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Cupola
Die Zeichen der Schatten
Teil 1 - Die Zeichen der Schatten
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Informationen
- Story: Cupola
- Autor: Ringo Banger
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery
Inhaltsverzeichnis
Runghold
Anvar lag still und regungslos auf dem noch von der Sonne erwärmten Stein. Sein Blick war dem Himmel zugewandt. Er beobachtete das träge Wabern des Energiefeldes. Bläulich schimmernd nahm man die Kuppel, die das Städtchen Runghold umschloss, an manchen Tagen kaum war, an anderen Tagen schien das blaue Licht, das von dem Obelisken ausging, alles auszufüllen. Auch wenn man die Energie nicht sah, sie war immer da. Eigentlich war gerade diese Energie der Grund, dass es Runghold noch gab. Sie hielt die Monster fern. Anvar streckte müde die Arme, dann blickte er hinab auf sein Heimatdorf. Runghold lag am Fuße eines alten Berges. Dort auf den Hängen saß Anvar und hatte den Nachmittag über gedöst. Hier war es angenehm ruhig und die Sonne wärmte die Felsen des Berges auf. Anvar mochte das. Es gab ihm ein Gefühl von Geborgenheit. Die späte Sommersonne spiegelte sich auf den abgenutzten Häuserdächern. Runghold war eine alte Zwergenstadt, doch die Zwerge lebten hier schon lange nicht mehr. Alles was von dem einstigen Glanz dieser Kultur übrig geblieben war, waren die Ruinen der alten Stadtmauer und das Rathaus. Menschen lebten hier, zweifelsohne wegen dem Obelisken. Es war ein altes Relikt aus der Zeit vor dem Krieg. Die Zwerge hatten sie gebaut. Die Energie des Obelisken wirkte wie ein magischer Schild, der es vermochte, die Kreaturen der Schatten fern zu halten. Im Schutze dieser Energien waren neue Siedlungen entstanden. Doch wie viele Obelisken es gab, das wusste niemand. Man hatte wenig Kontakt mit der Außenwelt. Früher hatte es mal einen regen Handel mit einem Dorf weiter im Westen gegeben. Doch eines Tages erlosch ihr Obelisk. Seitdem hatte man von ihnen nichts mehr gehört. Anvar kannte die Geschichten aus der Zeit vor seiner Geburt. Dort mussten die Menschen nicht in den Energiekuppeln leben. In großen Städten lebten tausende von Menschen, Zwergen und Elben. Es gab mächtige Königreiche und Dynastien und Überfluss für alle. Doch all das änderte sich, in dem großen Krieg. Die Elben waren es, die ihn begannen. Es waren die Menschen, die ihnen die Stirn boten. Nach 100 Jahren Krieg gab es keinen Platz mehr für Sieger. Doch wer die große Bombe warf, die den Riss zwischen den Welten öffnete, weiß heute niemand mehr. Der Riss war der Sargnagel der alten Welt gewesen. Es war eine Öffnung in eine andere Dimension. Durch ihn strömten die Monster in die Welt. Kreaturen der Schatten, die alles Lebendige angriffen. Weder Elben noch Menschen konnten dieser neuen Bedrohung Einhalt gebieten. So blieb nur die Flucht unter die Kuppeln. Doch auch das war schon lange her. Das Zeitalter von Menschen und Elben war vorbei. Nun herrschten die Kreaturen der Finsternis, angeführt von den geheimnisvollen Schatten über die Welt.
Anvar stand auf. Er hatte zu lange auf dem harten Stein gelegen. Sein Rücken war steif und schmerzte. Er streckte seine Glieder und stieg hinab ins Tal. Sein Müßiggang würde sicher folgen haben. Anvars Lehrmeister Bator, der Dorfschmied von Runghold, war ein strenger Mann. Er hatte Anvar bei sich aufgenommen, nachdem seine Eltern gestorben waren, als er gerade fünf war. Er bot ihm ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit am Tag. Dafür musste Anvar die Essen anfeuern. Es war eine harte Arbeit, doch er tat sie gerne. Anvar trug einen schönen Dolch an seinem Gürtel. Eine kurze Klinge mit einem Griff aus Knochen. Es war seine erste wirkliche Schmiedearbeit gewesen. Natürlich schmiedeten sie auch Werkzeug, Hufeisen und anderes, doch jedes Kind musste früher oder später den Umgang mit einer Waffe erlernen. Und diese Waffen mussten natürlich geschmiedet werden. Speerspitzen, Kurzschwerter, Beschläge für Schilde und Äxte waren nur ein paar der Erzeugnisse aus Bators Schmiede. Manch einer wird sich vielleicht fragen, warum man so viele Waffen braucht, wenn es doch einen Obelisken gibt, der alle beschützt. Anvar hingegen kannte die bittere Antwort auf diese Frage. Als er fünf war, brach die Barriere des Obelisken zusammen. Es dauerte Stunden, bevor sie wieder hergestellt wurde. Monster stürmten die alten Zwergenmauern und griffen das Dorf an. Anvars Eltern überlebten den Angriff nicht. Sie und viele andere. Dieser Tag war von da an bekannt als die schwarze Nacht. Die Nacht an der die Barriere brach.
Anvar trottete den schmalen Trampelpfad herunter, der ins Dorf führte und hing diesen Gedanken nach.
„Anvar!“
Anvar sah auf und sah einen jungen Mann, der mit freiem Oberkörper auf einem der Felder neben dem Pfad stand und sich auf seine Harke lehnte.
„Anvar“, rief der junge, als Anvar ihn bemerkt hatte. „Du solltest dich besser beeilen. Bator hat nach dir gesucht. Das wird Ärger geben.“
Anvar winkte träge ab.
„Bator ist immer schlecht gelaunt. Spar dir die Luft, Ruko“, rief Anvar zurück.
Ruko lachte.
„Du wirst sicher wieder draußen schlafen!“
Anvar rollte mit den Augen und ging weiter. Als er fast bei der Schmiede war, flog die Türe auf und Bator stürmte heraus. Bator war ein großer, stämmiger Mann, dessen Haar im Alter langsam lichter geworden war. Er trug einen dichten Bart, der ihm fast bis zur Brust reichte. Er hob drohend einen seiner massigen Arme.
„Du brauchst gar nicht erst herkommen! Ein Dach überm Kopf kriegt nur, wer dafür auch arbeitet!“, brüllte er Anvar entgegen. Anvar hob die Arme in die Luft.
„Wieso denn das?“, rief er zurück. „Du meintest ich soll zum alten Gorski und ihm sagen, dass das mit dem Pflug noch länger dauert. Das hab ich gemacht!“
Bator winkte Anvar zornig ab.
„Das war vor zwei Stunden! Halt mich nicht zum Narren! Ich will dich heute nicht mehr sehen.“
Bator drehte sich um und stürmte zurück in die Schmiede. Anvar legte genervt den Kopf in den Nacken.
„Na toll“, murmelte er leise.
