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Little Lies

Teil 7

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kein langes Vorwort, nur für alle die sich über die technischen Spielereien wundern: achtet auf das Datum *grins*

Janosch: Sommer 2003

»Ich bin wieder da!«, rief ich, während ich meine Schultasche in die Ecke stellte. »Hallo, Schatz, ich bin im Büro«, antwortete Mum. Ich grinste - wenn Mum im Büro war, dann würde sie völlig in ihre Arbeit vertieft sein. »Na, woran schreibst du gerade?«, fragte ich sie. »Einen kleinen Testbericht über die Kiste dort.« Sie deutete mit einem Kopfnicken in die Ecke. Dort stand ein brandneuer PC. »Was ist daran so besonders?« »Hm ... ein 3,6 Gigahertz-Prozessor, ein GB RAM, eine Festplatte mit 120 Gigabyte, 32-Fach-DVD-Brenner, eine 128-MB-Grafikkarte, 18-Zoll-TFT-Display, Webcam und so weiter, außerdem ist die Kiste komplett nach Kundenwunsch fertig konfiguriert und das ganze für einen Spottpreis ... das neue Angebot von einem unserer Anzeigenpartner. Tja, und die sind so überzeugt davon, dass sie uns einige Geräte zum Härtetest zur Verfügung gestellt haben.«

»Aber du wirst doch kaum die Zeit zum Testen haben, oder?«, fragte ich, natürlich nicht ganz ohne Hintergedanken. »Nein, ich nicht, aber ihr. Häng' die Kiste nachher mal ins Netz, du hast den Rechner eine Woche zur Verfügung. Installier' dir was du willst, surf' damit durchs Internet, mach' Videokonferenzen und was auch immer - der Rechner wird ausdrücklich als Familien-PC gelobt, und das wollen wir doch mal sehen.« Mum zwinkerte mir zu. Auf diese Antwort hatte ich gehofft: »Genau - der Hersteller wird nicht mit uns gerechnet haben. Ich frag' Rip mal ob der Lust auf eine kleine Videokonferenz hat, der hat nämlich letzte Woche dieselbe Hardware als Notebook bekommen.« Jetzt grinste Mum. »Ich weiß.« »Woher weißt du das denn schon wieder?« »Weil wir gestern Abend zusammen essen waren.«

Jetzt wurde es interessant. »Und, weiter?« Sie errötete leicht. »Nichts weiter, Rip hat mich eben zum Essen eingeladen und anschließend waren wir im Kino.« »Welcher Film?« »Hey, wird das ein Verhör? Der Film hieß 'Terminator III', der Hauptdarsteller war Edward Furlong.« »Der lief doch noch gar nicht?« Mum grinste noch mal. »Gestern Abend war Sneak Preview.« Okay, Punkt für sie. »Und, wann trefft Ihr euch wieder?« Mum lachte. »Hey, nicht so neugierig, junger Freund!«

Ich schüttelte den Kopf. »Mum, bitte - du willst mir doch nicht erzählen, dass da nicht mehr läuft zwischen euch, oder?« Mum seufzte. »Ich mag Rip einfach. Er ist toll, genau der Mann, den ich mir wünschen würde. Weißt du, er ist der totale Gegensatz von Dad.« Ich nickte. »Ja, das glaube ich auch.« »Und ihr beide versteht euch sowohl mit ihm als auch mit dem Rest der Familie gut, das ist mir auch wichtig.« Ich grinste. »Hey, vergiss' nicht womit das alles angefangen hat.« Mum nickte. »Ja ... mit der Hiobsbotschaft dass du auf der Go-Kart-Bahn fast ein Fahrzeug verschrottet hättest, als du in Richies Freund gerast bist.« »Hey, so war ...«

Ich wurde von Luke unterbrochen, der lachend hereinkam. »Nein, Mum, umgekehrt. Hi erstmal.« »Hi Luke.« »Hi, wieso umgekehrt?«, fragte Mum. Luke ließ sich in einen Sessel in der Ecke fallen. »Weil Janosch für diesen Beinahe-Crash nichts konnte - Jason ist ihm fast ins Kart gefahren, nicht umgekehrt.« Ich grinste. »Siehst du, Mum - hör' auf meinen großen Bruder.« »Wie kommt ihr eigentlich darauf?«, fragte Luke. »Mum war gestern mit Rip essen.« Luke grinste, genauso vielsagend wie ich vorher. »Ach?« Mum stöhnte und schob mich aus dem Zimmer. »Ab in die Küche, es gibt Mittagessen.«

Während des Essens besprachen wir den restlichen Tagesablauf. »Hast du nicht heute Nachmittag einen Termin bei Rip, Janosch?« Ich nickte. »Jupp - so wie Rip letztes Mal gesagt hat, wird es wohl der letzte werden.« Luke grinste und warf einen Seitenblick auf Mum. »Na ja, der letzte offizielle.« Mum räusperte sich, und Luke sprach schnell weiter. »Soll ich dich mitnehmen? Ich bin sowieso mit Jason und Richie verabredet.« Ich nickte. »Klar, warum nicht?« Somit war das auch schon wieder geklärt.

Um Viertel nach drei waren wir bei Rip. Ich hatte meinen Termin zwar erst um vier, aber momentan war bei Rip nicht viel los und in der Hinsicht war er flexibel. »Hallo Jungs.« »Hi Rip. Sag' mal, willst du Mum öfter zum Essen ausführen?«, fragte Luke, schon wieder mit diesem süffisanten Grinsen im Gesicht. Rip zuckte mit den Schultern. »Wer weiß ... hättet ihr was dagegen?«, fragte er. Die Frage war zwar in einem scherzhaften Ton gestellt, aber ich hatte das Gefühl, als ob er diese Frage sehr ernst meinte. Luke schüttelte den Kopf. »Nein, kein Stück.« Rip zwinkerte uns zu. »Gut, dann können wir ja zur Tagesordnung übergehen. Aber bevor ich es vergesse: Samstagabend ist eine kleine Feier geplant, seid Ihr dabei?« »Och, wenn's ums Feiern geht immer. Was ist denn der Anlass?«, fragte ich.

Rip strahlte übers ganze Gesicht. »Julian hat heute Bescheid bekommen, dass er ab sofort seinen Doktortitel führen darf.« Ich schluckte. »Au weia ... aber meine Behandlung führst du zu Ende, oder?« Rip grinste. »Julian hat mich zwar gefragt, wen er als Versuchskaninchen gebrauchen darf, aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Wir alle wussten, wie das gemeint war - die eigentliche Abschlussprüfung hatte Julian schon vor über einem Jahr gemacht und seitdem immer in der Praxis mitgearbeitet. »Aber wenn wir schon gerade bei dem Thema sind - Janosch, du kannst gleich mitkommen. Luke, Richie und Jason sind oben.« Luke nickte und verabschiedete sich dann von mir. »Soll ich dich nachher abholen?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich muss noch zur Gruppe.« »Okay, dann bis heute Abend.«

»Wie läuft's eigentlich mit der Therapie?«, fragte Rip, während wir in die Praxis hinübergingen. »Gut. Es hilft vor allen Dingen, wenn man weiß, dass man nicht allein da steht.« Rip nickte. »Wenn ich so über die letzten Jahre zurückdenke, hast du dich ganz schön verändert - zum Guten.« »Wieso?« »Na ja, ich weiß noch ziemlich gut, wie du gewirkt hast, als ihr damals zu uns gekommen seid und mir das ganze erzählt habt.« Ich nickte langsam. »Ja, ich auch.« »Siehst du. Damals warst du 14, wirktest insgesamt ziemlich verletzlich und warst total schüchtern. Der Einzige, mit dem du dich ein bisschen anfreunden konntest, war David. Und jetzt - schau' dich an. 17 Jahre alt und aus dem schüchternen Typen ist ein ziemlich reifer Teenager geworden.«

