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So nah und doch so fern

Teil 2

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Informationen

Vorwort

Liebe Lesenden!

Rechtzeitig zum Fest der Liebe erwartet Euch nun der zweite Teil dieser Geschichte. Auch hier ist natürlich wieder alles ein Produkt meiner Phantasie.

Vielen Dank für das überwältigende Feedback zum ersten Teil! Ihr seid spitze! :)

Und an dieser Stelle möchte ich noch einen kleinen Fehler aus dem letzten Vorwort geradebiegen: Ein geschätzter Feedbackschreiber vermittelte mir dezent, dass ich meine erste Geschichte („Luther und ich“) als Osterchallengebeitrag betitelt hatte. Das ist natürlich Blödsinn. War nämlich Weihnachten. Ist schon doof, wenn man diese zwei durcheinander bekommt. :)

Wie dem auch sei. Ich hoffe, dass dieser Teil weitestgehend fehlerfrei ist und Euch mindestens ebenso erfreut wie der erste. Auch hier liegen die Copyrights der Lieder wieder bei den Leuten, die sie komponiert haben.

So, genug geschwafelt. Ich wünsche Euch frohe Weihnachten und einen guten Rutsch! :)

Euer

readmylips

 


„I learned the truth at seventeen

That love was meant for beauty queens

And high school girls with clear skin smiles

Who married young and then retired…”

Janis Ian: „At Seventeen”

(Text und Musik von Janis Ian)


„Piieep… piieep… piieep!… piieep!... PIIEEP!... PIIEEP!...“

Dienstagmorgen.

Nach einer Nacht mit den verrücktesten Träumen (die natürlich alle mit Lukas zu tun hatten) holt mich der Wecker zurück in die Realität. Ich fühle mich, als hätte ich nur eine Stunde geschlafen. Dauernd bin ich aufgewacht, dann war ich in einer Art Halbschlaf, wo ich weder richtig geschlafen habe noch hundertprozentig wach war…

Die ganze Nacht spukte mir nur Lukas im Kopf herum. Mal träumte ich, dass seine Gefühle für Jannis ein Traum waren, dann träumte ich, dass sie es nicht waren… Irgendwann wusste ich nicht mehr, was nun echt ist und was nicht. Und eben, nachdem der Wecker so penetrant piepte, habe ich mir erst einmal selbst eine gescheuert, um auch sicher zu sein, dass ich jetzt wieder in der Realität war.

Ich habe keinen Bock auf Realität.

Mühsam quäle ich mich aus dem Bett und tapse ins Bad. Das Spiegelbild verheißt wenig Aufmunterndes: Ich habe dunkle Ringe um die Augen und sehe einfach beschissen aus.

Was übrigens auch ganz gut auf meine innere Verfassung zutrifft.

Die Dusche tut gut, und das warme Wasser scheint meine Sinne aufzuwecken. Dennoch fühle ich mich wie in Watte gepackt. Die Erinnerungen an gestern Nachmittag kommen nur zögerlich zurück. Alles scheint so weit entfernt zu sein…

Die verliebte Hälfte von mir versucht sich einzureden, dass das alles nur ein böser, böser Traum war, ein Albtraum. Aber der rationale Teil von mir erinnert sich nur noch allzu gut. Ich bin kurz davor, unter der Dusche wieder loszuheulen.

Lukas ist schwul und verliebt in Jannis aus der Parallelklasse. Verdammt! Ich war sooo nah dran! Aber nein…

Nach der Dusche verzichte ich aus Mangel an Appetit aufs Frühstück („Aber Tim, Liebling, du musst doch was essen!“) und steige auf mein Fahrrad. Während ich zur Schule radele, wird mir bewusst, dass ich gleich wieder Lukas begegnen werde. Wie wird er sich verhalten? Wird er so sein wie immer? Oder abweisender?

So oder so habe ich keinen Bock drauf. Im Gegenteil: Ich habe Angst vor der Begegnung. Und Angst, in der Schule zu heulen.

Der Betonbau im Charme der siebziger Jahre erscheint vor mir. Mit dem ersten Klingeln der Schulglocke lenke ich mein Fahrrad auf den Pausenhof, an ein paar Gruppen von Schülern vorbei direkt in den Fahrradunterstand. Wie mechanisch schließe ich es ab und trotte mit gesenktem Kopf die Treppen hoch zu unserem Klassenraum.

Mir doch egal, was die anderen Schüler um mich herum denken. Ich weiß bloß, dass ich erst im Klassenraum die Kraft aufbringen werde, so zu tun, als sei nichts geschehen und alles in bester Ordnung.

Unterwegs lege ich einen Zwischenstopp auf der Toilette ein, um mich nochmal im Spiegel zu betrachten. Mit Ausnahme der jetzt gewaschenen Haare hat sich mein Äußeres seit dem Aufstehen nicht großartig geändert. Ich sehe immer noch zum Fürchten aus. Ich versuche zu lächeln. Das Ergebnis ist charmant genug, um eine Scheißhausratte in den Selbstmord zu treiben.

Die Schulglocke klingelt zum zweiten Mal. Es hilft nichts, ich muss jetzt in den Klassenraum… Vielleicht habe ich ja mal Glück und Lukas hat sich beim Handball eine Erkältung geholt oder so. Meine gute Erziehung aber rebelliert gegen solche Gedanken. So was wünscht man sich nicht.

Ich komme gerade noch rechtzeitig, um als Letzter in den Raum zu hasten, bevor Schmidt die Tür schließt. Ja, wir haben wieder Franze als erstes. Lukas sitzt bereits auf seinem Stammplatz neben mir und scheint mich zu suchen. Unsicherheit liegt in seinem Blick, die zwar von einem kurzen Lächeln verscheucht wird, als er mich entdeckt, aber sofort zurückkommt, als er mein ausgekotztes Äußeres bemerkt.

Ich setze mich neben ihn.

„Hey…“, raunt er schüchtern. Seine blauen Augen suchen ängstlich meinen Blick.

„Hey…“, raune ich zurück und fummele an meiner Tasche rum.

„A-alles klar…? Du siehst…“

„…Scheiße aus, ich weiß“, unterbreche ich ihn. „Schlecht geschlafen.“

„Wegen… äh… gestern?“

„Nee, Erkältung“, lüge ich und schniefe einmal, um es glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Danach schenke ich ihm mein überzeugendstes Lächeln, und ich könnte schwören, dass ich irgendwo eine Ratte ein letztes Mal erbärmlich quieken höre.

Zum Glück beginnt Schmidt mit dem Unterricht und sammelt als erstes unsere Strafarbeit ein, die Lukas und ich ja auch artig gemacht haben. Für den Rest der Stunde kommen wir aber nicht mehr zum Quatschen, weil wir nicht wirklich Bock auf noch eine Strafarbeit haben.

Erst in der großen Pause bietet sich Lukas die Gelegenheit, mich beiseite zu nehmen – worauf ich, ehrlich gesagt, gerne verzichtet hätte. Wir stehen etwas abseits auf dem Pausenhof.

„Du siehst aus wie eine wandelnde Leiche, Tim.“ Wie charmant. So kriegst du Jannis nie rum. „Bist du sicher, dass alles okay ist?“

Wieder versuche ich zu lächeln. „Passt schon. Bin nur erkältet und habe deswegen kaum gepennt.“

„Und es hat wirklich nichts mit unserer Unterhaltung von gestern zu tun?“ Langsam nervt er.

„Zum letzten Mal: nein! Ich habe…“

„Hey, Ihr zwei!“, werde ich unterbrochen. Jannis. Auch das noch. Lukas wird sichtlich nervös und sieht gleichzeitig blass und rot aus.

„’nmorgen, Jannis“, grüße ich zurück. Lukas nuschelt ein leises „Hey!“.

Jannis schaut mich verwundert an. „Du siehst richtig Scheiße aus, weißt du das? Hast du gestern gesoffen oder was?“ Da er denn letzten Satz breit grinsend sagt, gehe ich davon aus, dass es ein Witz sein soll.

Äußerst geistreich.

„Nee, bin nur erkältet und habe schlecht geschlafen, das ist alles.“ Ich schniefe nochmals, um meiner Notlüge die entsprechende lautmalerische Untermalung zu geben.

„Aha.“ Jannis scheint jedes etwaige Interesse an mir verloren zu haben und wendet sich Lukas zu. „Und wie geht’s dir?“

Lukas zuckt kurz zusammen und berappelt sich. „Gut-gut, danke, und dir?“

„Auch gut.“

Die Szene ist wie in einem schlechten Film. Nachdem wir nun wissen, wie es uns geht, haben wir auch nichts mehr, worüber wir noch reden könnten. Fehlt nur noch, dass jemand das Wetter anspricht.

„Naja, bei diesem Schietwetter ist es kein Wunder, wenn man sich erkältet.“ Danke, Jannis. Ich wusste, auf dich ist Verlass.

Bitte geh weg. Bitte. ¡Vaya con dios, pero vaya!

Aber er scheint nicht einmal dran zu denken, wieder zu gehen. „Ich wollte dich um einen Gefallen bitten, Lukas.“

Lukas, der bis eben noch konzentriert das Muster der Pflastersteine auf dem Schulhof betrachtet hat, schaut überrascht auf.

„Ja? Mich? Wirklich? Um welchen denn?“

Sachte, Lukas. Das sind ja gleich vier Fragen auf einmal.

„Ähm, wir schreiben morgen so eine Hammerarbeit in Mathe, und ich hörte, du sollst ziemlich fit sein in Ableitungen und so, und äh… daher wollte ich fragen, ob wir vielleicht mal zusammen üben könnten…“

Das fällt dir aber früh ein. Habt ihr denn niemanden in eurer Klasse, der Mathe kann? Musst du dafür ausgerechnet Lukas fragen?!

Der scheint sich aber mächtig zu freuen. „Ja klar!“, strahlt er. „Wann denn?“

Natürlich muss ihm das mehr als recht sein.

„Vielleicht so gegen Vier bei mir?“

„Ja, das passt perfekt!“ Lukas Augen schenken Jannis dieses unvergleichliche Leuchten, in das ich so verliebt bin. Sie tauschen ihre Adressen aus und besprechen noch, was Jannis genau üben möchte.

Wie wär’s mit Zungenküssen?

