zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Jason

Teil 5

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 14

Als ich am nächsten Morgen gegen halb neun erwachte, schlief Jason ruhig neben mir. In der Nacht war ich ein paar Mal aufgewacht, weil er ziemlich unruhig geschlafen hatte. Leise stand ich auf und ging ins Bad, denn ich wollte Dad und Anne noch einmal sehen, bevor sie nach Scarborough flogen. Ich duschte schnell und ging dann nach unten. Dad, Anne und Julian saßen schon beim Frühstück. "Ah, schön, dass du auch noch da bist, Richie.", sagte Dad lächelnd. Ich nickte und griff wie üblich nach der Kaffeekanne. Sie war leer.

"Ich bin absolut dafür", brummte ich, "dass wir uns so eine automatische Kaffeemaschine anschaffen. Sowas mit Kaffee auf Knopfdruck." Julian nickte zustimmend. "Die Idee ist eigentlich nicht schlecht." "Aber gern doch. Und was darf es als nächstes sein?" Dad deutete mit einem Finger auf die Zettel, die am Kühlschrank hingen - die Aufträge für die Handwerker. "Das kostet erst mal genug Geld. Aber beim Kaffee gehe ich dir gern zur Hand, lieber Richard." Hätte ich eine Brille aufgehabt, hätte ich Dad jetzt über den Rand der Gläser hinweg angesehen - aber er wusste den Blick auch so richtig zu deuten.

Gegen kurz nach neun ging Anne wieder nach oben, sie wollte noch etwas mit Elijah alleine sein, bevor sie mit Dad zum Flughafen fuhr. Und Dad wurde langsam nervös. "Seid ihr euch wirklich sicher, dass ihr hier klarkommt, Jungs?" Julian und ich sahen uns nur grinsend an und nickten dann. "Ja, Dad", antwortete ich, "mach' dir um uns keine Sorgen." Julian warf Dad einen fragenden Blick zu. "Und was ist mit dir? Du machst mir ehrlich gesagt momentan mehr Sorgen." Ich sah Dad ebenfalls an. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, außerdem wirkte er müde und abgespannt. Aber er nickte nur. "Ja, natürlich ist bei mir alles okay."

Schweigen breitete sich am Tisch aus. "Du bist immer noch sauer, oder Julian?" Der schüttelte den Kopf. "Nein, sauer bin ich nicht mehr. Vielleicht immer noch etwas enttäuscht. Aber du kennst mich, das gibt sich." Julian lächelte Dad kurz an - und in diesem Moment fiel mir auf, wie sehr die beiden sich ähnelten. Wie Dad hatte auch Julian mittlerweile einen leichten Bartschatten, allerdings hatte unser Vater seit einiger Zeit die ersten grauen Strähnen im Haar.

Bevor wir das Thema ausweiten konnten, kamen C.T., Mikey und Bobby herein. Offensichtlich redeten sie wieder miteinander, jedenfalls wirkten sie alle drei ausgeschlafen und waren gut drauf. Bobby nickte mir nur zu, ohne ein weiteres Wort zu verlieren - was wohl heißen sollte, dass sich wenigstens die drei Jungs ausgesprochen hatten. Ich beschloss, mal nach Jason zu sehen, denn Dad würde sicherlich noch in Ruhe mit den Jungs reden wollen.

Jason lag immer noch in meinem Bett. Die Decke war ein wenig verrutscht, so dass sein Rücken frei lag. Die Striemen verblassten mittlerweile und wurden langsam gelb. Während ich seinen Rücken betrachtete, dachte ich darüber nach, wie es Jason mit seinem Vater ergangen sein musste. Konnte ich es verstehen? Verstehen vielleicht, aber bestimmt nicht nachvollziehen. Dad hatte uns niemals geschlagen und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass er das jemals tun würde. Und uns war es in jeder Hinsicht immer gut gegangen. Klar, Mum war irgendwann abgehauen, aber das hatten wir überstanden. Dad hatte uns gut versorgt und wie man so schön sagte: Uns hatte es an nichts gefehlt.

Und unsere Patienten? Jason war auch einer von ihnen. Ich hatte nur selten darüber nachgedacht, was sie machten, wenn sie nicht bei uns in der Praxis waren. Meistens plauderte man nur ein wenig, aber irgendwie war immer eine gewisse Distanz da. Bei Jason war das etwas anderes gewesen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie jemand diesem Jungen gegenüber handgreiflich werden konnte. Ich sah ihn noch einen Moment lang an, dann zog ich meine Schuhe aus, legte mich zu ihm und meinen Arm um seine Schultern. Ich würde nicht zulassen, dass ihm je wieder jemand weh tun würde ...


Ich mußte wohl eingeschlafen sein, jedenfalls weckte Anne mich etwas später leise. "Ich wollte mich nur schnell von euch beiden verabschieden, wir wollen los." Ich stand auf und ging mir ihr nach unten. Dad war gerade dabei, die Koffer ins Auto zu packen. Julian hatte versprochen, die beiden zum Flughafen zu fahren. Wir verabschiedeten uns voneinander und versprachen zu telefonieren. Dad wollte natürlich auf dem neuesten Stand bleiben, was die Renovierungen betraf. Anne hatte mir eine Liste mit den Patienten hingelegt, die sie nicht erreicht hatte - ich würde also zwischendurch Telefondienst schieben müssen. Zum Abschied umarmte mich Anne und flüsterte mir ins Ohr. "Ich hab' euch vorhin einen Moment beobachtet. Ihr zwei seid ein schönes Paar." Sie lächelte mir beim Einsteigen kurz zu, dann rollte der Wagen von der Auffahrt.

Ich ging als erstes in die Praxis, um die Anrufe zu machen. Ich entschuldigte Dad mit einer dringenden Familienangelegenheit und glücklicherweise hatten die meisten dafür Verständnis. Wieder konnte ich einige Leute nicht erreichen. Klar, es war Urlaubszeit und es gab immer noch Menschen, die keinen Anrufbeantworter besaßen. Ich konnte auch nicht die ganze Zeit telefonieren, weil die Handwerker schon im Haus waren und das Büro war genau über dem Keller. Also verzog ich mich mit der Telefonliste in die Küche und versuchte dort mein Glück.

Gegen elf kam Jason herein. Er sah verschlafen aus und gähnte. "Guten Morgen ... du bist schon auf?" Ich grinste. "Ja, wie du siehst. Willst Du Kaffee?" Jason nickte und ich stellte ihm einen vollen Becher auf den Tisch. "Sind dein Vater und Anne schon weg?" "Ja, Julian bringt sie gerade zum Flughafen." Jason gähnte nochmal und trank einen Schluck Kaffee. "Sorry, ich hab' keine Ahnung, wovon ich so müde bin." "Zeitumstellung? Unruhige Nächte?", schlug ich vor. "Ja, vermutlich alles zusammen." Gedankenverloren löffelte er Zucker in seine Kaffeetasse.

"Du bist übrigens auch so süß genug", sagte ich. Er sah erst mich an und dann die Kaffeetasse. "Hm? Ach so ... entschuldige, ich bin etwas in Gedanken." "Deine Eltern?" Er nickte. "Ja. Einerseits habe ich langsam die Nase voll von ihnen, andererseits ... es sind meine Eltern." "So wie sie dich behandelt haben?" Traurig sah er mich an. "Du hast ja recht, Richie. Aber sie sind auch ein Teil meines Lebens. Und den kann ich nicht einfach so abstellen." Ich setzte mich zu ihm und legte ihm meinen Arm um die Schultern. "Das ist mir auch klar, Jason. Und es gibt doch auch überhaupt keinen Grund, das jetzt zu entscheiden." Er küsste mich auf die Wange. "Ja, aber irgendwann werde ich das entscheiden müssen, ob ich will oder nicht."