Ich winkte ab. »Nicht wirklich ... da fehlt mir noch einiges.« Rip zuckte mit den Schultern. »Klar - aber das wichtigste hast du hinter dir, denke ich. Setz' dich schon mal hin.« Ich setzte mich in den Behandlungsstuhl, der mir am Anfang verhasst war, an den ich mich aber mittlerweile gewöhnt hatte. »Wie geht es David eigentlich?«, fragte ich Rip, während er mir die Serviette umhängte. »Bestens - er fühlt sich in Michigan pudelwohl.« »Ich würde ihn gern mal wiedersehen«, sagte ich nachdenklich. »Das lässt sich bestimmt mal einrichten - ich denke, er hätte auch nichts dagegen. Er war, glaube ich, für dich in dieser Zeit genau der Freund, den du gebraucht hast.« »Ja, stimmt.« Ich lachte. »Weißt du noch, als ich damals erfahren habe, dass er schwul ist? Ich bin fast durchgedreht.«

Rip schüttelte den Kopf. »Nicht nur fast - du bist durchgedreht, was aber in der Situation auch nur zu verständlich war.« »Wieso?« »Mach' den Mund auf und ich erklär's dir währenddessen, dann redest du wenigstens nicht dazwischen«, grinste er. Mittlerweile konnten wir auch über meine Vergangenheit recht offen reden. Ich öffnete also meinen Mund, und während Rip mich untersuchte, erläuterte er mir seine Meinung dazu. »Du bist damals von einem anderen Mann missbraucht worden, von deinem Vater, der dir sehr nahestand. Mit David hat sich .... beiß' mal zu ... in kurzer Zeit auch eine sehr tiefe Freundschaft entwickelt, du hast ihm vertraut. Ich kann mich noch an manche Nacht erinnern, in der ich nach euch gesehen habe ... aufmachen ... und ihr Arm in Arm im Bett gelegen habt. Die Ausgangssituation war ähnlich - David war für dich so ein bisschen das, was Jochen hätte sein sollen, er hat dich beschützt und war für dich da. Na ja, du hast ihm vertraut, hast den Körperkontakt zugelassen und dann erfährst du .... leg' mal den Kopf nach hinten, danke ... dass er schwul ist. Er, mit dem du ein Bett geteilt hast, dem du mehr erlaubt hast als jedem anderen. Janosch, in deiner Situation hätte jeder so reagiert, ohne Zweifel.«

Ich konnte gerade wieder reden und nutzte die Gelegenheit auch sofort. »Bei Jason und Richie wusste ich aber doch auch, dass sie schwul sind?« Rip nickte, während er einen Abdrucklöffel vorbereitete. »Aufmachen, zubeißen, zwei Minuten still halten. Bei Jason und Richie war das etwas anderes, bei ihnen bestand für dich nie die Gefahr, dass sie irgend etwas von dir wollten, und das war dir insgeheim klar. Das war es bei David zwar auch, aber da waren die Erinnerungen noch viel zu frisch.« Rip nahm den Löffel heraus und schob gleich den zweiten hinterher. »Noch mal das Ganze. Janosch, das Ganze ist zum Glück Vergangenheit, aber du wirst auch in Zukunft noch einige Male damit konfrontiert werden, dessen kannst du dir sicher sein. Es wird hart werden, aber du hast alle Menschen, die du brauchst, um dich herum. Und du bist stark geworden, noch stärker als vorher. Du würdest mittlerweile nicht mehr zulassen, dass so etwas passieren würde. Aufmachen.« Rip nahm den zweiten Abdrucklöffel heraus und drückte mir einen Plastikbecher mit Wasser in die Hand. »So, du kannst spülen.«

Als ich damit fertig war, gingen wir in die Röntgenkammer. »Du kennst das Prozedere, eine Gesamtaufnahme und eine seitliche Aufnahme.« Ich nickte. »Ist ja nicht das erste Mal.« »Eben. So, stillhalten.« Während sich der Röntgenapparat um meinen Kopf herum drehte, dachte ich über das nach, was Rip gesagt hatte - ich würde damit in Zukunft noch konfrontiert werden. Das konnte ich mir in diesem Moment beim besten Willen nicht vorstellen. Ich fühlte mich innerlich stark, schließlich hatte ich seit drei Jahren eine gute Psychologin, die mir half, das Ganze aufzuarbeiten, und dann war da noch die Gruppe. In dieser Gruppe fanden sich Jungs zusammen, denen es ähnlich ergangen war wie mir. Wir konnten über all das reden, was uns passiert war, und die anderen verstanden, was man dabei empfand - diesen Ekel, diese Abscheu, wenn man wieder auf eine Art und Weise angefasst wurde, die man nicht ausstehen konnte. Mittlerweile war ich jedoch soweit, dass ich unterscheiden konnte, wie so eine Berührung gemeint war.

»Komm, setzen wir uns 'rüber ins Büro«, schlug Rip vor, als wir mit den Röntgenaufnahmen fertig waren. Er stellte mir einen Becher Kaffee hin. »Janosch, du hast knapp fünf Jahre kieferorthopädische Behandlung überstanden, und ich denke, ich kann dir hiermit sagen: wir sind fertig.« Ich strahlte. »Ernsthaft?« Rip nickte. »Ja. Ich will noch eben die Röntgenbilder und die Abdrücke abwarten, aber hier - schau' selbst, zum Vergleich.« Er hielt mir einen Spiegel und eine Schachtel hin. In dieser Schachtel lagen die ersten Abdrücke, die er damals gemacht hatte, und jetzt fiel mir der Unterschied wirklich auf. »Wow ... und das alles nur mit so einem bisschen Metall.« Rip schüttelte den Kopf. »Nein, nicht nur. Ein Kieferorthopäde kann immer nur die technische Seite bewerkstelligen, aber wenn der Patient nicht mitarbeitet, dann kann auch der beste Arzt nichts machen. Und du hast hervorragend mitgearbeitet, sonst hättest du jetzt nicht dieses Ergebnis.«

Hm ... wenn Rip das sagte, würde es wohl stimmen, schließlich war er der Fachmann auf dem Sektor. Davon abgesehen, dass mich dieses Lob natürlich unheimlich freute. Aber dennoch war mir nicht ganz klar, was Rip meinte. »Was kann denn zum Beispiel schiefgehen?« »Das Hauptproblem ist eigentlich mangelnde Zahnpflege. Was nützt es, wenn die Zähne gerade sind, aber dafür zum Beispiel überkront oder plombiert werden müssen? Okay, dank der Kunststoff-Füllungen sieht man das fast nicht mehr, aber so was ist immer nur ein Ersatz.« Langsam konnte ich ihm folgen. »Ein Klassenkamerad von mir hat auch drei Jahre eine feste Spange getragen, und bei dem sieht man ziemlich deutliche weiße Ränder auf den Zähnen - meinst du so was?« Rip nickte. »Ja, genau. Aber zum Glück betrifft Dich das ja nicht«, fügte er augenzwinkernd hinzu.