Ich bin ziemlich angefressen, denn ich stehe nur wie schmückendes Beiwerk daneben und werde nicht weiter beachtet. Eigentlich sollte ich das ja schon gewöhnt sein, da das der normale Umgang ist, den Jörg und seine Truppe mit mir pflegt (was mir auch nur mehr als recht ist), aber diesmal ist es etwas anderes. Ich will nicht, dass Lukas mit Jannis was macht oder dass er ihm diesen Blick schenkt. Ich will Lukas haben!

In einem Wort: Ich bin megaeifersüchtig. Mist, das waren drei Worte.

Könnte mich bitte irgendjemand mal retten?!

„Moin Jungs!“, ruft Tine auf einmal fröhlich hinter uns und gesellt sich zu unserer Runde. Perfektes Timing!

„Habt ihr Freitag schon was vor? Andreas und ich geben bei uns im Keller eine Valentinsparty! Hier habt ihr eine Einladung!“ sprudelt sie fröhlich ihren Text runter und drückt jedem von uns – auch Jannis – eine herzförmige Einladung in die Hand.

Das ist nicht wirklich die Art von Rettung, die ich gemeint hatte. Tine kommt mir eher wie ein Exekutionskommando vor.

Sie scheint das nicht zu merken und plappert munter weiter: „Ich habe eine Liste, wo sich jeder für etwas eintragen soll, das er mitbringt. Und es gibt eine ‚Fisch sucht Fahrrad’-Aktion!“

„Wen willst du denn diesmal verkuppeln, Tine?“ fragt Lukas.

„Wer weiß…?“ antwortet sie spitz, schaut mir kurz direkt in die Augen und geht weiter.

Während in Lukas’ und Jannis’ Gesicht gleichzeitig ein Anflug von Röte zu sehen ist, zieht sich mir wieder der Magen zusammen.

Sie kann ja nicht ahnen, was sie da gerade plant…

Ich stelle fest, dass ich null Bock auf die Party habe.


Dienstagnachmittag. Halb Fünf.

Ich sitze gedankenverloren auf meiner Fensterbank und schaue nach draußen, wo ein monotoner Regen gegen die Fensterscheibe klopft. Nicht einmal richtig hell wird es heute. Es ist zum Kotzen.

Seit einer halben Stunde ist Lukas bei Jannis. Das Treffen der beiden geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Vor meinem geistigen Auge spielen sich alle möglichen Szenarien ab, was die beiden wohl „treiben“ können. Ich muss widerwillig über dieses Wortspiel grinsen. Normalerweise wäre das auch nicht die schlechteste Fantasie… aber so?

Ich versuche, die Gefühle zu verstehen, die sich in mir breit machen. Einerseits ist dort Eifersucht dabei, ganz simple, rasende Eifersucht, weil Lukas sich gerade mit einem Anderen trifft. Allerdings bin ich mir dabei völlig darüber im Klaren, dass das ja sein gutes Recht ist. Schließlich sind wir ja nicht verheiratet.

Leider.

Andererseits ist da Angst bei. Bei der Vorstellung, wie sich die zwei vielleicht näher kommen könnten, bricht mir der Schweiß auf der Stirn aus und mein Herzrhythmus wird schneller. Aber wovor habe ich Angst?

Ich habe Angst davor, ihn zu verlieren. Dass er sich in einen anderen Jungen oder Mann verliebt, der ihm mehr geben kann als ich. Mit dem er sich über Popmusik oder Sport oder irgendeine dämliche Sendung im Fernsehen unterhalten kann. Alles Themen, von denen ich keine Ahnung habe. Oder mit dem er mal ausgehen kann, ins Bizarre zum Beispiel, den schwulen Club in unserer Stadt.

Im Prinzip befürchte ich, dass ich keine Konkurrenz für Jannis bin, dass er ein paar Nummern zu groß ist für mich, und dass Lukas mich dann fallen lässt wie eine heiße Kartoffel. OK, zugegeben, ich gehe nicht davon aus, dass er das tun würde, wenn er tatsächlich mit Jannis zusammen käme. Das würde ich ihm nicht zutrauen. Aber er würde halt verständlicherweise seine Zeit lieber mit ihm verbringen als mit mir. Ich wäre dann wahrscheinlich bestenfalls Lückenfüller.

Ich nippe an meinem Tee. Kamillentee. Hab mal irgendwo gelesen, dass er gut sei für die Nerven… Oder war das Lindenblütentee?

Ich weiß nichts mehr. Seit der Pause heute Morgen bin ich komplett durch den Wind. Ich bin sogar dermaßen durcheinander, dass es mir nicht mal mehr gelingt, Bachs Präludium in C-Dur ordentlich zu spielen. Dabei ist das nun wirklich kein anspruchsvolles Stück.

Gehen wir doch mal rational vor. Ich bin schwul, na gut. Damit muss ich nun leben, ob ich will oder nicht. Wie groß ist denn nun die Wahrscheinlichkeit, dass das Objekt meiner Begierde auch schwul ist? Eigentlich nicht sehr groß, oder? Dennoch ist genau das eingetreten.

Aber rechnen wir mal weiter. Wie groß ist denn jetzt die Wahrscheinlichkeit, dass Lukas’ Objekt seiner Begierde ebenfalls schwul ist? Rein logisch gesehen müsste das doch jetzt noch unwahrscheinlicher sein, richtig?

Falsch! Und zwar aus zwei Gründen: erstens sind diese Variablen, also ob ich, Lukas und Jannis schwul sind, völlig unabhängig voneinander. Das heißt, dass die Tatsache, dass ich schwul bin, nicht automatisch ausschließt, dass Jannis es auch ist. Es ist wie beim Werfen einer Münze: es kann dreimal hintereinander „Zahl“ fallen, und obwohl das insgesamt sehr unwahrscheinlich zu sein scheint, so liegt doch bei jedem neuen Wurf die Wahrscheinlichkeit wieder bei 50:50 – „Kopf“ oder „Zahl“. Also kann ein Ergebnis auch lauten: „schwul“ – „schwul“ – „schwul“.

Der zweite Grund ist der, dass es aus Lukas’ Sicht auch nicht um drei Personen geht, sondern nur um zwei. Denn er weiß ja noch nicht, dass ich auch schwul bin, und ich glaube auch nicht, dass es ihn im Moment sonderlich interessieren würde. Oder dass es etwas ändern würde. Aber wie gesagt, es ist eh egal, denn rein mathematisch betrachtet, geht es für Lukas jetzt nur darum, ob Jannis schwul ist oder nicht. Und das kann ja nicht dadurch beeinflusst werden, dass ich es auch bin. Also liegt nun die Wahrscheinlichkeit bei 50:50. Entweder, er ist schwul oder er ist es nicht. Andere Varianten wie bi- oder transsexuell oder was-weiß-ich-was-noch vernachlässige ich jetzt einfach mal.

Obwohl… dann müsste die Wahrscheinlichkeit, dass er schwul ist, auf 25% sinken, wenn es insgesamt 4 mögliche Ausrichtungen gibt, aber nur eine die gewünschte ist und – AARRGGHH!

Scheiß auf die Mathematik!!! Scheiß auf die Stochastik!!!

Rationales Denken funktioniert nicht, wenn es um Liebe geht!!! Jedenfalls fühle ich mich jetzt kein Deut besser als vorher.

Denn Fakt ist nach wie vor: Lukas trifft sich gerade mit Jannis.

Und ich bin traurig, eifersüchtig und habe Angst.


Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist.

Ich bekomme nichts mehr mit von dem, was sich um mich herum abspielt.

Der Kopfhörer dröhnt mir die Ohren voll, keine Ahnung, wie lange schon. Ich höre eine CD, die Tine mir zu Weihnachten geschenkt hat: The Devics – My Beautiful Sinking Ship. Ich finde, es passt gerade. Besonders das Lied „The Man I Love“. Ist zwar nur gecovert, aber dafür nicht schlecht…

Ich stehe in meinem Zimmer, habe die Augen geschlossen, bewege mich zum Rhythmus (ist das schon tanzen?) und singe laut mit.

„Some day, he’ll come along

The man I love

And he’ll be big and strong

The man I love

And when he comes my way

I’ll do my best to make him stay.

He’ll look at me and smile

I’ll understand

Then in a little while

He’ll take my hand

And though it seems absurd

I know we both won’t say a word…”

(Musik von George Gershwin, Text von Ira Gershwin)

Mein Gejaule muss sich grauenhaft anhören, aber es ist mir schlichtweg egal. Ich habe so eine Möglichkeit gefunden, mich abzulenken, ich trotze meinen Gefühlen, meiner Angst, meiner Eifersucht.

Ich bin richtig aufgewühlt. Wahnsinn! Das letzte Mal, als ich mich so gefühlt habe, war, als ich laut zum ersten Mal Beethovens 3. Satz aus der Mondscheinsonate gehört habe.

Auch wenn solche Ausdrücke normalerweise nicht in meinem Vokabular auftauchen, zische ich halblaut durch meine zusammengebissenen Zähne: „Ich ficke dich, Eifersucht!“ Dabei spreize ich meine beiden Mittelfinger ab und strecke sie demonstrativ der Stadt vor meinem Fenster entgegen, die inzwischen beleuchtet ist, weil es dunkel geworden ist.

In genau diesem Moment tippt mir jemand auf die Schulter. Ich bekomme einen Riesenmörderschreck, reiße mir den Kopfhörer von den Ohren und drehe mich ruckartig um, sodass ich dabei das Gleichgewicht verliere und auf mein Bett falle.

Papa steht mitten in meinem Zimmer und starrt mich völlig perplex an, Mama steht in der Zimmertür und schaut nicht weniger entgeistert drein.

Au Scheiße.

Ich stöhne und lasse meinen Kopf auf die Bettdecke fallen und wünsche mir ein Mauseloch, in das ich mich verkriechen kann. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals.

„Wenn du damit fertig bist, deine Eifersucht… äh… zu… ähm… naja, du weißt schon… vielleicht könntest dann ins Wohnzimmer kommen und uns erklären, was du hier machst?“ Die Stimme meines Vaters hört sich irritiert an, ohne eine Spur von Wut oder so.

Ohne meinen Kopf zu heben, deute ich ein Nicken an. Dann höre ich, wie meine Zimmertür geschlossen wird.