Ich hörte einen Schlüssel in der Haustür und einen Moment später stand Julian in der Küche. "So, Anne und Dad sind gut am Flughafen angekommen. Sie wollen anrufen, wenn sie in Scarborough gelandet sind." Er legte den Autoschlüssel zur Seite und nahm sich eine Tasse Kaffee. "Ich bin ja wirklich gespannt auf Nick", sagte ich. "Ja, das bin ich auch", antwortete Julian nachdenklich. Jason musterte ihn. "Du nimmst es eurem Dad immer noch übel, dass er nichts gesagt hat, oder?" Julian sah ihn kurz an und im ersten Moment befürchtete ich, dass seine Antwort in Richtung "Das geht dich nichts an" gehen würde. Aber er zuckte nur mit den Schultern. "Ja, ich bin immer noch enttäuscht. Und wenn Dad nicht momentan dringendere Probleme hätte würde ich ihm dazu sicherlich noch was sagen. Aber das kann warten."

Ich zog die Augenbrauen hoch. "Das solltest du aber nicht tun, wenn Nick dabei ist. Denn dann wird er sich hier nicht sonderlich wohl fühlen. Und er wird es ohnehin schon schwer genug haben ... Ich möchte jedenfalls nicht in seiner Haut stecken." Vermutlich hätte sich auch daraus wieder eine Diskussion entwickelt, wenn es nicht in diesem Moment an der Tür geklingelt hätte. C.T. steckte kurze Zeit später den Kopf zur Küchentür herein. "Julian, Richie, könnt ihr mal kommen? Die Polizei ist hier." Julian warf mir einen verwunderten Blick zu. "Die Polizei? Was wollen die denn hier?" Ich hatte auch keine Ahnung, was los war.

Wir gingen nach draußen, um mit den Polizisten zu sprechen. Sie stellten sich kurz vor, zeigten uns ihre Ausweise und kamen dann gleich zur Sache. "Wir würden gern mit Dr. Masters sprechen." "Der ist heute morgen für einige Tage verreist. Ich bin sein Sohn, kann ich Ihnen weiterhelfen?", antwortete Julian. Die beiden Polizisten sahen sich, offensichtlich unsicher, an. "Vermutlich nicht. Wir müssten mit jemandem sprechen, der in der Praxis arbeitet. Wann kommt Dr. Masters denn zurück?" "Vermutlich Anfang nächster Woche. Mein Bruder Richard arbeitet aber hin und wieder in der Praxis mit." Julian schob mich etwas nach vorn und wieder tauschten die beiden unsichere Blicke aus. "Können wir irgendwo in Ruhe mit Ihnen reden?" Julian nickte. "Ja, folgen sie uns bitte."

Wir gingen ins Wohnzimmer und einer der beiden Polizisten - offensichtlich der ältere - fing an: "Wie gut kennen Sie die Patienten Ihres Vaters?" Was war das denn für eine seltsame Frage? "Ich arbeite überwiegend an der Rezeption, also kenne ich die meisten immerhin vom Sehen." "Und wie gut? Ich meine, würden sie jemanden wiedererkennen?" Ich überlegte einen Moment und sagte dann: "Vielleicht nicht alle, aber die meisten schon. Glaube ich jedenfalls." Der Polizist atmete tief durch und sprach dann ganz langsam. "Wir möchten sie bitten, einen Jugendlichen zu identifizieren, der einen Verkehrsunfall hatte. Ich möchte sie vorwarnen - die Bilder sind kein schöner Anblick. Dann sagen Sie mir bitte, ob sie diese Person erkennen. Wären sie dazu bereit?"

Eigentlich hatte ich genügend Krimis gesehen, um zu wissen, was für Fotos sich hinter so einer Ankündigung verbergen konnten. Aber ich sagte erst mal ganz naiv: "Ja, kein Problem." "Volljährig sind sie auch?", erkundigte er sich. "Ja, seit ein paar Tagen." Der Polizist öffnete den Umschlag, den er in der Hand hielt und legte mir dann einige große Fotos vor. Ich brauchte einen Moment, bis ich den Jungen auf den Bildern erkannte. Mir fiel zwar auf Anhieb nicht der volle Name ein, aber ich kannte ihn sowohl aus der Praxis als auch aus der Schule - er war etwas jünger als ich und hatte gerade die 10. Klasse abgeschlossen. Florian hieß er, daran erinnerte ich mich noch. Er war ein durchschnittlicher Typ, jemand, nachdem ich mich vermutlich nicht noch einmal umgedreht hätte, sehr ruhig und wie viele Patienten von Dad sehr ängstlich - Dad hatte sich unter anderem auf Angstpatienten spezialisiert.

Doch all das wusste ich nur durch die Arbeit in der Praxis, auf den Bildern war davon nicht viel zu erkennen. Das meiste Blut war offensichtlich weggewaschen worden, aber trotzdem waren viele Prellungen und Brüche zu erkennen. "Ja, ich ... ich kenne ..." Weiter kam ich nicht, denn ich spürte, wie mir etwas heiß die Kehle hochstieg. Ich schaffte es gerade noch bis zur Terassentür, wo ich mein Frühstück wieder hochwürgte. Jedes Mal wenn ich glaubte, mich wieder beruhigt zu haben, kam wieder etwas nach. Schließlich verkrampfte sich mein Magen nur noch, aber es kam nichts mehr hoch.

Julian stand plötzlich hinter mir und fasste mich sanft am Arm. "Setz' dich hin und nimm' den Kopf zwischen die Knie." Das half ein wenig. Julian hockte sich neben mir hin und hielt meine Hand und nach ein paar Minuten ging es mir wieder etwas besser. "Alles okay, kleiner Bruder? Du bist kreidebleich." Ich nickte langsam. "Ja, es geht schon wieder." "Na komm, wir gehen wieder rein." Ich ging langsam wieder zu meinem Sessel, mit ziemlich weichen Knien. "Sind Sie in Ordnung?", erkundigte sich der jüngere der beiden Polizisten mit einem besorgten Unterton. "Ja, ich glaube schon. Ich hatte nur nicht mit solchen Fotos gerechnet." Der Polizist nickte. "Es tut uns leid, dass wir sie damit konfrontieren mussten, aber andere Bilder lagen uns leider auch nicht vor. Deswegen sind wir ja hier."

Julian kam wieder herein und gab mir ein Glas Wasser, in dem sich eine Brausetablette auflöste. "Für deinen Magen und damit du den Geschmack wieder loswirst." Ich trank einen Schluck und fühlte mich gleich etwas besser. "Können Sie uns weiterhelfen?" Ich seufzte. "Ja, ich kenne den Jungen zumindest - er ist Patient bei meinem Vater. Mir fällt allerdings der volle Name nicht ein." Julian warf einen kurzen Blick auf die Bilder, die immer noch offen auf dem Tisch lagen, sah aber schnell wieder weg. Auch er wurde blass um die Nase. "Wie sind Sie eigentlich ausgerechnet auf uns gekommen?", fragte er.

Der ältere der beiden Polizisten räusperte sich. "Nun, wir haben die Leiche des Jungen vor zwei Tagen gefunden. Er ist offensichtlich das Opfer eines Verkehrsunfalls geworden, den Verletzungen nach zu urteilen war er mit dem Fahrrad unterwegs und wurde von einem Auto angefahren. Er hatte zwar keine Papiere bei sich, aber er trug eine Zahnklammer." Er legte uns ein weiteres Foto auf den Tisch. "Wie Sie sehen, ist hier das Firmenzeichen eines Autoherstellers in den Kunststoff eingearbeitet ..." "Acryl-Polymer", unterbrach ihn Julian. Der Polizist sah ihn verwirrt an. "Wie bitte?" "Acryl-Polymer wird normalerweise zur Herstellung von kieferorthopädischen Geräten verwendet", erklärte Julian und fügte hinzu: "Das ist zwar auch ein Kunststoff, aber ich wollte es nur erwähnt haben."

