zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Little Lies

Teil 9

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Mal wieder ein Vorwort ...

Teil 9 ... jetzt musste ich doch erst mal überlegen, wie man überhaupt eine 9 in römischen Ziffern schreibt. Beinahe wäre doch eine XIIII daraus geworden, zum Glück bin ich gerade noch auf die richtige Idee gekommen. An dieser Stelle ist vielleicht doch ein kleiner Rückblick angebracht: Im ersten bis sechsten Teil von »Little Lies« wurde erzählt, was Janosch mit seinem Vater durchmachen musste. Der sexuelle Missbrauch wurde aufgedeckt, Freunde und die restliche Familie standen Janosch zur Seite. Für die Nickstories-Leser gab es insofern gleichzeitig ein Wiedersehen mit alten Bekannten: die gesamte Familie Masters war vertreten und spielte eine nicht unwichtige Rolle. Außerdem gab es da David, einen 15jährigen schwulen Jungen aus Bochum, der nach einigen anderen Stationen - Krankenhaus, Münster, Bremen - schließlich bei den Masters landete und Janosch kennenlernte. Die Beiden verstanden sich - vielleicht aufgrund einer ähnlichen Vorgeschichte - auf Anhieb recht gut, und trotz des einen oder anderen Missverständnisses wurde aus dieser Bekanntschaft eine tiefe Freundschaft. Bis für David der Zeitpunkt gekommen war, wieder aufzubrechen ...

In Teil 7 und 8 war Janosch drei Jahre älter. Den größten Teil seiner Therapie hat er überstanden, aus dem schüchternen 14jährigen ist ein selbstbewusster Teenager geworden, ein völlig anderer Mensch, der mitten im Leben steht und weiß, wo es langgeht. Nichtsdestotrotz sind seine Freunde und seine Familie weiterhin wichtig für ihn. Viel hat sich verändert; der Tod des Vaters ist überwunden, die Familie Reilly steht auf eigenen Füßen. Und irgendwann merkt auch Janosch, wie schön die Liebe sein kann: bei Freunden lernt er Lars kennen, und nach anfänglichen Schwierigkeiten finden die beiden zusammen. Und da gibt es noch eine kleine Romanze zwischen Lynn und Rip ...

Mit allem, was jetzt noch erzählt wird, soll die Geschichte um die Familie Reilly endgültig zum Abschluss gebracht werden. Ehrlich gesagt habe ich bei dem bloßen Gedanken daran schon ein flaues Gefühl im Magen. So ganz genau weiß ich selbst noch nicht, was alles passieren wird, aber ich denke, auch die letzten Schritte werden wir gemeinsam schaffen. Ebenso habe ich momentan noch keine Ahnung davon, ob dieser letzte Abschnitt nun aus einem, zwei oder drei Teilen bestehen wird, aber auch das wird sich zeigen. Ein bisschen fiebere ich selbst mit, denn wie fast alle Geschichten hat auch diese in den knapp zwei Jahren (oder genau genommen, schon mehr als fünf Jahren) in denen ich daran schreibe, eine ziemliche Eigendynamik entwickelt.

Noch eine kurze Anmerkung: Einige haben mich gefragt, wo die Perspektivwechsel aus den ersten Teilen geblieben sind, da ab Teil 7 nur noch Janosch allein erzählt. Ich habe mich dafür entschieden, ab einem gewissen Punkt zu zeigen, dass Janosch selbstständiger wird. Er braucht vielleicht hin und wieder jemanden, der ihm unter die Arme greift oder ihn auch mal in die Realität zurückholt, aber im Großen und Ganzen ist es seine Geschichte, und darum soll er sie auch allein erzählen. Okay, genug der Worte - es geht weiter.

Ach ja, jetzt kann ich Euch endlich das wünschen, was bei den ersten Teilen der Story unangebracht gewesen wäre: viel Spaß beim Lesen!

Rick

Mai 2004

»Praxis Drs. Masters, sie sprechen mit Janosch Reilly ... einen Moment bitte ... heute noch? Da müsste ich kurz nachfragen. Könnten Sie bitte einen Moment warten? ... Danke.« Ich stand auf und ging ins Behandlungszimmer. »Rip, können wir heute Nachmittag noch einen Patienten 'reinnehmen? Julian ist voll, aber bei dir wäre noch Platz.« Rip sah auf und zog den Mundschutz herunter. »Hm ... ein Notfall?« Ich nickte. »Ja, Schmerzpatient laut Aussage des Vaters.« Rip nickte. »In dem Fall kein Thema.« »Okay, danke.« Ich lief zurück zum Telefon. »Hören Sie? Sie können sofort in die Praxis kommen, wenn Sie möchten ... kein Problem. Der Name? ... Moment, ich notiere ... ja ... und der Vorname? James Peter. Alles klar, dann bis später.«

Nick kam mit einem Stapel Unterlagen aus dem zweiten Behandlungsraum und grinste mich an. »Was war das denn?« Ich hielt ihm kommentarlos den Zettel hin. »Na, Rip wird sich freuen.« »Der weiß schon Bescheid.« Nick schüttelte den Kopf. »Ich glaube es wird Zeit, dass Rip sich auch mal 'ne Auszeit nimmt. Er war seit vier Monaten nicht mehr in L.A., und das will was heißen. Dabei ist Julian doch schon in der Praxis mit dabei.« »Hm«, brummte ich zustimmend. »Die zwei hier sind übrigens auch fertig, kannst du dich noch um die Abrechnung kümmern?« Ich nickte. »Kein Problem. Ist dir eigentlich mal aufgefallen, dass Rip in den letzten Wochen ziemlich viele Behandlungen beendet und wenige neu dazukommen?« Nick zuckte mit den Schultern. »Dafür hat Julian um so mehr neue Fälle. Wer weiß, vielleicht will Rip sich ja tatsächlich zur Ruhe setzen.« Daran glaubten wir allerdings beide nicht so richtig.

Hm, was mache ich hier eigentlich, werden sich viele jetzt fragen? Nun, ich könnte genauso anfangen zu erzählen, wie Richie das vor sechs Jahren getan hat, aber ich denke, ihr wisst, was ich hier tue. Rip hatte mir letztes Jahr im Sommer den Nebenjob in der Praxis angeboten, und nachdem sich herausstellte, dass ich wirklich nur für den Verwaltungskram und das Telefon zuständig war, war ich dabei geblieben. Während der Abiturprüfungen hatte ich von Rip freibekommen, und seit drei Wochen war ich jetzt wieder in der Praxis. Nach wie vor fand ich die Praxis nicht wirklich toll, aber das Extra-Taschengeld war nichts, was ich nicht gern mitnahm. Außerdem hatte Rip in der Vergangenheit viel für mich getan, und so war es für mich Ehrensache, ihm jetzt zu helfen, wenn ich es konnte.

Hier in Hamburg hatte sich vieles verändert, vor allem was die Familien anging. Richie und Jason waren mittlerweile nach Los Angeles gezogen. Beide steckten mitten im Studium, sie waren an der UCLA und konzentrierten sich ganz auf das Showbusiness, nur eben hinter der Kamera. Jason wollte langfristig etwas als Regisseur machen, und Richie war sich noch nicht ganz sicher - am liebsten war ihm wohl etwas im Bereich Produktion oder Filmmusik. Zwischendurch hatte Jason ein Training als Stuntman absolviert. Nicht, dass er das ernsthaft beruflich machen wollte, aber er meinte irgendwann, er wollte einfach ein Gefühl für die Arbeit der anderen Leute am Set bekommen.

Luke war im letzten Herbst mit Jessica zusammengezogen, und im Januar hatten sie sich verlobt. Sein BWL-Studium hatte er mittlerweile abgeschlossen und arbeitete seit einigen Wochen bei der Bank, bei der auch Dad gewesen war. Luke hatte gute Noten gehabt, und in der Bank ging man bis heute davon aus, dass Dad einen Unfall gehabt hatte. Ich wusste nicht, ob das auch ein Grund war, aber jedenfalls hatte man Luke dort gern genommen. Rip führte die Praxis nicht mehr allein, sondern zusammen mit Julian. Der war seit einigen Monaten Vater - schon im Dezember hatte Natalie einen gesunden Jungen auf die Welt gebracht, die beiden hatten ihn Daniel Nicholas Simon genannt. Nicholas bezog sich auf Julians Bruder Nick, und Simon war der Bruder von Natalie - die beiden waren Taufpaten von Danny gewesen.