Anvar sah zum Horizont. Die Sonne berührte den Rand der Berge bereits. Es würde bald dunkel werden.
Das war nicht das erste Mal, dass Anvar die Nacht im Freien verbringen musste. Bator hatte eine kurze Zündschnur. Anvar ging vorbei am Rathaus, auf dessen Spitze der Obelisk thronte, entlang der Hauptstraße zum alten Zwergenwall. Hauptstraße war ein großes Wort, für die alte Pflastersteinstraße. Eine Hand voll Häuser standen dort, vornehmlich die Handwerker und Geschäfte. Es gab einen Metzger, einen Tischler und ein kleines Geschäft für Kleidung. Etwas abseits hatte der Bäcker seine Stube. Eine kleine Mühle auf dem Dach seines Ladens zog langsam seine Kreise im Wind. Dann war da natürlich noch die Dorfkneipe, in der sich abends die Männer trafen, tranken und über das Tagwerk redeten. Als er an der kleinen Schenke vorbeikam, stand Ruko rauchend vor der Türe und unterhielt sich mit dem Bäckergesellen. Als er Anvar sah, fing er an zu grinsen.
„Ich hab es dir doch gesagt!“, rief er Anvar hinterher. „Brauchst du einen Platz für die Nacht?“
Anvar verzog den Mund.
„Ich hab einen Platz für alle Fälle, mach dir da mal keine Gedanken“, log Anvar. Er wollte sich vor Ruko nicht die Blöße geben.
„Trinken wir bei Zeiten ein Bier?“
Ruko nickte.
„Klar Anvar. Treib‘s nicht zu wild!“, rief er Anvar nach, während er weiter ging.
Ruko war nicht verkehrt, doch neigte er zum Tratschen. In Runghold kannte jeder jeden und Gerüchte blieben nicht lange unter sich. Außerdem gab er gerne an. Anvar hatte die Stadtmauer erreicht. Über die Jahre waren Teile des Walls eingebrochen und von den Bürgern von Runghold durch Holzpalisaden ersetzt worden. Er ging hinüber zum Tor. Es war mit einem Riegel verschlossen, ansonsten war niemand hier. Die Wache ging vermutlich gerade seine Runde. Anvar ging in das Torhaus, ging die Treppe hoch auf den Wall und folgte diesem bis zu einem eingestürzten Turm. Er stieg über ein paar Trümmer, hinein in den alten Treppensturz. Hier war er geschützt vor Regen und Unwetter und konnte gleichzeitig über die Mauer sehen. Vor der Stadt gab es gewaltige Wälder, die angeblich den ganzen Kontinent bedeckten. Vielleicht war Runghold ja das letzte Dorf, in dem Menschen lebten, dachte Anvar. Der letzte Obelisk, der noch nicht erloschen war. Anvar würde es nicht herausfinden können. Niemand der die Kuppel je verlassen hatte, durfte zurückkehren. Es lag an den Schatten. Die Schatten waren die mysteriösen Drahtzieher der dunklen Kreaturen und sie konnten Menschen mit Dunkelheit umhüllen. Dadurch wurden sie zu leeren Hüllen der einstigen Menschen, die sie mal gewesen waren. Sie wurden zu Marionetten der Schattenkreaturen und die Gefahr, dass sie einen Schläfer in der Stadt einschleusen könnten, war eine sehr reale Bedrohung. Einige Sagen, es war der Grund, dass der Obelisk in der schwarzen Nacht versagt hatte.
Anvar setzte sich in den Rahmen der alten Türe,schaute noch ein wenig hinaus auf den Wald und machte die Augen zu.
Anvar träumte von der Welt außerhalb der Kuppel. Von fremden Städten und exotischen Ländern. Er träumte vom Meer, von dem er gehört hatte, von den endlosen Wassermassen, die bis zum Horizont reichen sollen. Er konnte es sich nicht vorstellen, dass es soviel Wasser geben sollte. Aber eigentlich konnte er sich nichts außerhalb der Kuppel vorstellen. Nichts außer Monstern und Schrecken.
Der Elb
„Hilfe!“
Anvar blinzelte schläfrig. Hatte er es geträumt? Jemand hatte um Hilfe gerufen. Es war fast, als hätte er es wirklich gehört. Müde streckte Anvar die Arme. Es war spät in der Nacht. Vielleicht schaffte er es ja noch ein paar Stunden zu schlafen, bevor er sich eine Entschuldigung für Bator ausdenken musste.
„Hilfe!“
Anvar fuhr hoch und saß mit einem Mal kerzengerade. Dieses Mal hatte er es definitiv gehört. Er krabbelte zur Kante der Mauer und sah hinunter auf die Stadt. Doch er konnte niemanden sehen.
„Bitte…“
Anvar wirbelte herum. Die Stimme kam nicht aus Runghold, sondern…
Auf allen Vieren krabbelte Anvar auf die andere Seite der Mauer und schaute hinab. Im matten Licht des Mondes war es schwer etwas auszumachen. Hatte er dort etwas gesehen? Eine Bewegung? Er konnte es nicht sagen. Anvar sprang auf und lief die Treppe im Torhaus hinunter. Als er am Tor war, zögerte er einen Moment. Dort draußen konnte alles lauern. Aber wenn dort wirklich jemand seine Hilfe brauchte?
„Ach, verdammt!“, murmelte Anvar und hob den Riegel. Mit einem Ruck stieß er das Tor auf und lief vor die Mauer. Er lief bis zum eingestürzten Turm und sah sich um. Das Gras stand hier hüfthoch.
„Hallo?“, rief Anvar leise, doch es kam keine Antwort. Hier war niemand. Plötzlich überkam Anvar ein ungutes Gefühl. Wie unbedacht er gehandelt hatte! Hatte er überhaupt das Tor verschlossen? War das alles eine Falle der Schatten? Anvar zog das Messer von seinem Gürtel und sah sich um. Das Gras war hier abgeknickt, als ob jemand oder etwas hier lang gegangen wäre. Anvar folgte dieser Spur. Sie führte von der Mauer weg, einen kleinen Hang hinunter, durch eine kleine Baumgruppe und schließlich…
Anvar war abrupt stehen geblieben. Er hatte den Rand der Kuppel erreicht. Und dort, knapp hinter der wabernden Energiemasse, angestrahlt durch das frühe Licht einer neuen aufgehenden Sonne, sah ihn ein junger Mann an. Anvar starrte ihn mit offenem Mund an. Die Haut des Jungen war makellos, wie Porzellan. Seine Haare hatten die Farbe von Silber, doch seine Augen waren von einem strahlenden rotorange, das an die Sonne an einem wolkenlosen Tag erinnerte. Anvars Augen wanderten zu den Ohren des Fremden und seine Hand verfestigte sich um den Griff des Messers. Ein Elb.