Der Polizist fuhr etwas irritiert fort. "Ja, wie auch immer. Jedenfalls war dieses Bild in den Kunst... ins Material eingearbeitet. Wir haben bei verschiedenen Dentallabors hier in Hamburg angefragt und es gab nur ein Labor, das dieses Logo verarbeitet hat. Dort hat man uns dann unter anderem Ihre Praxis genannt, weil von Ihnen mal eine entsprechende Bestellung kam." Früher war es nur möglich gewesen, verschiedene Farben bei den Zahnspangen zu verwenden, aber seit einigen Jahren bot das Labor, mit dem Rip zusammenarbeitete, auch die Möglichkeit, Comic-Figuren oder andere Symbole mit in die Spangen einzuarbeiten. Die Patienten machten davon gern Gebrauch und auch Dad war davon begeistert, wenn auch aus anderen Gründen. Er hatte mir irgendwann einmal gesagt, dass er über jede Kleinigkeit dankbar war, die den Patienten half, die Spange zu mögen.

"Haben Sie sonst noch irgend einen Hinweis? Wie gesagt, ich kenne den Jungen zwar, aber mir fällt der Name nicht ein." Der Polizist zog ein weiteres Foto aus dem Umschlag. "Diese Nummer hier stand in der Dose für die Klammer." Es war eine siebenstellige Nummer, beginnend mit drei Buchstaben - und ich sah auf einen Blick, dass sie aus Dads Praxis stammen konnte. Dad verwendete seit Jahren dieses System. In diesem Fall war es PFL8305. "Die Nummer könnte passen. Wenn Sie hier warten, suche ich Ihnen die Adresse heraus." Der jüngere der beiden Polizisten stand auf und folgte mir. "Wenn Sie nichts dagegen haben, komme ich mit." "Klar, kein Problem."

Wir gingen in die Praxis und ich suchte in unserem Programm nach den Patientendaten. Es war das erste Mal, seit ich mich erinnern konnte, dass wir so einen Fall in der Praxis hatten. "Was hat es mit der Nummer auf sich?", erkundigte sich der Polizist. Ich erklärte es ihm: "Der erste Buchstabe ist der Anfangsbuchstabe des Nachnamens, die nächsten beiden vom Vornamen, dann das Geburtsjahr und eine laufende Nummer." Nach wenigen Sekunden hatte ich den Datensatz auf dem Bildschirm: Florian Phillips, geboren 1983, seit vier Jahren bei Dad in Behandlung. Etwas klingelte bei dem Namen, irgendwo hatte ich ihn heute schon mal gelesen. Und richtig: Auf der Liste, die mir Anne hingelegt hatte, stand auch Florians Name - Anfang nächster Woche hätte er bei Dad einen Termin gehabt. Er gehörte zu den Leuten, denen Anne eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte.

Ich rief eines der Fotos aus dem Patientendatensatz auf. "Ja, ich glaube das ist er", sagte der Polizist hinter mir. "Könnten Sie uns das Foto und die Adresse ausdrucken?" "Ja, mache ich." Dad dokumentierte die Fortschritte bei den Behandlungen gründlich und normalerweise gab es keinen Patienten, der noch in Behandlung war und dessen Fotos älter als ein halbes Jahr waren. Ich druckte für die Polizei auch ein Bild von der Spange mit aus, die Bilder waren ebenfalls in der Datenbank vorhanden. Ob Dad an so eine Gelegenheit gedacht hatte, als er sich dafür entschieden hatte, die Bilder zu speichern? Vermutlich weniger.

Ich drückte auf jedes Bild einen Praxisstempel und wir gingen wieder ins Wohnzimmer. "Das müste der Junge sein, den Sie suchen." Der zweite Polizist sah sich die Fotos an und nickte ebenfalls. "Ja, das scheint zu stimmen. Dann danken wir Ihnen für Ihre Mitarbeit", meinte der ältere. Ich zuckte mit den Schultern. "Kein Problem. Müssen Sie jetzt mit den Eltern sprechen?" "Ja, das wird der wirklich schwierige Teil. Vorallem, weil zumindest ein Elternteil den Leichnam identifizieren muss", antwortete der Jüngere seufzend.

Julian nickte verständnisvoll. "Aus dem Grund wollte ich kein Allgemeinmediziner werden. Ich denke, ich könnte so etwas nicht." Der Ältere zuckte mit den Schultern. "Ein Stück weit wird es irgendwann zur Routine. Aber in solchen Fällen und gerade wenn es um Kinder geht, da gewöhnt man sich nie dran." Die Beamten standen auf und verabschiedeten sich. Julian und ich brachten sie zur Tür. "Nochmals danke für die Hilfe." Julian nickte. "Ich hoffe, Sie finden den Fahrer des Autos. Solche Typen gehören aus dem Verkehr gezogen." Die Polizisten nickten. "Das wird er auch. Dazu müssen wir ihn nur erst einmal finden. Dürften wir noch mal auf Sie zukommen, wenn wir noch Fragen haben?" "Ja, das ist doch selbstverständlich", versicherte Julian. Die Polizisten bedankten sich und verließen dann das Haus.

Wir blieben noch einen Moment in der Tür stehen und sahen dem davonfahrenden Streifenwagen nach. Julian seufzte. "Sowas gehört wohl auch mit dazu." Ich nickte. "Ja, offensichtlich. Kannst du dich daran erinnern, ob Rip so etwas schon mal hatte?" Julian schüttelte den Kopf. "Nein, nicht dass ich wüsste. Aber es ist gut, dass er nicht da ist. Er nimmt sich solche Dinge sehr zu Herzen." Mein Bruder warf mir einen prüfenden Blick zu. "Wie geht es dir eigentlich? Du bist immer noch ziemlich blass um die Nase." Ich zuckte mit den Schultern. "Es geht schon wieder. Ich hab' nur noch ein flaues Gefühl in der Magengegend." Julian klopfte mir auf die Schulter. "Du hast dich aber insgesamt gut gehalten", sagte er.

Nach kürzem Zögern nahm er mich in den Arm - das hatte ich lange nicht mehr erlebt. "Wenn du reden willst, Richie, sag' es einfach, okay?" Ich nickte und versuchte ein Lächeln. "Keine Sorge, das mach' ich." In diesem Moment wurden wir von Herrn Metz unterbrochen. "Ach, hier sind Sie. Der erste Teil ist erledigt, können Sie sich das mal ansehen? Wenn noch was verändert werden soll, müsste das jetzt passieren", erklärte er Julian. Der nickte. "Ja, ich komme gleich runter." Noch einmal wandte er sich mir zu. "Richie ... was Jason angeht, das ist okay. Das Wichtigste ist, dass du glücklich bist. Ich weiß nicht, was ich ohne Natalie anfangen würde. Und ich hoffe, du kannst mir nochmal nachsehen, dass ich anfangs so ausgerastet bin." "Zerbrich' dir mal nicht meinen Kopf, das bekommen wir schon hin."

Julian zwinkerte mir zu und verschwand dann in Richtung Keller. Ich ging wieder in die Praxis und legte die Unterlagen in das Fach für die Sachen, die schnell zur Hand sein mussten - normalerweise die Patienten, die im Laufe des Tages in die Praxis kamen. Wenn die Polizei die Eltern erst mal informiert hätte, würden sie sich vermutlich auch bei uns melden. Ich sah schon jetzt gegen das Gespräch an. Ich hatte noch nie einen Trauerfall in der Praxis erlebt und ich hatte keine Ahnung, wie ich darauf reagieren sollte.