Anne und Elijah hatten sich ein Appartement in der West Side von Manhattan gekauft. Anne arbeitete dort bei CNN - und musste sich oft genug blöde Kommentare wegen dieses unfreiwilligen Wortspiels gefallen lassen. Elijah war in seinem Job nach wie vor sehr gefragt. Im letzten Jahr hatte er seinen ersten Academy Award für seine Rolle als Arthur Dent in der Neuverfilmung des Romans »Per Anhalter durch die Galaxis«. Nick hatte sein einiger Zeit einen Freund, der auch von etwas weiter herkam - irgendwie liefen alle Fäden in L. A. zusammen, dort wohnte Joshua nämlich. Zurzeit war er allerdings hier in Hamburg. Josh kam gebürtig aus San Francisco, war aber mit seiner Mutter und seinem kleinen Bruder vor einigen Jahren nach Los Angeles gezogen. Die beiden hatten sich in einer Disco kennengelernt, und nachdem sie sich erst mal aus den Augen verloren hatten, waren sie mittlerweile glücklich zusammen.

Tja, und ich war noch mit Lars zusammen, aber so richtig glücklich waren wir in letzter Zeit nicht. Ich hatte gehofft, dass das am Schulstress lag, aber in den letzten Wochen sahen wir uns immer seltener, und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir beide auch nicht mehr so ein großes Interesse daran hatten. Es war nicht so, dass wir Streit hatten, aber wir hatten uns einfach auseinander gelebt. Einerseits bedauerte ich es, andererseits konnte ich es nicht ändern. Es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis einer von uns den letzten Schritt macht und wir uns trennen würden.

Und da war doch noch etwas? Genau - Mum und Rip. Zwischen den beiden hatte es im letzten Jahr schon ziemlich geknistert, und mittlerweile waren wir alle überzeugt davon, dass die beiden über kurz oder lang zusammenziehen würden. Mum übernachtete oft bei Rip, oder er bei uns - und wir alle freuten uns für sie. Wir »Kinder« waren uns darin einig, dass die zwei praktisch füreinander geschaffen waren.

Okay, das als kleiner Rückblick und zurück in die Gegenwart. Ich hatte mich um die Unterlagen gekümmert, die Nick mir hingelegt hatte, als es an der Tür klingelte. Das musste unser Notfallpatient sein. Rip verabschiedete gerade den letzten Patienten, den er davor behandelt hatte. Ich drückte auf den Summer. »Ist noch Kaffee da?«, fragte Rip. Ich nickte und schenkte ihm eine Tasse ein. Er sah müde aus. »Ist alles okay bei dir?« Er nickte. »Ja, ich merke nur langsam, dass ich auch nicht mehr der jüngste bin.« grinste er. »Ich werd' dich dran erinnern wenn du mich im Schwimmbad das nächste Mal abhängst.«

Die Tür ging auf, und unser Notfallpatient erschien in Begleitung seines Vaters. Im ersten Moment glaubte ich eine schlechte Parodie zu sehen, aber was vor mir stand, war wirklich ein Texaner wie aus dem Bilderbuch. Grauer Anzug, breitkrempiger Cowboyhut, etwas schnürsenkelähnliches anstelle einer Krawatte - und die linke Seite seines Jacketts wirkte irgendwie aufgepolstert. Ich erinnerte mich daran, dass der Mann, mit dem ich vorher telefoniert hatte, einen ziemlich breiten texanischen Slang gesprochen hatte. »So, hier sind wir, Sonny. Sie sind Dr. Masters?«, fragte er Rip. Der nickte. »Derselbe. Und Sie?« »James Peter Bancroft der Dritte, habe die Ehre.« Er hielt Rip die Hand hin. »Und der Prachtkerl hier ist mein Sohn, James Peter Bancroft der Vierte.« Der Prachtkerl sah nicht besonders glücklich aus - was aber in Anbetracht seiner Situation auch kein Wunder war. Rip und ich sahen uns an, schafften es aber, uns ein Lachen zu verkneifen. Der Vater konnte eine gewisse Ähnlichkeit mit den Figuren aus »Dallas« nicht verleugnen.

Rip stellte seine Kaffeetasse auf dem Schreibtisch ab. »Na denn wollen wir mal. Was ist den genau das Problem?« James Peter Bancroft der Vierte sah Rip schüchtern an. »Ich hab' mir eine Füllung ausgebissen, und das tut ziemlich weh.« Zum Glück sprach er ein ziemlich verständliches Englisch, auch sonst ging er nicht nach seinem Vater. Rip nickte. »Kein Problem, das sollten wir ziemlich schnell hinbekommen. Janosch, kümmerst du dich um den Papierkram?« Ich nickte.

James Senior warf einen prüfenden Blick auf mein Namensschild und musterte mich dann skeptisch. »Bist du Ire?« Ich sah von meinen Papieren auf und versuchte eine gewisse Abfälligkeit in den Blick zu legen - passend zum Tonfall meines Gegenübers. »Zur Hälfte.« »Aha.« Dieses 'Aha' konnte alles und gleichzeitig gar nichts aussagen. Ich schob James Senior ein Anmeldeformular über den Tresen. »Falls Ihr Sohn zum ersten Mal bei uns in Behandlung ist, füllen Sie das bitte aus.« Er nickte und griff in die Innentasche seinen Jacketts, um einen Kugelschreiber herauszuholen. Und jetzt war auch deutlich zu sehen, woher die Beule in seiner Jacke kam: passend zum restlichen Outfit steckte ein Revolver in einem Halfter. Rip schob James Junior ins Behandlungszimmer und sagte: »Setz' dich schon mal hin, ich bin sofort da.«

Dann wandte er sich an unseren Freund vor dem Tresen. »Mr. Bancroft, ich muss Sie darauf hinweisen, dass wir bei uns in der Praxis keinerlei ... äh, Schusswaffen gestatten.« Rip hatte sichtlich Mühe ernst zu bleiben. Bancroft drehte sich zu ihm um. »Wie bitte?« Rip verschränkte die Arme vor die Brust. »Ich denke, Sie haben mich schon verstanden.« James Senior zog die Augenbrauen hoch. »Dr. Masters, Sie sind doch Amerikaner, oder?« Rip nickte. »Ja, bin ich.« »Gut. Dann sollten Sie wissen, dass in unserem Land jeder Bürger das Recht hat, eine Waffe zu tragen.« Rip nickte noch einmal. »Das ist korrekt. Aber erstens sind wir hier nicht in den USA, sondern in Deutschland. Hier sind Schusswaffen besitzpflichtig und ich gehe nicht davon aus, dass Sie einen Waffenschein besitzen. Außerdem befinden Sie sich hier in meinem Haus, und ich dulde hier keinerlei Waffen. Also entweder entladen Sie das gute Stück auf der Stelle oder Sie können von Ihrem Recht, eine Waffe zu tragen, vor der Haustür Gebrauch machen. War das deutlich genug?«

James Senior lief rot an und schnappte nach Luft. »Dann ... dann ... dann verklage ich Sie wegen unterlassener Hilfeleistung. Das wird Sie Millionen kosten.« Rip schüttelte den Kopf. »Davon gehe ich nicht aus. Das hier ist - Praxis hin oder her - immer noch Privatgelände. Außerdem steht draußen deutlich sichtbar ein Schild, dass in der Praxis neben Tieren und Mobiltelefonen auch Schusswaffen verboten sind.« Das Schild gab es tatsächlich - ich hatte es bisher immer für einen Scherz gehalten, aber jetzt wurde mir klar, dass Rip das völlig ernst meinte.