„Bitte…“
Die Stimme des Elben war brüchig und schwach. Anvar drehte sich um und wollte wieder weggehen, doch irgendetwas hielt ihn zurück. Er konnte ihn doch nicht einfach zurücklassen? Doch er war außerhalb der Kuppel. Konnte er ihm überhaupt helfen? Und wollte er überhaupt einem Elben helfen? Anvar schloss die Augen. Irgendwo in der Ferne hörte er einen unmenschlichen Ruf. Die Monster kamen näher. Sie mussten den Elben gewittert haben. Anvar drehte sich wieder zum Elben. Seine weiße Kleidung war befleckt von Blut und er hielt sich schützend die Hand vor den Bauch. Anvar zögerte noch kurz, dann steckte er das Messer zurück und kniete sich an den Rand der Kuppel.
„Ok… gib mir deine Hand, dann zieh ich dich rein“, sagte Anvar und hielt dem Elben seine Hand hin. Der Elb streckte sich, doch verzog er schmerzhaft das Gesicht und sackte zurück.
„Na komm schon!“, rief Anvar. „Ich kann nicht raus gehen, ich…ich darf nicht…“
Die Rufe der Monster waren näher gekommen. Der Elb hatte sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Anvar sah ängstlich zurück zur Stadtmauer. Vielleicht war das hier die schlechteste Entscheidung seines Lebens. Er drehte sich zurück zum Elb, holte noch einmal tief Luft und sprang mit einem schnellen Satz durch die Barriere. Anvar hatte die Augen fest geschlossen, während er sprang. Er spürte die fremdartige Energie nicht. Es war nicht mehr als ein Windhauch auf der Haut, dann war er hindurch. Anvar öffnete vorsichtig die Augen und sah sich um. Der Mond schien silbern auf das Land. Es war ein ungewohnter Anblick. Kein bläulicher Schimmer lag auf den Bäumen und dem Gras. Der Elb stöhnte leise. Ein unheilvolles Knurren drang aus den tiefen Wäldern. Anvar packte den Elb unter den Armen und zog ihn näher an die Kuppel heran. Er war überraschend leicht. Irgendetwas brach durch das Unterholz auf Anvar und den Elb zu. Das Geräusch von splitterndem Holz und erbebendem Blattwerk raste auf sie zu. Anvar stemmte sich gegen den Boden und mit einem Ruck fielen die beiden durch die Barriere. Keine Sekunde zu früh. Mit einem massiven Schlag stürzte die fremde Kreatur gegen die Energiewand. Anvar konnte sie nur aus den Augenwinkeln sehen, schon stürzte sie wieder davon. Schwer atmend ließ sich Anvar auf den Rücken fallen. Es war geschafft. Er sah auf den Elben, der halb auf ihm lag. Aber vielleicht…vielleicht begannen gerade erst eine ganze Menge Probleme.
Anvar stand auf, packte den Elb unter den Armen und zog ihn Richtung Stadt. Das Tor war geschlossen. Mit der Faust schlug Anvar gegen das alte Holz.
„Wer ist da?“, rief jemand von der anderen Seite.
„Anvar!“, rief Anvar zurück. „Mach auf und ruf den Heiler!“
Das Tor schlug auf und Hantar, einer aus der Wachmannschaft streckte seinen Kopf hinaus.
„Anvar! Bist du verletzt? Ist alles…“
Hantar sah zu Anvar, doch dann fiel sein Blick zu dem Fremden, den er hinter sich her zog.
„Anvar… das… das ist ein…“, stotterte Hantar.
Anvar stöhnte genervt.
„Ja, ich weiß. Jetzt hilf mir schon!“
Hantar schien hin und her gerissen, doch dann eilte er zu Anvar und packte den Elb an den Beinen. Zusammen trugen sie ihn hinter die Stadtmauer. Schnell verschloss Hantar das Tor und lief im Eilschritt ins Dorf, um den Heiler zu holen. Der Elb hatte die Augen geschlossen und war nicht ansprechbar.
„Na komm schon!“, rief Anvar. „Wehe du stirbst! Dann wäre der ganze Ärger für nichts gewesen…“
Die Kleidung das Elben war bereits durchtränkt mit Blut. Anvar presste seine Hand auf die Wunde am Bauch und versuchte so die Blutung zu stoppen, doch das Blut rann ihm durch die Finger.
„Anvar!“
Anvar sah auf und sah Hantar, gefolgt vom alten Heiler Keeman auf ihn zueilen. Der Alte kniete sich neben den Elb und untersuchte seine Verletzung.
„Es sieht nicht gut aus“, sagte er. Er wandte sich an Hantar.
„Hantar, bring ihn in meine Hütte und setz einen Kessel Wasser auf.“
Hantar nickte und stemmte den Elb auf seine Arme, dann schleppte er ihn davon.
„Und weck Deniz!“, rief ihm Keeman hinterher.
Anvar wollte den beiden folgen, doch der Alte hielt ihn am Arm fest.
„Du nicht, Anvar. Wir müssen reden.“
Der alte Heiler sah Anvar mit finsterem Blick an.
„Anvar, wer ist das?“, fragte er.
Anvar sah betreten zu Boden.
„Weiser Keeman… er… ich habe seine Hilferufe gehört. Er war… er war außerhalb der Kuppel.“
Keemans Augen weiteten sich.
„Du weißt, was das heißt, Anvar.“
Anvar nickte.
„Ja, ich weiß. Aber ich konnte ihn nicht einfach den Kreaturen überlassen“, antwortete Anvar ehrlich.
Der Alte nickte besorgt.
„Du weißt nicht, ob er nicht vielleicht die Schatten auf sich hat. Und dann noch ein Elb!?“
Der Alte schüttelte den Kopf.
„Ich weiß nicht, ob dein Handeln richtig war. Doch… du hast dein Herz entscheiden lassen. Ich hoffe nur, dass es die richtige Entscheidung war.“
Anvar nickte betreten.
„Komm mit“, sagte Keeman. „Ich werde deine Hilfe brauchen.“
Als Anvar und der alte Heiler in seiner Hütte ankamen, warteten Hantar und zwei Wachen bereits auf die beiden. Der bewusstlose Elb lag auf einem Tisch in der Mitte des Raumes.
„Wo ist Deniz? Hast du ihm Bescheid gesagt, Hantar?“, fragte Keeman und ging zu einem Schrank, der voller Flaschen und Phiolen war.
Er nahm eine Flasche heraus, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war, träufelte sich ein paar Tropfen auf die Hände und verrieb sie. Der strenge Geruch von Alkohol erfüllte den Raum.
„Natürlich, Heiler Keeman!“, sagte Hantar eifrig.
„Zu spät, wie immer…“, murmelte Keeman.
Plötzlich schlug die Türe auf und ein korpulenterer Mann kam hereingestürmt. Er trug langes dunkles Haar, das er zu einem Zopf gebunden hatte.
„Verzeiht mir, Keeman“, sagte er, bevor er ebenfalls zum Schrank ging und sich etwas von der Flüssigkeit auf die Hände goss.
Keeman zeigte auf die beiden Wachen.
