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KeYNamM
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Informationen
- Story: KeYNamM
- Autor: Ruwen Rouhs
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Fantasy und Mystery, Historisch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt
Prolog
1 Die Himmelsleiter
2 Brunnenkinder
3 Ein seltsamer Prozess
4 Dem Tod entkommen
5 Ikkens Zorn
6 Alte Freunde, neue Freunde
7 Tarit, Wüstensohn
8 Feuer der Befreiung
9 Raub der Kristalle
10 Gwasilas Entschluss
11 König Gayas Hut
12 Feldzug ins Reich der Wüstensöhne
13 Angriff an Meryems Quelle
14 Ikken und Yufayyur stehen für einander ein
15 Hinterhalt bei der Oase Mhamit
16 Am Ksar der Jinns
17 Udads Rache, Areksims Tod
18 Yufayyurs Klan
19 Tarits – Tamimt
20 Mordbuben
21 Wiedersehen mit Tinghir
22 Trauer und Freude
23 Abrechnung mit einem Serienmörder
24 Freunde – Verbündete
25 Neubeginn
26 Hiyya
27 Der Weg nach Tamegroute
28 Die Pforte
Epilog
Prolog
Der Feldhauptmann des Imperators starrte den Mann an, den zwei Feldjäger in das Zelt geschleift und vor ihm aufgestellt hatten. Sein Gesicht war eingefallen und die Haare klebten ihm blutverkrustet am Kopf. Sein Körper war ausgemergelt und sein weites Hemd so zerfetzt, dass es ihm von den Schultern zu rutschen drohte. Er hatte die Hände auf dem Rücken zusammengebunden und an den blutverkrusteten Füßen trug er Fesseln. Er sah aus wie ein Toter, den man vergessen hatte zu beerdigen. Aber seine blaugrauen Augen straften diesen ersten Eindruck Lügen. Sie funkelten den Feldhauptmann einen Moment an und durchforschten dann das Zelt auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit.
Der Feldhauptmann schüttelte verwundert den Kopf. Scharf fragte er „Du bist also der, den alle hier König vom Unland nennen? Du bist also der, den alle hier den Beschützer der Menschen im Wadi Draa nennen? Du bist also der Amestan der Menschen und Tiere des Flusses, des Flusses, der im kalten Gebirge des Nordens tosend seinem Quelltopf entspringt, im großen Bogen in die Wüsteneien im Süden fließt, dort im Sand versickert, danach aus dem Wüstensand wieder hervorquillt um Leben zu spenden, wieder versickert und nochmals hervorquillt, unendliche Male versickert und auftaucht, um endlich endgültig im Untergrund zu verschwinden?“
Aber der Mann antwortete nicht. Seine graublauen Augen starrten über den Kopf des Hauptmanns hinweg in die Ferne. „Sag, Mann, bist du der König des Draa? Sag, wie heißt du wirklich? Sag, wer bist du? Der Gouverneur sagt, du bist ein Aufrührer, ein Feind des Imperiums, einer der dem Imperator das Recht auf Tribut verweigert!“
Der Feldhauptmann hielt einen Augenblick inne und erhob sich dann. Er überragte den Gefangenen nahezu um einen Kopf und hatte die Muskeln eines Preisringers. Sein Gesicht jedoch, vor allem aber seine Augen, verrieten Klugheit. Er schaute dem Gefangenen in die Augen. „Du legst Wert auf Tradition, wurde mir gesagt. Warum verweigerst du dann dem Imperator die Tributzahlungen, die ihm auf Grund des Vertrags mit deinen Vorvätern zustehen?“
Als der Mann nicht antwortete, sondern nur zurück starrte: „Sag mir deinen Namen. Sag wenigstens deinen Namen.“ Aber der Mann schwieg. Der Feldhauptmann des Imperators wendete sich zu seinem Schreiber: „Schreib, Protokollant, schreib dort wo der Vorname vermerkt wird KEIN! Schreib in die Zeile, in der Vatername vermerkt wird, NAME!“ Der Feldhauptmann überlegte einen Moment, „Lass den Vornamen weg und schreib einfach KeYNamM! So nennen dich doch deine Anhänger, oder?“