Rip fuhr seelenruhig fort. »So, und was nun die unterlassene Hilfeleistung angeht - ich habe Ihnen gerade eben schon gesagt, wie wir weiter verfahren werden. Ich werde mich jetzt in jedem Fall um Ihren Sohn kümmern. Und wenn Sie nicht auf der Stelle entweder ihren Revolver entladen oder sich nach draußen begeben, werden wir die Polizei einschalten. Und das könnte unangenehm für Sie werden. Haben Sie noch Fragen?« Bancroft setzte zum Protest an. »Aber ich habe das Recht ...« Rip ließ ihn gar nicht erst ausreden. »Janosch, ruf' bitte die Polizei.«

Ich hatte die Hand schon auf dem Hörer liegen - langsam wurde mir wirklich mulmig zumute. Das lag allerdings nicht daran, dass ich Angst vor dem Revolver hatte, sondern an Rips Reaktion. Ich kannte ihn mittlerweile knapp sechs Jahre, wir hatten einiges zusammen erlebt, aber so hatte ich Rip noch nicht erlebt. Ich brauchte ihn nur anzusehen und wusste, dass er sich sehr zusammenriss, um nicht zu explodieren. So eine Explosion hatte ich bisher nur ein einziges Mal erlebt - und auf ein weiteres Mal konnte ich dankend verzichten. Aber auch James Senior schien langsam zu merken, dass Rip es ernst meinte.

»Okay, okay,« Mit spitzen Fingern und gut sichtbar zog Bancroft den Revolver aus dem Halfter, klappte die Trommel heraus und ließ die Patronen in seine Hand gleiten. »Aber nur weil es um meinen Sohn geht.« »Na bitte, es geht doch. So, und jetzt können Sie sich setzen und warten, ich denke es wird nicht lange dauern. Janosch, vielleicht kannst du Mr. Bancroft in der Zwischenzeit einen Kaffee anbieten?«, fragte Rip in meine Richtung. Ich nickte, wohl immer noch ziemlich blass. »Sicher.« Ich war etwas überrascht - aber das war eben Rip. Der drehte sich um und ging kommentarlos in den Behandlungsraum.

»Tja ... äh ... möchten Sie einen Kaffee?« Bancroft, der sich etwas niedergeschlagen auf einen Besucherstuhl gesetzt und seine Patronen in die Tasche gesteckt hatte, nickte. »Ja, wenn es keine Umstände macht.« Ich schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht. Milch, Zucker?« »Schwarz bitte.« Ich brachte ihm eine Tasse. »Danke ...« Irgendwie hatte er sich verändert - es schien mir fast, als ob er sich ohne Bewaffnung etwas hilflos fühlte. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Er nickte. »Ja, schon okay. Entschuldigung für das Theater, aber ich mache mir einfach Sorgen um Sonny.« Das war irgendwo verständlich - in den zehn Monaten, die ich mittlerweile hier war, hatte ich das öfters erlebt. »Ich denke, das brauchen sie nicht - er ist bei Dr. Masters in guten Händen.«

Ich ging wieder zurück an meinen Platz, beschloss aber insgeheim, Mr. Bancroft ein wenig im Auge zu behalten. Auch wenn er momentan ganz ruhig war, so ganz geheuer war er mir nicht. Und auf Schusswaffen konnte ich nur zu gut verzichten. Mein Blick fiel auf den Zettel, der noch unangetastet auf dem Tresen lag. »Mr. Bancroft, könnten Sie sich vielleicht noch kurz um das Formular kümmern?« Er sah auf. »Oh, Verzeihung - das ist mir entgangen.« »Kein Problem, ist nur eine Formalität.« Er füllte das Formular aus und setzte sich dann wieder hin.

Nach gut einer halben Stunde ging die Tür zum Behandlungsraum auf, und Rip schob einen strahlenden James Junior auf den Flur. »So, fürs erste ist alles überstanden.« Bancroft sprang auf. »Ist alles okay mit dir, Sonny?« Der Kleine nickte. »Ja, alles okay.« Rip wandte sich an seinen Vater. »Mr. Bancroft, was ich jetzt gemacht habe ist eine Notversorgung. Ich habe die Füllung ersetzt, aber bei Ihrem Sohn wäre noch die eine oder andere Kleinigkeit zu machen. Wenn Sie wieder zuhause sind, sollten Sie sich dringend darum kümmern. Ich gebe Ihnen gern meine Karte, dann kann der betreffende Kollege die Unterlagen bei mir anfordern.« Bancroft sah zwischen Rip und seinem Sohn hin und her. »Nun, wir werden wohl für einige Monate hier bleiben - ich bin von meiner Firma aus hierher abgeordnet.«

James Junior sah zu seinem Vater auf. »Könnte Dr. Masters dann nicht mit der Behandlung weitermachen?« James Senior sah Rip fragend an. »Würden Sie das machen?« Rip sah ihm einen Moment lang prüfend in die Augen und sagte dann trocken: »Wenn Sie sich zukünftig an die Spielregeln halten, kein Problem. Ich denke, mehr als zwei oder drei Termine werden wir nicht brauchen.« Bancroft nickte. »Auf jeden Fall ... und bitte entschuldigen Sie den Auftritt vorhin, ich war einfach in Sorge um meinen Sohn.« Er hielt Rip die Hand hin - und der nahm die Entschuldigung an. »Ich habe selbst vier Kinder, ich weiß wie das ist. Aber ich bitte Sie auch Verständnis für meine Situation zu haben. Einige Leute tauchen hier mit Leibgarde auf, und selbst die tragen hier keine Schusswaffen.« Bancroft nickte. »Dann werden Sie aber vielleicht verstehen, was bei mir los war.« »Ja, natürlich.«

Ich machte mit unseren texanischen Gästen gleich den nächsten Termin aus, und dann waren sie verschwunden. Rip sah ihnen kopfschüttelnd hinterher. »Und dabei heißt es immer, wir Kalifornier wären die Verrückten unter den Amis. Naja, die Zeiten ändern sich.« Ich grinste. »Na komm, so ganz dem Durchschnitt entsprichst du aber auch nicht, oder?« Rip zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Bist du hier fertig?« Ich nickte. »Ja, wenn ich von dir noch schnell die Unterlagen von James Junior bekomme, ist alles erledigt.« »Klar, ich hol' sie schnell.«

»Kommst du dann 'rüber in mein Arbeitszimmer? Ich denke, einen Kaffee und 'ne Kippe können wir beide gebrauchen.« Ich grinste. »Klar, aber lass' mich das hier erst noch fertig machen.« Ich kümmerte mich um die restlichen Daten, während Rip sich umzog. Dadurch, dass ich nur am Tresen saß, herrschte für mich zum Glück keine Kleiderordnung. Rip legte nur Wert darauf, dass ich nicht gerade mit zerrissenen Jeans auftauchte, aber das war ohnehin nicht meine Art. In jedem Fall sparte ich mir so den anderen gegenüber eine Menge Zeit.

Als ich in Rips Arbeitszimmer kam, war ich etwas verwundert. »Nanu, so in Schale?« Statt wie üblich eine Jeans und ein offenes Hemd zu tragen, saß Rip im kompletten Anzug an seinem Schreibtisch, inklusive Krawatte und silberner Manschettenknöpfe. Rip nickte. »Ja, wir haben gleich noch etwas vor.« »Wir?« Er sah auf. »Hat Lynn dir nichts gesagt? Wir wollten nachher mit euch zusammen essen gehen.« »Moment, Moment - wer mit wem?« »Lynn und ich mit dir, Nick, Julian und Luke.« »Nö, da weiß ich noch nichts von. Und das erfordert ein Nobeloutfit?« Rip grinste. »Nicht zwingend, aber ich fand es einfach mal wieder angebracht. Ich denke du kannst so bleiben, zur Not leih' ich dir aber auch gern eine Krawatte. Zum Glück bist du ja nicht im Hawaii-Hemd hier aufgeschlagen.« »Als wenn du mich schon mal in einem Hawaii-Hemd gesehen hättest.« »Hier, fang'.«

Rip warf mir eine Krawatte zu, die farblich sogar zum Hemd passte. »Na super - und wie geht man damit um? Ich erwürg' mich damit wahrscheinlich eher, als dass ich einen anständigen Knoten hinbekomme.« Rip grinste. »Kein Problem, ich zeig' es dir. Komm' mit in den Flur.« Ich stellte mich vor den Spiegel, Rip stand hinter mir. »So, pass auf - du legst das dicke Ende über das dünne, eine Schlaufe rechts, hinten 'rum, eine Schlaufe links, vorne 'rum, halbe Schlaufe, und einfach durchziehen.« Rip hatte das Ganze mit wenigen Handgriffen gemacht, und der Knoten saß perfekt. »Wow ... wie lange hast du daran geübt?« Rip grinste. »Als ich im Studium war, gab es ein ungeschriebenes Gesetz, dass wir mit Krawatte 'rumlaufen mussten. So was bleibt hängen, das ist wie Radfahren - wenn du es einmal kannst, verlernst du es nie wieder.«