Ich hatte ein paar Minuten darüber nachgedacht, als es an der Tür klopfte. Jason kam herein. "Ach, hier bist du. Ich such' dich schon überall." "Ja, tut mir leid ..." Ich erklärte ihm, was los gewesen war. Geduldig hörte er mir zu. "Wow ... erst fünfzehn. Das ist viel zu jung zum Sterben." Ich nickte. "Ja, auf jeden Fall. Ich ..." In diesem Moment klingelte das Telefon - der Techniker wegen der Telefonanlage. Ich holte Julian dazu und man versprach uns, binnen zwei Stunden mit den Arbeiten anzufangen.

Kapitel 15

In den nächsten Tagen kamen wir gut voran. Unser alter Computerraum war nicht mehr wiederzuerkennen, alles hatte sich verändert. Vor der Renovierung hatten wir die Löcher in den Wänden geschlossen und jetzt war nichts mehr davon zu sehen. Natalie, Julians Freundin, hatte Vorhänge für das Zimmer ausgesucht. Den Freitag hatten C.T., Bobby, Jason und ich damit verbracht, die Möbel aufzubauen, während Mikey, Julian und Elijah unten im Keller den neuen Computerraum fertig machten.

Etwas besonderes in diesen Tagen waren nur zwei Telefonate. Am Donnerstag telefonierte ich zunächst mit Rip in Scarborough, er wollte wissen, was wir schon geschafft hatten. Ich erzählte ihm alles ziemlich genau. "Wie geht es Nick überhaupt?", erkundigte ich mich, als ich fertig war. "Der hält sich ziemlich gut. Er freut sich übrigens, euch kennenzulernen", antwortete Dad. "Ich bin auch gespannt auf ihn." "Moment mal ... er kommt gerade vorbei, ich geb' ihn dir." Ich konnte hören, wie Dad den Telefonhörer weitergab und zu jemandem sagte: "Richie für dich." Dann meldete sich eine etwas schüchterne Stimme.

"Nick Collins" "Hi Nick, ich bin Richie." Was sollte ich auch sonst sagen? "Mein ... mein neuer Stiefbruder?" Ich lächelte - ja, so war es wohl. "Genau, einer der beiden jedenfalls, der jüngere. Freut mich, dich wenigstens so schon mal kennenzulernen." "Ja, mich auch." Er machte eine kurze Pause. "Ihr habt hoffentlich nichts dagegen, dass ich mitkomme?" Julian ließ ich an dieser Stelle lieber außen vor und versicherte ihm statt dessen: "Überhaupt nicht, im Gegenteil. Wir freuen uns darauf. Mach' dir deswegen keine Sorgen." Hoffentlich klang das überzeugend ... Nick klang jedenfalls so, als könnte er jedes bisschen Unterstützung gebrauchen. "Okay ... dann ... bis die Tage. Ich geb' dir mal Anne." "Alles klar, wir sehen uns ja bald. Mach's gut bis dahin."

Ich unterhielt mich noch ein wenig mit meiner Schwester und sie war von Nick ganz begeistert. "Du wirst im ersten Moment wohl etwas verwirrt sein, Richie - er hat wirklich eine verblüffende Ähnlichkeit mit dir. Ich denke, ihr zwei werdet in Zukunft öfter mal als Zwillinge durchgehen." Ich lachte. "Na dann hoffe ich, dass die Welt bereits ist für zwei von meiner Sorte." "Bestimmt. Aber gib' ihm etwas Zeit, Nick wird sicherlich eine Weile brauchen, bis er sich hier eingewöhnt hat." "Klar, kein Problem. Er ist hier jedenfalls herzlich willkommen", antwortete ich. "Sicher?", hakte sie nach. "Du meinst Julian?" Das war mehr eine Feststellung als eine Frage. "Ja, genau." "Ich werde nochmal mit ihm reden", versprach ich ihr." "Okay. Wir melden uns dann und geben Bescheid, wann wir in Hamburg sind."

Das zweite Telefonat war deutlich schwieriger. Freitags hatte ich einen Anruf von Florian Phillips' Vater bekommen. Er wollte sich bei mir bedanken, weil ich seinen Sohn identifiziert hatte. Die Nachricht hatte ihn und seine Frau völlig überraschend getroffen: Eigentlich hatte Florian vorgehabt, mit einigen Freunden zu zelten, aber weil er sich noch nicht ganz sicher gewesen war, hatten die Freunde nicht bei seinen Eltern angerufen. Aus diesem Grund hatte ihn in den ersten Tagen niemand vermisst. Die Polizei hatte von dem Unfallfahrer noch keine Spur, lediglich Florians Fahrrad und sein Rucksack waren mittlerweile beim Fundbüro abgegeben worden.

Als ich nach einer Viertelstunde den Telefonhörer aus der Hand legte, zitterten meine Hände. Für meinen Geschmack waren das deutlich zu viele Todesfälle in so kurzer Zeit. Erst Nicks Mutter, jetzt noch Florian. Ich war vorher praktisch noch nie mit dem Tod konfrontiert worden. Irgendwie war es für mich auch ein seltsames Gefühl, dass ich Florian identifiziert hatte, bevor seine Eltern das tun konnten. Ich hatte Sarah Collins gar nicht und Florian praktisch nur vom Sehen gekannt, aber trotzdem berührte mich der Tod von beiden. Vielleicht, weil es etwas völlig neues war.

Es klopfte es an der Tür und Natalie riss mich aus meinen Gedanken. Als sie mich ansah, zog sie überrascht die Augenbrauen hoch. "Was ist denn mit dir los, Richie?" "Hm ... hat Julian dir erzählt, dass die Polizei vor einigen Tagen hier war?" Sie nickte. "Du meinst wegen des toten Jungen? Ja, hat er." "Sein Vater hat gerade angerufen und sich bedankt, dass wir ihn identifizieren konnten." Natalie setzte sich neben mich und legte mir ihren Arm um die Schulter. Ich musste nicht mehr sagen, sie verstand mich auch so.

Nach einer Pause sagte sie: "Julian hat mir erzählt, dass du dich ziemlich gut gehalten hast. Er war richtig stolz auf dich." Ich sah sie fragend an. "Ehrlich?" "Ja. Ganz bestimmt." "Hm. Den Eindruck hatte ich heute morgen aber nicht." Im Laufe des Vormittags hatte ich meinen Bruder noch einmal wegen Nick angesprochen und es hatte ein wenig zwischen uns geknallt. "Sondern?", erkundigte sie sich. "Sondern, was?" "Na welchen Eindruck hattest du von Julian?" "Ich hab' nur das Gefühl gehabt, dass er ein wenig den großen Bruder raushängen lässt, jetzt wo Rip nicht da ist. Hat er dir erzählt, dass ich schwul bin?" Wieder nickte sie. "Ja, auch das hat er mir gesagt." "Und was meinst du dazu?" Sie lächelte. "Wenn ich ehrlich sein soll, ich hab' mir schon länger sowas gedacht, Richie."

Jetzt war ich überrascht. "Wieso das denn?" "Na hör' mal. Du bist ein hübscher Kerl, aber ich kann mich nicht erinnern, dass du je eine Freundin gehabt hättest, zumindest keine Beziehung. Und deine ganze Art ..." "Meine Art? Willst du mir etwa sagen, dass ich schwul wirke?" Sie lachte. "Nein, entschuldige bitte - so war das wirklich nicht gemeint. Du bist nur ganz anders als Julian. Ruhiger, auf gewisse Art einfühlsamer. Aber auch ein Kämpfer. Julian sucht die Harmonie, du gehst auch mal mit dem Kopf durch die Wand. Und ich glaube, so etwas gewöhnt man sich auch an, wenn man lange Zeit allein ist, wenn man keinen Partner an seiner Seite hat." "Ja, vielleicht hast du Recht."