Julian kam mit den restlichen Unterlagen und den neuen Abdrücken herein, die Rip sofort unter die Lupe nahm. »Hi Janosch.« »Hi Julian - herzlichen Glückwunsch erstmal, Herr Doktor.« Er lächelte. »Danke, konnte mein Vater mal wieder seinen Mund nicht halten?« »Das muss in der Familie liegen«, brummte Rip hinter seinem Schreibtisch. »Rip, in der Familie liegt höchstens der Job - du weißt genau, dass ich das ohne dich nie geschafft hätte«, erwiderte Julian. Rip winkte ab, immer noch mit den Unterlagen beschäftigt. »Die Prüfung hast du gemacht, die Doktorarbeit hast du selbst geschrieben - ich hab' sie ja bis jetzt noch nicht mal gelesen.« Julian nickte. »Ja, weil ich erst mal warten wollte, ob alles klappt oder nicht. Aber das Skript liegt schon auf dem Server, du kannst gern 'reinschauen. Ach ja, wenn du mein Urteil hören willst: Janosch hat die Behandlung hinter sich, würde ich sagen.«

Rip nickte. »Ja, das würde ich auch sagen.« Dann fügte er grinsend hinzu: »Wenn du nicht gerade über ein Zungenpiercing nachdenkst wirst du vorläufig kein Metall mehr im Mund haben.« »Nee, danke - wobei Luke ja immer davon schwärmt, wie toll das bei Jessica ist.« Julian setzte an. »Das ohne Frage, aber mit einem Zungen...« »Julian, Ruhe. Janosch ist mit der Behandlung durch, jetzt halt' ihm bitte keinen Vortrag darüber«, unterbrach ihn Rip lachend. »Okay, kein Problem. Janosch, wie sieht's aus - seid ihr am Samstag da?« Ich nickte. »Ja, auf jeden Fall - wenn's was zu Feiern gibt doch immer.« »Okay, dann bis Samstag - ich will endlich nach Hause zu Natalie.« »Bestell' Ihr einen schönen Gruß von uns.« »Mach' ich.«

Julian und Natalie hatten im Herbst des vergangenen Jahres endlich geheiratet, nachdem sie schon drei Jahre zusammen gewohnt hatten. Mum und Rip waren dabei die Trauzeugen gewesen. Was mich wieder auf eine andere Frage brachte. »Warum hast du vorhin eigentlich gefragt, ob es uns recht ist, wenn du mit Mum ausgehst?«, fragte ich Rip. Der zündete sich erst mal eine Zigarette an. »Weil ich Euch nicht das Gefühl geben möchte, dass ich euch eure Mutter wegnehme.« »Also ist das was festes zwischen euch beiden?« »Hm ... um ehrlich zu sein, ich mag sie unheimlich gern, Janosch, und von mir aus könnte das auch gern mehr werden. Aber Jochen ist noch nicht mal drei Jahre tot, und ich möchte ihr einfach noch ein bisschen Zeit geben. Wenn sie bereit dafür ist, dann würde ich es liebend gern mit ihr versuchen.« »Und wir können dann Dad zu dir sagen?« Rip lachte. »Hey, selbst meine eigenen Kinder sprechen mich nur mit meinem Vornamen an. Aber wenn es soweit ist, und du möchtest, habe ich damit keine Probleme.«

Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, wie das wohl werden würde - Rip zum Vater zu haben. Rip, der mir in den letzten Jahren ohnehin schon ein besserer Vater gewesen war, als mein richtiger es auch nur ansatzweise geschafft hatte. Doch, ich konnte mir das sehr gut vorstellen. »Soll ich Mum einfach mal fragen?«, schlug ich vor. Rip schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, Janosch. Das ist zwar lieb gemeint von dir, aber das muss ich selbst mit ihr klären. Ich möchte nicht, dass sie das Gefühl hat, ich würde dich vorschicken, denn das habe ich nicht vor. Ich denke, irgendwann wird der richtige Zeitpunkt kommen, ich weiß nur noch nicht wann.« »Dass das bei euch Erwachsenen immer so kompliziert sein muss mit der Liebe.« Rip grinste. »Die Erfahrung wirst du auch noch machen, Kleiner.«

Wir unterhielten uns noch ein bisschen und schließlich musste ich los zur Gruppe. Es war eine lockere Gesprächsrunde, wir waren sechs Jungs zwischen 14 und 19. Mittlerweile kannten wir uns schon länger und wussten ziemlich viel voneinander. Es war schon einige Male vorgekommen, dass einer von uns während eines Gesprächs von den Erinnerungen überrollt wurde - fast jedes Mal passierte das. Insbesondere Martin, unser jüngster, hatte sehr mit den Erfahrungen, die er erleiden musste, zu kämpfen. Aber auch mir war das schon einige Male passiert, meistens wenn jemand etwas erzählte, dass ich nur zu gut nachvollziehen konnte. Und ich wurde immer wieder daran erinnert, wenn ich im Schwimmbad gemustert wurde oder nach dem Duschen vor dem Spiegel stand. Die Brandnarben von den Zigarettenkippen auf meinem Bauch und meinem Rücken waren immer noch deutlich zu sehen, wenn auch nicht mehr so schlimm wie vor drei Jahren.

Trotz der Erinnerungen, trotz der Tränen - jeder Nachmittag, an dem wir uns trafen, brachte uns einen Schritt weiter. Karin, unserer Therapeutin, hatte uns von vornherein gesagt, dass wir uns erst mal unseren Erinnerungen stellen mussten, wenn wir uns dazu in der Lage fühlten, und dann anfangen konnten, darüber zu reden und damit umzugehen. Sie war Anfang vierzig und hatte selbst einen Sohn in unserem Alter. »Ich möchte heute mal mit Euch über Liebe und Beziehungen sprechen. Wer von euch hatte denn schon mal eine Freundin oder hat gerade eine?« fragte sie. Es meldete sich keiner. Sie erzählte ein bisschen über die erste Liebe, vor allem aber versuchte sie uns zu sagen, dass wahre Liebe etwas Wunderschönes sein konnte. »Dazu gehört auch, dass ihr Euren Partner an euch heran lasst. Das kann mit einer Umarmung anfangen, aber irgendwann wird mehr kommen. Ihr werdet euch küssen, die Berührungen werden intensiver. Ich möchte, dass ihr dann wisst, dass diese Berührungen ehrlich gemeint sind, dass sie von Herzen kommen, dass euch diese Person nichts böses will.

Aber seid euch auch darüber im klaren, dass das nicht einfach so geht, dass ihr denkt 'Okay, ich weiß dass die mir nichts böses will', sondern ihr müsst wirklich daran glauben und müsst es spüren.» «Das muss doch nicht zwangsläufig die Freundin sein, oder?» Sie schüttelte den Kopf. «Nein, Janosch - es gibt auch andere Menschen, die man auf ihre eigene Art lieben kann, ohne eine Beziehung im Sinne einer Partnerschaft zu führen.» Ich musste an David denken - bei ihm war es wohl so etwas gewesen. Wieder ging mir die Szene durch den Kopf, der Nachmittag an dem er gesagt hatte: «Ich bin schwul.» Ein Jahr später hätte er wohl hinzugefügt: «Und das ist gut so.» Das ganze erschien mir unheimlich weit weg, und ich war mir sicher, dass mir so etwas nie wieder passieren könnte. Alles in allem verbuchte ich auch diesen Nachmittag als erfolgreich.


Samstagabend, bei Rip im Garten

Julian und Natalie empfingen uns an der Haustür. Mum umarmte Julian kurz. "Herzlichen Glückwunsch, Julian!" "Danke, Lynn. Schön, dass ihr kommen konntet." Wir gingen direkt weiter in den Garten, wo Mum und Rip sich zur Begrüßung ebenfalls umarmten. Es waren schon eine ganze Menge Leute da, auch einige gemeinsame Bekannte von uns, die wir im Laufe der Zeit bei Rip kennengelernt hatten oder die Jungs und Anne bei uns. Anne war auch da, aber Elijah konnte ich nirgendwo sehen. "Wo ist denn dein Mann?" fragte ich sie. "Der muss leider drehen - es ging nicht anders, er wäre gern hier gewesen." "Schade. Was macht er denn gerade?" Sie zwinkerte mir zu. "Ich hab' ihm versprechen müssen, nichts Genaues zu verraten, aber nur soviel: es wird die Verfilmung eines Bestsellers." "Okay, ich frag' nicht weiter."