Auch das noch. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich versuche gar nicht erst, mir irgendwas schön zu reden. So haben mich meine Eltern noch nie gesehen, schon gar nicht gehört, dass ich laut „The Man I Love“ singe. Dazu kommt mein Verhalten von gestern Abend, wo ich so matschig war, nachdem mir Lukas von seinen Gefühlen für Jannis erzählt hat.

Dazu kommt, dass ich nie eine Freundin hatte.

Dazu kommt, dass ich nicht mal von einer Frau geschwärmt habe.

Dazu kommt, dass ich nicht in Diskos gehe, wo man ein solches Exemplar kennen lernen könnte.

Dazu kommt, dass ich sehr deutlich erklärt habe, dass Tine eine Freundin sei, und nicht meine Freundin, als Mama mal eine entsprechende Bemerkung fallen ließ.

Irgendwie war mir ja immer klar, dass ich meine Eltern irgendwann mal einweihen muss. Aber ich wollte mich darauf vorbereiten können! Und vielleicht auch einen starken Mann (zum Beispiel Lukas?!) an meiner Seite wissen, der mich dabei unterstützt. Dass sie mich tanzend und singend in meinem Zimmer erwischen, war so nicht geplant! Wie dilettantisch von mir!

Ich setze mich auf meinem Bett auf und versuche, mir ein paar Worte zurecht zu legen. Aus dem Kopfhörer auf dem Boden dringt halblaut eine Zeile aus dem Lied, zu dem ich eben noch gesungen habe: „Maybe Tuesday will be my good news day“.

I don’t think so. This Tuesday is pretty fucked up.

Was soll’s. Auf in den Kampf. Ich atme noch einmal tief durch und gehe ins Wohnzimmer, wo meine Eltern gerade auf dem Sofa sitzen und Nachrichten schauen. Als ich mich in den Sessel ihnen gegenüber setze, greift mein Vater nach der Fernbedienung und schaltet die Kiste aus. Beide schauen mich gespannt an.

„Ihr wolltet mich sprechen?“, frage ich leise. Dabei beobachte ich angestrengt, wie ich meine Finger durchknete.

Nach einem kurzen Moment des Schweigens erwidert Papa: „Möchtest du denn mit uns sprechen?“

Eigentlich nicht, aber: „Na ja, nach der Aktion von eben lässt es sich irgendwie nicht mehr vermeiden, oder?“

„Ja, das sehen wir ähnlich.“

Wieder ist es still im Wohnzimmer, vom Ticken der Uhr und vom Knacken meiner Fingergelenke mal abgesehen.

Nach ein paar Sekunden des Schweigens ergreift Papa wieder das Wort, immer noch ohne einen wütenden Unterton oder so. „Oder vielleicht hilft es dir ja, wenn wir mit dem Reden anfangen?“

Ich nicke stumm.

„Gut.“ Er räuspert sich. „Du wirst bemerkt haben, dass wir eigentlich immer ziemlich liberale Eltern gewesen sind. OK, du hast uns auch nie eine Chance gegeben, mal ‚böse Eltern’ zu sein, denn du kommst abends immer zur vereinbarten Uhrzeit nach Hause, du hast nie um mehr Taschengeld gequengelt, deine Leistungen in der Schule sind 1-A, und wir haben dich nicht mal beim Rauchen oder betrunken oder sonstigen Drogen erwischt.“

Das hört sich an, als ob er der Meinung sei, ich würde ein stinklangweiliges Leben führen.

„Meine Eltern hätten sich ein solches Kind, wie du es bist, gewünscht! Denn ich habe, als ich in deinem Alter war, so ziemlich jede häusliche Regel gebrochen, einfach nur aus Prinzip. Na ja, ich war eben ein typischer Halbstarker damals.“

Ich kann ihn grinsen hören. Sehen kann ich es allerdings nicht, denn meine Augen sind immer noch auf meine Finger fixiert.

Dann wird seine Stimme wieder ernst. „Fakt ist jedenfalls, dass wir immer stolz auf dich waren, und zwar nicht nur wegen deiner Leistungen, die du jeden Tag in der Schule und am Klavier erbringst, sondern hauptsächlich einfach auf dich, weil du unserer Meinung nach ein wunderbarer, einfühlsamer und lieber Mensch bist. Weil du uns die Theaterkarten geschenkt hast, konnten deine Mutter und ich einen Abend verbringen, wie wir ihn schon lange nicht mehr hatten. Wir haben uns beide königlich amüsiert! Stimmt’s, Schatz?”

„Absolut”, pflichtet Mama ihm bei.

Ich muss ein wenig lächeln. Das, was Papa da gerade gesagt hat, geht irgendwie schon runter wie Öl.

„Wir wissen aber auch, dass das nicht jeder Sohn macht. Und deswegen sind wir stolz auf dich und lieben dich. Und das gilt für uns beide. Das wird sich niemals ändern. Verstanden?“

Ich nicke, denn ich habe verstanden. Auch das, was er zwischen den Zeilen sagen wollte.

Für ein paar Sekunden ist wieder nur das Ticken der Uhr zu hören.

Schließlich sagt Papa: „Das wäre von unserer Seite aus alles. Falls du nichts mehr zu sagen hast, würde ich jetzt gerne anfangen, dass Abendessen vorzubereiten.“

Übersetzt bedeutet das in etwa: „Sprich jetzt endlich mit uns! SAG WAS!“

Ich atme noch einmal tief durch und beginne langsam zu reden.

„Doch, ich habe noch etwas zu sagen…“ Ich mache eine kurze Pause. „Der Grund, warum ich eben dieses Lied gesungen habe… ist… weil ich… verliebt bin… in einen… Jungen…“

Meine Finger werden langsam weiß, weil ich alles Blut rausmassiert habe.

Tick-tack, tick-tack, tick-tack macht die Wanduhr.

Mama antwortet als erste. „Das macht nichts, Tim. Wir lieben dich trotzdem noch.“

„Genau“, stimmt Papa zu. „Ich möchte nicht noch einen wertvollen Menschen verlieren, weil man ihn nicht akzeptiert.“

Überrascht schaue ich zum ersten Mal auf, seit ich hier sitze. „Wieso?“

Sein Gesicht verdunkelt sich. „Mein bester Freund in der Schule hat sich damals mit 16 vor einen Zug geschmissen. Er war auch schwul, und seine Eltern haben ihm daraufhin das Leben zur Hölle gemacht. Irgendwann konnte er es nicht mehr ertragen.“

Die Geschichte hat Papa mir nie erzählt. Ich sehe eine Mischung aus Wut und Verzweiflung in seinen Augen.

„Vorher wusstest du, dass er schwul war?“

„Ich war der einzige Mensch, dem er einen Abschiedsbrief hinterlassen hat. In diesem Brief beschrieb er seine Gefühle, seine Ängste, seine Verzweiflung, seinen Hass auf sich und seine Eltern. Sein Tod hat mich damals ziemlich mitgenommen, was wahrscheinlich auch einer der Gründe war, warum ich so gegen meine Eltern und deren Generation rebelliert habe. Ich war unglaublich wütend, dass ich meinen besten Freund verloren habe, nur weil ein paar engstirnige Arschlöcher meinten, diese Gefühle aus jemandem rausprügeln zu müssen.“

Er wischt sich kurz über die Augen.

„Das ist jetzt über 25 Jahre her…“

So habe ich Papa noch nie erlebt. Ich merke, wie sich in meinem Hals auch ein dicker Kloß bildet. Mama ist an ihn herangerückt und hält seine Hand.

„Jedenfalls habe ich mir damals geschworen, dass ich diesen Fehler niemals selber machen werde. Und ich verspreche dir, mein Sohn, dass ich mich daran halten werde.“

Ich starre ihn ungläubig an. Eine Träne erscheint in seinem linken Auge und kullert seine Wange hinab. In dem Moment bricht es auch aus mir heraus.

„Komm her, mein Sohn, lass dich umarmen.“ Mama und Papa stehen auf und kommen auf mich zu. Ich erhebe mich auch aus meinem Sessel, wische mir die Tränen aus dem Gesicht, dann fallen wir uns zu dritt in die Arme.

Papa heult, Mama heult, ich heule. Aber aus Erleichterung, denn ich habe klasse Eltern!

Nach einer Weile klopft Papa mir auf den Rücken, und wir trennen uns wieder. Wir setzen uns auf Sofa, ich in der Mitte.

„Und wie heißt nun der junge Mann, der dir den Kopf verdreht hat?“, fragt Mama neugierig.

Ich werde rot. Mit Ausnahme von Tine habe ich noch nie über meine Gefühle geredet.

„Lukas.“

„Ist das der sportliche Blonde mit den tollen Augen?“

Ich nicke. Mama ist er also auch aufgefallen.

„Und? Ist er auch schwul?“

Wiederum nicke ich.

„Aber…?”

Ich seufze. „Er ist anderweitig interessiert.“

„Das soll wohl heißen, dass er in einen anderen Jungen verliebt ist, richtig?”, stellt Papa klar.

„Leider, ja.“

„Und ist dieser denn auch schwul?“

„Genau das versucht Lukas auch gerade herauszufinden.“

„Weiß er denn immerhin, dass du schwul bist?“

Ich schüttele mit dem Kopf und erzähle knapp, was gestern Nachmittag passiert ist und dass er in Jannis verliebt ist.

Nach einem kurzen Moment des Schweigens meint Mama: „Egal, wie das ausgeht, Tim, ich wünsche dir viel Glück. Und vergiss nicht: Auch andere Mütter haben schöne Söhne!“

Ich hasse diesen Spruch immer noch!


„To those of us who knew the pain

Of Valentines that never came

And those whose names were never called

When choosing sides for basketball…”

Janis Ian: „At Seventeen”

(Text und Musik von Janis Ian)


Mittwoch. 14. Februar. Valentinstag. Ich könnte kotzen vor Freude.

Den ganzen Tag schon laufen alle in der Schule rum und verteilen Valentinskarten. Manche haben sich sogar richtig Mühe gegeben und die Karten selbst gebastelt. Überall sieht man in den Pausen Mädchen und Jungs stehen, die einander schüchtern die Karten in die Hand drücken und ein verlegenes „Hier, für dich…“ murmeln. Wenn sie ein wenig Glück haben, bekommen sie ein Lächeln und ein „Dankeschön!“, bei etwas mehr Glück ein vorsichtiges Küsschen auf die Wange, und wenn sie absolute Glückspilze sind, wird die restliche Pause mit Knutschorgien verbracht, als ob es kein Morgen geben würde.