Als der Schreiber irritiert aufblickte, diktierte der Feldhauptmann: „Schreib großes K, kleines e, großes Y, großes N, kleines a, kleines m, großes M!“ Dann richtete er seinen rechten Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Mann, „Ab jetzt bist du nur KeYNamM, der Mann ohne Namen, der Mann ohne Vater und Mutter, der König des Nichts!“
Dann erhob sich der Feldhauptmann, beugte sein Haupt in Richtung der Hauptstadt des Imperiums und fällte das Urteil. „Im Namen des Imperators und auf Anweisung des Gouverneurs verurteile ich den Unruhestifter und Aufrührer, den Mann mit dem Namen KeYNamM, zu Haft im Straflager des Imperators, im Straflager bei der Kristallmine.“ Der Hauptmann wartete auf eine Antwort des Mannes. Als sie nicht kam, fuhr er fort: „Du bleibst dort, bis dich die Wächter mit den Füßen voraus aus dem Lager tragen und den Hunden zum Fraß vorwerfen!“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Das ist das Urteil! Gegen dieses Urteil ist kein Einspruch möglich.“
So begann der neue Abschnitt im Leben des Königs vom Unland, der schließlich zur Befreiung des Unlands und seiner Bewohner von der Tributpflicht an das Imperium führte. Da niemand den Namen kannte, mit dem ihn seine Mutter zu rufen pflegte, wird er in diesem Bericht den Namen „KeYNamM“ tragen. Aber wenn er einen echten Freund findet, wird er ihm den Namen nennen.
1 Die Himmelsleiter
KeYNamM starrte nach oben. Die hohe Lehmmauer war dort tiefschwarz, wo sich ihre Krone und der glutheiße, weiße Himmel berührten. Er musste wissen ob das Leiterende an der Mauerkrone verankert war, ob es fest verankert war oder nur lose auflag.
Die Stadtmauer von Tinghir war an dieser Stelle bestimmt fünfzehn Mann hoch. So hoch war auch die Himmelsleiter, wie sie die Gefangenen im Straflager und die Einwohner der Stadt nannten. Hier unten am Fußende der Leiter waren ihre Holmen fast schenkeldick, oben aber, dort wo sie auf der Mauerkrone auflagen, schienen sie so dünn zu sein wie Strohhalme. Unten erlaubte der Abstand der Holme, dass zwei, sogar drei Männer auf der untersten Sprosse nebeneinander stehen konnten. Aber die Holme liefen aufeinander zu. Je weiter sie von der Erde entfernt waren, desto kleiner wurde der Abstand zwischen ihnen. Dort, wo die Himmelsleiter auf der Mauerkrone auflag, schien der Abstand zwischen der Holmen nur eine Handbreit zu messen. Wahrscheinlich war er dort oben in Wirklichkeit noch einen Fuß breit, vielleicht weniger. Der Abstand zwischen den Sprossen war hier unten, wo die Holmenden sich in den Sand bohrten, bestimmt zwei Fuß. Aber dort oben? Er rätselte. Er konnte es nicht erkennen.
KeYNamM drehte den Kopf nach rechts und musterte seinen Kontrahenten, der neben ihm am anderen Holm stand. KeYNamM kannte den jungen Mann kaum. Er und Azrur der Schöne, waren zwar Gefangene im gleichen Straflager gewesen, der verdammten Kristallmine in den Ausläufern des Himmelsgebirges, jedoch keine Freunde. Es bestand jedoch auch keine Feindschaft zwischen ihnen. Wie er trug auch der junge Mann ein verschlissenes Hemd auf dem Leibe, mit dem Zeichen des Imperators auf dem Rücken. Dieses Zeichen, ein grünes Pentagramm in einem gleichschenkligen Dreieck aus roten Balken, machte sie zum Eigentum des Imperators.