Wir unterhielten uns noch ein bisschen, und plötzlich wurde ich von einem freudestrahlenden Richie fast umgerannt. »Hey, was ist denn mit dir los, Bruderherz - mach' mal halblang«, bremste Anne ihren Bruder. Der fiel ihr statt einer Antwort einfach um den Hals. Anne, etwas geschockt in Anbetracht dieser unerwarteten Liebesbekundung, wusste nicht so richtig wie sie reagieren sollte. »Hättest du die Güte, uns an deiner Freude teilhaben zu lassen?« »Uns?« Er drehte sich zu mir um. »Oh, hi Janosch - ich hab' dich gar nicht gesehen.« Ich nickte. »Ja, das hab' ich gemerkt - du hast mich fast über den Haufen geworfen.«

Richie setzte das für ihn typische schelmische Grinsen auf. »Sorry, Kleiner, war keine Absicht.« Mit diesen Worten verwuschelte er mir die Haare, woraufhin ich mich ganz schnell zurückzog. »Nicht die Frisur!« Richie lachte. »Hey, so wie du darauf reagierst, könnte man fast meinen, du gehörst an unser Ufer.« Anne tippte Richie auf die Schulter und verhinderte somit, dass wir diese Diskussion weiter vertiefen konnten. »Was ist denn jetzt los?« »Ich bin an der UCLA aufgenommen, hier ist der Brief!« Er wedelte begeistert mit einem Stück Papier. »Hm, du willst wohl die alten Familientraditionen fortsetzen?«, erkundigte ich mich. Ich wusste zufällig, dass Rip dort auch studiert hatte. Richie schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde an die Academy of Arts gehen, Rip war an der SoDaUCLA.« Richie sprach diese Abkürzung als ein Wort aus. »An der was bitte???«, fragte ich irritiert. »An der School of Dentistry at the University of California Los Angeles«, erklärte Richie.

»Und was ist mit dem Studium hier in Hamburg? Du hast doch schon drei Jahre hinter Dir?« Richie nickte. »Ja, das wird angerechnet, wenigstens teilweise. Aber das Studium an der UCLA ist viel praxisbezogener als hier.« Anne schüttelte den Kopf. «Richie, beruhige dich - wenn du damit rechnest, dass du in drei Monaten mit den Dreharbeiten zu deinem ersten Film beginnen wirst, hast du dich wohl geschnitten.« »Klar, das weiß ich auch. Aber wenigstens werde ich dort die Gelegenheit bekommen, mal ein bisschen in die Branche 'reinzuschnuppern und ein paar Kontakte zu knüpfen.« Richie freute sich wie ein kleines Kind. Ich hörte den beiden noch ein wenig zu und ließ sie dann allein.

Als ich mich umdrehte und mir etwas zu essen holen wollte, stieß ich mit jemandem zusammen. »Oh, tut mir leid«, sagte derjenige - ein Junge ungefähr in meinem Alter, schätzte ich. »Kein Problem, ich hätte ja besser aufpassen können.« Er grinste schüchtern. »Ich bin Lars.« »Ich heiße Janosch.« Ich hielt ihm zur Begrüßung meine Hand hin, die er nach einem kurzen Zögern auch ergriff. Also wenn man vom Händedruck eines Menschen auf die Persönlichkeit schließen konnte, hatte ich es hier mit einem sehr unsicheren Menschen zu tun. Ich wusste nicht, ob das stimmte, ich hatte es nur mal irgendwo gehört.

Wir standen uns einen Moment gegenüber und keiner wusste, was er sagen sollte. Ich musterte ihn von oben bis unten - er war etwas größer als ich, ziemlich schlaksig, trug eine Brille, die mich ein bisschen an John Lennon erinnerte, und wirkte etwas nervös - aber irgendwie war er mir sofort sympathisch. Ich fragte mich allerdings, wie er hierherkam. »Bist du auch bei Rip in Behandlung?« Er winkte sofort ab. »Nee - ich kann Zahnärzte eigentlich nicht ausstehen, zumindest nicht in ihrem Job. Aber mein Bruder hat mit Julian zusammen studiert und mich heute Abend mitgenommen.« »Aha. Na komm, wir holen uns was zu essen, solange noch was da ist«, schlug ich vor. Er folgte mir wortlos - er schien allgemein nicht der Typ zu sein, der viel redete.

Zwischendurch bat Julian um Gehör, wie er sich ausdrückte. »Leute, erst mal freue ich mich, dass ihr alle hier seid. Wir haben euch bisher nur gesagt, dass ich meinen bestandenen Abschluss feiern will ...« - Julian untertrieb mal wieder maßlos, ein Doktortitel war schon etwas mehr als nur ein Abschluss - »... aber gleichzeitig gibt es noch einen anderen Grund. Natalie und ich haben lange überlegt, wie es nach dem Studium weitergehen soll.« Natalie hatte Informatik studiert und arbeitete seid anderthalb Jahren bei einer Firma, die Spezialsoftware für Architekten entwickelte. »Wir haben eine Menge Pläne gemacht, aber vor einigen Tagen haben wir dann etwas erfahren, dass unsere Pläne wieder komplett über den Haufen geworfen hat ... wir werden wahrscheinlich im Januar Eltern werden.« Einen Moment herrschte Stille, dann brach Beifall aus.

Bei dem Gedanken daran, dass Rip sich jetzt an die Anrede »Opa« gewöhnen musste, konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Julian und Natalie wurden erst mal von ihren Freunden in Beschlag genommen, die paar Anwesenden Erwachsenen verzogen sich in eine eigene Ecke, und Anne unterhielt sich mit Jason und Richie. Lars und ich suchten uns ein gemütliches Fleckchen im Garten, neben Rintys Hütte. Rinty selbst war sofort bei mir und ließ sich von mir streicheln - später auch von Lars, nachdem er gemerkt hatte, dass wir beide uns recht gut verstanden.

Wir verbrachten fast den ganzen Abend zusammen, und im Laufe der Zeit taute er auch ein wenig auf. Er ging wie ich noch zur Schule, wohnte allerdings in einem anderen Viertel von Hamburg. Außerdem machte er viel mit Computern, das schien absolut seine Welt zu sein, wie die Technik allgemein. Irgendwann waren wir beim Thema Internet angelangt und hatten ein Gesprächsthema gefunden, in dem wir uns austauschen konnten. Als sich der Abend dem Ende zuneigte und sein Bruder nach Hause wollte, hatten wir unsere E-Mail-Adressen ausgetauscht und uns fest vorgenommen, in Verbindung zu bleiben.


Knapp zwei Wochen später

Endlich Ferienanfang! Mein Zeugnis war ganz passabel ausgefallen, das Wetter war gut und ich hatte sechs Wochen Ruhe vor der Schule - es war einfach himmlisch. Noch ein Jahr, und ich würde das alles hinter mir haben. Aber erst mal hatte ich für den Nachmittag ein Treffen mit Lars geplant. Wir hatten uns seid dem Treffen bei Julians Feier regelmäßig gemailt und verstanden uns von Mal zu Mal besser. Wir gingen beide gern ins Kino und hatten auch im Bezug auf einige Schauspieler gemeinsame Interessen. Was mich aber viel mehr beschäftigte, war Lars selbst. Ich hatte ziemlich oft an ihn gedacht. Erklären konnte ich es mir nicht, das Gefühl war ähnlich wie bei David, aber ein bisschen anders ... intensiver. David vermisste ich immer noch, aber da reichte mir die Gewissheit, dass ich ihn irgendwann mal wiedersehen würde. Bei Lars war das anders. Ich konnte es kaum erwarten, ihn zu treffen und spürte ein leichtes Kribbeln in der Magengegend, wenn ich nur an ihn dachte.