„Ihr da! Haltet euch bereit. Wir wissen nicht, ob er die Schatten auf sich hat.“
Die beiden nickten, zogen ihre Waffen und richteten sie auf den Elb. Keeman beugte sich währenddessen über ihn und zerschnitt seine blutbefleckte silberne Weste. Anvar sah betreten zu Boden. Plötzlich atmete der Elb rasselnd ein und schlug die Augen auf. Die Wachen zuckten vor Schreck etwas zurück, richteten aber sofort wieder ihre Waffen auf ihn. Anvar trat an den Tisch heran und sah hinab auf den Elb.
„Du… du hast mich…“, sagte er leise.
Sprechen bereitete ihm offenbar Schmerzen.
„Nicht sprechen, Elb“, herrschte ihn Keeman an. „Anvar,tritt zurück, ich brauche Platz.“
Anvar trat einen Schritt zurück. Der Elb hustete.
„Ich brauche mehr Licht. Deniz!“, raunte der alte Heiler.
Plötzlich schnellte die Hand des Elben hoch und hielt Anvar am Ärmel fest.
„Ion“, hauchte er.
Anvar zuckte erschrocken zusammen.
„Wa-was?“, stotterte er.
„Mein Name…er ist… Ion“, sagte der Elb.
Der Griff des Elben löste sich und er schloss wieder die Augen. Anvars Mund fühlte sich trocken an.
„Anvar… mein Name ist Anvar“
Entscheidungen
Anvar wartete vor der Halle der Ältesten. Er wusste, dass er gegen das Gesetz des Dorfes verstoßen hatte und dies würde Konsequenzen für ihn haben.
„Wie konntest du nur ein Langohr in unser Dorf lassen?“, fragte Hantar kopfschüttelnd.
„Ich konnte doch nicht einfach nichts machen“, entgegnete Anvar.
„Anvar, weißt du eigentlich, was du getan hast? Sie werden dich verbannen! Du hast du Barriere verlassen. Wie kann man nur so dumm sein?“
Hantar trat nervös auf der Stelle.
„Das wird schon“, sagte Anvar.
„Das wird schon...“
Deniz kam aus der Halle heraus. Er rieb sich plump die Augen und gähnte. Anvar sprang auf und ging zu ihm.
„Wie geht es dem Elb?“, fragte er.
„Wohl ganz gut, denke ich“, sagte Deniz.
„Er kommt durch?“, fragte Hantar.
Deniz nickte.
„Ja, er schafft es. Er ist gar nicht so schlimm verletzt. Er ist wohl vor allem erschöpft. Muss Tage lang gelaufen sein“, antwortete Deniz.
Anvar stand auf.
„Aber woher kommt überhaupt ein Elb in diese Gegend? Die nächste Elbenstadt ist am anderen Ende des Kontinents. Er kann unmöglich durch die Schatten hierher gereist sein“, sagte er.
Hantar richtete den Gürtel an seinem Gehrock.
„Da stimmt etwas nicht, sag ich! Wo ein Elb ist, da gibt es vielleicht noch mehr. Was ist, wenn da ein ganzes Heer auf uns wartet?“, fragte er.
„Wir sollten ihn verhören, sobald er wieder wach ist“, sagte Anvar.
Hantar hob die Hand, als wolle er Anvar Einhalt gebieten.
„Halt, Anvar. Du wirst nicht zu ihm gehen und du weißt warum. Du warst außerhalb der Barriere und könntest die Schatten auf dir haben.“
Anvar ließ sich mürrisch auf eine Bank fallen.
„Zieh bloß nicht so ein Gesicht, Anvar! Das hast du dir wirklich selbst eingebrockt. Wie konntest du nur die Barriere verlassen? Und das auch noch für einen Elb!?“, rief Hantar und ging zur großen Türe, die in die große Halle führte.
Bevor er durch die Türe ging, drehte er sich noch einmal um.
„Für einen Elb!“, rief er und stürmte durch die Türe.
Deniz klopfte Anvar auf die Schulter.
„Dieses Mal hast du den Vogel wirklich abgeschossen.“
Anvar schlug die Hände vor das Gesicht und seufzte leise.
„Bator wird mich umbringen.“
Der Elb lag mit geöffneten Augen auf einem Tisch. Sein freier blasser Oberkörper schimmerte im Licht der Laternen geradezu unnatürlich hell. Der alte Keeman trat an den Elben heran.
„Sei gegrüßt, Elb. Mein Name ist Keeman. Ich habe deine Wunde versorgt. Du bist hier in der zweiten Präfektur der Menschen, in Runghold“, sagte er.
Der Elb nickte stumm.
„Ich habe gehört, dass dein Name Ion ist. Wie lautet dein Blutname?“, fragte Keeman.
Der Elb sah zu Keeman auf. Sein Gesicht war kühl und ausdruckslos.
„Ich habe keinen Blutnamen.“
Keeman setzte sich auf einen Hocker an den Tisch.
„Also stammst du nicht aus einem der alten Klans?“, fragte er.
Der Elb schwieg regungslos.
„Dann bist du wohl ein Unberührbarer. Oder wurdest du aus der Konklave verbannt?“, fragte Keeman.
Der Elb mit dem makellosen Gesicht musterte den alten Mann. Wie bei vielen Elben, waren seine Augen von einer besonderen Farbe. Wie die sommerliche Abendsonne funkelten in Orange und Rot seine Augen im schummrigen Licht, dass vom Mond durch die Fenster fiel.
„Der Obelisk in meiner Heimat ist erloschen. Mein Konklave wurde von den Schatten ausgelöscht und somit auch meine Blutlinie“, sagte er kühl.
Keeman atmete langsam ein und lehnte sich nachdenklich zurück.
„Das tut mir leid, Elb. Die Kluft zwischen unseren Völkern mag tief sein, doch möchte ich dir mein Mitgefühl aussprechen.“
Der Elb nickte. Hantar trat energisch vor.
„Das ist ja alles schön und gut, aber woher wissen wir, dass du nicht lügst, Langohr! Die nächste Elbenstadt liegt am großen Meer von Dreemalin. Wie willst du so weit ohne Hilfe bis hierher gekommen sein? Wo sind deine Leute!?“, rief Hantar.
Zum ersten Mal schien sich eine Regung im Gesicht des Elben abzuzeichnen.
„Dieser Mensch hat ein loseres Mundwerk“, sagte er zu Keeman gewandt.
Hantar griff wütend zu einem Messer an seinem Gürtel.
„Hantar!“, ermahnte ihn Keeman.
Hantar ließ mürrisch das Messer zurück in seine Scheide gleiten.
„Ihr Menschen seid so leidenschaftlich. Es ist faszinierend. Der junge namens Anvar... was hat ihn dazu bewogen mir zu Hilfe zu eilen? Sitzt euer Zorn nicht so tief in euren leeren Herzen, dass ihr jeden Elben töten wollt?“
Hantar hob zornig die Faust.
„Pass bloß auf, Elb! Du hast Anvar ins Verderben gestürzt, zeige Demut!“
Keeman hob beschwichtigend die Hände.