Zum Glück (für mich) ist gleich Schluss. Noch zwei Stunden Sport und dann ist Schicht im Schacht. Ich stehe vor der Turnhalle von unserer Schule und betrachte die Karte, die Tine mir vorhin in die Hand gedrückt hat. Auch sie hat das Ding selber gemacht. Es ist einfach nur ein Herz, das man aufklappen kann, und sie hat „Ich hab’ Dich lieb! So, wie Du bist! Tine“ rein geschrieben. Es ist die schönste Karte, die ich je zum Valentin bekommen habe.

OK, es ist auch die einzige…

„Das ist ja mal eine nette Karte!“, reißt mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Lukas ist hinter mir aufgetaucht, ohne dass ich es bemerkt habe, und hat mir über die Schulter geschaut.

„Ja, das ist echt lieb von Tine…“ erwidere ich. „Hast du auch eine bekommen?“ Ich klappe die Karte zu und lasse sie in meinem Rucksack verschwinden.

Lukas grinst etwas verlegen. „Von Tine nicht…“, sagt er und greift in seine Jackentasche und zieht einen Stapel Briefumschläge und Valentinskarten hervor. Mir fallen beinahe die Augen aus dem Kopf.

„Wie viele sind denn das?“, frage ich entgeistert.

„Ähm… siebzehn“, meint Lukas und wird knallrot dabei. „Und in jeder steht eine andere Handynummer…“

„Echt?! Zeig mal her!“ Irgendwie kann oder will ich das nicht glauben.

„Hey!“, lacht Lukas und versteckt die Karten hinter seinem Rücken. „Das ist private Post! Das geht dich gar nichts an, von wem die sind.“

„Is’ ja gut, is’ ja gut“, beschwichtige ich grummelnd. Auch wenn er meine gelesen hat…

„Es ist bloß traurig, dass diese Mädels sich alle keine Hoffnungen zu machen brauchen…“, meint er nachdenklich.

„C’est la vie!“, seufze ich. Warum sollte es denen besser ergehen als mir?

Eine Bemerkung kann ich mir allerdings nicht verkneifen: „Ist denn eine von Jannis dabei?“

Bamm! Lukas wird wieder knallrot. „Leider nein.“

„Naja, du siehst ihn ja Freitag auf Tines Party. Vielleicht hast du ja Erfolg bei ihrer Verkupplungsaktion.“

Er zuckt mit den Schultern und seufzt. „Mal sehen…“ Seine blauen Augen sprechen Bände. Ich kann in ihnen eine Mischung aus Angst und Hoffnung erkennen.

Ich bin jedenfalls froh, wenn diese Woche vorbei ist, denn ich habe das ungute Gefühl, das der absolute Höhepunkt noch bevorsteht. Nach dem Gespräch mit meinen Eltern gestern bin ich direkt nach dem Abendbrot ins Bett gegangen, denn ich war hundemüde und hatte die Nacht davor ja kaum geschlafen.

Heute Morgen hat mir Lukas dann in der ersten Pause erzählt, wie er mit Jannis Mathe gelernt hat. Am Anfang haben sie das wohl auch gemacht, aber mit fortschreitender Stunde immer weniger über Ableitungen geredet, sondern immer mehr über alles mögliche gequatscht. Richtig versackt sind sie dabei.

Lukas hat mir dann mit leuchtenden Augen berichtet, wie toll sie sich unterhalten hätten, wie viel sie doch gemeinsam hatten, zum Beispiel ihre Begeisterung über Ballspiele jeglicher Art und so weiter und so fort. Er war richtig euphorisch dabei. So habe ich ihn noch nie erlebt. Irgendwo in mir drin freute ich mich sogar für ihn. Aber das war nur ein kleiner, pflichtbewusster Teil von mir, denn der Großteil von mir war traurig und eifersüchtig.

Was soll ich auch anderes machen? Also leide ich weiter leise vor mich hin. Und genauso wird es morgen sein und Freitag auch.

Am Ende der Pause kam Jannis dann noch auf Lukas zu und berichtete ihm von der Mathearbeit, die seiner Meinung nach richtig gut gelaufen ist. Beide waren bester Laune und lachten und witzelten rum.

Und nun sind wir beide (also Lukas und ich) der Meinung, dass seine Chancen in Bezug auf Jannis vielleicht gar nicht sooo schlecht zu stehen scheinen. Deswegen befindet sich Lukas in einem Zustand angespannter Vorfreude und Nervosität wegen der Valentinsparty.

Und deswegen habe ich auch beschlossen, nicht hinzugehen. Ich bringe einfach nicht die Kraft dazu auf.

Die Sache hat bloß einen Haken: Tine und Lukas wissen es noch nicht.

Und da ich auch nicht die geringste Ahnung habe, wie ich es ihnen beibringen soll, habe ich mich für die feigste aller Möglichkeiten entschieden und beschlossen, nichts zu sagen und einfach nicht aufzutauchen. Im Zweifelsfalle bin ich „krank“.

„Was bringst du denn zu Essen mit?“, fragt mich Lukas.

Nichts, denn ich werde nicht kommen. „Kartoffelsalat. Und du?“

„Ich habe mich für Käsespieße eingetragen – das ist das einzige Rezept, bei dem selbst ich nichts falsch machen kann“, grinst er.

In diesem Moment taucht „G.I. Reuther“ auf und schließt die Turnhalle auf.


„OK, alle ordentlich warmlaufen! Heute steht Basketball auf dem Programm!“

Fantastisch. Die Jungs brüllen „Yes!!!“ und klatschen sich gegenseitig ab, während ich und die anderen Mädchen (haha) genervt bis gelangweilt stöhnen.

Die erste Stunde wird mit Aufwärmen, Dribbeltraining und ein paar Wurftechniken verbracht. Die meisten Jungs machen sich ganz gut dabei, während ich es nicht einmal schaffe, drei Schritte mit dem Ding zu dribbeln. Dauernd springt er mir auf den Fuß oder ich trete drauf und falle auf die Schnauze, was die anderen prustend und lachend bemerken. Selbst Lukas kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, schaut aber verlegen zur Seite, als er meinen gekränkten Blick sieht.

Beim Korbwerfen ist es das gleiche Drama. Ich treffe ja nicht einmal das Brett, an dem dieses Netz da hängt! Wie auch, wenn der Ball so groß und schwer ist! Selbst Reuther ist fassungslos. Ich glaube, ich habe einen neuen Unfähigkeitstiefpunktrekord aufgestellt.

Schließlich ruft er: „OK, Daniel, Lukas, Martina und Sarah, ihr wählt jetzt Mannschaften. Dann spielen wir ein Turnier, jeweils zehn Minuten. Na los, hopp!“

Alles klar. Mein Auftritt zum Abtritt. Ich gehe zu ihm rüber und frage: „Kann ich gleich duschen gehen?“

„Du kennst doch unsere Abmachung. Zwei Minuten will ich dich auf dem Spielfeld sehen. Danach kannst du von mir aus machen, was du willst“, knurrt er und schaut mich verächtlich an.

Also muss ich doch die Schmach des Mannschaftenwählens über mich ergehen lassen. Und – oh Wunder! – auch dieses Mal bin ich wieder der Letzte. Lange Gesichter bei meiner Mannschaft (das ist die von Daniel), als sie merken, wer zu ihnen kommt. That’s the team spirit.

Danke, Leute.

Egal. Ich gehe direkt zu Daniel und erkläre ihm: „Lass mich am Anfang kurz spielen, ja? Das wird nur zwei Minuten dauern. Danach lasse ich mich auswechseln und geh’ duschen. OK?“

Daniel nickt erleichtert.

Wir spielen zuerst gegen Lukas’ Mannschaft. Ich versuche, mich soweit wie möglich im Hintergrund zu halten, wo ich möglichst wenig störe. Um Bälle muss ich mir eh keine Sorgen machen, denn die anderen werfen mir das Ding eh nur im allergrößten Notfall zu. Dennoch liegen wir nach zwei Minuten 11:0 hinten, weil wir ja praktisch einer weniger sind.

Meine Zeit ist um. Ich habe einen Ball gekriegt (beziehungsweise nicht gekriegt, er flutschte mir durch die Hände und landete im Seitenaus) und schaue kurz zu Reuther rüber.

Der nickt nur knapp.

Das ist mein Zeichen. Ich winke meinem Ersatzspieler zu und trabe direkt in die Dusche, ohne mich nochmal umzudrehen.


Freitagabend. Zwanzig vor Acht.

Wie immer sitze ich auf meiner Fensterbank und schaue mir die Stadt an. Ich habe die CD mit Brahms Klavierkonzert Nr. 2 in den CD-Player gelegt und lausche dem Andante daraus. Das ist ein etwas melancholisches Stück, das meiner Meinung nach gerade blendend zu meiner Stimmung passt. Der Deckenfluter strahlt wieder mit halber Kraft.

Ich weiß nicht, wie ich die letzten zwei Tage in der Schule ausgehalten und überstanden habe. Lukas wurde von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde hibbeliger, was es mir natürlich nicht einfacher gemacht hat, seine Gegenwart zu ertragen. Es ist nicht so, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben möchte. Aber wenn er die ganze Zeit nur von Jannis labert, geht das selbst mir irgendwann auf den Wecker.

Warum kann er nicht von mir so schwärmen?!

Meine Eltern haben jedenfalls nach dem Theaterbesuch von letzter Woche beschlossen, häufiger auszugehen. Und so kam es, dass Papa zwei Karten für den Valentinsball in der Stadthalle gekauft hat, wo es ein großes Büffet und Livemusik geben wird. Um acht Uhr wollen sie los. Aber im Gegensatz zu letzter Woche sind sie diesmal weniger hektisch und bereits fertig angezogen und warten nur noch auf das Taxi.

Ich habe Ihnen nichts von der Party erzählt. Wahrscheinlich hätten sie nämlich versucht, mich doch zu überreden, dahin zu gehen. Und ich ahne, dass es schon schwierig genug werden wird, morgen Lukas und Tine irgendeine Ausrede aufzutischen, warum ich nicht da war.

Ich weiß, es ist nicht ganz die feine englische Art. Aber ich sehe keine andere Möglichkeit, psychisch halbwegs unbeschädigt das Ganze hinter mich zu bringen.

Sorry, Leute, aber ihr werdet ohne meinen Kartoffelsalat feiern müssen.