Er war pünktlich um halb vier bei mir, wie verabredet. Offensichtlich freute er sich auch, mich zu sehen. »Ich hab' mir schon Sorgen gemacht, dass was dazwischengekommen sein könnte«, sagte ich, noch bevor ich darüber nachgedacht hatte. Er nickte. »Ja, so was hab' ich auch befürchtet, aber es ist ja nichts passiert.« Ich stellte ihn kurz Mum vor, dann gingen wir nach oben in mein Zimmer und setzten uns erst mal an den Rechner. Er hatte eine selbst gebrannte CD mitgebracht, die bis obenhin vollgepackt war. Darauf war unter anderem auch eine Liste mit seinen Lieblings-Homepages, die er mir zeigen wollte. Da wir schon seit zwei Jahren eine Flatrate hatten, brauchten wir nicht auf die Kosten zu achten und klapperten gemütlich alles ab.

Lars hatte die Liste nicht großartig sortiert, sondern nur mit auf den Rohling kopiert. Er rief die Seiten alle so nach und nach auf, aber plötzlich wurde er ziemlich nervös. Ich warf einen Blick auf den Bildschirm, aber alles, was ich noch sehen konnte, war 'Seite für schwule Jungs'. Auch mein Herz setzte eine Sekunde lang aus ... es war weniger die Erinnerung an David, sondern mir schoss plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. Woher konnte dieses Kribbeln im Bauch kommen? »Bist du schwul?«, fragte ich ihn. Er sah mich unsicher an, und schließlich sagte er leise: »Ja.« Ein paar Sekunden später schob er etwas lauter hinterher: »Ich hoffe, du hast damit kein Problem?« Ich schüttelte geistesabwesend den Kopf. »Nein, ein paar von meinen Freunden sind auch schwul ...« Ich musste wieder an David denken. An Jason und Richie, die sich küssten und umarmten. An Nick und seinen Freund - er hatte mir einige Fotos von ihm gezeigt, sowohl von Davey als auch von seinem zweiten Freund Jeremy, mit dem er fast zwei Jahre zusammen gewesen war.

Eine ganze Weile sagte ich gar nichts, und Lars wusste offensichtlich auch nicht, wie er reagieren sollte. Schließlich stand er auf. »Ich geh' dann wohl besser, dann kannst du erst mal in Ruhe darüber nachdenken«, schlug er vor. »Lars, warte ...« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Wir können uns ja mailen.« Er hätte fast Mum umgerannt, die gerade mit einer Flasche Cola und zwei Gläsern in der Hand hereinkam. »Huch, willst du schon los?« Er nickte. »Ja ... ich ... ich hab' noch was vor, tut mir leid.« Ich stand auf und ging ihm hinterher. »Lars, ich hab' damit kein Problem.« Er sah mich kurz an. »Aber akzeptieren kannst du es auch nicht. Bis die Tage.« Und er war verschwunden.

Mum stand noch in meinem Zimmer, als ich ziemlich niedergeschlagen hereinkam. »Was war denn das für ein Abgang?«, fragte sie verwundert. »Ich weiß es auch nicht.« »Willst du drüber reden?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich muss erst mal selbst einen klaren Kopf bekommen.« »Okay. Wenn du mich brauchst, ich bin in der Küche.« Sie strich mir sanft übers Haar und ging dann nach draußen. Ich legte mich auf mein Bett und starrte an die Decke, während ich meinen Gedanken nachhing. Ich hatte wohl nicht viel dazugelernt, seit damals das Ganze mit David passiert war. Dann fiel mir etwas ein ... und ich hatte richtig gedacht. In der Liste der zuletzt besuchten Homepages stand auch noch die Seite, die Lars vor mir hatte verbergen wollen.

Ich zögerte einen Moment lang, dann beschloss ich, mir die Seite einfach mal anzuschauen. Hm ... Jungs, Jungs, überall Jungs. Na ja, es war eben eine Homepage für schwule Jugendliche. Es gab Artikel, Nachrichten, Film- und Musiktipps, Links - im Prinzip sah diese aus wie ein ganz normales Jugendmagazin, nur dass es sich ausschließlich um Jungs drehte.

Nach einigem ziellosen Klicken und Lesen der Artikel landete ich auf einer Seite mit Links, und dort fiel mir das Wort »Geschichten zum Coming-Out« auf. Das Wort hatte ich irgendwo schon mal gehört. Ich rief die Seite auf, fing an zu lesen ... und als ich das nächste Mal auf die Uhr schaute, war es kurz nach halb acht. Diese Geschichten von den Jungs hatten mich fasziniert. Ich wusste immer noch nicht, wie ich auf Lars und sein plötzliches Verschwinden reagieren sollte, und überhaupt war ich irgendwie durcheinander.

Ich beschloss erst mal eine Nacht über das Thema zu schlafen, aber das gelang mir nicht so richtig. Nachdem ich mich einige Stunden im Bett hin- und hergewälzt hatte, setzte ich mich noch einmal vor den Rechner und las weiter. Genauso sehr wie Lars faszinierte mich plötzlich das Thema Schwule Jungs, und langsam nahm ein Gedanke Gestalt an, der mich zunächst erschreckte. Ich hatte das Gefühl, als würde ich mich zum ersten Mal wirklich mit diesem Thema auseinandersetzen. Nachdem ich diesen Gedanken irgendwann halblaut ausgesprochen hatte, nur so laut, dass ich ihn hören konnte, wurde ich ruhiger und legte mich wieder ins Bett.

Da ich Ferien hatte, ließ Mum ich ausschlafen. Als ich aufwachte, war es schon kurz nach zwei. Ich hatte schließlich doch noch gut geschlafen und fühlte mich relativ munter, als ich aufstand. Mum war in der Redaktion, Luke in der Uni, und ich machte mir in Ruhe ein Frühstück zurecht - sofern man zu dieser Zeit noch davon sprechen konnte. Dabei dachte ich noch ein bisschen über den Tag vorher nach. Dieses Kribbeln im Bauch, dass ich spürte, wenn ich an Lars dachte, war noch stärker geworden als in den Tagen zuvor. Ich war mir immer noch nicht ganz sicher, wie ich das einordnen sollte, und darum beschloss ich Karin anzurufen..

Mit leicht zitternden Händen wählte ich ihre Nummer, sie war sofort am Apparat. »Harms.« »Hallo Karin, hier ist Janosch. Bist du im Büro?« »Klar, was gibt's denn?« »Kann ich vielleicht vorbeikommen? Ich würde gern mit dir reden.« Ich hörte sie in ihrem Terminkalender blättern, dann sagte sie: »Kein Problem. Wann bist du da?« Ich sah auf die Uhr. »In einer Viertelstunde, das sollte ich schaffen.« Ich konnte förmlich sehen, wie sie die Augenbrauen hochzog. »Janosch, was ist los?« »Nicht am Telefon, okay?« »Gut, dann bis gleich.« Ich legte den Hörer auf und schnappte mir meine Jacke. Bevor ich losfuhr, legte ich Mum einen Zettel hin, damit sie sich keine Sorgen machte. Dann kämpfte ich mich mit dem Fahrrad durch den Hamburger Ferienverkehr.

Achtzehn Minuten später - ganz geschafft hatte ich die Viertelstunde nicht - stand ich schließlich bei Karin vor dem Büro. Ich klopfte, und in dem Moment bog Karin um die Ecke des Flurs. »Hallo Janosch. Was hältst du davon wenn wir in die Cafeteria gehen? Dort ist um die Zeit nicht viel los und es ist gemütlicher.« Hm ... so ganz gefiel mir die Idee nicht, aber Karin kannte das Haus hier seit über fünfzehn Jahren und würde wohl wissen, was sie tat. »Okay, von mir aus.« Wir holten uns Kaffee und ein paar Sandwiches - wir hatten beide noch nichts gegessen - und suchten uns einen gemütlichen Platz in einer ruhigen Ecke am Fenster. Aber jetzt, wo es darum ging, mit jemandem über das Thema zu reden, wurde ich plötzlich wieder nervös.