"Übrigens, weshalb ich eigentlich hier bin: Vorhin hat Ripley angerufen. Er und Anne kommen morgen zusammen mit Nick zurück." "Morgen schon?" Natalie nickte. "Ja. Heute war die Beisetzung von Nicks Mutter." "Hat Julian etwas gesagt, wie er mit Nick umgeht?" Sie seufzte. "Du kennst Julian ja - er kann manchmal sehr verschlossen sein, wenn er nicht reden will. Und ich glaube, über das Thema will er nicht reden." "Okay. Dann werde ich nochmal mit ihm reden müssen." Ich war entschlossen, Nick den Umzug nicht unnötig schwer zu machen und dazu gehörte nach meiner Ansicht, dass wir alle Rücksicht auf ihn nahmen. Ich konnte gut verstehen, dass Julian von Dad enttäuscht war, aber ich konnte auch Dads Gründe verstehen, warum er uns nichts gesagt hatte. Julian war momentan ziemlich im Stress wegen seines Studiums und ich wollte einfach nicht, dass er das an Nick ausließ.

"Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist - deswegen mit Julian zu streiten?", fragte Natalie. "Ich will mich nicht mit ihm streiten. Aber ich denke, dass wir alle nicht einmal ansatzweise nachvollziehen können, wie es Nick im Moment geht", erklärte ich ihr. "Unsere Mutter hat uns damals einfach im Stich gelassen, das ist eine Sache. Wir können auf sie wütend sein, uns ärgern, wir könnten sie zur Not sogar ausfindig machen und ihr die Meinung sagen, wenn wir wollten. Aber diese Chance hat Nick einfach nicht. Er steht von Heute auf Morgen ohne seine Mutter da. Und dadurch, dass er Rip bis dahin nicht kennengelernt hat, ist er vermutlich noch mehr durcheinander." Ich musste Luft holen und Natalie fiel mir prompt ins Wort. "Du glaubst, dass Julian das anders sieht?" "Ich weiß es nicht, aber er klang in den letzten Tagen nicht danach, als wenn er sonderlich begeistert wäre von Nick. Und ich will verdammt nochmal nicht, dass Nick davon etwas mitbekommt."

Natalie lächelte. "Okay, du willst mal wieder mit dem Kopf durch die Wand. Aber vielleicht solltest du wirklich nochmal mit Julian reden, ich komme in der Hinsicht bei ihm nämlich auch nicht weiter. Wenn du ihm den gleichen Vortrag hältst, wie mir gerade eben, dann sollte er aber verstehen, was du willst." Ich runzelte die Stirn. "Jetzt nimmst du mich auf den Arm, oder?" Sie schüttelte den Kopf. "Nein, Richie, ganz bestimmt nicht. Das hab' ich völlig ernst gemeint. Du kennst Julian besser als ich und du weißt, dass es manchmal bei ihm nicht anders geht. Du schaffst das schon. Julian ist übrigens unten im Garten." Ich stand auf. "Na dann werde ich mal mit ihm reden." Natalie zwinkerte mir zu. "Viel Erfolg bei der Mission."


Julian saß tatsächlich im Garten und hatte einige Bücher vor sich ausgebreitet. Er arbeitete gern abends draußen, wenn es nicht mehr so warm war, es aber trotzdem noch Tageslicht gab. "Hast du etwas Zeit?", fragte ich ihn. Er sah auf. "Kommt drauf an, worum es geht. Ich bin in den letzten Tagen kaum zum Lernen gekommen." "Ich wollte mit dir nochmal wegen Nick reden." Er seufzte. "Ich hab' geahnt, dass das kommt. Muss das jetzt sein?" Ich nickte. "Ja. Natalie sagte mir vorhin, dass Rip und Anne morgen zurückkommen und Nick wird mit dabei sein. Darum würde ich gern vorher noch mit dir reden, denn morgen ist es zu spät." Julian legte den Stift aus der Hand und lehnte sich etwas zurück. "Also gut, was willst du?"

Lag es am Lernstress, hatte er keine Lust auf das Gespräch, oder war Julian einfach nur müde? Der Ton gefiel mir nicht besonders, aber ich hielt mich erstmal zurück. "Wie denkst du mittleweile über die ganze Sache?" "Wie denke ich über was? Über die Tatsache, dass Dad uns so etwas jahrelang verschwiegen hat? Über den plötzlichen Familienzuwachs? Darüber, dass Dad von einer Sekunde auf die andere unser Leben völlig durcheinanderbringt?" Julian wurde dabei nicht einmal laut und das machte mich traurig. Wenn er wütend wurde, was selten vorkam, hob er normalerweise die Stimme. Aber wenn er richtig sauer war, dann sprach er in ruhigem, fast unbeteiligten Ton - so wie jetzt. Ich versuchte, mir meine Verärgerung nicht anmerken zu lassen.

"Julian, ich akzeptiere, wenn du sauer auf Dad bist. Ich kann dich sogar verstehen, ein Stück weit jedenfalls. Ich habe dir aber schonmal gesagt, dass ich Dad genauso verstehen kann." Julian machte eine ungeduldige Handbewegung. "Soweit waren wir schon. Und wenn du mir nichts Neues erzählen willst, solltest du zum Schluss kommen." Ich schüttelte den Kopf. "Sag' mal, spinnst du jetzt völlig? Du wirst dir ja wohl keinen Zacken aus der Krone brechen, wenn du mir mal ein paar Minuten zuhörst. Hallo, es geht hier um unsere Familie." Demonstrativ breitete er die Arme aus. "Bitte, dann erzähl'. Aber bitte möglichst was Neues."

Ich stand auf. "Julian, es gibt Momente, da kotzt du mich wirklich an. Und das hier ist so ein Moment. Komm ... nimm' dir deine Bücher, lern' noch ein bisschen, mach' deine Doktorarbeit oder was auch immer du vorhast. Aber kümmere dich bloß nicht um deine Mitmenschen." Ich ging zurück ins Haus und knallte die Terrassentür lauter als nötig hinter mir zu. Natalie stand in der Küche. Sie brauchte mich wohl nur anzusehen, jedenfalls stellte sie keine Fragen.

"Du hast das meiste gehört, vermute ich?" Sie nickte. "Natürlich, laut genug wart ihr ja. Die Nachbarn auf der anderen Straßenseite mussten wahrscheinlich etwas genauer hinhören, aber hier im Haus hat wohl jeder mitbekommen, was los ist." Ich hob die Augenbrauen. "Waren wir so laut?" "Naja, fast." In diesem Moment ging die Tür auf und Jason kam herein - gefolgt von Mikey. "Was war denn gerade eben los?" Ich schnaubte. "Mein Herr Bruder glaubt gerade, er sei der Mittelpunkt der Welt." "Das glaub' ich nicht", mischte Mikey sich ein. Wahrscheinlich lag es einfach daran, dass ich sauer war, jedenfalls schoss ich zurück: "Was ich dir erzähle, ist dir ja momentan ohnehin egal. Also lass' du mich am besten einfach in Ruhe." Ich ging aus der Küche und schloss auch diese Tür nicht viel leiser.

Kapitel 16

In meinem Zimmer warf ich mich wütend aufs Bett. Ich rechnete damit, dass jeden Moment jemand hereinkam, auch wenn ich nicht wusste, wer das sein würde. Fast hoffte ich darauf, dass es Mikey oder Julian sein würden. Ich hatte schlechte Laune und ich brauchte jemanden, an dem ich sie auslassen konnte. Aber die nächsten zehn Minuten hatte ich meine Ruhe, bis es schließlich leise klopfte. "Was?", fauchte ich in Richtung Tür. Vorsichtig streckte Jason den Kopf herein. Hätte er mich in diesem Moment gefragt "Hast du dich wieder beruhigt?", hätte ich ihm vermutlich irgendetwas an den Kopf geworfen, aber das tat er nicht. Stattdessen setzte er sich neben mich aufs Bett und streichelte mir sanft über die Schultern.