Jetzt standen sie da und warteten auf das Zeichen zum Beginn des Wettkampfes, der für einen von ihnen die Freiheit, möglicherweise die Freiheit, für den anderen aber auf jeden Fall den Tod bedeutete. KeYNamM hatte sich freiwillig für diesen Wettkampf auf Leben und Tod gemeldet, denn der Sieg im Kampf auf der Himmelsleiter war für ihn die einzige Möglichkeit dem Straflager zu entkommen. Er musste dem Lager entkommen, um seine Aufgabe als Amestan des Unlands zu erfüllen und die Menschen am Draa von der Herrschaft des Imperiums zu befreien. Der Kampf auf der Himmelsleiter war jedoch nicht nur ein Kampf zwischen ihm und dem anderen Sträfling, nein, es war auch ein Kampf zwischen ihm und den Wächtern des Imperators, deren Aufgabe es war, die Wettkämpfer von der Leiter zu schütteln, während sie hochkletterten.
Und Azrur? Azrur hatte sich nicht freiwillig gemeldet. Der Oberkapo des Straflagers Udad hatte ihn an die Henkersknechte ausgeliefert. Udad, der Herrscher der Kapo, der die übrigen Strafgefangenen im Namen des Lagerkommandanten straff regierte, sie unterdrückte und ausbeutete, wollte seinen verstoßenen Liebling los werden. Er war Azrur überdrüssig geworden.
Udad, ein schmächtiger Mann mit schriller Stimme, verdankte seine Stellung nicht seiner Körperkraft oder seinem angenehmen Wesen, sondern seiner Schlauheit, seiner Ruchlosigkeit und der Vielzahl der Verbrechen, die er in Freiheit begangen und in der Haft fortgesetzt hatte. Er, Udad, hatte sich vom Lagerkommandanten das Recht erkauft, die übrigen Gefangenen so einzusetzen, wie es ihm passte, als Gegenleistung musste er nur dafür sorgen, dass die das Maximum an Kristallen aus dem Berg holten, Kristalle, die für den Imperator soviel Wert waren wie Gold.
Zu Udad's Privilegien gehörte auch, dass er das Recht hatte, die jungen Gefangenen, die ihm gefielen, gleich an ihrem ersten Abend im Straflager in aller Öffentlichkeit zu vergewaltigen. Danach machte er den einen oder anderen zu seinem Favoriten, mindestens so lange, bis ein anderes Milchgesicht auftauchte, das ihm besser gefiel. So war es auch dem schönen Azrur ergangen, erst Favorit des Oberkapo und dann, wegen des nächsten hübschen Milchgesichts, verstoßen.
Azrur's Stern ging unter, als sein Bart zu sprießen begann. Mit jedem neuen Haar an seinem Kinn ließ Udad's Interesse an ihm nach. Jetzt hatte Udad ihn verstoßen und nicht nur das, er hatte ihn dem Tod ausgeliefert, dem Wettkampf auf der Himmelsleiter. Der junge Mann stand jetzt genau wie KeYNamM am Fuß der Leiter. Er schlotterte. Mit geschlossenen Augen hielt er sich am Holm fest, das schwarze Haar matt und verschwitzt, der Milchbart voll weißer Flecken, da ihm aus Angst der Speichel aus dem halboffenen Mund rann. Die Angst hing wie eine Wolke über Azrur. KeYNamM empfand Mitleid mit dem Verstoßenen. Doch er konnte sich kein Mitleid erlauben, wenn er die Freiheit gewinnen wollte. Er musste als erster die Krone der Stadtmauer erreichen, damit er seine Aufgabe als König vom Unland weiterführen konnte.