»So, erzähl' - was ist passiert?« »Erinnerst du dich noch, dass wir vor ein paar Tagen mal über Liebe und so was gesprochen haben?« Sie nickte. »Klar.« »Du hast immer nur von einer Freundin gesprochen.« Sie lächelte. »Ach, daher weht der Wind.« Ich schluckte und sagte dann einfach: »Karin, ich glaub' ich hab' mich in einen anderen Typen verknallt.« Karin trank in aller Ruhe einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. »Dann wärst du nicht der erste und mit Sicherheit auch nicht der letzte«, sagte sie. »Das heißt?« »Das heißt, dass es sich zwar noch nicht so ganz durchgesetzt hat, aber du dir absolut keine Sorgen darüber machen musst, wenn du wirklich schwul bist.« »Du hältst das nicht für pervers oder so?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, warum sollte ich?«

»Na ja, es hätte ja sein können.« Wir beide tranken unseren Kaffee. Schließlich fragte ich: »Kann das von dem kommen was mein Vater mit mir gemacht hat?« »Nein, Janosch, mach' dir darüber keine Sorgen. Dein Vater hat damals gegen deinen Willen gehandelt, das war eine völlig andere Situation. Wenn du jetzt sagst, du hast dich verliebt, dann ist das ein Gefühl, dass von dir ausgeht. Viele Jungs in deiner Situation haben völlig vergessen, wie es ist zu lieben.« »Naja, ich meine, kann das davon kommen, dass ich nichts anderes kenne?« Sie lächelte. »Das wäre das erste Mal, dass ich davon höre. Janosch, du bist 17 Jahre, ein gesunder und gut aussehender junger Mann. Dass du irgendwann auch mal einen Partner fürs Leben haben willst ist völlig normal, und in deinem Fall ist es eben ein Mann.«

»Und das hat nichts mit dem Missbrauch zu tun?«, hakte ich noch einmal nach. »Nein. Weißt du, die meisten Wissenschaftler gehen davon aus, dass es angeboren ist, ob ein Mensch nun schwul, lesbisch oder hetero ist. Das heißt dann aber auch, dass das für dich schon lange feststand, bevor das mit deinem Vater überhaupt angefangen hat.« Langsam fing ich an, das zu verstehen, aber so richtig überzeugt war ich immer noch nicht. »Könnte das vielleicht davon kommen, dass ich schwule Jungs in meinem Bekanntenkreis habe?« »Das trägt dann höchstens dazu bei, dass du damit aufwächst und das Thema für dich etwas normaler ist als für andere Jungen in deinem Alter.« »Aber kann es nicht sein, dass ich irgendwann selbst so werde wie mein Vater?« Auch hier wieder energisches Kopfschütteln. »Das hast du zum Teil selbst in der Hand. Schwulsein hat nichts mit Kinderschändung zu tun. Dein Vater ist mit Sicherheit nicht schwul gewesen.«

»Und was ist mit David?« »Der Junge, den du damals bei euren Bekannten kennengelernt hast?« Ich nickte. »Ja, genau der.« »Du hast mir ganz am Anfang mal erzählt dass er auch schwul ist und du damals durchgedreht bist, als er dir das erzählt hat, oder?« »Ja, hast du das noch halbwegs im Kopf?« »Ungefähr, ja - ich hab' mir auf jeden Fall Notizen davon gemacht, ich müsste nachsehen. Wenn du magst, erzähl' das doch noch mal kurz.« Ich erzählte Karin also, was damals bei Rip passiert war. Als ich fertig war, meinte sie: »Hm ... deine Reaktion damals kann zwei Ursachen gehabt haben, und ich denke, es war im Endeffekt ein Zusammenwirken aus beiden. Zum einen, du hast David damals vertraut, und als er dir sagte dass er schwul ist, musstest du natürlich sofort an deinen Vater denken.«

»Ja, das meinte Rip auch, mit dem hab' ich mich vor ein paar Tagen darüber unterhalten.« Karin grinste. »Mir scheint, als müsste ich Rip mal kennenlernen, aber dazu gleich noch mehr. Das Zweite, was ich mir denke, ist Folgendes: Dir war schon damals ein Stück weit klar, dass du schwul bist, aber die einzige Erfahrung, die du bis dahin gemacht hattest, die sexuellen Kontakt zwischen zwei Männern betraf, war die mit deinem Vater, und die war negativ. Als David dich damit konfrontiert hat, kam in dir sofort die Reaktion hoch, dass du eigentlich gar nichts damit zu tun haben wolltest. Verstehst du, was ich meine?« Jetzt, so wie Karin mir das erklärt hatte, leuchtete mir das ganze ein. Ich nickte. »Ja, ich denke schon.«

Sie legte mir ihre Hand auf den Arm. »Janosch, das wichtigste ist jetzt, dass du dich damit auseinandersetzt. du kannst erst dann wirklich glücklich sein, wenn du für dich selbst akzeptierst, dass du schwul bist.« »Steht das fest?« Sie lächelte. »Das kann man niemals sagen. Es gibt Jungen, denen ist schon mit zwölf oder dreizehn klar, dass sie schwul sind. Andere merken es erst mit 40 oder 45 Jahren. Noch wieder andere haben jahrelang einen festen Freund und merken irgendwann doch, dass sie mit Frauen mehr anfangen können. Und noch wieder andere können sowohl mit Männern als auch mit Frauen eine feste Beziehung aufbauen. Das Wichtigste dabei ist, dass du überhaupt in der Lage bist, einen Menschen zu lieben - ob das ein Junge oder ein Mädchen ist, spielt überhaupt keine Rolle.«

Eine Weile hing ich meinen Gedanken nach, aber es entging mir nicht, dass Karin mich dabei beobachtete. »Du hast doch noch etwas auf dem Herzen, oder?« »Ja. Ich glaube, ich hab' Mist gebaut gestern.« »Wieso?« Ich erzählte ihr von der Feier bei Rip, von Lars und von der Stunde, die wir am Vortag zusammen verbracht hatten, bis er mir unfreiwillig gesagt hatte, dass er schwul ist. »Ich hab' einfach bescheuert reagiert«, beschloss ich die Erzählung. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, du hast in jedem Fall besser reagiert als bei David. Aber die Situation war ähnlich. Janosch, du sagtest vorhin, dass du schon seit diesem Abend immer so ein Kribbeln verspürt hast. Ich kann natürlich nicht genau das fühlen, was du auch fühlst, aber ich kenne dieses Gefühl aus eigener Erfahrung. Ich denke, du solltest mit Lars reden und ihm sagen was mit dir los ist.«

»Meinst du, er spricht noch mit mir?«, fragte ich. Sie nickte. »Ja, das hat er doch gesagt, oder?« »Ja, hat er.« »So wie du erzählt hast, ist die Chance, dass er für dich genauso empfindet wie du für ihn, ziemlich groß. Und was willst du dann mehr?« Ich zuckte mit den Schultern. »Eigentlich nichts.« »Na siehst du. Aber eines solltest du noch wissen, Janosch: Es wird für dich nicht leicht werden. Das, was damals passiert ist, wirst du nicht einfach so verdrängen können, und das solltest du wissen. Beobachte dich selbst, und beobachte Lars. Wenn du es selbst willst und ein gutes Gefühl dabei hast, dann musst du ihm vertrauen, sonst bringt das ganze nichts. Vertrauen in jeder Hinsicht.«


Knapp eine halbe Stunde später stand ich bei Lars vor der Haustür. Meine Hand zitterte, als ich den Klingelknopf berührte. Lars' Bruder öffnete die Tür, ich kannte ihn ja von der Feier bei Rip. »Hallo?« »Hallo, ich bin Janosch Reilly, und ich wollte zu Lars.« Sein Bruder hob kurz die Augenbrauen und öffnete mir dann die Tür. »Na, dann komm' rein. Lars ist oben in seinem Zimmer am PC. Die Treppe hoch, zweite Tür links.« »Danke.«