„Bleib ruhig, Hantar. Das hier ist für uns alle eine schwierige Situation.“
Hantar drehte sich um und ging wütend im Raum auf und ab. Der Elb wandte sich an Keeman.
„Die Verletzungen habe ich nicht aus dem Kampf. Ich zog sie mir zu, als ich mit meinem Schiff in den Wald stürzte“, sagte der Elb.
Keeman zog überrascht die Augenbrauen hoch.
„Dann bist du mit einem Raumgleiter geflogen? Ich wusste nicht, dass welche den Krieg überstanden hatten“, sagte Keeman erstaunt.
„Es war ein gehüteter Schatz meiner Sippe. Nur dank ihm konnte ich entkommen.“
„Ich verstehe“, sagte Keeman langsam.
„Ich habe deine Wunden versorgt und du wirst von uns Verpflegung und Gastfreundschaft erfahren. Es tut mir leid, Elb, aber du kannst nicht bei uns bleiben. Unsere Gesetze verbieten es, dass du bleibst. Wir wissen nicht, ob du nicht die Schatten auf dir hast!“
Der Elb lachte leise.
„Die Schatten sind nur für euch Menschen gefährlich. Ein Elb gibt sich der Versuchung der Dunkelheit nicht so leicht hin. Aber ich respektiere eure Gesetze. Ich werde gehen.“
Keeman nickte und stand auf.
„Eines noch“, sagte Ion.
Keeman sah ihn fragend an.
„Der junge namens Anvar... welches Schicksal wird ihn ereilen?“, fragte der Elb.
Keeman sah betrübt zu Boden.
„Er wird verbannt und das wird sein Todesurteil sein.“
Keeman und Hantar gingen hinaus aus dem Raum. Der Elb blickte ihnen ausdruckslos hinterher.
Flackern
Keeman ging nervös auf und ab. Anvar saß an einem langen Tisch in der Gemeindehalle, neben ihm saß mit verschränkten Armen Hantar, ihm gegenüber, sein Schmiedemeister Bator. Schließlich blieb Keeman stehen und rieb sich müde die Augen.
„Du kennst unser Gesetz, Anvar. Wer die Barriere verlässt, der darf nicht zurückkehren“, sagte er.
Anvar nickte. Er hatte mit diesem Urteil gerechnet.
„Ich weiß, weiser Keeman. Ich wusste, was mich erwartet, als ich hinaus ging“, sagte er.
Keeman nickte.
„Nun gut. Du darfst nicht länger bleiben. Du musst noch vor dem Sonnenaufgang gehen“, sagte er.
Hantar ließ betrübt den Kopf sinken. Der alte Schmied sprang auf.
„Keeman, bitte überlegt es euch! Anvar ist ein guter Junge. Ich weiß, dass er nicht die Schatten trägt! Bitte gebt ihm noch etwas Zeit“, sagte er.
Keeman seufzte leise.
„Ich kenne eure Gefühle Bator, aber ich kann nichts tun.“
Keeman ging zur Türe und drehte sich ein letztes Mal um.
„Er kann bis morgen früh bleiben. Aber noch vor dem Abend muss er gehen“, sagte Keeman.
Bator nickte betrübt, dann schlug er mit der Faust auf den Tisch. Er stand wortlos auf und ging hinaus.
Anvar und Hantar blieben alleine zurück. Sie schwiegen eine lange Zeit.
„Der Elb... ich glaube nicht, dass wir in Gefahr sind“, sagte Hantar.
„Du hast mit ihm geredet?“, fragte Anvar.
Hantar nickte.
„Ja“, sagte er.
„Er ist alleine hierher gekommen. Ich glaube nicht, dass er gelogen hat.“
Anvar nickte stumm.
„Die Sonne geht schon auf. Ich bin hundemüde“, sagte er und rieb sich die Augen.
Hantar stand auf und streckte seine Arme.
„Komm, geh dich ausruhen. Ich sag einer der Wachen Bescheid, damit er bei dir bleibt.“
Anvar nickte und stand ging zur Schmiede. Er ging in seine Stube über der Werkstatt seines Meisters und legte sich in sein Bett. Vor der Türe wartete eine Wache. Das kleine Dorf Runghold erwachte allmählich zum Leben, nur Anvar war müde und erschöpft. Irgendwann schlief er ein.
„Anvar, wach auf!“
Anvar schreckte aus seinem Schlaf empor. Es war Ruko, der ihn wachrüttelte. Er hielt einen Speer in der Hand.
„Ruko? Was ist hier los?“, fragte Anvar.
Draußen vor der Schmiede konnte er die Rufe von vielen Menschen hören.
„Die Barriere! Sie zerbricht!“, rief Ruko.
Anvar sprang auf und rannte mit Ruko nach draußen. Aus einem Fass neben der Türe zog er eine lange einschneidige Klinge.
„Wo?“, rief Anvar.
Ruko zeigte zum Osttor.
„Am Osttor. Die Öffnung ist mehrere Meter groß. Als ich ging, waren noch keine Monster da, aber sie werden ihre Chance nutzen!“, rief er Anvar zu, während die Beiden zum Osttor rannten.
Auf den Wällen standen bereits die anderen Männer aus dem Dorf. Ein kreischender Ruf einer fremden Kreatur durchschnitt die Luft.
„Die Monster kommen!“, rief ein Mann von den Wällen.
Wenige Augenblicke später kreiste ein dunkler Umriss über ihnen am Himmel.
„Ein Drache!“, rief Ruko.
„Um den kümmern sich die Schützen! Wir müssen zum Tor!“, rief Anvar.
Pfeile sausten durch die Luft, kaum dass der Drache aufgetaucht war. Anvar sprang auf den Wall und spähte zur Barriere. Ein Riss durchzog die wabernde Masse und gab den Blick frei auf den dunklen Wald dahinter.
„Da kommen sie!“
Aus dem Wald rannten dutzende untersetzte Kreaturen, mit Messern, Speeren und Keulen bewaffnet auf die Männer auf den Wällen zu.
„Es sind Kobolde! Mach euch bereit!“
Hantar kam zu Anvar gelaufen und packte ihn an der Schulter.
„Wehe, du hast etwas hiermit zu tun!“, rief er.
Eine Salve Pfeile flog in Richtung der Waldkante. Einige der Kobolde fielen plump zu Boden, doch die anderen stürmten weiter auf die Wälle zu.
„Wo ist Keeman?“, rief Anvar über den Lärm hinweg.
„Er ist beim Obelisken. Wenn er den Riss nicht schließen kann, sind wir verloren!“, rief Hantar zurück.
Ein Speer schlug hart gegen die Holzpalisaden und blieb stecken. Ruko stieß mit dem Speer nach den Angreifern, die versuchten die Wälle zu erklimmen. Die Kobolde waren schnell und geschickt, aber auch dumm. Einer von ihnen, getroffen von Hantars Speer, gab einen röchelnden Laut von sich und fiel schließlich tödlich verwundet in den Graben vor der Stadtmauer.