Ich nehme einen Schluck Tee. Meine Laune ist miserabel. Ich bin irgendwie schon froh, dass ich mir diesen Abend entgehen lasse, aber gleichzeitig auch traurig, weil ich weiß, dass sich alle anderen amüsieren werden.

„Viel Spaß, Lukas“, proste ich wieder mit meiner Tasse Tee der Freitagabendwelt draußen vor meinem Fenster zu. Ziemlich genau so wie vor einer Woche. „Und viel Glück!“

Dabei spüre ich einen leichten stechenden Schmerz in meiner Brust, etwa da, wo ich mein Herz vermute.

Auf einmal klingelt es. Ich bekomme einen leichten Schreck, weil ich ahne, wer das sein könnte.

Bitte nicht!

Durch meine geschlossene Zimmertür höre ich, wie Mama den Hörer der Gegensprechanlage abnimmt.

„Hallo?... Ja, komm rauf!“ Dann ruft sie in Richtung Wohnzimmer: „Nein, Hermann, das war noch nicht unser Taxi.“

Nein, ich befürchte, dass das mein „Taxi“ ist.

Es klopft an der Tür, dann kommt Mama rein.

„Lukas ist da. Wollt ihr noch weg?“ Sie schaut mich fragend an.

„Er ja. Ich nicht“, antworte ich knapp.

„Wo will er denn hin?“

„Zu Tines Valentinsparty.“

„Oh! Und warum gehst du da nicht hin?“

„Weil ich keine Lust habe. Darum.“ So patzig habe ich mich noch nie mit Mama unterhalten.

In dem Moment klingelt es wieder, diesmal allerdings oben an der Wohnungstür. Mama geht hin und macht auf.

„’nabend, Frau Schröder“, höre ich Lukas’ Stimme durch den Flur.

„Hallo Lukas, komm rein.“ Ich höre, wie die Wohnungstür geschlossen wird.

„Tolles Kleid haben Sie an“, meint Lukas anerkennend. „Wollen Sie auch noch weg?“

„Danke sehr, junger Mann!“ Ich kann hören, wie sie dabei grinst. „Mein Mann und ich wollen noch auf den Valentinsball in der Stadthalle. Wie ich höre, habt ihr heute Abend auch noch eine Party?“

„Ja, Tine gibt eine Valentinsparty. Ist Tim schon fertig?“

Inzwischen steht Mama wieder in meiner offenen Zimmertür und schaut ratlos in meine Richtung. „Das fragst du ihn am besten selber.“

Lukas kommt in mein Zimmer, und Mama schließt die Tür hinter ihm. Auf in den Kampf. Ich hatte gehofft, dass diese Unterhaltung erst morgen kommen würde, aber nun gut. Aux armes, citoyens!

„Hi!” sagt er und schaut mich verwundert an.

„Selber hi.“

„Sag mal, willst du etwa in diesen Klamotten los?“

„Nein.“

Lukas nimmt schnell seinen Rucksack ab. Ich vermute, dass er darin seine Käsespieße verstaut hat.

„Mensch, worauf wartest du denn noch?! Wo sind deine Sachen? Wir wollen los!“

Ich atme tief durch. „Ich komme nicht mit.“

Lukas stutzt, halt kurz inne und schaut mich entgeistert an.

„Häh?“

„Ich sagte, ich komme nicht mit“, wiederhole ich seelenruhig, immer noch auf der Fensterbank sitzend.

„Und warum bitte nicht?“

„Darum. Ende der Diskussion. Du musst los. Viel Spaß.“

Er lässt die Schultern hängen. Dann kommt er rüber zur Fensterbank, stellt sich meinen Schreibtischstuhl daneben, setzt sich und schaut mich an. Seine blauen Augen sehen traurig aus.

„Tim. Was ist los mit dir?“

Statt einer Antwort wende ich meinen Blick von ihm ab und schaue wieder nach draußen.

„Seit ein paar Tagen bist du irgendwie anders. Ich habe das Gefühl, dass das seit unserem Gespräch am Montag so ist. Tim, es tut mir leid, wenn ich dich enttäuscht haben sollte mit… mit meinem Geständnis, aber ich kann es doch auch nicht ändern!“

„Lukas, zum letzten Mal. Ich bin nicht enttäuscht. Wirklich nicht. Ich freue mich sogar, dass du es mir als erstem Menschen gesagt hast. Es macht mich stolz zu wissen, dass du mir soviel vertraust. Aber du musst wissen, dass ich genauso wenig Bock auf Partys habe wie auf Diskos. Noch weniger Lust habe ich, mir dort die ganzen Valentinspärchen anzuschauen. Und deswegen werde ich nicht mitkommen.“

Lukas schaut mich nachdenklich an. Ich will nicht, dass er mich so ansieht. Ich habe Angst, dass er in mir lesen kann…

„OK, wer ist es?“, fragt er auf einmal.

Häh? „Wer ist was?“

„Wer ist es, in den du verliebt bist?“

Scheiße! „Wie kommst du darauf, dass ich verliebt sei?“

„Schau dich doch mal um!“, antwortet er und breitet die Arme aus. „Erstens: Du sitzt auf deiner Fensterbank und schaust stumm nach draußen.“

„Die Aussicht ist toll!“

„Die Aussicht kennst du schon in- und auswendig. Zweitens: Du hörst irgendwelche Deprimucke von irgendwelchen toten Leuten.“

„Das ist Johannes Brahms, du Banause!“

„Egal. Ist trotzdem Deprimucke. Drittens: Es ist abgedunkelt.“

„Ich mag’s halt nicht so hell.“

„Und last, but not least viertens: Deine Augen verraten mir, dass du traurig bist.“

„…“

Das hat er bemerkt? Darauf fällt mir nun keine Antwort mehr ein. Stattdessen redet Lukas weiter.

„Besonders ist mir das aufgefallen, als wir neulich am Dienstag auf dem Pausenhof standen und Jannis mich gebeten hat, ihm bei Mathe zu helfen. Als dann Tine auftauchte mit ihrer Einladung für die Party, da hast du auf einmal furchtbar traurig dreingeschaut, als sie von der ‚Fisch sucht Fahrrad’-Aktion sprach und vom Verkuppeln.“

Bitte hör auf zu sprechen, Lukas. Bitte! Rede nicht weiter! Nimm deine Käsespieße und geh einfach zur Party, ja? Lass mich bitte allein…!

Er räuspert sich kurz. „Ich bin jetzt mal ganz dreist, direkt und indiskret, und bitte nimm das nicht persönlich, OK?“

Ich merke, wie sich mir die Tränen in den Augen sammeln. Gleich wird er es sagen. Dass ich mir keine Hoffnungen machen brauche, weil er in Jannis verliebt ist. Dass ich ein netter Typ bin, ein guter Freund, aber mehr auch nicht.

Er setzt wieder an und schaut mir direkt in die Augen. „Kann es sein, dass du in Tine verliebt bist?“

Bitte was?! In Tine?!? Vor Überraschung lasse ich beinahe die Teetasse fallen. Er glaubt, dass ich was von Tine will?!

Das ist perfekt! Mein Schlupfloch!

Diesmal muss ich mich räuspern. „Äh, ja… erraten.“ Ich fühle mich wie ein dreckiger Opportunist und kichere nervös. „Aber die ist ja nun leider mit Andreas zusammen…“

„Wusste ich’s doch! Und deswegen willst du nicht zu ihrer Party?“

Ich nicke. Tine wird mir die Augen auskratzen, wenn sie erfährt, dass sie für meine kleine Riesennotlüge herhalten musste.

Er wird auf einmal wieder ernst. „OK, dann bitte ich dich als mein Freund, trotzdem mitzukommen. Ich weiß, dass das viel verlangt ist. Aber ich habe Angst davor, gleich Jannis zu treffen und mich zu einem kompletten Idioten zu machen. Du wärest mir eine große Hilfe, wenn du einfach nur mitkommen würdest. Denn du gibst mir irgendwie Zuversicht und Mut.“

Ich schaue ihn an. Auch seine Augen scheinen etwas feucht zu sein.

„Bitte hilf mir, ja?“, fleht er mich an. Fehlt nur noch, dass er meine Hand nimmt.

Ich schlucke. „Ich… ich habe aber keinen Kartoffelsalat gemacht…”

Lukas guckt mich irritiert an. Dann prustet er los, wischt sich kurz über die Augen, springt auf und sagt erleichtert: „Das ist das geringste Problem! Ich gebe dir zehn Minuten, dann stehst du geduscht und in schicken Klamotten auf der Matte, verstanden?“

Er geht zu meinem Nachttisch und nimmt sich meinen Hausschlüssel. „Ich bin in fünf Minuten wieder da!“

„Wo willst du denn hin?“

„Frag nicht, sondern geh duschen!“

Prompt höre ich die Wohnungstür zufallen.

Bevor ich so richtig kapiere, was da eben passiert ist, kommen Mama und Papa in mein Zimmer.

„Und? Hat er dich überredet?“ fragt Mama.

„Nein. Er hat mich gezwungen.“

„Wie das?“

„Er hat mich angefleht, ihm dabei zu helfen, mit Jannis zusammenzukommen.“

Meine Eltern schweigen. Ob sie meinen Schmerz in dieser Situation nachvollziehen können?

Papa klopft mir auf die Schulter. „Kopf hoch, Augen zu und durch. Zu leben und zu lieben bedeutet auch, mit Enttäuschungen umgehen zu lernen. Das sind alles Lektionen, die das Leben für jeden von uns bereithält. Da muss man durch…“

Auch wenn er ja irgendwo damit Recht hat, so ist es aber auch wenig aufbauend.

Wieder klingelt es an der Tür.

„Das wird das Taxi sein. Also: Sei tapfer, junger Mann!“ sagt Papa zum Schluss. Mama drückt mir einen Kuss auf die Stirn, dann gehen sie.

Mit schweren Füßen schleppe ich mich unter die Dusche. Auch wenn mir noch nie jemand gesagt hat, dass ich ihm „irgendwie Zuversicht und Mut“ geben würde, so hat es dennoch nicht wirklich was geändert. Es ist zwar das schönste und ehrlichste Kompliment, das ich je bekommen habe, aber Lust auf die Party konnte es auch nicht hervorzaubern.

