die sein Körper ausstrahlt, ich rieche seinen Duft.
Er schaut mich etwas verlegen an und wird rot. „Naja“, beginnt er ausweichend, „das ist jetzt etwas peinlich…“
Immerhin hat er mit dem Weinen aufgehört. Er schafft es sogar, schüchtern zu lächeln.
„Na los, raus mit der Sprache! Jetzt mach bloß keinen Rückzieher, wo’s spannend wird!“, Ich knuffe ihn noch einmal.
Lukas wird noch röter. „Ach, ich weiß nicht…“
Soso, er will es also auf die harte Tour. „Na los, spuck’s aus!“, fordere ich und beginne ohne Vorwarnung, ihn durchzukitzeln.
Er prustet los und versucht, sich aus meinen Händen zu winden, aber ich bin gnadenlos. Er wird jetzt so lange durchgekitzelt, bis er es mir sagt. Bis er mir sagt, was ich hören will. Ich meine, er verabredet sich mit mir, dann sagt er mir als erstem Menschen, dass er schwul und verliebt ist, und als ich wissen will, in wen, weicht er aus. Ich mache mir jetzt richtig Hoffnungen!
„Okokok, ich-ha-ha sag’s dir ja-ha-ha!“, blubbert er lachend.
Na los, DANN SAG ES AUCH!!!
„Es ist Ja-ha-ha-nnis! Jannis! Aus der 11a-ha-ha-ha!“
Ich zucke zusammen und höre sofort mit dem Kitzeln auf. Schlagartig zieht sich mein Magen zusammen, als hätte mir jemand reingeboxt. Mir wird schlecht. Ein riesiger Kloß macht sich in meinem Hals breit.
Oh nein. Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. Das Blatt hat sich abermals gewendet.
Lukas liegt schwer atmend neben mir und ist zum Glück noch nicht in der Verfassung, mich mit meinen Reaktionen wahrzunehmen. Das gibt mir ein paar Sekunden, um zu versuchen, mich wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Es ist also Jannis aus der 11a. Das Sportass mit den brauen Haaren und den brauen Augen. Und nicht ich. Damit wäre das Rätsel wohl gelöst. Ich muss schlucken.
Gedankenverloren starre ich ins Leere und bekämpfe die Übelkeit, die sich in meinem Magen breitmacht, und die Tränen, die in meine Augen wollen. Lukas setzt sich neben mir wieder auf. Ich spüre seinen Blick auf mir; ängstlich, fragend.
„War das jetzt so ein Schock?“, fragt er vorsichtig.
Irgendwie schaffe ich es, ihn anzusehen. Seine blauen Augen verraten seine Furcht. Mit einer gigantischen Kraftanstrengung bringe ich ein Lächeln zustande. Ich muss aussehen wie ein Zombie.
„Nein.“ Das ist zwar glatt gelogen, aber die Antwort, die er jetzt hören will oder muss. Es ist grottenunehrlich, aber ihm jetzt die Wahrheit zu sagen ist noch unmöglicher als vor seinem Coming Out. Ich meine, so fertig wie der eh gerade ist, kann ich mich doch nicht auch noch offenbaren. Der hat gerade genug zu tun mit sich selbst…
Wir schweigen und schauen beide gedankenverloren drein. Lukas scheint noch immer nicht davon überzeugt zu sein, dass ich kein Problem damit habe, dass er schwul ist. Habe ich ja eigentlich auch nicht… Eigentlich. Ich muss jetzt aber irgendetwas Richtiges sagen.
„Ist… ist er denn… auch…?“ Ich bringe es nicht übers Herz, das letzte Wort auszusprechen. Und war das etwas Richtiges?
„Ich habe leider nicht die leiseste Ahnung.“ Er lässt die Schultern hängen.
Mein Instinkt scheint die Kontrolle übernommen zu haben, denn ich lege automatisch meinen Arm wieder um seine Schultern. „Dann wirst du das wohl rausfinden müssen“, höre ich mich sagen. Ich finde, das klingt ziemlich cool und freundschaftlich.
„Ich habe aber eine Scheißangst davor“, nuschelt er, und ich merke, dass sein Körper wieder unter Spannung steht.
„Brauchst du aber nicht“, flüstere ich ihm ins Ohr, „denn ich bin bei dir. Für immer. Versprochen! Okay?“ In diesem Moment zerbreche ich innerlich. Natürlich werde ich dir dabei helfen, dein Objekt der Begierde zu bekommen. Aber wer hilft mir…?
Lukas schaut mir tief in die Augen. Tapfer kämpfe ich gegen meine Tränen an. Verdammt, bin ich gut! Ich schaffe es nicht nur, seinem Blick standzuhalten, sondern auch noch zu lächeln.
„Danke“, flüstert er zurück. Dann legt er seinen Kopf auf meine Schulter, während mein Arm immer noch auf seiner liegt. Diese Berührung ist grauenhaft, denn mein Körper genießt sie, während mein Hirn heftigst darunter leidet. Abgesehen von ein, zwei Schniefern ist von ihm nichts mehr zu hören.
Der CD-Spieler spielt auf einmal Johann Sebastian Bachs „Bist du bei mir”. Der Zufall hat manchmal ein echt perverses Gespür fürs Timing.
Lukas fängt an zu kichern. „Das Lied passt ja jetzt.“
Ich nicke stumm. Zu ihm passt es, ja. Aber ich fühle mich im Moment eher nach „Wer ist bei mir?“.
Er schaut auf seine Uhr. „Du, ich muss gleich los zum Handball“, informiert er mich.
Ich atme innerlich auf. Lukas fängt an, seine Sachen zu packen. Dann geht er raus in den Flur. Ich folge ihm.
An der Wohnungstür bleibt er stehen, dreht sich nochmal um und schaut mir mit seinen blauen Augen, die wieder strahlen, als sei nichts gewesen, in mein Gesicht. Ich hoffe, dass er nicht sieht, was ich denke oder fühle.
Dann umarmt er mich plötzlich und haucht mir ins Ohr: „Danke, Tim. Du bist echt ein lieber Freund!“
Dann öffnet er die Wohnungstür und verschwindet im Treppenhaus.
Ich schließe die Tür, lehne mich an die Wand und rutsche langsam an ihr runter. Meine Beine können mich nicht mehr tragen. Als ich unten ganz weit weg die Haustür leise zufallen höre, verliere ich jegliche Kontrolle über mich. Rotz und Schnodder heulend breche ich im Flur zusammen.
„Tim, Liebling, was ist denn bloß los mit dir? Du hast ja kaum was gegessen?“
Mama schaut mir besorgt zu, wie ich beim Abendessen lustlos in meinem Essen rumstochere.
„Hast du Ärger in der Schule?“, fragt Papa.
„Nein“, murmele ich bloß. „Ich habe einfach keinen Hunger, ok?“
Meine Eltern tauschen vielsagende Blicke aus und lenken das Thema etwas unbeholfen zurück auf ihre vorherige Unterhaltung. Sollen sie doch von mir aus denken, was sie wollen. Hauptsache, ich habe jetzt meine Ruhe.
Ich freue mich auf die Schule morgen wie eine Mastgans auf Weihnachten.
„That is why all the girls in town
Follow you around
Just like me, they long to be
Close to you”
The Carpenters: „Close To You”
(geschrieben von Burt Bacharach und Hal David)
Ende 1. Teil. Fortsetzung folgt!
Der Lesemodus blendet die rechte Navigationsleiste aus und vergrößert die Story auf die gesamte Breite.
Die Schriftgröße wird dabei vergrößert.