Wir setzten uns wieder. »Du, Rip ... kann ich dich mal was fragen?« Er nickte. »Klar, nur zu.« »Warum hast du vorhin so allergisch reagiert, als du den Revolver gesehen hast?« Rip schloss für einen Moment die Augen und fragte dann: »Habe ich das?« Ich nickte. »Ja, hast du. Rip, wenn ich ehrlich sein soll - das war das erste Mal, dass ich ein wenig Angst vor dir hatte. So hab' ich dich noch nie erlebt.« Rip stand auf, hockte sich vor mir hin und nahm dann meine Hand. »Janosch, es tut mir leid, was vorhin passiert ist, und für einen Außenstehenden war die Reaktion überzogen. Ich möchte dazu nur zwei Dinge sagen: erstens, wenn so etwas je wieder passieren sollte, wird keinesfalls ein Mensch der mir nahesteht etwas davon abbekommen - dazu gehörst du schon lange. Und zweitens sei' mir bitte nicht böse, wenn ich dir nicht genau erkläre, was da bei mir los war. Nur ... ich bin auch nicht perfekt. Ich habe auch meine Schwachstellen.«

Der Zusatz »... und das ist eine.« hing unausgesprochen in der Luft, aber ihn auszusprechen, war absolut nicht nötig. Rip und ich sahen uns lange an - es war kein Kräftemessen nach dem Motto »Wer schaut zuerst weg.«, sondern jeder versuchte zu erkennen, was in dem anderen vorging. Wie gesagt, ich kannte Rip ziemlich gut, und aus diesem Grund respektierte ich seinen Wunsch, nicht weiter nachzufragen. Er würde seine Gründe haben. Wir kamen wieder auf ein unverfänglicheres Thema, und etwas später brachen wir auf ...


Eine Stunde später saßen wir in einer gemütlichen Ecke eines ruhigen Restaurants. Nick war mit uns mitgefahren, Julian war ebenfalls eingetroffen, also fehlten nur noch Mum und Luke. »Gibt es eigentlich einen besonderen Anlass?«, fragte Julian. Rip setzte ein Pokerface auf, aus dem absolut gar nichts abzulesen war. »Vielleicht möchten wir euch einfach nur mal einladen?« Julian lächelte. »Dad, ich glaube ich kenne dich zu gut. Irgendwas steckt doch dahinter?« Rip zuckte nur mit den Schultern. »Tja, wer weiß ...«

In diesem Moment kamen Mum und Luke herein. Luke war offensichtlich direkt von der Arbeit gekommen, jedenfalls trug auch er noch einen Anzug. Mum hatte sich richtig in Schale geworfen - sie trug ein rotes Kleid und hätte direkt aus einem Film zu uns gekommen sein können. Ich war ziemlich baff - ich konnte mich nicht erinnern, wann ich Mum zuletzt so gesehen hatte. Und auch Rip war angenehm überrascht. »Hallo Schatz.« Er stand auf, die beiden küssten sich zur Begrüßung. Nachdem alle saßen, brachte der Kellner die Aperitifs und zog sich dann zurück. Wir spürten, dass etwas in der Luft lag.

Schließlich ergriff Mum das Wort. »So, ihr Lieben ... ich merke, dass ihr alle ziemlich unruhig seid, und ihr könnt euch wahrscheinlich denken, dass wir euch nicht ohne Grund zusammengetrommelt haben.« Sie lächelte Rip zu, der weiterredete. »Anne und Richie konnten leider nicht kommen - Anne kann aus der Firma nicht weg, und Richie hat vorhin angerufen, dass sein Flug gestrichen wurde.« Rip trank einen Schluck - und ich konnte mich täuschen, aber für mich war es das erste Mal, dass ich ihn wirklich nervös erlebte. Nervös auf eine andere Art als vorhin ... diesmal war es wohl eher Aufregung. Seine Hand zitterte ein wenig, als er das Glas wieder abstellte.

»Okay. In Zukunft wird sich wohl einiges ändern, auch für euch, und aus diesem Grund sind wir heute hier. Wir haben schon mal ein paar Pläne geschmiedet, die wir mit euch durchsprechen wollen. Die Einzigen, die bisher etwas davon mitbekommen haben, sind Luke und Julian, weil wir sie ein Stück weit in die Planung mit einbeziehen mussten. Alles wisst ihr jedoch auch noch nicht.« Luke und Julian sahen sich erst gegenseitig und dann Mum und Rip fragend an. Beide ließen sich jedoch nichts anmerken.

Mum legte mir die Hand auf den Arm. »Janosch, du bist der Jüngste in der Runde, darum geht die folgende Frage zunächst an dich. Wie sehr hängst du an Hamburg?« Ich war von der Frage etwas überrumpelt. »Äh ... wie meinst du das?« Rip griff Mum unter die Arme. »Naja, könntest du dir vielleicht vorstellen, auch woanders zu leben?« Ich nickte. »Klar, kein Problem.« »Auch außerhalb von Deutschland?« fragte Mum. »Worauf wollt Ihr hinaus?« Mum ließ sich auf die Gegenfrage nicht ein. »Janosch, bitte sei' ehrlich - könntest du dir vorstellen, aus Deutschland wegzugehen, zumindest für ein paar Jahre oder so?« Ich seufzte ... was sollte ich dazu sagen? Grundsätzlich hatte ich damit kein Problem, andererseits war das jetzt ein Schuss ins Blaue. Doch plötzlich kam mir eine Idee. Ich grinste. »Ja, ich denke schon.«

Rip zwinkerte Mum zu. »Ich glaub', der Kleine hat was gemerkt.« Mum nickte. »Ja, das glaube ich auch.« Rip wandte sich an Nick. »Und wie sieht's bei dir aus? Würde dich hier irgend etwas halten?« Nick schüttelte den Kopf. »Nein. Ihr wisst ja, dass ich sowieso mit dem Gedanken spiele, nach L. A. zu ziehen.« Rip nickte. »Ja, das hattest du schon gesagt. Julian, Luke - mit euch beiden ist soweit schon alles geklärt. Lynn, ich glaub' dann müssen wir wohl in den sauren Apfel beißen.« Mum nickte. »Ja. Wer sagt es ihnen, du oder ich?«

Langsam breitete sich bei uns allen das große Grinsen aus - spätestens jetzt hatten wir wohl alle kapiert, worauf unsere Elternteile hinauswollten. Schließlich war doch Mum diejenige, die sich als Erste durchringen konnte. »Jungs ... Rip und ich haben beschlossen zu heiraten.« Natürlich begann jetzt erst mal das allgemeine Umarmen, Beglückwünschen und was so alles dazugehörte. Wir alle waren natürlich begeistert - und ehrlich gesagt fehlten mir die Worte, um das Ganze zu beschreiben. Nachdem sich der erste Rummel gelegt hatte, weihten Mum und Rip uns in Ruhe in ihre Pläne ein. Julian würde allein die Praxis in Hamburg und mit Natalie und Danny zusammen das Haus von Rip übernehmen. Mum hatte bereits eine Stelle bei der L. A. Times. Nick und ich sollten mit nach Los Angeles kommen, und Luke und Jessica würden mit in Hamburg bleiben.

Irgendwann nahmen Mum und Rip mich beiseite. »Sag' mal, Janosch, was wird dann eigentlich mit dir und Lars?« »Hm ... momentan läuft es sowieso nicht so gut zwischen uns, und ich denke das Ende ist absehbar.« Rip zog die Augenbrauen hoch. »Du hast nie was gesagt.« Ich zuckte mit den Schultern. »Es hat sich nie ergeben. Außerdem ist mir das auch erst in den letzten Tagen so richtig klar geworden.« Rip nahm mich in den Arm. »Ich hoffe, du stehst das durch, Kleiner - gerade wenn es die erste Liebe ist, ist es schwierig.« Ich nickte. »Ja. Aber es ist ja nicht so, dass wir Streit haben oder so, es passt nur einfach nicht mehr.« Mum streichelte mir übers Haar. »Trotzdem. Wenn du mit einem von uns reden willst, sag' einfach Bescheid, okay?« Rip nickte zustimmend.