Als ich wieder in mein Zimmer komme, ist Lukas schon zurück. Als er mich sieht, lacht er: „Weißt du, das ist das zweite Mal diese Woche, dass ich dich nur im Handtuch sehe.“

Ich werde rot und nehme mir wahllos ein paar frische Klamotten aus meinem Wäscheschrank.

„Moment! Zeig erstmal her, was du dir da ausgesucht hast!“

Ich zeige ihm die schwarze Jeans, die ich genommen habe, weil sie oben lag, und den schwarzen Pullover, den ich aus dem gleichen Grund genommen habe.

„Ts! Willst du zu einer Beerdigung oder zu einer Party?” Er verdreht seine Augen und schiebt mich sanft beiseite. „Lass mal jemanden da ran, der sich mit so was auskennt. Immerhin habe ich eine Ahnung davon, was einem Jungen gut steht und was nicht.“

Wieder werde ich rot, er aber auch, als er merkt, was er da gerade gesagt hat. Schnell widmet er sich meinem Wäscheschrank. Schließlich entscheidet er sich für eine blaue Jeans, ein weißes Polohemd und einen Pullover in beige.

„Schon besser!“ sagt er zufrieden, als ich umgezogen aus dem Bad komme. „Und das Beste ist, wenn dir warm wird, dann kannst du den Pulli ausziehen und dir lässig um die Schultern legen, und trotzdem siehst du noch in dem weißen Hemd gut aus!“

Er geht zu meinem Regal, wo mein Parfüm steht („Homme“ von Jean-Paul Gaultier) und riecht kurz dran.

„Mhm! Sehr betörend.” Er sprüht mich ein wenig ein. „So. Fertig. Und jetzt Jacke und Schuhe an, hier ist dein Kartoffelsalat.“ Er reicht mir eine Tüte.

„Wo hast du denn den so schnell noch aufgetrieben?“

„Unten im Supermarkt direkt nebenan. Die wollten zwar schon zumachen, aber ich habe die Verkäuferin mit meinem berühmten Dackelblick bezirzt und prompt ließ sie mich nochmal schnell rein“, grinst er.

Ich schaue in die Tüte. Vier Becher Kartoffelsalat à 500g. Das wird wohl reichen.

„Wie viel hat der gekostet?“ frage ich und greife nach meinem Portemonnaie.

„Lass gut sein. Du kannst dich gleich auf der Party revanchieren.“

„Ich hoffe es…“ …nicht. Ich mache die Anlage und das Licht aus.

„Auf zur Party!“, ruft Lukas lachend.

Auf zum Schafott.


„The Valentines I never knew

The Friday night charades of youth

Were spent on one more beautiful

At seventeen I learned the truth…”

Janis Ian: „At Seventeen”

(Text und Musik von Janis Ian)


Es ist Zwanzig nach Acht, als wir bei Tine ankommen. Die meisten Leute sind schon da, so an die 40 Leute verteilen sich auf die drei Räume unter Tines Haus.

Als wir eintreten, werden wir gleich von Tine abgefangen.

„Hey! Schön, dass ihr da seid!“ ruft sie und umarmt uns zur Begrüßung. Dabei schaut sie mir wieder einen Augenblick direkt in die Augen. Ich denke, sie will wissen, warum ich mit Lukas hier aufkreuze.

„Lukas war so nett mich abzuholen“, erkläre ich daher knapp.

„OK, dann lasst mich mal erklären, wie das hier heute Abend funktioniert.“ Sie nimmt eine Rolle mit Aufklebern und pappt mir die 36 auf die Brust, Lukas bekommt die 37. „Das sind eure Nummern. Überall liegen Zettel rum, da könnt ihr eurem Herzblatt eine Nachricht drauf schreiben. Die gebt ihr dann mir oder Andi…“, dabei tippt sie sich auf ihr Schild, auf dem „Venus“ steht, „und wir geben sie dann weiter. Diskretion garantiert! Alles klar?“

Wir nicken.

„OK, Jungs. Dann mal los und viel Spaß! Ach ja, und alle halbe Stunde wird Kuschelmusik gespielt! Also ran an die Buletten!“

Sie lächelt uns verschwörerisch an und dampft schon wieder ab, um die nächsten Nummern zu verteilen.

„Sehr witzig“, flüstert Lukas mir zu, „meine Bulette ist noch nicht da…“

Ich zucke mit den Schultern. „Kommt schon noch.“

Nachdem wir unsere Jacken aufgehängt und unsere Fressalien zu den anderen aufs Buffet gestellt haben, fragt Lukas: „Ich hol mal was zu trinken. Was möchtest du?“

„Cola.“

„Mit Rum?“

„Nein, ohne!“

„Oder lieber mit Whisky?“

„Iiih! Nein! Einfach nur Cola!“

Er grinst mich dreckig an. „So wird das nie was! Du musst lockerer werden!“

Ich strecke ihm ganz locker die Zunge raus.

Als er mit den Getränken zurückkommt, nippe ich erstmal vorsichtig, um sicher zu gehen, dass das auch wirklich nur Cola ist. Ist es. Lukas nimmt einen Schluck von seinem Bier und sieht sich nervös um.

„Du könntest aber ruhig auch ein wenig lockerer werden“, ziehe ich ihn auf.

„Deswegen trinke ich ja auch Bier“, kontert er.

„Tach!“ Auf einmal steht Jörg neben uns und haut uns erstmal feste auf die Schulter. „Na, alles klaaa?“

Ich reibe mir die schmerzende Schulter und nicke.

„Ey, Schröder, wo warst’n letzten Freitach? Kein Bock auf Titten gehabt, oda was?“, blökt er mit seiner üblichen Reibeisenstimme und grinst.

„Nee, Allergie“, antworte ich knapp und nehme einen Schluck Cola.

„Wat? Allergisch gegen Titten?“

„Nein. Gegen Gorillas.“

Lukas hat den Spruch offensichtlich verstanden und verschluckt sich vor Lachen an seinem Bier und Jörg guckt doof aus der Wäsche. Der Punkt geht dann wohl an mich.

„Kapier’ ich nich’, den Witz.“

„Bei Gelegenheit erkläre ich ihn dir“, sage ich und gehe rüber zu Tine, die gerade wieder eine Gruppe von Leuten, die ich nur vom Sehen kenne, abgefertigt hat.

„Na?“ grinst sie mich an. „Schön, dass ihr zwei zusammen hier aufgetaucht seid! Vielleicht geht ihr ja auch wieder zusammen?“

Die deutliche Betonung des Wortes „zusammen“ hätte sie sich schenken können.

„Wart’s ab. Ich glaube, der Abend bringt noch die eine oder andere Überraschung mit sich.“

„Aha?“

In dem Moment kommen wieder vier Leute rein – unter anderem auch Jannis. Auch Lukas hat das bemerkt, und sofort sehe ich ihm an, dass er sich wieder verspannt. Jörg labert ihn unbeeindruckt weiter zu.

Ich gehe wieder zu den beiden, da Tine damit beschäftigt ist, die Neuankömmlinge mit Nummern zu versorgen. Jörg monologisiert weiter, allerdings hören weder Lukas noch ich ihm zu – ich aus Prinzip nicht und Lukas… na ja, der schielt die ganze Zeit zu Jannis rüber.

Nachdem die Gruppe ihre Jacken und ihre Mitbringsel für das Buffet losgeworden ist, kommen sie zu uns rüber. Ein Junge, den ich nur vom Sehen kenne, haut Jörg auf die Schulter. Gorillas machen so was wohl andauernd.

„Ey, Jörch, der Tittenmaster!“

„Mülläää!“, grölt dieser. „Ex oder nie wieder Sex!“

Wie auf Kommando leeren sie ihre (noch fast vollen!) Bierflaschen auf einen Zug. Wie gesagt: Gorillas. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich einen gewissen Respekt vor dieser Leistung habe.

Jannis (Nummer 45) steht daneben, lächelt etwas schüchtern und scheint sich zu schämen, dass er solche Leute kennt. Lukas schaut genauso drein. Die Gorillas ziehen weiter, um Nachschub zu holen, und so stehen Lukas, Jannis und ich allein etwas abseits in einer Ecke.

„Seid ihr schon lange hier?“ fragt Jannis nach ein paar Augenblicken.

„Nö, vielleicht fünf Minuten oder so.“

Danach schweigen sie wieder, sehen sich im Raum um und versuchen, dabei cool und unbeteiligt auszusehen. Als Lukas aber kurz meinen Blick auffängt, sehe ich ein Bitten darin. Seine Augen flehen mich an, irgendetwas zu sagen, um ein Gespräch anzukurbeln.

Na super, ausgerechnet ich. Meine Güte, worüber soll ich denn mit denen reden? Über Tschaikowski vielleicht?

Worüber reden die denn sonst immer so in der Pause auf dem Schulhof? Ach ja, Sport. Aber ich und Sport?! Na ja, riskieren wir’s…

„Habt ihr eigentlich auch ein Spiel von der WM letzten Sommer gesehen?“

„Wie – ein Spiel?“ fragt Jannis. „Hast du etwa eine Karte bekommen?“

„Nein, ich meine, im Fernsehen.“

Jannis bekommt große Augen. „Willst du mir allen Ernstes erzählen, du hast vom Jahrhundertereignis WM in Deutschland nur ein Spiel im Fernsehen gesehen?“

Was habe ich denn jetzt schon wieder Falsches gesagt? „Öhm… na ja… eigentlich nur den Rest der zweiten Halbzeit…“

Jetzt sieht er etwas schockiert aus. „Ich habe alle Spiele gesehen! Komplett!“ ruft er.

„Ich auch!“, meldet sich Lukas wieder zu Wort.

„Echt?“, strahlt Jannis ihn an, Lukas nickt eifrig.

„Weißt du noch, das Spiel gegen Polen?“

„Ja!!! Mit diesem grandiosen Tor von Neuville in der Nachspielzeit nach der geilen Vorlage von Odonkor!“ Sie beginnen zu fachsimpeln, und ich verstehe kein Wort. Und da dumm bleibt, wer nicht fragt, frage ich.

„Ist Neuville ein französischer Spieler?“

Die beiden starren mich fassungslos an. Schließlich erklärt Lukas: „Nein, der ist gebürtiger Schweizer, hat aber einen deutschen Pass. Deswegen darf der auch in der deutschen Nationalmannschaft mitspielen.“

„Aha. Ein Schweizer mit französischem Namen in der deutschen Nationalmannschaft, der nach Vorlage von einem Kameruner…“

„Was denn für ein Kameruner?“, unterbricht mich Jannis ungläubig.