Ich ging nach oben und klopfte dann an die Tür. Lars saß tatsächlich vor dem Rechner und war gerade dabei, eine E-Mail zu schreiben. »Janosch? Was machst du denn hier?« »Können wir reden?« fragte ich ihn. Er nickte. »Klar, setz' dich.« Er drehte sich zu mir um. »Was ist denn?« »Lars ... ich hab' gestern ziemlich Mist gebaut, glaub' ich. Ich wollte dich nicht verletzen.« Er senkte traurig den Blick. »Das dachte ich mir, Janosch, nur tut es weh, immer wieder dieselbe Reaktion zu erleben.« »Wieso?« »Na ja, man lernt jemanden kennen, versteht sich gut mit ihm, und irgendwann sagt man ihm, was los ist. Und dann ist es schon wieder vorbei. Das tut besonders dann weh, wenn man von demjenigen mehr möchte als nur eine Freundschaft.«

Ich schluckte. »Was willst du denn von mir?«, fragte ich leise. »Das müsstest du dir doch denken können, oder?« Ich stand auf und ging zu ihm. »Vielleicht will ich von dir dasselbe?« Er sah mir in die Augen. »Bist du dir sicher?« »Ich weiß es nicht, Lars. Ich mag dich unheimlich gern, und in der Zeit, in der wir uns nicht gesehen haben, hast du mir unheimlich gefehlt. Ich habe jeden Tag auf eine Mail oder etwas anderes von dir gewartet. Wenn ich an dich denke, fängt bei mir alles an zu kribbeln.« Er nahm meine Hand. »So geht's mir auch.« Eine Weile saßen wir einfach nur so da, hielten uns bei den Händen und schauten uns in die Augen. Schließlich stand er auf. »Janosch, können wir uns morgen sehen? Ich muss erst mal nachdenken. Sei mir bitte nicht böse, okay?« Ich nickte. »Ja, ich glaube ich brauche auch etwas Zeit für mich.« Er brachte mich zur Tür und bevor ich ging, küsste er mich sanft auf die Wange.


Als ich an diesem Abend nach Hause kam, ging ich ziemlich schnell nach oben in mein Zimmer, ohne großartig nach Mum oder Luke zu sehen. Ich lag eine ganze Weile angezogen auf meinem Bett, während ich über das nachdachte, was heute passiert war. War ich wirklich in Lars verliebt? In einen anderen Jungen? War ich schwul? Ich brauchte eine Weile, um mich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen. Karin hatte mich bisher immer gut beraten, wenn irgendetwas war, und ich glaubte ihr nur zu gern. Außerdem kannte ich - wie Rip mir auch schon gesagt hatte - Jason und Richie, und natürlich David. Im Prinzip war mir klar, dass es nichts Schlechtes war, schwul zu sein. Es war nur eben ... anders.

Eigentlich erklärte das auch meine Gefühle in den letzten zwei Wochen. Ich hatte Lars vermisst, hatte ständig an den Abend zurückgedacht, an dem wir uns kennengelernt hatten, er hatte mir einfach gefehlt in der Zwischenzeit. Diese Gefühle waren ähnlich wie damals bei David ... hieß das im Endeffekt etwa, dass ich mich damals schon in ihn verliebt hatte? Ich wusste es nicht, und über all diese Gedanken schlief ich schließlich ein - oder wenigstens versuchte ich es.

So richtig gelang mir der Schlaf allerdings auch diesmal nicht. Ich war noch viel zu aufgedreht von den Gesprächen mit Lars und Karin, also ging ich noch mal nach unten. Von Mum und Luke hatte ich den ganzen Abend noch nichts gehört. Luke würde wohl bei Jessica übernachten, was er öfter tat, und Mum? Ich warf einen Blick auf die Uhr, es war kurz nach eins. Normalerweise war sie nie so lange im Büro.

Ich saß in der Küche auf dem Geschirrspüler - zumindest wenn die Kiste ausgeschaltet war, war das mein Stammplatz, rauchte eine Zigarette und starrte gedankenverloren aus dem Fenster in den Hamburger Nachthimmel. Unsere Wohnung lag etwas außerhalb der Stadt, und über Hamburg selbst hing eine große Lichtglocke. Irgendwann hörte ich unten ein Auto vorfahren. Ich schaute aus dem Fenster - es war der Wagen von Rip. Er und Mum stiegen aus, unterhielten sich ein bisschen, und Mum lachte - es war offensichtlich, dass sie überglücklich war, und das hatte ich seit der Sache mit Dad nicht mehr bei ihr erlebt.

Zum Abschied nahm Rip sie in den Arm und küsste sie auf die Wange. Sie schaute seinem Wagen noch eine Weile nach, als er abfuhr, und ging dann langsam ins Haus. Ich machte schnell die Kippe aus und ging nach oben in mein Zimmer - nicht dass ich mich vor Mum verstecken wollte, aber bisher hatte sie sich immer etwas zurückgehalten im Bezug auf Rip, und vielleicht war es ihr einfach nicht recht, wenn sie wusste, dass wir schon mehr mitbekommen hatten als sie uns gesagt hatte ... über all diesen Gedanken schlief ich ein, und ich träumte von Lars.


Ich begrüßte Lars an der Tür und nahm ihn als erstes in den Arm, als die Tür geschlossen war. Mum war zur Abwechslung mal wieder in ihrem Büro in der Stadt, und Luke saß oben vor dem Rechner und schrieb irgendetwas für sein Studium, somit hatten wir beide unsere Ruhe. Seit einigen Tagen waren wir mehr oder weniger offiziell zusammen - naja, wenn man das so sagen konnte. Wir waren uns unserer Gefühle sicher und wollten es einfach mal miteinander versuchen. Allerdings wussten bisher weder seine Eltern noch Mum und Luke Bescheid. Ich war zum ersten Mal so richtig verliebt und überglücklich, und Lars - der allerdings schon etwas mehr Erfahrung hatte als ich - ging es wohl nicht anders.

»Hey, was ist los mit dir - du bist total durchgeschwitzt?«, fragte ich ihn. »Naja, wir haben zuhause noch ein Zimmer renoviert und ich war ziemlich knapp in der Zeit, da bin ich halt etwas schneller gefahren.« Ich grinste. »Komm, ich schenk' dir was zu trinken ein.« Ich hatte mittlerweile immer ein paar Gläser und etwas zu trinken griffbereit stehen, damit ich nicht jedes Mal nach unten laufen musste. Lars nahm mich jedoch statt dessen in den Arm. »Lass' mal, es geht schon wieder. Hauptsache ich bin bei dir.« Er küsste mich sanft auf die Lippen.

Ich erwiderte den Kuss und knöpfte ihm langsam das Hemd auf. Bisher hatten wir immer nur gekuschelt, und wir waren uns einig, dass wir uns langsam steigern wollten. Schließlich waren wir nicht umsonst zusammen. Und verliebt, wie ich war, hatte ich natürlich alle Hinweise und Ratschläge von Rip und Karin in den Wind geschossen ... Lars wusste auch noch nicht, was damals mit Dad passiert war. Er hatte mich zwar mal nach Dad gefragt, aber ich hatte nur gesagt, dass er vor drei Jahren gestorben war, und Lars hatte nicht weiter nachgefragt.

Lars lächelte mich an. »Erst beschwerst du dich dass mir die Klamotten am Körper kleben und jetzt machst du mich noch heißer.« Ich lächelte zuckersüß zurück. »Wieso? Ich zieh' dir nur das Hemd aus, hier drin ist es sowieso warm genug.« Auf die Art und Weise ging es weiter, ich öffnete Lars' Gürtel und er knöpfte mir vorsichtig die Hose auf. Bis zu diesem Moment genoss ich jede Berührung ...