Ein paar Tage später traf ich mich mit Lars. Wir setzten uns zusammen, eine seltsame Stimmung hing in der Luft. »Janosch, ich glaub' in den letzten Wochen läuft einiges schief, oder?« Ich nickte. »Ja, das Gefühl hab' ich auch.« Lars spielte nervös mit seinem Schlüsselbund. »Ich weiß nicht, was los ist - ich mag dich immer noch unheimlich gern. Du bedeutest mir wahnsinnig viel, und ich bin bisher mit keinem Jungen so lange zusammen gewesen, wie mit dir.« Ich lächelte. »Dasselbe könnte ich von dir sagen, davon abgesehen, dass du mein erster Freund bist.« Lars lächelte schwach. »Ich hoffe, du hast es nicht bereut?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, keine Minute.«

Schließlich war er derjenige, der aussprach, was wir beide uns wohl schon lange gedacht hatten. »Janosch, ich glaube es ist besser wenn wir unter das Thema Beziehung einen Schlussstrich ziehen.« Ich legte ihm meinen Arm um die Schulter. »Darüber habe ich auch schon nachgedacht.« »Und zu welchem Ergebnis bist du gekommen?« »Eigentlich zu genau demselben wie du. Nur - ich möchte dich als Freund nicht verlieren. Auch wenn das noch etwas schwerer werden wird, als ich zunächst befürchtet hatte.« Lars sah mich etwas verständnislos an. »Was meinst du?« »Na ja ... wir werden umziehen.« Ein fragender Blick. »Und wohin.« Ich lächelte ein wenig. »Nach Los Angeles.«

Jetzt war Lars ziemlich überrascht. »Aber wieso das denn?« »Weil Mum und Rip heiraten wollen.« »Echt?« Ich nickte. »Ja, wir haben es vor ein paar Tagen erfahren. Ich werd' mit nach L. A. gehen, und dann mal schauen was ich dort mache. Eigentlich hab' ich momentan noch gar keinen Plan, wie es dann weitergehen soll.« Lars nahm mich in den Arm. »Trotzdem wünsche ich dir dann alles Gute für die Zukunft. Janosch, auch wenn das jetzt nicht mehr dasselbe ist wie vorher, aber ich werde dich vermissen. Ganz ehrlich.« Ich erwiderte die Umarmung. »Glaub' mir, ich dich auch.« »Und, Janosch?« »Ja?« »Ich würde mich freuen, wenn wir trotzdem Freunde bleiben könnten.« »Auf jeden Fall.«

Wir saßen noch ein bisschen zusammen und unterhielten uns, aber irgendwie wollten wir eigentlich beide in diesem Moment allein sein. Ich brachte Lars zur Tür und ging dann zu Mum in die Küche. Es war seltsam - aber in diesem Moment wurde mir klar, dass ich mich gerade von meinem ersten Freund getrennt hatte, von dem Menschen, der mir über lange Zeit alles bedeutet hatte. Mum sah mich nur an, fragte nicht viel, sondern nahm mich einfach in den Arm. Ich fühlte mich seltsam - und es war das erste Mal seit langer Zeit, dass ich einfach nur heulen musste ...


Die ganzen nächsten Wochen waren eine Zeit der seltsamen Gefühle. Ich ging zu meinem Abschlussball, bekam mein Zeugnis, besuchte noch einige Klassenkameraden, um mich von ihnen zu verabschieden, und natürlich fingen wir an zu packen. Mitte Juni gaben Mum und Rip eine große Abschiedsparty, zu der alle Freunde, Verwandte und Bekannte eingeladen waren. Auch Lars und ich sahen uns dort. Die Stimmung zwischen uns war gemischt - ich verspürte einerseits den sehr starken Wunsch, ihn einfach in den Arm zu nehmen, und andererseits war da so etwas wie eine unsichtbare Barriere zwischen uns. Und zu dieser Zeit war ich mir nicht sicher, ob wir wirklich je normal miteinander umgehen können würden.

Auch das Ausräumen meines Zimmers war irgendwie seltsam. Nachdem wir damals unser altes Haus verkauft hatten, war das hier zum ersten Mal ein Ort, an dem ich mich wirklich frei und gleichzeitig sicher fühlen konnte. Überhaupt hing ich an der ganzen Wohnung ... wahnsinnig viele Erinnerungen hingen daran. Ich fand eine Menge Kleinkram wieder, den ich zum Teil schon lange gesucht hatte, aber von vielen Dingen trennte ich mich auch. Es war für mich eine Zeit des Abschieds und - mal wieder - des Neuanfangs. Die Zeit verging wie im Flug, und Langeweile war etwas, worüber ich mich nicht beklagen konnte.

Bevor wir endgültig umzogen, traf ich mich auch noch einmal mit Karin. Meine eigentliche Therapie war zwar schon seit einem halben Jahr beendet, aber dennoch sahen wir uns alle vier Wochen oder so, tranken einen Kaffee zusammen und unterhielten uns einfach so. Und wie so häufig bei den »letzten Treffen« vor so einem Abschied, wie er mir bevorstand, redeten wir über die vergangenen Jahre und wie sich die Dinge verändert hatten. Karin war der Meinung, dass ich stolz auf das sein konnte, was ich geschafft hatte, und ich war immer noch der Meinung, dass ich das allein niemals gepackt hätte. Wie schon die Beatles sagten: With a little help from my friends.

Bei Rip und den anderen herrschte natürlich Chaos ohnegleichen. Anne, Elijah, Richie und Jason waren zwischenzeitlich in Hamburg gewesen und hatten sich um ihre Sachen gekümmert, und Nick und ich hatten uns bereit erklärt, uns um die EDV-Anlage zu kümmern. Julian hatte bereits das Büro von Rip bezogen. Der wiederum verbrachte in diesen Wochen mehr Zeit im Flugzeug, als irgendwo anders, er pendelte zwischen Hamburg und Los Angeles, um verschiedene Sachen zu klären, in L. A. ein größeres Haus zu kaufen und natürlich um die Hochzeit vorzubereiten.

Kurz und gut: bei uns tobte das Leben, und von vielen Kleinigkeiten abgesehen, die immer schiefgehen, lief im Großen und Ganzen alles glatt. Schließlich war die Stunde des vorläufig letzten Abschieds gekommen: Julian, Natalie, Luke und Jessica brachten uns zum Flughafen, und am Abend des 7. Juli startete schließlich unser Flug vom Flughafen Hamburg-Fuhlsbüttel zum L. A. International Airport. Zum letzten Mal sah ich die Lichter von Hamburg in der Ferne verschwinden, und ich fühlte eine seltsame Mischung aus Aufregung und ... ich glaube, es war ein bisschen Abschiedsschmerz. Ich hatte mein ganzes Leben in Hamburg verbracht, und mir war klar, dass ich mit dieser Stadt immer verbunden sein würde.


Wie so oft hatte Rip in Los Angeles für alles Mögliche gesorgt. Unser neues Haus war einfach ein Traum, es lag ein wenig nordwestlich von L. A. in einem Vorort namens Sherman Oaks, ziemlich dicht am Strand - ziemlich dicht zumindest für amerikanische Verhältnisse. In der Stadt kam man zwar mit Bussen und der seit einigen Jahren existierenden U-Bahn weiter, aber wer außerhalb von L.A. wohnte, war ohne Auto ziemlich aufgeschmissen. Ich war zwar schon im Februar 18 geworden, aber bis dahin hatte ich mich noch nicht um den Führerschein gekümmert - mir hatte einfach die Zeit dafür gefehlt, und ich hatte mir den Schein für die Sommerferien vorgenommen. Das hatte sich mit dem Umzug erledigt, und Rip meinte, dass ich warten sollte, bis wir in L.A. waren, weil der Führerschein hier wesentlich einfacher war.