„Sie kommen!“, rief einer der Männer.
Die Kobolde kletterten über die Brüstung der alten Wälle. Einer der Krieger schlug dem ersten Kobold mit einem Streich den Kopf von den Schultern, als er über die Brüstung lugte. Zwei weitere hatten es auf den Wall geschafft und liefen mit gezogenen Waffen auf Ruko und Anvar zu. Ruko holte mit seinem Speer aus, doch verfehlte er den Kobold um Haaresbreite. Dieser zog ein Messer und stieß es Ruko in die Schulter. Ruko schrie auf vor Schmerzen. Anvar holte aus. Seine Klinge sauste durch die Luft und traf den Kobold, dass sein Arm vom Rumpf abgetrennt wurde und im hohen Bogen vom Wall geschleudert wurde. Der Kobold griff sich verdutzt an die Stelle, wo vorher sein Arm war. Ruko packte die Klinge in seiner Schulter und stieß sie dem Kobold mit einer solchen Kraft ins Auge, dass sich sein Schädel am Hinterkopf öffnete. Der zweite Kobold hackte mit einer primitiven Gleve aus Knochen und Draht nach Anvar. Anvar parierte die Gleve mit einem Streich seiner Klinge und schlug dem Kobold mit der freien Faust ins Gesicht. Die feinen Knochen der untersetzten Kreatur zerbrachen unter der Wucht des Schlages und der Kobold taumelte benommen zurück. Anvar nutzte diesen Moment, stach seine Klinge in den Bauch der Kreatur und warf ihn schließlich vom mit einem erstickten Schrei vom Wall. Plötzlich erbebte der Boden hinter Anvar. Die hölzernen Aufbauten auf dem Wall zersplitterten und regneten auf die Verteidiger nieder.
„Der Drache!“, rief Hantar.
Ein dunkle Kreatur mit glatter dunkler Haut war auf die Männer hinabgestürzt. Er hatte eine Platte Schnauze, wie die einer Fledermaus und bleckte seine langen gelben Fangzähne. Sein Gestank nach Verwesung war schier unerträglich. Ein Pfeil traf den Drachen am Hals und blieb stecken. Die Kreatur schrie auf und schlug mit seinen drahtigen langen Klauen in blindem Zorn nach den Männern.
„Zurück!“, rief Ruko und stieß mit seinem Speer in Richtung des Drachen.
Dieser packte den Speer und schleuderte ihn mitsamt Ruko von der Mauer.
„Ruko!“, rief Anvar.
Er lag regungslos im Graben, das eine Bein stand in einem sonderbaren Winkel ab.
Plötzlich durchstieß ein massiver Stahlpfeil den Hals des Drachen. Blaues Blut spritze in einem Schwall aus der klaffenden Wunde und platschte in einer großen Pfütze auf den kargen Stein des Walls, wo er langsam hinunter rann. Anvar blickte auf und sah die beiden großen Ballisten, die vom Turm des Obelisken aus abgefeuert wurden. Ein ohrenbetäubender Knall ertönte. Die Barriere flackerte hell auf und wie ein Vorhang legte sich der gewohnte blaue Schimmer über die Öffnung vor dem Wall. Der Riss war verschlossen. Die letzten Kobolde rannten panisch in Richtung des Waldes, doch konnten sie die Barriere nicht mehr durchqueren. Ihre Haut verbrannte unter der Energie des magischen Feldes und sie sackten zu blutigen Haufen zusammen. Die Wenigen, die nicht flohen, wurden schnell durch die Kämpfer zusammengetrieben. Einige warfen ihre Waffen weg, doch waren es Monster. Monster nahm man nicht gefangen. Als das blutige Werk vollbracht war, herrschte Stille über dem verwüsteten Dorf. Anvar und Hantar waren zu Ruko gerannt.
„Er lebt!“, rief Hantar, der sein Ohr auf Rukos Brust gelegt hatte.
Anvar rannte zur großen Halle und stürzte die steinerne Treppe zum Obelisken empor.
„Keeman!“, rief er.
Zwei Wachen versperrten mit gezogenen Speeren den Weg.
„Geh nicht weiter Anvar!“, rief die eine Wache.
„Aber ich muss zu Keeman! Ruko, er ist schwer verletzt. Bitte!“, flehte Anvar.
Keeman trat hervor und schob die Wachen beiseite.
„Wo?“, fragte er.
Anvar deutete zum Osttor und lief los. Keeman folgte ihm. Dunkler Rauch erhob sich über dem Dorf.
Die Schlacht hatte nicht lange angedauert, doch waren die Schäden erheblich. Der Drache hatte die Backstube verwüstet und zwei Männer getötet. Auf den Wällen war ein weiterer Kämpfer durch die Kobolde getötet worden. Ruko und vier andere waren schwer verletzt worden.
Hantar und Anvar saßen schweigend nebeneinander im Gasthof und tranken Bier und Schnaps. Keinem war nach Reden zumute. Anvar trank leer und der Wirt füllte sein Glas wieder auf.
„Da ist Deniz“, sagte Hantar und nickte zu Türe.
Deniz sah sich im Raum um. Als er Anvar sah, kam mit schnellen Schritten zu ihm gelaufen.
„Anvar!“, rief Deniz und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Der Barmann stellte ihm ein Bier und einen Schnaps auf den Tresen. Deniz nahm den Schnaps und trank ihn in einem Zug leer.
„Keeman sucht dich. Es ist sehr dringend!“, sagte Deniz und ließ sich auf einen Barhocker fallen.
Hantar legte ihm seine Hand auf die Schulter.
„Ist alles in Ordnung, Deniz?“
Deniz ließ den Kopf sinken und begann zu weinen.
„Mein bester Freund ist tot und einer hat ein Bein verloren.“
Deniz vergrub sein Gesicht in seinen Händen.
„Geh schon, Anvar. Ich bleibe noch etwas“, sagte Hantar und nickte stumm in Richtung Deniz.
Anvar nahm den Schnaps und das Bier, trank beides in einem Zug leer und verließ den Gasthof. Draußen war es bereits dunkel geworden. Die warme sommerliche Luft traf ihn wie der Huf eines Pferdes. Der Alkohol machte sich bemerkbar. Anvar ging zur großen Gemeindehalle, wo bereits Keeman auf ihn wartete. Zu Anvars großer Verwunderung stand der Elb neben ihm.
„Hallo Anvar“, sagte Keeman.
„Weiser Keeman... ich... alles, was passiert ist...“, begann Anvar.
Er wusste nicht, was er sagen sollte. War der Einbruch der Barriere womöglich auch seine Schuld gewesen? Lag es daran, dass er die heiligen Gesetze seiner Heimat missachtet hatte? Oder lag es an dem Fremden, den er ihn ihre Mitte geholt hatte?
Keeman legte Anvar seine Hände auf die Schultern.