„Na, dieser Odingsda.“

„Odonkor! David Odonkor! Der ist auch Deutscher und spielte damals bei Dortmund!“

„Bei der Arminia?“

BORUSSIA!!!“, schreien die beiden fast im Chor.

Jannis starrt mich an, als ob ich zu blöde sei, ein Loch in den Schnee zu pissen. Auf das Thema Sport bezogen stimmt das wahrscheinlich sogar.

„Welches Spiel hast du denn gesehen?“, fragt er danach. Er sieht etwas erschöpft aus und reibt sich die Stirn.

„Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es eins von Deutschland sein musste, weil meine Eltern im Wohnzimmer saßen und fast hysterisch wurden.“

„Was für Trikots hatten denn die Gegner?“, hakt Lukas nach.

„Dunkelblaue, glaube ich. Und ich weiß noch, dass die andere Mannschaft geführt hat, und zum Schluss haben sich alle geprügelt.“

„Das war das Argentinienspiel!“, ruft Lukas und wendet sich sofort wieder an Jannis. „Weißt du noch, die Aktion von Lehmann mit dem Zettel?“

„Ja, klar!!!“

Wieder beginnen sie zu fachsimpeln. Ich ziehe mich ein wenig zurück und beschließe, nach der peinlichen Situation von eben keine weiteren Fragen zu stellen. Außerdem scheinen die beiden sich gerade richtig in eine Debatte über König Fußball vertieft und mich dabei komplett vergessen zu haben.

Ich bemerke, dass ihr Bier fast alle ist und gehe neues holen. Nachdem ich ja offensichtlich erfolgreich eine Unterhaltung losgetreten habe, sollte ich zusehen, dass diese nicht durch Nebensächlichkeiten wie leere Getränke unterbrochen wird.

Deswegen bin ich ja hier. Damit Lukas Jannis „klarmachen“ kann, um es mal mit Jörgs Worten zu formulieren. Ich bemerke eine gewissen Bitterkeit und Resignation in mir.

Ich bringe ihnen die Getränke. Lukas schaut mich dankbar an. Er hat anscheinend verstanden, was ich hier mache. Danach ziehe ich mich wieder in den Hintergrund zurück und beobachte die beiden.

Sie sind in ihre Unterhaltung vertieft und schauen sich dabei auffallend oft in die Augen. Hier und da ein Lächeln, dann wird eine Haarsträhne aus den Augen gewischt… Eindeutig: Sie flirten miteinander.

Meine Stimmung erreicht einen neuen Tiefpunkt, und ich spüre wieder ein Stechen in meiner Brust und einen Kloß in meinem Hals. Genau deshalb wollte ich nicht herkommen. Genau das wollte ich nicht sehen. Meiner Meinung nach ist alles klar. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie Händchen halten.

Ich beginne zu zweifeln… und zu verzweifeln. Warum mache ich das eigentlich? Warum helfe ich dem ersten Menschen, in den ich richtig verliebt bin, mit dem ich alt werden möchte (oder zumindest erst einmal älter), und um den sich in den letzten Monaten mein gesamtes Universum dreht, warum helfe ich ihm dabei, mit jemand anderes zusammen zu kommen?

Eigentlich macht das doch keinen Sinn, oder?

In genau diesem Moment ruft Tine: „Schmuserunde!!!“ Sie klickt auf ein paar Lichtschalter, und der Raum wird auf einmal in romantisches, rotes Licht getaucht.

Der DJ (auch einer aus unserem Jahrgang) legt eine Schnulze auf. Sofort finden sich ein paar Paare, die die Tanzfläche (also die Mitte des Raumes) stürmen und eng umschlungen und knutschend anfangen zu tanzen.

„I’ve been alone with you inside my mind

And in my dreams I’ve kissed your lips a thousand times

I sometimes see you pass outside my door

Hello! Is it me you’re looking for?”

(„Hello”, geschrieben von Lionel Richie)

Durch die tanzenden Paare werde ich von Lukas und Jannis getrennt. Sie gucken erst etwas verunsichert, dann scheint Lukas Jannis auf einen freien Tisch in der Ecke aufmerksam zu machen. Jannis nickt und sie setzen sich. Nebeneinander natürlich, hinter ihnen eine rote Lampe. Ich setze mich auf einen Stuhl auf der anderen Seite der Tanzfläche und kann zwischen zwei Paaren hindurch weiter beobachten, was passiert.

„I can see it in your eyes

I can see it in your smile

You’re all I’ve ever wanted

And my arms are opened wide

‘Cause you know just what to say

And you know just what to do

And I want to tell you so much

I love you…”

(„Hello”, geschrieben von Lionel Richie)

Ich weiß nicht, wie dieses Lied heißt oder wer es singt. Aber ich weiß, dass es genau in diesem Moment seine volle Wirkung entfacht. Lukas und Jannis reden jetzt eindeutig nicht mehr über Fußball. Eigentlich reden sie gar nicht mehr. Stattdessen schauen sie nervös zwischen ihren Bierflaschen und den Leuten auf der Tanzfläche hin und her. Dazwischen werfen sie einander verstohlene Blicke zu.

„Hello! Is it me you’re looking for?

‘Cause I wonder where you are

And I wonder what you do

Are you somewhere feeling lonely?

Or is someone loving you?”

(„Hello”, geschrieben von Lionel Richie)

Der Kloß in meinem Hals wird dicker und ich merke, dass meine Augen anfangen zu brennen. Ich kriege eine Gänsehaut, keine Ahnung, warum. Ich weiß nur, dass ich jetzt gerne dort neben Lukas sitzen würde und meine Hand in seine legen möchte…

Aber selbst wenn ich jetzt dort säße – ich würd’s wahrscheinlich nicht tun vor lauter Angst…

„Tell me how to win your heart

For I haven’t got a clue

But let me start by saying

I love you…”

(„Hello”, geschrieben von Lionel Richie)

Von meiner Position auf der anderen Seite der Tanzfläche aus bemerke ich auf einmal eine Bewegung unter der Tischplatte. Es ist schwer zu erkennen wegen des abgedunkelten Lichts, aber der Strahl der roten Lampe hinter ihnen leuchtet genau in die schmale Lücke zwischen den beiden.

Lukas hat Jannis’ Hand genommen.

Das ist der Moment der Wahrheit. Mir zieht sich die Kehle zu. Meine Hände halten krampfhaft mein Colaglas fest.

Jannis schaut überrascht zuerst auf ihre Hände, dann auf Lukas, der völlig eingeschüchtert da sitzt und immer noch dessen Hand unter dem Tisch hält. Anscheinend eine Ewigkeit lang schauen sie sich an; Jannis mit großen Augen, Lukas mit ängstlichen. Aber er hält dem Blick stand.

Dann lächelt Jannis. Nein, er strahlt ihn regelrecht an, und ich sehe, wie sie unter dem Tisch jetzt richtig Händchen halten und ihre Finger kreuzen. Ihre Daumen streicheln sich gegenseitig.

Ich kann von meinem Platz aus deutlich erkennen, wie die Anspannung von Lukas und Jannis abfällt. Sie sind natürlich megaerleichtert. Das kann ich förmlich riechen. Ich glaube sogar, dass sie sich jetzt am liebsten küssen würden. Aber das geht hier natürlich nicht. Stattdessen nehmen sie ihre Flaschen, stoßen an und schauen sich immer noch tief in die Augen. Nachdem sie einen Schluck getrunken haben, schauen sie sich vorsichtig im Raum um, um zu sehen, ob jemand vielleicht etwas bemerkt hat.

Das Lied ist zwar inzwischen vorbei, aber die nächste Schnulze wabert aus den Lautsprechern. Ich höre nicht mehr zu. Alles, was ich im Moment sehe, sind Jannis und Lukas, das neueste Pärchen des heutigen Abends.

Lukas hat es geschafft. Herzlichen Glückwunsch.

Der Anblick dieser beiden, umrahmt von tanzenden, verliebten Pärchen auf der Tanzfläche brennt sich für immer in meine Netzhaut ein. Ich habe die Schnauze gestrichen voll. In mir macht sich eine kalte Leere breit. In diesem Moment wird mir klar, dass soeben alle möglichen Hoffnungen von mir in Bezug auf Lukas gestorben sind. Ich beschließe, meine Cola auszutrinken und nach Hause zu gehen. Hier werde ich nicht mehr gebraucht.

„Naja, was soll’s“, versuche ich mir einzureden. „Immerhin haben sich die beiden gefunden, damit ist Tines Valentinsparty ein voller Erfolg.“ Es klappt nicht. Irgendwie kommt bei mir keine richtige Freude auf. Im Gegenteil.

Quer durch den Raum trifft mich auf einmal Lukas’ Blick. Er strahlt bis über beide Ohren und nickt mir dankend zu. Ich ziehe die Mundwinkel hoch, was ein Lächeln andeuten soll, während meine Augen nicht mitlachen. Aber das kann er hoffentlich auf die Entfernung nicht erkennen.

Dann lenkt er Jannis’ Aufmerksamkeit auf mich. Der schaut erschrocken zu mir, wird aber offensichtlich sofort von Lukas beruhigt, dass ich keine Gefahr sei. Ein schüchternes Lächeln auch von ihm. Ich nicke den beiden zu.

Mission accomplished, Mr. President.

Auf einmal flüstert Jannis etwas in Lukas’ Ohr. Der hört zu, grinst und nickt. Dann antwortet er etwas, nimmt er einen Stift und kritzelt etwas auf einen der Zettel, die eigentlich für die Valentinsbotschaften bestimmt sind. Als er fertig ist, stehen sie auf. Ihre Hände halten sie nun nicht mehr.

In diesem Moment kommt Tine an ihnen vorbei. Lukas redet kurz mit ihr und gibt ihr den Zettel und deutet mit dem Kopf in meine Richtung. Sie sieht mich, und ihr Gesicht leuchtet auf. Dann nickt sie eifrig und kommt mit dem Zettel in meine Richtung, während Lukas und Jannis sich in Richtung Tür begeben.

„Timmi“, säuselt sie, als sie vor mir steht. „Ich habe hier eine Nachricht für dich! Rate mal, von wem!“ Triumphierend wedelt sie mit dem zusammengefalteten Zettel vor meiner Nase.