Nach einer Weile sagte er leise: "Das mit Mikey war unfair. Der konnte nun wirklich nichts dafür." Ich drehte mich um und legte Jason meine Hand auf den Rücken. "Wie hat er denn reagiert?" "Nach deinem Abgang? Er hat mit offenem Mund dagestanden." "Dann weiß er wenigstens mal, wie es uns vor einigen Tagen ging." Jason lächelte. "Er ist 15, Richie. Wir sind beide älter." "Gut, von mir aus. Aber, dass 'Alter' nicht automatisch 'Vernunft' bedeutet, sieht man ja an unserem zukünftigen Nobelpreisträger Dr. Masters Junior." Jason nahm mich in den Arm und hielt mich einen Moment fest. "Dann musst du aber nicht in die gleiche Kerbe schlagen", flüsterte er mir leise ins Ohr. Ich seufzte. "Ja, du hast wohl recht."

Jason strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah mir in die Augen. "Dann solltest du dich jetzt wohl erstmal bei Mikey entschuldigen. Und das Argument 'Er hat sich aber auch Zeit gelassen' zieht nicht, Schatz." Ich musste lachen. "Kennst du mich in der kurzen Zeit schon so gut?" "Das nicht, aber ich hätte wohl genauso argumentiert." Er küsste mich auf die Wange und in diesem Moment klopfte es an der Tür. Es war Mikey. Er kam gleich zur Sache. "Kannst du mir bitte mal sagen, was das gerade sollte, Richie?" "Ja, kann ich. Aber jetzt setz' dich bitte erst mal hin, okay?" Er sah mich verärgert an, setzte sich aber. "Ich höre."

Ich setzte mich zu ihm aufs Sofa. "Hör' zu, Mike ... das vorhin war nicht fair von mir, ich entschuldige mich bei dir dafür. Du hattest nichts damit zu tun, du warst nur zur falschen Zeit am falschen Ort", begann ich. "Und du bist immer noch sauer, weil ich euch nicht vor Freude um den Hals gefallen bin, weil ihr schwul seid." Das war keine Frage - das war eine Feststellung. "Nein, das ist nicht richtig. Ich war enttäuscht von dir, oder besser gesagt, davon wie du reagiert hast. Aber ich denke, das Thema ist gegessen." Mikey sah mich mit einem Blick an, den ich sonst nur von Älteren kannte. "Richie, bitte. Du willst mir doch nicht allen Ernstes erzählen, dass das Thema mit einer Entschuldigung von mir abgehakt ist? Dafür war das wohl 'ne Nummer zu groß."

Ich seufzte. "Vielleicht hast du damit Recht. Aber trotzdem war es unfair von mir, dass ich dich so angefaucht habe und es tut mir wirklich leid." Er zuckte mit den Schultern. "Na ja, das war wohl die Revanche für meinen Ausraster. Sind wir damit quitt?" Ich konnte es mir nicht verkneifen, die Augen zu verdrehen. "Ach Mike, bitte. Es geht hier nicht darum, irgendwas gegeneinander aufzurechnen. Du weißt genau so gut wie ich, dass das Blödsinn ist." Seine Mundwinkel zuckten und schließlich lächelte er - zum ersten Mal seit unserem Streit vor einigen Tagen. "Richie - weißt du, was ich an dir immer mochte?" "Nein?" "Dein Gesicht, wenn du nicht mehr weiter weißt. So wie jetzt." Und zu meiner Überraschung umarmte er mich. "Und ich mag dich immer noch, ob schwul oder nicht." Ich drückte ihn an mich. "Dann ist es ja gut - ich dich nämlich auch."

Plötzlich ging die Tür auf und Julian stand darin. "Richie, können ... jetzt fängst du auch noch an, dich an den Kleinen 'ranzumachen, oder was?" Mikey stand auf. "Nein, das kam von mir." Julian sah ihn skeptisch an. "Aha." Unausgesprochener Unterton: "Ich glaub' dir kein Wort." Er sah uns der Reihe nach an, schließlich blieb sein Blick an mir hängen. "Kann ich mal mit dir reden? Allein." Noch bevor ich antworten konnte, sagten Jason und Mikey wie aus einem Mund: "Nein." Julian und ich waren beide ziemlich sprachlos. "Und was haben die Herren dagegen einzuwenden?", erkundigte sich Julian. "Weil es keine gute Idee wäre, euch jetzt allein zu lassen. Ihr seht nämlich aus, als würdet ihr gleich aufeinander losgehen", antwortete Mikey.

Julian sah ihn von oben herab an. "Und du willst uns daran hindern?" Auch ich stand jetzt auf. "Julian, wenn du mit mir reden willst, bitte. Von mir aus können gern alle dabei sein, ich hab' damit kein Problem. Aber wenn es geht, bitte vernünftig." Julian schnaubte. "Richie, viel gibt es da nicht zu sagen. Aber halt' dich bitte aus meinem Leben 'raus. Ich lass' mir von dir nicht vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe und erst recht nicht, wie ich mich anderen gegenüber zu verhalten habe, ist das klar?" Bevor ich etwas sagen konnte, wurde ich von Jason unterbrochen. "Okay, ich glaube, das reicht jetzt. Mikey - wir beide gehen mal raus. Dann können die beiden in Ruhe und vernünftig miteinander reden. Ohne dieses Showgehabe." Mikey grinste, folgte Jason aber kommentarlos. Der schob Julian ein wenig zur Seite, weil er immer noch in der Tür stand.

Julian sah den beiden wütend hinterher und auch ich war etwas verwundert über Jasons Reaktion. "Vielleicht sollten wir uns setzen", schlug ich vor. Julian ließ sich aufs Sofa fallen. "Ich will dir überhaupt nicht vorschreiben, wie du dich zu verhalten hast. Aber versuch' mal für einen Moment, dich in Nicks Situation zu versetzen." Julian verdrehte die Augen. "Richie, mal ehrlich - glaubst du wirklich, dass ich meinen Frust über Dad an Nick auslassen würde? Du solltest mich eigentlich gut genug kennen." "Du hast dich aber nicht gerade danach angehört, als würdest du Nick hier mit offenen Armen empfangen." Julian lächelte schwach. "Das könnte daran liegen, dass ich in den letzten Tagen genügend andere Dinge um die Ohren hatte. Der Umbau, die Verantwortung für die Jungs und mein Studium. Ich bin einfach fertig. Zwischen Netzwerkinfrastruktur, Mittagessen für acht Leute, Polizei, verlagerten Weisheitszähnen, Handwerkern und Teppich verlegen bleibt nicht mehr viel Luft. Und ich will mich auch nicht mit dir streiten, dazu habe ich weder die Energie noch die Lust."

Ich schwieg. Julian hatte recht - er hatte von uns allen in den letzten Tagen am meisten um die Ohren gehabt. Er hatte nur wenig Schlaf bekommen und auch wenn ich es ihm während dieses Gesprächs bestimmt nicht so direkt sagen würde: Er hatte schon besser ausgesehen. Natürlich war da neben den Dingen, die er aufgezählt hatte, auch noch Natalie, mit der er Zeit verbringen wollte. Und das war genau der Teil, den ich am besten verstehen konnte, denn es ging mir mit Jason ja nicht anders. Julian sah mich einen Moment an und offensichtlich konnte er meinem Gedankengang auch folgen, ohne dass ich ihn aussprach. Nach einer Weile rang er sich ein Lächeln ab. "Verflixt nochmal, Richie ... weißt du eigentlich, wie anstrengend kleine Brüder sind?"