„Heute war ein schlimmer Tag, Anvar. Ich befürchte, dass er nicht besser wird“, sagte Keeman und setzte sich auf eine Bank vor der Gemeindehalle.
Der Elb blieb mit hinter dem Rücken verschränkten Armen stehen.
„Du hast unsere heiligen Gesetze gebrochen, Anvar. Dich erwartet die Verbannung.“
Anvar nickte stumm und sah betreten zu Boden. Keeman nahm eine Pfeife heraus und entzündete sie mit einem Streichholz.
„Ich weiß, dass wir von dir nichts erwarten können, Anvar, doch es gibt da etwas, um das ich dich bitten muss. Es ist von größter Wichtigkeit und unser aller Leben hängt daran“, sagte Keeman.
Anvar sah erstaunt auf. Keeman fuhr fort.
„Der Obelisk erlischt. Er stirbt, während wir hier reden. Seine Energie, die unser Dorf seit jeher beschützt hat, ist beinahe aufgebraucht.“
Anvar sah ihn erschrocken an.
„Aber Keeman, ohne den Obelisken werden wir von den Schatten verschlungen! Kannst du den Obelisken nicht reparieren? Seine Energie wieder herstellen?“, rief Anvar.
Keeman schüttelte den Kopf.
„Ich befürchte nicht. Der Obelisk kann nicht repariert werden. Der Kristall in seinem Innern ist schon beinahe erloschen.“
Anvar sah Keeman fassungslos an. Keeman hob beschwichtigend die Hand.
„Es gibt noch eine Möglichkeit, dieses Dorf zu retten. Und ich muss sehr viel von dir verlangen, Anvar. Es ist eine undankbare Aufgabe, die ich dir stellen muss“, sagte Keeman und blickte traurig in den Himmel.
„Der Obelisk braucht eine neue Energiequelle, nur dann können wir dieses Dorf retten. Wir brauchen einen neuen Kristall, der die Barriere versorgt. Wie der Zufall es will, kennt Ion hier womöglich einen Ort, wo wir einen herbekommen können. Vielleicht ist es Schicksal.“
Keeman beugte sich zu Anvar.
„Du musst diesen Kristall für uns beschaffen, Anvar. Ich kann nicht noch mehr gute Männer in die Verbannung schicken und ich selbst bin zu alt, um zu gehen. Du bist unsere letzte Hoffnung. Wenn du diese Aufgabe annimmst, wird es dir nicht gedankt werden. Du wirst Runghold nie wieder betreten dürfen und in der Welt dort draußen den Tod finden.“
Anvars Gesichtszüge versteiften sich.
„Ich bin bereit, weiser Keeman. Ich werde diese Aufgabe annehmen. Ich werde meine Heimat beschützen.“
Keeman nickte.
„Das ist gut, Anvar.“
Er griff in seine Manteltasche und holte ein hell leuchtendes Amulett hervor, in das ein einzelner Kristallsplitter eingesetzt war.
„Dies ist ein Stück des Kristalls, das unser Dorf beschützt. Er schützt dich vor den Schatten vor der Barriere. Früher gab es viele dieser Steine, sodass wir mit anderen Städten handeln konnten, doch sie sind alle erloschen. Nur dieser hier ist geblieben. Nimm ihn.“
Anvar nahm das Amulett und legte es sich um den Hals. Es war angenehm warm.
„Ich habe dir Ausrüstung für deine Reise zusammenstellen lassen. Ion wird dich begleiten. Er kennt den Weg“, sagte Keeman.
Anvar sah überrascht zu dem Elben herüber.
„Moment, ich soll jetzt direkt aufbrechen? Mit diesem Elben?“, fragte Anvar ungehalten.
Keeman stand auf.
„Ich habe lange mit Ion gesprochen. Ihr habt mehr gemein, als du jetzt vielleicht glauben magst. Ihr müsst noch heute aufbrechen. Ich befürchte, die Zeit drängt und wir können keinen Tag mehr warten. Der Obelisk wird mit jedem Tag schwächer.“
Anvar ließ den Blick sinken, dann griff er an seinen Gürtel und holte das schön gearbeitete Messer hervor, dass er selbst einst angefertigt hatte.
„Bitte sagt Bator, dass es mir leid tut und gebt ihm das. Er hatte viel Ärger mit mir.“
Keeman nickte stumm. Eine Wache reichte Anvar einen großen Rucksack. Er war vollgepackt mit einem Zelt, Schlafsack, Verpflegung und Kleidung. Keeman reichte Anvar ein altes Schwert.
„Es hat einst mir gehört. Nimm es.“
Anvar schnallte es sich an den Gürtel und schulterte den Rucksack. Er blickte kurz zu Ion, der mit ausdrucksloser Miene ihre Gesten verfolgt hatte.
„Leb wohl, Keeman“, sagte Anvar.
Er drehte sich um und ging, zusammen mit dem Elb hinaus in die Dunkelheit.
Wälder voller Geister
„Wow“, sagte Anvar, als er von einer Anhöhe aus auf das Land unter ihnen guckte.
Eine solche Aussicht hatte er noch nie gehabt, schließlich hatte Anvar noch nie seine Heimat verlassen können. Er und Ion waren nun seit einigen Stunden unterwegs. Die Sonne war gerade aufgegangen und sie waren die Nacht hindurch gereist. Anvar, der nicht geschlafen hatte, war müde und erschöpft. Ion hingegen konnte man keine Erschöpfung anmerken. Es war eine dieser Eigenarten der Elben, dass sie nicht schliefen. Zumindest nicht so, wie es Menschen taten. Anvar war sich nicht sicher, ob Elben konsequent keinen Schlaf brauchten oder ob sie nur in anderen Zyklen schliefen. Sie hatten bislang wenig gesprochen.
„Hey Ion“, rief Anvar dem Elben zu.
„Wohin gehen wir eigentlich? Du sagtest, du wüsstest, wo wir einen Kristall auftreiben können. Woher willst du den nehmen? Die einzige Stadt in der Nähe, die auch einen hatte, ist schon vor meiner Geburt erloschen.“
Ion war stehen geblieben und blickte Anvar gleichgültig an.
„Kristalle sind nicht nur in den Obelisken zu finden. Vor langer Zeit hat mein Volk alle möglichen Apparaturen mit ihnen angetrieben.“
Anvar setzte sich erschöpft auf einen Stein und legte den Rucksack ab. Ion fuhr fort.
„Der Kristall, den ich suche, ist in einem Schiff zu finden.“
Anvar runzelte die Stirn.
„In einem Schiff? Was denn für ein Schiff? Das Meer ist mehrere Wochenreisen von hier entfernt“, sagte er.
Ion wandte sich ab und blickte auf das Tal vor ihnen.
„Nicht so ein Schiff. Ich spreche von einem Raumschiff.“
Anvar machte große Augen.
„Ein Raumschiff? Du meinst eines von diesen Dingern, die sie im Krieg benutzt haben?“
Ion nickte.