Alles Weitere ist mir nur noch bruchstückhaft in Erinnerung. Wir standen immer noch mitten in meinem Zimmer, und ich weiß noch, dass ich nach dem Glas gegriffen hatte, um es beiseitezustellen. Ich spürte Lars' Hand, die mir über den Bauch streichelte, und ich fing gerade an, mich zu entspannen. Sanft glitt seine Hand tiefer, berührte meine Unterhose ... und plötzlich, wie ein Schnitt im Film, war ich wieder 14 Jahre alt. Vor mir stand nicht Lars, sondern Dad. Mir war jede Berührung zuwider, ich hörte seine Stimme ...

Das Nächste, woran ich mich erinnerte, war ein stechender Schmerz in der Hand. Lars stand kreidebleich vor mir, und in diesem Moment kam auch schon Luke hereingestürmt. »Was ist denn hier ... ACH DU SCHEISSE! Janosch!« Er packte meinen Arm, sah ihn sich kurz an und zog mich dann ohne Umschweife ins Bad. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich einige Glassplitter in der Hand hielt, und jetzt bemerkte ich auch den Schmerz in meiner Hand. Vor Schreck ließ ich die Glasstücke fallen.

Noch ehe ich mich versah, hatte Luke bereits begonnen, die Wunde auszuwaschen. »Du hast Glück gehabt, die Schnitte gehen nicht besonders tief«, war das Einzige, was er sagte. Ach ja, dann gab er mir noch den freundlichen Hinweis: »Vorsicht, jetzt brennt's.« Ich biss die Zähne zusammen - ich hasste es, wenn mir jemand Jod auf eine Wunde schmierte. »So, stillhalten.« Ich versuchte, aus Lukes Mine etwas zu erkennen, aber das war nicht besonders einfach. Er hatte die Lippen zusammengekniffen und konzentrierte sich völlig auf den Verband, den er mir anlegte. Dafür brauchte er ungefähr zwanzig Minuten, alles in allem, und diese Zeit reichte mir, um langsam wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

»So, fertig, ab in dein Zimmer. Übrigens ist deine Hose noch offen«, sagte er, als er mich wieder aus dem Badezimmer schob. Ich hatte ihn lange nicht mehr so wütend erlebt - dass sein Schweigen einfach nur Wut bedeutete, war mir mittlerweile klar geworden. Als ich wieder in mein Zimmer kam, sprang Lars auf, der wie ein Häufchen Elend auf meinem Bett gesessen hatte. »So, und du kommst jetzt erst mal ...« begann Luke, aber ich fiel ihm ins Wort. »Nein, Luke, es war nicht seine Schuld. Ich erklär' dir das Ganze später, aber jetzt muss ich erst mal mit Lars reden.«

Luke sah zweifelnd zwischen uns hin und her, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Janosch. Ich will jetzt auf der Stelle wissen, was hier los ist.« »Das wüsste ich auch gern«, meldete Lars sich leise zu Wort. Luke funkelte ihn wütend an. »Du bist im Moment mal ganz ruhig, schließlich hast du uns ...« Langsam wurde ich wütend. »Nein, Luke, das hat er nicht und das weißt du ganz genau. Was jetzt passiert ist, ist ähnlich wie vor drei Jahren im Sommer mit David. Ich hab' mich mittlerweile im Griff, und wenn mir der ganze Dreck wieder hochkommt, dafür kann ich auch nichts.«

Lars standen mittlerweile die Tränen in den Augen. »Könnte mir bitte mal einer von euch sagen, was hier abläuft?« Ich sah Luke an. »Okay, dann eben so.« Ich wusste aus Rips Erzählungen, dass auch bei meiner Mutter damals nur die »harte Tour« geholfen hatte, weil sie ihm erst nicht glauben wollte. Statt mich noch weiter mit Luke zu beschäftigen, drehte ich mich zu Lars um und nahm ihn in den Arm. »Mach' dir keine Sorgen, mit mir ist alles in Ordnung ... es gibt da nur ein paar Sachen, die du noch nicht weißt. Ich erklär' dir das gleich in Ruhe.« Lars drückte mich an sich. »Janosch, ich hab' gerade wirklich Angst um dich gehabt.« Ich nickte. »Kann ich verstehen. Ich bin sofort für dich da, okay?« Er nickte.

Ich wandte mich wieder Luke zu, der mit offenem Mund danebenstand. »Vielleicht ist dir jetzt einiges klarer. Und wenn nicht, würde ich dich trotzdem bitten, dass wir unser Gespräch auf später verschieben, ich werde mich jetzt jedenfalls erst mal um Lars kümmern.« Luke nickte. »Okay ... ich bin dann unten.« Langsam ging er aus meinem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Ich hörte, dass er die Treppe herunterging ... nun, er würde jetzt wohl einiges zum Nachdenken haben. Aber für den Moment war mir Lars wichtiger.

Er sah mich an, immer noch ziemlich mitgenommen und fertig mit sich und der Welt. Schließlich nahm er mich vorsichtig in den Arm. »Ich hab' gerade total Angst um dich gehabt«, sagte er noch einmal. »Das ist zum Teil meine Schuld, ich hätte dir eher sagen können was los war. Aber der Schaden hat sich ja in Grenzen gehalten.« Er sah auf meine Hand. »Und das?« Ich winkte ab. »Nur ein paar Kratzer, nichts ernstes. Komm, wir setzen uns hin.« Ich zog ihn langsam aufs Bett. Er zitterte ein wenig, darum warf ich ihm sein Hemd zu. »Hier, zieh' dir das über.« Dann setzte ich mich neben ihn.

»Du hast das Thema selbst mal ganz kurz angeschnitten, aber wir haben damals nicht weiter darüber gesprochen«, fing ich dann an. »Was meinst du?« »Als du mich damals nach meinem Vater gefragt hast. Ich hab' dir damals nur gesagt, dass mein Vater nicht mehr lebt. Was ich dir nicht gesagt habe, ist der Grund - den ich selbst nicht ganz genau kenne - und dass ich über die Tatsache, dass er tot ist, heilfroh bin.« Lars sah mich mit großen Augen an. »Das ist jetzt kein Witz, oder?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das ist mein voller Ernst. Aber das wirst du verstehen, wenn du die ganze Geschichte kennst.« Ich erzählte ihm in Ruhe, was damals passiert war. Er unterbrach mich nicht, aber an seinem Gesicht konnte ich sehen, dass er jedes Wort verstand. Es war je nach Situation eine Mischung aus Bestürzung und Entsetzen.

Nach knapp drei Stunden war ich fertig. Lars hatte mich in der Zwischenzeit wortlos in den Arm genommen und mich festgehalten - ich merkte an einigen Stellen, dass das auch bitter nötig war. Alles in allem hatte er meine Erzählung recht gut aufgenommen - zumindest dafür, dass er wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben mit so etwas konfrontiert wurde. »Es tut mir leid, Janosch - das wusste ich alles nicht.« Ich versuchte ein schwaches Lächeln. »Klar, woher hättest du das auch wissen sollen.« Wir sahen uns in die Augen, aber keiner von uns wusste, wie es weitergehen sollte.

Schließlich versuchte Lars ein schwaches Lächeln. »Hey, kann es sein, dass du deinen Leuten gleich erst mal einiges erklären musst?« Ich nickte. »Ja, das wird mit Sicherheit nicht leicht werden.« »Soll ich dabei sein?«, bot er mir an. »Nein, das muss ich mit Mum und Luke allein klären.« Lars legte mir eine Hand auf die Schulter. »Dann solltest du das gleich tun, oder nicht?« Je eher ich es tat, desto eher hatte ich es hinter mit - damit hatte Lars ohne Frage recht. Aber das ganze würde eine Zeit lang dauern. »Sehen wir uns morgen?« Er nickte. »Klar, wenn du willst.« »Auf jeden Fall.« Ich brachte ihn nach unten und küsste ihn zum Abschied.

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