Zum Glück sitzt gerade niemand in meiner Nähe. „Von Lukas, ich weiß“, antworte ich kurz angebunden und schnappe ihr den Zettel aus der Hand. Obwohl ich mir denken kann, was drinsteht, falte ich ihn auseinander und beginne ihn zu lesen.

Von: 37

An: 36

Lieber Tim,

vielen Dank für deine Hilfe! Es hat geklappt! Ich bin dir unendlich dankbar!

Jannis und ich wollen für eine Stunde oder zwei zu ihm verschwinden, hier ist uns das zu riskant. Ich möchte dich noch um einen letzten Gefallen bitten: Falls jemand nach mir fragen sollte, sag bitte, dass mir schlecht geworden ist und ich an die frische Luft gegangen bin. Jannis erzählt das gleiche seinen Freunden…

Nochmals 1000000 Dank! Ich revanchiere mich! Versprochen!

Lukas

Ich falte den Zettel wieder zusammen und starre vor mich hin. Ich nehme nicht mal mehr die Musik wahr. Ich bin einfach nur leer.

Auf einmal wedelt eine Hand vor meinen Augen. Tine.

„Und?“, fragt sie aufgeregt. „Was steht drin?“

„Lies selbst.“

Ich reiche ihr den Zettel. Sie setzt sich neben mich, faltet ihn hektisch auseinander und beginnt zu lesen.

Ihr Gesichtsausdruck verändert sich dabei zusehends. Zuerst gespannt, dann irritiert, dann geschockt. Als sie fertig ist mit Lesen, gibt sie mir den Zettel zurück und schaut mich mit großen Augen an.

„Soll das etwa heißen, dass…“ Sie beendet ihren Satz nicht.

„…Lukas auch schwul ist?“ fahre ich für sie fort. „Ja, soll es. Oh, und Jannis auch, nebenbei erwähnt.“ Die Bitterkeit in meiner Stimme lässt sich nicht verstecken.

„Und nun ist er…“ Noch ein unvollendeter Satz.

„…eben mit Jannis zusammengekommen. Sie hielten unter dem Tisch da drüben Händchen.“

„Au Scheiße, das tut mir Leid.“

„Ist ja nicht deine Schuld“, seufze ich. Ich trinke den letzten Rest von meiner Cola aus.

„Nun, es sieht so aus, als sei deine Valentinsparty ein voller Erfolg“, sage ich zynisch. Dann ziehe ich den Aufkleber mit der Nummer 36 von meinem Pullover ab. Den brauche ich nicht mehr.

„Wusstest du das schon lange?“

„Dass er schwul ist? Seit Montag. Aber behalte es bitte für dich.“ Ich falte den Aufkleber zusammen und zerreiße ihn. Am liebsten würde ich ihn verbrennen.

Sie schweigt. Was soll sie auch noch großartig sagen?

Ich stehe auf. „Ich hau ab. Nimm’s bitte nicht persönlich, aber ich halte es hier nicht mehr aus.“ Ich drehe mich um und will gehen, da fällt mir noch etwas ein.

„Um einen Gefallen möchte ich dich noch bitten, ja? Falls jemand nach Lukas fragt, sag doch bitte, dass ihm schlecht ist und dass er an die frische Luft gegangen ist. Danke.“ Ich weiß, dass sie das gerade gelesen hat, aber ich kann ganz schön zynisch werden bei Bedarf…

Ich bahne mir einen Weg durch die verliebten Pärchen auf der Tanzfläche und hole meine Jacke. Lukas’ Jacke, die er direkt neben meiner aufgehängt hatte, fehlt. Mein Kartoffelsalat steht unangerührt auf der Anrichte.

Ich fühle mich leer und müde, während ich mich die Treppe zur Haustür hoch schleppe.

Tine ist mir gefolgt. Sie sieht aus, als würde sie gleich losheulen. Warum eigentlich? Sie kann ja gleich mit ihrem Andi tanzen!

Sie nimmt mich zum Abschied nochmal in den Arm.

„Hey, wenn du reden willst…“

Ich schüttele mit dem Kopf. „Danke, nein. Im Moment möchte ich einfach nur allein sein, ok?“

Sie versucht zu lächeln, aber so ganz gelingt ihr das nicht. „Kopf hoch, Timmi. Denk’ dran, auch andere Mütter-“

„Sag’s nicht!“ unterbreche ich sie barsch. „Bitte! Sag diesen Scheißspruch nicht! Ich kann ihn nicht mehr hören!!!“

Sie guckt mich erschrocken an. Ich reibe mir die Stirn. Dumpf dringt aus dem Keller ein Mischmasch aus Stimmengewirr, Gelächter und Schmusemusik. Ich muss hier weg. Sofort!

„Sorry, aber meine Stimmung ist gerade etwas im Eimer“, entschuldige ich mich bei ihr.

Sie nickt. „Ok. Dann komm gut nach Hause.“ Sie versucht nochmals, mich aufmunternd anzulächeln, und gibt mir einen Kuss auf die Wange.

Diese zärtliche Berührung treibt mir endgültig die Tränen in die Augen. Damit Tine das nicht sieht, drehe ich mich um und gehe.

Diesen Kuss habe ich jetzt echt nicht gebraucht. Sie meinte es zwar lieb, aber leider erinnert er mich an das, was Lukas jetzt wahrscheinlich gerade mit Jannis macht. Und an meine Träume, in denen ich mir vorstellte, wie Lukas mich küssen würde.

Träume, die ich jetzt auf meine geistige Müllhalde werfen kann.

Schnellen Schrittes gehe ich durch die Wohnsiedlung, in der Tine wohnt. Die Straßenlaternen werfen meinen Schatten auf den nassen Asphalt. Es ist kalt, mein Atem bildet kleine Wölkchen vor meinem Mund.

Wenn ich doch nur den Mut aufgebracht hätte, Lukas meine Gefühlen zu gestehen! Am Montag vielleicht, als er sich bei mir outete… Oder am Freitag davor, als ich ihm „Clair de lune“ vorgespielt habe. Oder vorhin, als er mich fragte, in wen ich verliebt sei.

Aber wenn! Wenn! Wenn!!! Wenn meine Katze ein Pferd wäre, könnte ich einen Baum hochreiten!

Was hätte es denn gebracht?

„Ab-so-lut nichts“, beantworte ich halblaut meine Frage selbst. Davon wären seine Gefühle für Jannis ja nicht einfach verpufft.

Ich biege nach links in die nächste Straße ein und bleibe abrupt stehen. Knapp 50 Meter vor mir steht ein Pärchen, eng umschlungen an eine Straßenlaterne gelehnt. Abwechselnd küssen sie sich, kichern kurz und gucken sie sich in die Augen.

Ich erkenne honiggoldenweizenfeldblonde Haare.

Sehr weit sind Lukas und Jannis ja nicht gerade gekommen.

Dieser Anblick gibt mir den letzten Rest. Der Kloß, der mir seit der Szene in Tines Keller im Hals sitzt, platzt, mein Magen zieht sich wieder zusammen, ich bekomme eine Gänsehaut aus purer Verzweiflung und merke, wie zwei heiße Tränen mein Gesicht hinunterlaufen. Erst langsam, dann fließen sie immer schneller, und immer mehr Tränen laufen über meine Wangen.

Unfähig, mich zu bewegen oder sonst irgendetwas zu tun, beobachte ich Lukas durch meinen Tränenschleier, wie er sanft wieder Jannis auf den Mund küsst. Wieder und wieder.

Jeder Kuss kommt mir wie eine schallende Ohrfeige vor. Es ist, als wollten sie mir sagen: „Schau mal, Tim, was wir dürfen, und du nicht! Es ist toll! Genauso toll, wie du dir das immer vorgestellt hast! Ach was, noch viel toller!!!“

Ich glaube, ich stehe kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ich muss laut schniefen.

Lukas und Jannis hören das Geräusch und drehen sich abrupt zu mir um.

„Komm, lass uns abhauen!“, höre ich einen der beiden halblaut kichern. Dann rennen sie prustend Hand in Hand weg.

Ich glaube nicht, dass sie mich erkannt haben, denn ich bin weit vom der nächsten Laterne entfernt.

Ich krame ein Taschentuch aus meiner Jackentasche und beschließe, einen anderen Weg nach Hause zu nehmen.

Was sollte das? Warum musste ich mir das jetzt noch ansehen?!

Das Schicksal hat definitiv ein perverses Gespür fürs Timing. Oder hat einfach nur Spaß daran, Menschen zu quälen.

Immer noch weinend komme ich zu Hause an. Es ist jetzt etwa Fünf vor Neun. Das bedeutet, dass die ganze Aktion bei Tine vielleicht zwanzig Minuten gedauert hat. So kurz war ich noch nie auf einer Party; mein Rekord lag bis eben bei einer Stunde.

Vor einer Dreiviertelstunde sind Lukas und ich hier losgegangen. Fünfundvierzig Minuten, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkommen. Fünfundvierzig Minuten, und für mich ist nichts mehr, wie es vorhin noch war.

Zum Glück sind Mama und Papa nicht da. Ich schreibe ihnen einen Zettel und lege ihn aufs Telefon.

Falls Lukas heute anruft, sagt ihm bitte, dass ich bei Tante Maren bin. Danke.

Tim

Ich befürchte nämlich, dass Lukas mir morgen in allen Details berichten möchte, was er heute noch alles erlebt.

Ich hole mir eine neue Packung Tempos, nein, besser zwei, und gehe ins Wohnzimmer, wo Mama und Papa ihre CDs haben. Ich nehme mir eine CD von ABBA und verziehe mich auf mein Zimmer. Dann programmiere ich auf meinem CD-Player „The Winner Takes It All“ und setze mich auf mein Bett.

Meine Gedanken kehren immer wieder zu Lukas (und Jannis) zurück. Wie sie Hände haltend in Tines Keller sitzen und, natürlich, wie sie küssend unter der Laterne stehen.

Ich befürchte, dass ich diese Bild nie wieder vergessen kann.

Und zum wiederholten Mal werfe ich meine Träume, die ich mir seit letztem August, als Lukas in mein Leben trat, zurechtgeträumt hatte, auf den Müll.


„It was long ago and far away

The world was younger than today

And dreams were all they gave for free

To ugly duckling girls like me…”

Janis Ian: „At Seventeen”

(Text und Musik von Janis Ian)


Ende 2. Teil. Fortsetzung folgt!

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