Ich schüttelte den Kopf. "Nein. Aber vermutlich nicht halb so schwierig wie große Brüder." Julian rutschte etwas dichter an mich heran und nahm mich dann in den Arm. Es war das zweite Mal binnen weniger Tage und wieder verwirrte es mich ein wenig. Aber es tat auch gut, ihn einmal wieder so dicht bei mir zu spüren. "Richie, wir schaffen das zusammen. Wir haben bisher alles geschafft. Da wird uns auch ein bisschen Familienzuwachs nicht aus der Ruhe bringen." Einen Moment hielt ich ihn fest, dann sah ich zu ihm hoch. "Hey ... wenn das jetzt ein Film wäre, weißt du, was dann sicherlich jemand sagen würde?" Er sah mich an. "Nein, was denn?" "Das ist schmalzig." Er lächelte. "Na und? Dann ist es eben schmalzig. Richie, auch wenn du es mir gerade nicht glaubst, aber mir ist unsere Familie wichtiger als das, was irgendwelche Leute denken."

Dem konnte ich nichts mehr hinzufügen. Ich drückte Julian noch mal an mich. Diese Momente waren selten geworden und erst jetzt merkte ich, wie sehr er mir manchmal fehlte. Früher, als Kinder, waren wir unzertrennlich gewesen. Aber im Laufe der Jahre hatten wir uns ein wenig auseinandergelebt. Mir kam unser Gespräch wieder in den Sinn, das wir nach meinem Outing geführt hatten. Julian war von mir enttäuscht, dass ich mit ihm nicht über mein Outing gesprochen hatte. Unweigerlich ging mir der Gedanke durch den Kopf, ob das vor drei oder vier Jahren anders gewesen wäre. Für einen Moment sehnte ich mich nach der unbeschwerten Zeit zurück, in der es nur uns vier gab - Rip, Julian, Anne und mich. "Früher war das alles anders", sagte ich leise.

Julian sah mich an. "Haben wir beide gerade dasselbe gedacht?" "Wahrscheinlich. Ich musste jedenfalls dran denken, dass wir beide uns früher kaum wegen sowas gestritten hätten", sagte ich. "Nein, sicherlich nicht", antwortete er, "aber die Zeiten haben sich geändert und wir können die Uhr nicht zurückdrehen." "Ich bin mir auch nicht sicher, ob es dann immer noch so wäre wie früher. Wir alle haben uns verändert. Und mal ehrlich - möchtest du noch mal 14 sein?" Julian grinste. "Du meinst Pickel, Zahnspange, Stimmbruch, feuchte Träume und all die anderen Annehmlichkeiten der Pubertät nochmal erleben?" Ich lachte. "Ja, genau. Außerdem hattest du keine Spange und ich keine feuchten Träume", fügte ich grinsend hinzu.

Julian errötete ein wenig und ging nicht weiter auf diese Punkte ein. "Auf jeden Fall muss ich das wirklich nicht noch mal haben. Einmal war es, im Nachhinein betrachtet, nicht so schlimm, aber das muss ich echt nicht nochmal erleben." "Och, du wirst dich in ein paar Jahren wieder damit 'rumschlagen müssen." Julian verstand die Anspielung. "Jetzt mach' mal halblang. An Kinder denk' ich noch gar nicht, erst mal müssen Natalie und ich mit dem Studium fertig werden und dann sehen wir weiter." "Aber du bist dir sicher, dass Natalie die Richtige ist?" Er nickte. "Ja, auf jeden Fall. Natalie ist die Frau, mit der ich alt werden möchte."

Wie aufs Stichwort klopfte es an der Tür und Natalie streckte den Kopf herein. "Ist bei euch alles in Ordnung? Es ist so beängstigend ruhig hier drin." Julian lächelte. "Was hast du erwartet?" Sie zuckte mit den Schultern. "Bei euch beiden weiß man ja nie." Sie kam in mein Zimmer und machte Platz für Jason, der hinter ihr stand. Er setzte sich zur mir aufs Sofa. "Ist alles klar bei euch?" Ich nickte. "Ja, ich denke schon - oder, Julian?" Er nickte ebenfalls. "Ja, zumindest bis Rip uns das nächste Mal von unbekannten Familienmitgliedern berichtet." Er sah mir in die Augen. "Und mach' dir keine Sorgen wegen Nick, den werden wir schon nicht hängen lassen."

Natalie schüttelte den Kopf. "Was hab' ich dir gesagt, Richie? Mit den richtigen Argumenten ..." "Nein, ich denke, dass Julian da von allein drauf gekommen ist." "Dann werd' ich ihn jetzt mal entführen - der Arme muss ins Bett, er hat einen harten Tag hinter sich." Widerstandslos ließ sich Julian von Natalie hochziehen. "So, sag' jetzt 'Gute Nacht', Julian", forderte sie ihn auf. "Gute Nacht, Julian", antwortete er brav. Sie gab ihm lachend einen Klaps auf die Schulter. "Schatz, du bist ein Idiot." Er nahm sie in den Arm. "Aber deswegen magst du mich doch, oder?" "Nein. Deswegen liebe ich dich." Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange, dann drehte sie sich noch mal zu uns um. "Schlaft gut, ihr beiden." "Ihr auch ... gute Nacht."

Jason lächelte. "Ich glaub', die haben erstmal was anderes vor." Ich sah auf die Uhr, mittlerweile war es nach elf. "Wir sollten aber auch langsam ins Bett, oder?" Jason nickte. "Von mir aus gern. Ich bin ohnehin kaum noch zu was anderem in der Lage." Er streckte sich demonstrativ. "Schade", sagte ich, "ich hatte gehofft, dass wir endlich da weitermachen könnten, wo wir ständig unterbrochen werden." Jason schlang seine Arme um mich. "Das, mein Lieber, steht auf einem ganz anderen Blatt ..."


Am nächsten Morgen machte sich bei uns langsam die Aufregung breit. Wir frühstückten zusammen und anschließend kümmerten sich C.T., Bobby und Mikey um die letzten Kleinigkeiten in Nicks Zimmer. Elijah, Jason, Julian und Natalie machten sich über den Hausputz her und ich kümmerte mich um die Dinge, die in der Praxis in den letzten Tagen liegengeblieben waren. Immer mal wieder hatten Patienten vor der Tür gestanden, die telefonisch nicht erreichbar gewesen waren, aber um kurz nach elf konnte ich den letzten Namen auf der Liste abhaken. Die nächste Woche würde für Dad stressig werden, zumindest ab Mittwoch - vorsorglich hatte ich den Montag und Dienstag freigehalten, weil wir nicht wussten, wann Dad zurückkommen würde.

Zwischendurch schaute Julian kurz herein. "Dad hat gerade angerufen, er rechnet damit, dass die Maschine so gegen zwei in Fuhlsbüttel landet. Warten wir mit dem Mittagessen?" "Klar, alles andere wäre Unsinn. Ich denke, wir essen heute abend warm?" Julian grinste. "Ich geh' eher davon aus, dass wir Pizza bestellen werden." "Oder so. Ich dachte, wir empfangen Nick mit einem typischen deutschen Essen?" Julian versuchte - mehr schlecht als recht - einen Bayern zu imitieren: "Des mach'n mer. Kraut, a Haxn und a Maß, hosts mi?" Ich schüttelte mich. "Julian, bitte - wir wollen ihn begrüßen und nicht vergraulen." Er zwinkerte mir zu. "Alles klar. Also Pizza."