Als der Mann ohne Namen ins Straflager eingeliefert wurde, brachten ihn die Wärter vor den Kapo, vor Udad, der im Kreise seiner Anhänger Hof hielt. „Hey, wie heißt du?“ Als KeYNamM schwieg und die Frage ignorierte, versuchte es Udad erneut. „Sie haben dich als König vom Unland angekündigt! Als König ohne Namen, als KeYNamM! Sie haben dich als Amestan, als Beschützer des Wadi Draa angekündigt.“ Doch der Mann schwieg weiter. „Ich, Udad, den alle Udad den Rammbock nennen, ich weiß alles! Du bist als Aufrührer verurteilt! Du hast dem Imperator die Tributzahlungen streitig gemacht! Du hast die Weiber und Kinder vom Unland vor den Häschern des Imperators versteckt! Du hast das Vieh und die Früchte vor ihnen versteckt. Das vergibt dir der Imperator nie und schon gar nicht Gwasila, der Gouverneur von Tinghir!“ Als KeYNamM nicht antwortete, versuchte ihm Udad zu schmeicheln. „Ich bewundere jeden, der das Imperium bekämpft, der es schädigt! Du auf deine Weise, ich auf meine! Lass uns Freunde werden!“ KeYNamM schwieg beharrlich weiter, da er von Udad und seinem feixenden Gefolge angewidert war.
Udad aber ließ nicht locker. „Sie nennen dich KeYNamM, alle nennen dich KeYNamM! Du hast also keinen Namen! Hat dir deine Mutter keinen Namen gegeben? Wie hat dich dein Vater gerufen? Warum sagst du nicht deinen richtigen Namen. Hast du Angst ihn zu nennen? Glaubst du, mit deinem Namen gewinnen andere Macht über dich?“ Als KeYNamM über Udad hinweg in die Ferne blickte, brüllte der ihn an: „Du Mann ohne Namen und ohne Zukunft, weich meinem Blick nicht aus! Schau her! Du kannst dir einen meiner Freudenjungen aussuchen! Jeden den du willst. Nachts brauchst du hier Wärme und tagsüber Freunde. Nur das zählt hier!“ Als KeYNamM sich wegdrehte, kreischte Udad wütend: „Hau ab, König ohne Namen! Hau ab, aber rechne nicht mit meiner Hilfe.“
KeYNamM drehte sich um und drängte sich durch die Gaffer, die ihn und Udad auf seinem Thron aus Stein umstanden. Am Rande der Gruppe angekommen, begann er sich nach einem Platz zum Schlafen umzusehen. Plötzlich rief eine unbekannte Stimme: „Amestan! Amestan! Erkennst du mich nicht? Schau genau! Ich bin es, ich, Idir, der Jungbauer von der Langen Insel im Draa. Du hast meine Schwestern vor den Häschern des Imperators gewarnt! Sie sind ihnen entkommen! Dank dir! Komm mit mir! Kümmere dich nicht um Udad und seine Kapo. Er ist nicht allmächtig! Komm mit, meine Freunde sind auch deine Freunde. Komm mit zu unserem Unterstand.“
Idir's Unterstand war ganz nahe der Felswand aufgebaut. Auf dem Weg durch die Dunkelheit sprudelte es aus ihm nur so heraus: „Amestan! Amestan, als die Häscher meine Schwestern nicht fanden, raubten sie unsere Kühe. Ich hab die Knechte des Gouverneurs verfolgt! Nachts, als sie schliefen, habe ich mir das Vieh zurückgeholt. Am nächsten Tag waren sie wieder da! Diesmal nahmen sie nicht nur die Kühe mit, nein auch mich! Sie steckten mich ohne Prozess ins Straflager! Für immer! Jetzt grabe ich nach des Imperators Kristallen! Aber ich will hier raus! Meine Freunde wollen raus! Mit dir schaffen wir das!“