„Ich habe ein altes Schiff gesehen, das während des Krieges abgestürzt sein muss, als ich mit meinem Gleiter zu deinem Dorf geflogen bin. Es ist einige Tage entfernt, aber meine Instrumente zeigten eindeutig an, dass es dort eine äußerst starke Energiequelle gab.“
Anvar kratzte sich am Kopf.
„Aber warum bist du nicht dorthin geflogen? Wenn es dieselbe Energie ist, die mein Dorf versorgt, dann wärst du dort doch sicher gewesen?“, fragte Anvar.
Ion sah ihn mit einem abwertenden Blick an.
„Die alten Maschinen aus dem Krieg sind voller Gefahren. Alte Sicherheitssystem sind häufig noch aktiv. Zudem weißt du nicht, in welchem Zustand sich das Schiff befindet. Wenn es so stark beschädigt wurde, dass es auf den Planeten stürzte, ist womöglich auch ein Schaden am Reaktor entstanden. Die Strahlung würde mich töten. Außerdem treibt der Kristall im Innern lediglich die Energiegeschütze des Schiffes an. Es entsteht kein Kraftfeld, wie bei eurem Obelisken“, antwortete Ion.
Anvar zog das Amulett unter seinem Hemd hervor.
„Und was ist damit? Der Splitter hält doch auch die Monster von mir fern.“
Ion zeigte zum ersten Mal eine andere Regung in seinem Gesicht, als Gleichgültigkeit. Er verdrehte die Augen.
„Ihr Menschen seid wirklich einfache Wesen. Hast du dich nicht mit den Kräften dieses Talismans beschäftigt?“, fragt Ion.
Anvar stand gereizt auf.
„Vorsicht, Elb. Du solltest aufpassen, was du sagst.“
Ion wich nicht zurück, noch ließ er sich einschüchtern.
„Dein Amulett hält keine Monster fern. Es wehrt lediglich die Schatten ab“, sagte Ion.
„Die Schatten sind doch Monster. Wo ist der Unterschied?!“, rief Anvar schnaubend.
Ion seufzte.
„Die Schatten umgeben uns ständig. Sie sind überall und werden lediglich durch die Kraft der Kristalle vertrieben. Es ist wie ein lebender, atmender Nebel, durch den wir hindurch wandern und dein Kristall vertreibt die Dunkelheit. Er wird aber keinen Wolf davon abhalten dich zu fressen. Dafür ist er nicht stark genug. Die Kreaturen, die von den Schatten erfüllt sind, wie die Kobolde, werden von der Energie in den Barrieren verbrannt. Dein kleiner Kristall reicht dafür einfach nicht aus.“
Anvar sah Ion misstrauisch an.
„Aber du warst vor der Barriere, ohne einen Kristall.“
Der Elb verdrehte die Augen.
„Ihr Menschen seid so einfach durch die Schatten zu beeinflussen. Ihre Verführung wirkt nicht bei uns Elben. Unser Volk ist frei von der Versuchung der Schatten.“
Anvar stand auf und ging den Hügel hinunter.
„Das ist mir zu hoch“, sagte Anvar.
„Scheiß Elben und euer überhebliches Gelaber. Ihr seid nicht besser, als die Menschen. Ihr habt den Krieg begonnen und die Welt damit in die Dunkelheit gestürzt.“
Ion sah Anvar ausdruckslos hinterher, dann folgte er ihm.
Starker Regen ging auf die Blätter der Bäume nieder. Die dunklen Wolkenberge türmten sich auf und brachen wieder zusammen. Der Sturm wütete seit der Nacht. Anvar hatte wenig geschlafen. Nachts schlichen Monster durch den Wald. Er konnte sie im Unterholz hören. Ion hatte Wache gestanden, doch Anvar traute ihm nicht. Als schließlich der dunkle Nachthimmel einem grauen Morgen wich, streckte Anvar seine steifen Glieder. Er war erschöpft, aber vor dem Elben würde er keine Schwäche zeigen.
„Du bist wach?“, fragte der Elb gleichgültig.
Anvar nickte.
„Wir sollten etwas essen, bevor wir aufbrechen“, sagte Anvar.
Der Elb zeigte keine Regung. Anvar hob genervt die Hände.
„Was, esst ihr Elben auch nicht?“, fragte er.
Der Elb reckte sein Kinn.
„Natürlich essen wir. Nur ist euer Essen alles andere als ansprechend.“
Er betrachtete das gepökelte Fleisch und den Käse, den Anvar hervor holte.
„Was stimmt damit nicht?“, fragte Anvar, während er sich ein Stück Fleisch in den Mund steckte.
„Bei uns Elben wird der Verzehr von Schwein und Rind als Abart betrachtet. Sie suhlen sich im Dreck und sind niedere Kreaturen“, antwortete Ion.
Anvar griff in seinen Rucksack, holte eine Möhre hervor und warf sie Ion vor die Füße.
„Dann kau daran“, sagte er knapp.
Ion betrachtete Anvar abfällig, schulterte seinen Rucksack und ging.
„Du kannst im Gehen essen“, sagte er, ohne sich umzudrehen.
Anvar verdrehte die Augen, steckte sich den Rest Käse und das Fleisch in den Mund und schulterte ebenfalls seinen Rucksack. Er stieg einen flachen Hang hinunter, wo Ion bereits auf ihn wartete. Er kniete an einem umgestürzten Baumstamm und spähte in den Wald hinein.
„Warum sitzt du im Dreck?“, fragte Anvar kauend.
Ion zog Anvar an seinem Ärmel zu ihn und bedeutete ihm still zu sein.
„Siehst du es nicht?“, fragte er flüsternd und deutete in das Unterholz.
Anvar kniff die Augen zusammen. Im schummrigen Licht des Waldes konnte er fast nichts erkennen. Das schwache Licht des jungen Tages reichte nicht zum dunklen Waldboden unter den Baumgipfeln. Ion streckte die Hand aus und zeigte vorsichtig zwischen die Bäume. Dort in der Ferne glimmte ein schwaches Licht in der Dunkelheit, so schwach, dass es fast nicht zu sehen war, doch wurde es langsam heller. Anvars Augen weiteten sich. Eine gleißend weiße Gestalt schritt leichtfertig durch das dichte Unterholz. Sie ging auf zwei Beinen, doch war es kein Mensch und auch kein Elb. Das Wesen hatte lange dünne Hörner, die aus einem ausdruckslosen Kopf, ohne Augen oder Mund ragten. Anvar war sich nicht sicher, ob das Wesen einen Körper hatte. Vielleicht bestand es auch nur aus Licht.
„Was ist das?“, flüsterte Anvar.
Ions Gesicht nährte sich Anvars, doch wich dieser nicht zurück. Ion war ihm so nah, dass er seinen warmen Atem an seiner Wange spüren konnte.
„Ein alter Geist“, flüsterte er zurück.
Das Licht des Geistes schimmerte auf Ions Haut, bis schließlich der Geist wieder still in der Dunkelheit verschwand.
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