Ich war ein paar Mal mit dem Golf von Mum auf Rips Grundstück gefahren, aber das war schon ein bisschen was anderes als die Straßenkreuzer, die in den USA gang und gäbe waren. Für meine ersten Fahrstunden - die ich abwechselnd von Jason und Richie bekam - besorgte Rip uns ein altes Oldsmobile. Der Wagen war knapp fünf Meter lang, fast zwei Meter breit, und natürlich mit einem Vier-Liter-Motor und Automatikgetriebe ausgestattet. Die Automatik war ganz angenehm, davon abgesehen, dass ich am Anfang immer versuchte, mit dem rechten Fuß Gas zu geben und mit dem linken zu bremsen, aber das passierte mir nur die ersten Male. Ansonsten war das Auto natürlich nicht gerade gut zu fahren. Rip hatte darauf bestanden, dass ich zum Lernen auf solche Spielereien wie Tempomat und Servolenkung verzichten sollte ... naja, nachdem ich die theoretische Prüfung beim ersten Mal prompt versaut hatte, schaffte ich sie im zweiten Anlauf fehlerfrei, und so hatte ich nach sechs Wochen in Los Angeles meinen Führerschein.

Sprit war in den USA nach wie vor verhältnismäßig preiswert, und Rip hatte mir den Wagen überlassen und mir gesagt, ich sollte ihn fahren, bis er von selbst auseinanderfiel. Lange würde das nicht mehr dauern, aber da ich mich mittlerweile an mein Schlachtschiff gewöhnt hatte, machte mir das nichts aus, und außerdem war ich froh, überhaupt einen fahrbaren Untersatz zu haben. Ich erkundete die Stadt und die Umgebung, und jeden Tag gab es etwas Neues zu entdecken. Ich war völlig fasziniert von den Maßstäben, die die Amerikaner ansetzten - ob es nun der Blick von der Vincent-Thomas-Bridge über den Hafen von Los Angeles war, die Filmstudios in Hollywood (die mittlerweile kaum noch in Betrieb waren, sondern überwiegend als Zuschauerattraktionen dienten), Chinatown, Malibu, Venice - alles war viel größer als in Deutschland.

Und natürlich durchgeknallter. Kalifornien galt ohnehin als einer der verrücktesten Bundesstaaten in den USA, und der Mittelpunkt aller verrückten war ohne Frage Venice Beach. Hier hingen Gestalten 'rum, wie man sie sonst nur aus Filmen kannte. Auf den Straßen musste man zum Teil aufpassen, nicht von Kids mit Inline-Skatern oder anderen Fortbewegungsmitteln über den Haufen gefahren zu werden, aus allen Ecken tönte Musik der unterschiedlichsten Stilrichtungen, und es konnte einem auf hundert Metern drei oder viermal passieren, dass man angequatscht wurde, ob man nicht zufällig Ecstasy, Heroin, Hasch, Marihuana oder sonst irgendwelche Drogen kaufen wollte.

Nachdem Mum und ich uns in L.A. eingelebt hatten, nahmen Richie, Jason, Josh und Nick mich für ein paar Tage mit auf einen Kurzurlaub nach San Francisco. Wir übernachteten in einem gemütlichen Hotel mitten im Castro Quarter, dem schwulen Viertel im Herzen der Stadt. Hier wurde man als Schwuler nicht irgendwie schief angesehen, sondern man war schlicht und einfach normal. Auch wenn ich nicht der Typ war, der sich nun Rainbow-Pins an die Jacke oder Aufkleber auf die Stoßstange des Autos klebte, hier fühlte ich mich dennoch wohl.

Josh hatte jahrelang in Frisco gewohnt und zeigte uns die Stadt. Er kannte viele Schleichwege, mit denen man die Staus auf den Straßen umgehen konnte, und viele Sehenswürdigkeiten, die nicht in den Reiseführern standen. Natürlich besuchten wir auch die Standard-Attraktionen - eine Fahrt im Cable Car samt Besuch im dazugehörigen Museum gehörte genauso dazu wie ein Ausflug zur Transamerica Pyramid oder eine Fahrt über die Golden Gate Bridge. Außerdem lernte ich gleich am ersten Abend in einer Bar im Castro Quarter Todd kennen.

Todd war ein wenig älter als ich, verdammt süß und stammte aus Sacramento. Er war ein typischer California-Boy, wie man ihn sich vorstellte - mit schulterlangen dunkelblonden Haaren (auch wenn die Frisur ein bisschen an Nik Kershaw in den 1980ern erinnerte), einem breiten Lächeln und einem Körper, dem man ansah, dass er viel Zeit im Wasser verbrachte. Uns beiden war von vornherein klar, dass wir nur ein paar schöne Tage miteinander verbringen würden, aber diese Tage genossen wir in jeder Hinsicht in vollen Zügen. Die anderen waren zwar erst mal etwas skeptisch, aber schließlich war Nick derjenige, der mir Rückendeckung gab und die anderen davon überzeugte, dass ich mittlerweile auch alt genug war, um so etwas allein entscheiden zu können.

Die Tage in San Francisco vergingen wie im Flug, und in Nullkommanichts war ich wieder in Los Angeles. Wir hatten Anfang August, und somit begann die heißeste Zeit des Jahres in Kalifornien. Zum Glück wohnten wir etwas außerhalb der Stadt, und der Ort lag ein wenig höher als das Stadtzentrum. Das war für das Klima in jedem Fall günstig, und wir verbrachten viele lange Abende auf der Veranda. Um uns herum wohnte eine zum Teil ziemlich bekannte Gesellschaft, und besonders Mum reagierte zunächst etwas überrascht, wenn uns beim Einkaufen mal jemand über den Weg lief, den man sonst nur von der Leinwand oder aus dem Fernsehen kannte. Dementsprechend fiel auch die Einzugsparty aus, die es gut acht Wochen nach unserem Einzug gab. Es war hier in der Gegend üblich, dass zumindest die Nachbarn aus demselben Straßenblock eingeladen wurden, und das waren nicht wenige.

Nicht zuletzt durch seinen Beruf kannte Rip schon einige von ihnen, und auch Jason und Richie - die beide aushilfsweise bei den Filmgesellschaften arbeiteten - hatten einige Kontakte geknüpft. Irgendwann sprach mich an diesem Abend eine Frau an, die ungefähr in Mums Alter war. Ich kannte sie nicht und war darum ziemlich perplex. »Ich hab' dir vorhin mal ein bisschen zugehört ... bist du Deutscher?« Ich nickte. »Ja, gebürtig zumindest. Wieso?« »Du hast eine angenehme Stimme.« Ich errötete ein wenig - na gut, wohl ein wenig mehr, um genau zu sein. In diesem Moment kam schon Richie dazu.

»Hi Fiona.« begrüßte er sie. »Hallo, Richie, wie geht's dir?« Richie grinste. »Gut, und dir? Schon wieder auf der Jagd?« Die Angesprochene zwinkerte ihm zu. »Du weißt doch, in meinem Beruf arbeitet man immer. Gehört der junge Mann hier zu euch?« Richie nickte. »Das ist mein angehender Stiefbruder.« Er klopfte mir auf die Schulter. »Ich darf vorstellen - Fiona O'Hara, Casting Specialist bei Warner Brothers, Janosch Reilly, der damals auf der Kartbahn fast von meinem Schatz abgeschossen worden wäre.« »Ach, der bist du - na ihr scheint das ja beide unbeschadet überstanden zu haben. Freut mich, dich kennenzulernen.« Ich ergriff die Hand, die sie mir hinhielt, und schüttelte sie - dabei hatte ich allerdings ein etwas ungutes Gefühl im Magen. Was wusste sie wohl noch über mich?