Als sie am Unterstand ankamen, stelle ihn Idir seinen Freunden vor. „Das ist unser Amestan, der, von dem ich euch schon so oft erzählt habe, der König vom Unland, der den Widerstand gegen den Imperator angeführt hat. Ohne ihn fehlt uns der Mut! Und das …“, er deutete auf einen dürren Mann unbestimmten Alters, „… der mit den Schlitzaugen ist ein Tamasheq. Es ist Amaynu, ein Goldschmied vom Hof des Amenokals, des Königs der Kel Tamasheq, der Wüstensöhne. Er wird beschuldigt, dem Imperator Kristalle gestohlen zu haben!“
Der andere, ein Mann schwarz wie die Nacht, stellte sich selbst vor. „Ich bin Ochuko! Du hörst richtig! Ich bin Ochuko der Händler aus dem Süden, der alles besorgen kann!“
„Ochuko, du ein Händler?“, spottete Amaynu, „Schmuggler sollte er sich lieber nennen. Draußen hat er alles geschmuggelt, Gold, Weihrauch, kleine Mädchen und Qat! Qat hat der Imperator verboten! Er gönnt den Armen keine Entspannung! Weil der Gauner die mit Rauschgift versorgte, sitzt er jetzt wie wir und herausschmuggeln konnte er uns bisher auch nicht!“
KeYNamM warf wieder einen Blick zu seinem Kontrahenten. Azrur hatte die Augen geschlossen. Zitternd klammerte er sich an den Holm der Leiter. Der große Junge tat ihm leid! Er tat ihm leid und zugleich verfluchte er Udad, nicht nur Udad, nein, das Straflager, das Imperium, seine Gesetze, den Imperator selbst. Was hatte Udad zu so einem Monster gemacht, dass er seinen ehemaligen Favoriten dem Tod überantwortete, nein, sogar verdammte! Klar, Azrur hatte seinem Rivalen aufgelauert und ihm die Nase eingeschlagen. Klar, das war unüberlegt von dem Jungen, unüberlegt und dumm! Aber jemanden für eine Dummheit in den Tod zu schicken! Unmenschlich! KeYNamM schüttelte den Kopf.
Jemand riss ihn aus seinen Gedanken. „Hier trink das, Mann! Das hilft!“ Es war der Leutnant der Wächter. Er hielt ihm einen Becher mit einer bräunlichen Flüssigkeit unter die Nase. Sie roch aromatisch und beißend zugleich. Vorsichtig nahm er einen kleinen Schluck! Die Schleimhaut seines Mundes zog sich zusammen und brannte. Er hustete! Er spuckte! KeYNamM stieß den Becher zurück! „Wenn nicht, dann nicht!“ Der Leutnant zuckte mit den Schultern und brachte den Becher zu Azrur.
KeYNamM ließ seine Blicke umherschweifen. Eine Kompanie Wächter umringte die Himmelsleiter und drängte sich zwischen die Delinquenten an deren Fuß und die Menschenmenge auf dem weiten Feld vor der Stadt. Die halbe Stadt war auf den Beinen! Alle wollten das Schauspiel sehen, den Zweikampf auf der Himmelsleiter hinauf zur rettenden Krone der Stadtmauer. Sie wollten Blut sehen, vor allem Blut, das Blut von mindestens einem der Delinquenten, besser von beiden. Sie wollten ihre Aufschreie hören, wenn sie von den Lanzenspitzen der Wächter am Fuß der Leiter aufgespießt wurden. Sie wollten das Blut sehen, wenn es den Sand dunkel färbte.
Auf dem Platz zwischen der Stadtmauer und der vorbeiführenden Straße stand die Menge Kopf an Kopf. Ein Summen über der Menge verriet die Anspannung der Zuschauer. Die Wächter stützten sich auf ihre Lanzen, Lanzen mit langen schlanken Spitzen, die matt in der Sonne blinkten. Die älteren schwatzen miteinander, die jüngeren versuchten mit Mädchen in der Menge zu flirten. Denen wollten sie beweisen, wie stark und abgebrüht sie sind. Aber die Nervosität war den jungen Wächtern ins Gesicht geschrieben, schließlich würde gleich einer der Delinquenten sterben, aufgespießt von ihren Lanzen.