Jason hatte mir zwischendurch ein wenig Gesellschaft geleistet, so dass mir nicht langweilig wurde. Um kurz nach eins schaute C.T. herein. Wie üblich sah er sich erst mal vorsorglich um, ob niemand mit einem weißen Kittel in der Nähe war - Dad hatte ihn bisher lediglich mal zu einer Kontrolluntersuchung überreden können. Aber selbst Dad hatte daraufhin eingesehen, dass bei C.T. kein Grund zur Sorge bestand - ich konnte mich jedenfalls kaum erinnern, dass es Patienten gab, bei denen absolut nichts zu machen war. "Hey, Richie, wir haben beschlossen, uns mal euren Probenraum auszuborgen - seid ihr beide dabei?" Ich warf einen Blick auf die restlichen Unterlagen und beschloss, dass die auch bis zum nächsten Tag warten konnten. "Klar, wir kommen gleich runter."

"Probenraum?", fragte Jason verwundert. "Ja ... Dad und Julian haben vor ein paar Jahren einen der Kellerräume in ein kleines Studio umgebaut, als wir unsere Leidenschaft für Musik entdeckt haben. Julian spielt Klavier und Keyboard, Anne hat ein paar Jahre lang Schlagzeug gespielt und Rip und ich spielen beide akustische und E-Gitarren." Jason zog die Augenbrauen hoch. "Wow, Respekt. Ich hab' mal angefangen, E-Gitarre zu spielen, bin aber nie weit gekommen." "Wenn du willst, zeig' ich dir mal was. Das ist wie Fahrradfahren - wenn du es erst mal kannst, verlernst du es so schnell nicht wieder", bot ich ihm an. Er hob abwehrend die Hände. "Na, mal langsam ... ich will erst mal sehen, was dabei rauskommt. Und wer spielt jetzt Schlagzeug, wenn Anne nicht da ist?" "Bobby und der ist richtig gut."

Unten im Probenraum hatten die Jungs schon ihre Instrumente ausgepackt. Julian und Mikey saßen zusammen an Julians Keyboard. C.T. hatte seinen Bass immer dabei, weil er gern mal unterwegs etwas übte. Dass Bobby Annes Schlagzeug mitbenutzen durfte, war schon lange ausgemachte Sache. Ich schnappte mir eine E-Gitarre und stimmte sie noch ein wenig nach. Jason setzte sich erstmal einfach so dazu. "Traut er sich nicht?", wollte C.T. mit einem Kopfnicken in Jasons Richtung wissen. Jason lachte. "Ich hör' euch erst mal zu, dann seh' ich weiter. Ich hab' seit einer Ewigkeit kein Instrument mehr in der Hand gehabt." "Genug gequatscht, Leute, lasst uns endlich anfangen", meldete sich Mikey vom Keyboard. "Okay, dann gib' mal was vor", forderte ich ihn auf.

"Okay ... wir haben da ein neues Stück geübt, kennt ihr aber. C.T., gibst du vor?" C.T. nickte und spielte ein kurzes, weil nur aus drei Noten bestehendes, Intro. Doch sofort fiel Mikey mit ein und nach ein paar Takten erkannte ich den Song: "Child in Time" von Deep Purple. Bobby stieg ebenfalls in das Stück mit ein. C.T. übernahm den Gesang - Mikey hatte eine sanfte Stimme und sang lieber Balladen, aber bei C.T. passte der Song gut. Die Gitarrenbegleitung war verhältnismäßig einfach, so dass ich gut improviseren konnte.

Als wir mit dem Song fertig waren, klatschte Jason Beifall. "Das klang gut." Die Jungs freuten sich über das Lob. Nicht nur die Jungs, auch ich freute mich, dass es Jason gefallen hatte. "Und, singst du mit?", erkundigte sich Bobby. Jason zierte sich ein wenig. "Ich kann mir keine Texte merken." C.T. grinste. "Nehmen wir ein einfaches Stück aus dem Buch da." Die meisten Liederbücher, die wir uns im Laufe der Zeit angeschafft hatten, lagen hier unten im Probenraum. Er blätterte ein wenig in einem davon. "Ah, hier ... What's up. Das ist gut." Bobby, Mikey und ich nickten zustimmend. Bobby gab den Einsatz und nachdem er anfangs noch etwas schüchtern war, traute sich Jason, mitzusingen.

Gegen halb zwei verabschiedete sich Julian: "Elijah und ich fahren los zum Flughafen und holen die anderen ab, bis später." Wir nutzten die Gelegenheit für eine kurze Pause und überlegten uns, welche Songs wir uns noch vornehmen wollten. Mittlerweile hatte auch Jason Spaß an der Sache und sang gut mit. Nach zehn Minuten hatten wir eine lange Liste fertig, die sicherlich für die nächsten zwei Stunden reichen würde.

Doch schon um viertel vor drei wurden wir unterbrochen. Über der Tür leuchtete eine Lampe auf - der Ersatz für die Klingel, weil wir hin und wieder das Studio auch nutzten, um selbst Songs aufzunehmen. Einen Moment später wurde jemand durch die Tür geschoben. Mir verschlug es im ersten Moment die Sprache und auch Jason sah ihn etwas verwundert an. Offensichtlich war es Nick und Anne hatte Recht gehabt: Die Ähnlichkeit zwischen ihm und mir war verblüffend. Sein Gesicht war etwas schmaler als meins und er hatte dunkle Ringe unter den Augen, aber ansonsten war die Ähnlichkeit wirklich erstaunlich.

Ich stellte meine Gitarre zur Seite und ging auf ihn zu. "Hi, ich bin Richie." Er lächelte ein wenig - immerhin ein Anfang. "Freut mich, ich bin Nicholas ... na ja, Nick", antwortete er schüchtern. Ich stellte ihm der Reihe nach die anderen vor. "Das hier ist Jason, hier drüben Bobby, das ist C.T. - eigentlich Colin, aber für uns nur C.T. - und der da hinter dem Keyboard ist Michael, oder Mikey. Jungs - das ist Nick." Die anderen begrüßten Nick mit Händeschütteln und "Schön, dich kennenzulernen." Nick musterte Jason neugierig, als würde er ihn erkennen.

"Kann es sein, dass ich dich schon mal irgendwo gesehen habe?", fragte er. Jason lächelte. "Ja, kann angehen." Nick zögerte einen Moment, dann hakte er nach: "Hm ... ich komm' im Moment nicht drauf, aber es fällt mir bestimmt noch wieder ein. Aber aus Scarborough kommst du nicht, oder?" Jason lachte. "Nein, ich komme gebürtig aus Oregon in den USA." "Natürlich!", rief Nick. "Sorry, dass ich dich nicht sofort erkannt habe." Jason zuckte mit den Schultern, immer noch lachend. "Das macht überhaupt nichts."

Offensichtlich war Nick das ganze sehr peinlich, denn er wurde rot und wechselte schnell das Thema. "Nett habt ihr es hier. Spielt ihr alle?", fragte er. Ich nickte. "Naja ... einige versuchen es wenigstens." Ich zwinkerte Jason zu, der gut parierte: "Stimmt, Richie, aber du hast schon gut dazugelernt, das kann man nicht anders sagen." Ich knuffte ihn vorsichtig in die Rippen, er wich mir geschickt aus und holte im Spaß aus. Doch lange kabbelten wir uns nicht. "Friede?" Ich hielt Jason meine Hand hin. Der grinste und küsste mich auf die Wange. "Okay, Friede."

Mit der Reaktion hatte ich nicht gerechnet - und vor allem wollte ich Nick etwas sanfter beibringen, was ihn bei uns erwartete. Diese Art Outing war eher die Holzhammer-Methode. Bobby räusperte sich auch schon und wir beide drehten uns leicht verwirrt zu Nick um. Mein Kopf wurde ziemlich heiß, aber Nick sagte nur lächelnd: "Lasst euch durch mich nicht stören." Ich stotterte: "Äh ... tja ... wie du dir wohl denken kannst ... wir beide sind zusammen." "Für mich ist das kein Problem", antwortete Nick. Doch er sah dabei nicht mich an, sondern regelrecht durch uns beide hindurch ...

Lesemodus deaktivieren (?)