In diesem Moment wurde Fiona von einem anderen Mann angesprochen. »Sekunde, Jungs.« Ich drehte mich sofort zu Richie um. »Was hast du ihr denn noch über mich erzählt?« Richie legte mir die Hand auf die Schulter. »Keine Sorge, keine Familienangelegenheiten. Aber wir saßen vor einiger Zeit mal abends nach dem Dreh zusammen und kamen auf kleine Unfälle zu sprechen, da haben Jason und ich die alte Geschichte mit dem Kart ausgepackt. Ich hoffe das ist okay für dich?« Ich nickte erleichtert. »Klar, keine Sorge ... ich dachte nur ...« Richie drückte mich kurz an sich und flüsterte mir ins Ohr: »Kleiner, so gut solltest du mich kennen - ich werde dir bestimmt nicht in den Rücken fallen.«

Schon war Fiona wieder bei uns. »Sag' mal, du heißt Reilly - hast du irische Verwandtschaft?« Ich nickte. »Ja, meine Mum kommt gebürtig aus Dublin.« Sie strahlte. »Klasse, meine Eltern stammen aus Kilkenny.« Richie grinste. »Na denn Prost.« Natürlich zielte er auf das gleichnamige Bier ab. »Du denkst natürlich immer zuerst ans leibliche Wohl.« »Na klar doch.« Fiona wandte sich wieder mir zu. »Sag' mal, was machst du beruflich?« Ich grinste. »Momentan helfe ich bei Rip in der Praxis mit - so war es zumindest als wir noch in Hamburg gewohnt haben.« Fiona nickte und betrachtete mich dann von oben bis unten. »Hättest du Lust mal was anderes zu machen?«

Ich sah sie etwas skeptisch an. »Äh ... was genau?« »Ganz einfach: Wir müssten noch eine Nebenrolle in einem Film besetzen - keine Sorge, nichts großartiges. Es geht um Folgendes: ...« Fiona erklärte mir das ganze in wenigen kurzen Sätzen. Es ging um den Produzenten einer Zeichentrickserie, und am Anfang dieses Films sollten auch einige Szenen aus dem Studio gezeigt werden. Dafür brauchte man noch ein paar Synchronsprecher, und eine der Figuren sollte sowieso mit einem deutschen Akzent sprechen. »Das wären vielleicht drei oder vier Drehtage, mehr nicht - und wir zahlen recht gut für solche Nebenrollen. Hättest du Lust dazu?«

So richtig überzeugt war ich noch nicht. »Mrs. O'Hara ...« Sie winkte gleich ab. »Oh, Fiona reicht völlig aus.« »Okay ... Fiona ... ich weiß nicht so richtig. Ich meine, ich hab' absolut keine Erfahrung auf dem Sektor.« »Das brauchst du auch nicht. Darum würden wir uns schon kümmern. Also, der aktuelle Tarif in der Klasse wären glaube ich 170 Dollar pro Drehtag, an dem du eingesetzt wirst, Versorgung am Set gibt's gratis dazu. Und weil du's bist leg' ich noch eine Eintrittskarte für die Movie World obendrauf.« Das klang ja ohne Frage verlockend, aber so ganz sicher war ich mir immer noch nicht.

Richie hatte die ganze Zeit dabeigestanden und grinsend den Kopf geschüttelt. »Du arbeitest wirklich rund um die Uhr.« »Da wirst du dich auch noch dran gewöhnen, mein Lieber. Bevor ich's übrigens vergesse: Du sollst morgen, bevor du deinen Dienst antrittst, mal zu Paul ins Büro kommen. Eigentlich kannst du Janosch dann ja mitbringen - dann kann der mal einen Tag bei uns 'reinschnuppern und sich dann immer noch überlegen, ob er das wirklich machen will.« Richie nickte. »Kein Problem. Hat Paul irgendeine Zeit vorgegeben?« Fiona schüttelte den Kopf. »Nein, irgendwann im Laufe des Vormittags meinte er. Er weiß ja, dass Ihr heute feiert.« fügte sie hinzu.

Sie wandte sich wieder an mich. »Janosch, eines möchte ich noch klarstellen: Es geht hier nicht um eine Top-Produktion und ich will dir auch nicht vermitteln, dass das für dich das große Karriere-Sprungbrett werden könnte. Aber nachdem was Richie so erzählt hat, scheinst du ein ganz vernünftiger Kerl zu sein, der auch mal so einen Job übernehmen kann, ohne sich deswegen gleich einzubilden, dass er jetzt der große Hollywood-Star wird.« »So wie ich zum Beispiel?« Das war eindeutig Jasons Stimme. Er und Fiona umarmten sich zur Begrüßung. »Nein, Jason - ich denke, du weißt von allen hier Anwesenden am besten was ich meine, oder?« »Ich denke, ich weiß zumindest was du meinst«, erwiderte Jason.

Irgendwie fühlte ich mich von Fionas Angebot etwas überfahren, aber andererseits konnte ein kleiner Nebenjob nicht schaden. Ich hatte mich, seit wir hierher gezogen waren, noch nicht mal um einen Studienplatz gekümmert, aber irgendwie musste ich ja langsam mal sehen, dass bei mir etwas in dieser Hinsicht passiert. Und so saß ich wenigstens nicht tatenlos zuhause 'rum und lebte in den Tag hinein. Also überlegte ich nicht mehr großartig und sagte Fiona schließlich zu, dass ich mir das zumindest mal ansehen würde. Wir einigten uns darauf, dass ich am nächsten Tag mit Richie zusammen zum Set fahren sollte.


Am nächsten Morgen holte Richie mich so gegen neun Uhr ab - noch hatten die beiden ihre eigene Wohnung, waren aber schon dabei, den Umzug vorzubereiten. Ich war zwar noch nicht ganz fertig, aber er nutzte die Zwischenzeit, um mit Mum einen Kaffee zu trinken. Die beiden verstanden sich ebenso gut wie ich mich mit Rip, und wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätten sich die zwei nicht dazu entschlossen, zusammenzuziehen. Jedenfalls klappte das neue Familienleben besser als erwartet. Ich setzte mich noch auf eine halbe Tasse Kaffee zu Mum und meinem neuen Stiefbruder, und dann fuhren wir gemeinsam nach Burbank.

»Und, bist du aufgeregt?«, fragte Richie mich - ob er wohl darauf kam, weil meine Hand zitterte, als ich mir eine Zigarette anzündete? »Naja, schon ein bisschen, um ehrlich zu sein.« Richie lächelte. »Keine Sorge, das geht gleich vorbei. Hast du schon eine Vorstellung, wie das ganze ablaufen wird?« Ich schüttelte nur schweigend den Kopf. Richie wechselte die Fahrspur und erzählte dann ein bisschen. »Also, Paul ist der Regisseur, den wirst du gleich kennenlernen - er spricht mit allen Leuten, die neu dazukommen. Paul ist zwar manchmal etwas hektisch, aber sonst wirklich okay. Fiona ist für das Casting zuständig, das heißt, sie sucht im Vorfeld nach Schauspielern für den Film.« »Und was machst du dabei?« »Ich bin Assistent des Produktionsassistenten - oder kurz gesagt, Mädchen für alles«, antwortete Richie. »Das geht von der Prüfung des Sets vor Drehbeginn bis hin zu organisatorischen Dingen und so was. Meistens springe ich überall gleichzeitig 'rum, je nachdem wo ich gerade gebraucht werde.«

»Wie bist Du eigentlich an den Job 'rangekommen?« »Paul hat bei uns an der Uni eine Vorlesung gehalten, und einige von uns haben sich anschließend noch mit ihm unterhalten. Und da hat er uns gefragt ob wir nicht Interesse hätte, mal ein bisschen Filmluft zu schnuppern. Tja, und einige von uns hatten Interesse.« Er blinkte, bog ab und hielt dann an einem großen Tor. »Guten Morgen, Joe.« begrüßte er den Pförtner und hielt ihm seinen Zugangsausweis hin. »Das hier ist Janosch Reilly, er müsste von Fiona O'Hara angemeldet worden sein.« Joe warf einen Blick auf seine Liste und nickte dann. »Ja, ist er. Ich bräuchte aber trotzdem kurz seinen Führerschein oder so.« Ich kramte das gewünschte Dokument aus der Tasche und gab es ihm. Er warf einen kurzen Blick darauf, nickte freundlich und ließ uns dann weiterfahren.

»Kennst du alle hier in den Studios?«, fragte ich Richie. Der schüttelte den Kopf. »Nein, längst nicht alle - aber Joe ist schon seit Ewigkeiten dabei, ich habe hier noch nie jemand anderen am Tor gesehen als ihn.« Wir setzten die Fahrt fort - ich hatte gedacht, dass wir den größten Teil der Strecke geschafft hätten, aber das Gelände von Warner war ziemlich groß - und so waren wir noch knapp zehn Minuten unterwegs, bis Richie endlich das Auto abstellte. »So, noch mal tief durchatmen, einmal kräftig schlucken, und vor allem: keine Panik, Janosch - dir wird schon keiner den Kopf abreißen.« Langsam wurde ich aber so richtig nervös. Richie sah mich an, lächelte und nahm mich dann in den Arm. »Wird schon schiefgehen, Kleiner.« »Hoffen wir das beste.«

Wir betraten die große Halle. Hier herrschte geschäftiges Treiben - überall liefen Leute herum, es wurden Wände durch die Gegend geschoben und Leute riefen irgendwelche Anweisungen durch die Gegend. Richie eilte zwischen den einzelnen Hindernissen durch, grüßte hier und da jemanden und schleppte mich gnadenlos mit. Schon nach wenigen Sekunden hatte ich hoffnungslos die Orientierung verloren und folgte ihm blind, bis wir schließlich hinter einem hochgewachsenen Mann mit einer Lederweste und eine Baseballmütze auf dem Kopf stehen blieben. »'n Morgen, Paul.« Der Angesprochene drehte sich um. »Hallo Richie, schön dass du auch schon da bist. Unser ganzer Zeitplan ist mal wieder durcheinandergeraten, Jeff ist ausgefallen und wir haben noch niemanden für die Studioszenen.«

»Wie, hat Fiona noch nicht mit dir gesprochen?« Und zu mir gewandt fügte Richie hinzu: »Jeff ist unser Hauptdarsteller.« Paul schüttelte den Kopf. »Nein, ich hab' sie vorhin nur ganz kurz gesehen. Wen hast du da angeschleppt?« »Das ist Janosch - und der Grund weshalb Fiona mit dir hätte sprechen sollen. Die beiden haben sich gestern Abend bei uns kennengelernt und Fiona meinte, er wäre 'ne gute Besetzung.« Paul musterte mich von oben bis unten und kratzte sich dann den Bart. »Hm ... damit könnten wir die Szene vorziehen und würden nicht zu viel Zeit verlieren ... hast du schon Erfahrung mit Filmen?«, fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Sir, überhaupt nicht.« »Hm ... noch nicht mal einen Werbespot oder so?« Ich schüttelte nur den Kopf.

»Janosch ist erst seit ein paar Wochen hier, er ist mein Stiefbruder, von dem ich dir schon erzählt hatte.« »Ah, alles klar.« Jetzt konnte Paul mich offensichtlich zumindest einordnen. »Okay, John, dann sollten wir erst mal ein Casting machen.« Richie grinste. »Er heißt Janosch, Paul, nicht John.« »Oh, sorry.« Ich winkte ab. »Kein Problem.« Paul warf einen suchenden Blick in die Runde. »Eddie! Komm' mal kurz her! Und sieh' zu, dass du Jennifer auftreibst!«, rief er dann durch die Halle. Einige Sekunden später standen zwei Leute vor ihm. »Was gibt's denn?« »Jennifer, wir haben hier eventuell einen neuen Kandidaten für die Rolle von Kenny - mach' ihn doch bitte mal ein bisschen für die Rolle zurecht. Und Eddie, du kümmerst dich bitte darum, dass wir ein paar Probeaufnahmen machen können. In einer halben Stunde geht's los. Richie, du kommst mit mir.«

Richie drehte sich noch mal kurz zu mir um. »Okay, Kleiner, jetzt wird's ernst. Lass' dich nicht durcheinanderbringen, gerade mit neuen Leuten werden gern mal Späße gemacht. Und ansonsten bleib' ganz locker. Wenn was ist, ich hab' mein Handy dabei, da kannst du mich erreichen. Ich drück' dir die Daumen, wir sehen uns nachher.« Er schüttelte mir die Hand und rannte dann hinter Paul her, der schon um die Ecke verschwunden war. Jennifer lächelte mich freundlich an. »Hi, ich bin die Maskenbildnerin hier, du kannst mich ruhig Jenny nennen.« Ich nickte. »Okay ... ich bin Janosch.« »Äh ... wie spricht man das aus?« »Janosch«, erklärte ich ihr noch einmal langsam. »Hast du 'nen Spitznamen oder so?« Ich überlegte kurz. »Nenn' mich einfach John.« Sie grinste. »Dann Johnny, passt besser zu dir.« Ich zuckte die Schultern. »Okay.«

Zwischenzeitlich waren wir in der Maske angekommen. »Okay, setz' dich hin. Also, Probeaufnahmen - da müssen wir nicht viel machen. Und auch sonst passt du schon recht gut auf das, was wir uns für Kenny überlegt hatten ...« Sie drehte mich ein bisschen im Licht und verschwand dann. Zwei Minuten später kam sie mit einigen Klamotten im Arm wieder. »Okay, das Zeug müsste dir passen. Noch ein bisschen Farbe ins Gesicht und dann kannst du dich umziehen.« Sie drückte mich auf einen Stuhl und fing dann an, hier und da etwas Make-Up aufzutragen. Meine Haare kämmte sie glatt zurück und fixierte sie mit etwas Haargel. Dann betrachtete sie mich. »Cool. Okay, dann kannst du dich umziehen, da hinten sind die Kabinen - pass auf, dass du das Zeug nicht wieder verschmierst. Ach ja, welche Schuhgröße hast du?« »Äh .... 46.« »Hm?« Ups ... ich hatte schon wieder vergessen dass ich in den USA war. »Das müsste Größe 12 sein.« »Okay, dann bis gleich.«

Ich ging in eine Kabine und fing an, mich umzuziehen. Die Klamotten waren nun gar nicht mein Fall - eine helle Jeans mit Hosenträger, ein weißes T-Shirt und dazu eine Jeansjacke. Aber wenigstens passte das Zeug. Kaum war ich fertig, schob Jenny mir ein paar weiße Turnschuhe unter der Tür durch. »So, die müssten dir passen.« Ich probierte sie an - und auch die Schuhe passten perfekt. »Zeig' dich mal wenn du fertig bist.« rief Jenny von draußen. In der Kabine war kein Spiegel, ich versuchte trotzdem die Klamotten so hinzubekommen, wie ich dachte, dass sie sitzen sollten. Dann schluckte ich einmal und ging nach draußen.

Jenny musterte mich und schüttelte dann den Kopf. »Nein ... so ganz perfekt ist das noch nicht. Warte mal ... darf ich?« Ihre Hände verharrten auf halber Höhe vor meinem Hosenbund. Ich nickte vorsichtig. »Äh ... okay.« Sie zog mir die Hose etwas höher, rückte die Hosenträger zurecht und nestelte dann noch etwas an meinen Haaren herum. »Cool ... viel besser so. Aber irgendwas ... ah! Nimm' mal deine Uhr ab, du kannst sie zu deinen Sachen legen.« Sie drückte mir eine andere in die Hand - eine uralte Digitaluhr, so etwas hatte ich als kleines Kind gehabt. »Jetzt ist es perfekt. Okay, schau' dich mal im Spiegel an.«

Ich drehte mich um, und mir fiel die Kinnlade herunter - das konnte doch unmöglich ich sein??? Ich sah aus, als wäre ich direkt aus einem Plakat der 80er entsprungen, aber nicht wie ich selbst. Mein Gesicht hatte sie ein bisschen dunkler geschminkt, und so wie meine Haare lagen, konnte man fast meinen, ich hätte zu lange über einem Lüftungsschacht gestanden. Jenny grinste. »Sieht doch klasse aus, oder?« Ich nickte schwach. »Äh ... ja. Ist nur etwas ungewohnt.« Sie klopfte mir auf die Schulter. »Haben Paul und Richie dir nicht gesagt, dass der Film in den frühen 80ern spielt?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein ... nicht wirklich.« Sie schob mir zur Tür hinaus. »Okay, Kleiner, dann mal 'ran. Wir liegen noch gut in der Zeit, aber ich denke Eddie wird auch schon alles vorbereitet haben.« Na das konnte ein Spaß werden ...

Lesemodus deaktivieren (?)