Inzwischen hatte der Leutnant den Trank Azrur angeboten. Der schluckte die Flüssigkeit ohne Zögern herunter. Erst als sie ihm brennend die Speiseröhre hinunterlief, begann er zu husten. Sein Magen rebellierte sofort gegen den Trank! Er begann sich zu übergeben. Er spuckte gelben Schleim. Aber es war zu spät. Der Trank begann schon sein Werk!
Der Leutnant warf den leeren Becher einem Wächter zu. Das war das Zeichen für einen Trommelwirbel. Dieser leitete zu zwölf Schlägen auf einen Gong über, die in der ganzen Stadt gehört werden konnten. Mit dem Trommelwirbel verstummte das Summen über der Menge, um sofort mit Einsetzen der Gongschläge von Anfeuerungsrufen abgelöst zu werden: Los! Loos! Loooos!
Der Leutnant kommandierte: „Beim letzten Gongschlag geht’s los! Das ist das Signal zum Anstieg!“ Während er KeYNamM ins Kreuz stieß, zischte er, „Amestan, ich drück dir die Daumen! Ich bin auch vom Draa!“
KeYNamM warf einen Blick auf Azrur. Er ließ ihm den Vortritt und begann dann selbst die Himmelsleiter hochzusteigen. Vorsichtig ergriff er Sprosse um Sprosse, dabei versuchte immer mit einer Hand und zwei Füßen oder zwei Händen und einem Fuß sicheren Halt zu finden.
Anders Azrur. Der letzte Gongschlag hatte den jungen Strafgefangenen aus seiner Lethargie gerissen. Stürmisch begann er eine Sprosse nach der anderen zu nehmen. Meist stützte er sich nur mit einer Hand und einem Fuß ab, manchmal hielt er sich sogar nur mit einer Hand fest. Bald hatte er einen Vorsprung vor KeYNamM gewonnen, zunächst zwei, dann drei und als er sich der Mitte der Leiter näherte, sogar vier Sprossen.
KeYNamM beobachtete Azrur genau. Sein Wettkampftrieb sagte: 'Los, Los! Mach vorwärts, hol ihn ein! Hol ihn ein, sonst verlierst du!' Aber seine Erfahrung riet ihm: 'Stetig bleiben, stetig bleiben!'
Mit jeder Sprosse schrumpfte der Abstand zwischen den Holmen und mit jeder Sprosse wurden die Holme ein wenig dünner. KeYNamM schaute nach unten. Die Wächter waren dicht an die Leiter herangerückt. Die himmelwärts gerichteten Spitzen ihrer Lanzen glichen einem Wald, einem Wald aus Eisen, spitzen Zähnen, die auf ihr Opfer warteten. Dazwischen nahm er die aufgeregten Gesichter der jungen Wächter und die abgebrühten der alten Wächter wahr. Jeder von ihnen verfolgte den Anstieg der beiden Kontrahenten genau.
Plötzlich begann die Leiter zu schwingen. Zwei bärenstarke Wächter versetzen die Leiter in Schwingungen. Die der Leiter am nächsten stehenden fassten mit an und die Auslenkungen der Leiter wurden größer und größer. KeYNamM hatte darauf gewartet, aber so schlimm hatte er sich das Ausschwingen der Leiter nicht vorgestellt. Im Straflager hatten ihn andere vor dieser zusätzlichen Prüfung gewarnt und gesagt: „Die werden versuchen dich wie eine reife Frucht vom Baum zu schütteln. Pass auf! Halt dich immer gut fest.“ KeYNamM hatte sich daher in Gedanken auf das Hin- und Herschwingen vorbereitet, aber die Realität war weit schlimmer. Er klammerte sich fest und versuchte die Bewegungen der Leiter durch Gegenbewegungen auszugleichen. Dabei bemühte er sich weiterzusteigen, kam aber nur ganz allmählich höher.
Azrur war von der Heftigkeit der Schwingungen überrascht worden. Aber er reagierte anders, er reagierte wie ein verschrecktes Kind. Er klammerte sich an das Holz, klebte förmlich an den Sprossen und hörte auf zu klettern. KeYNamM erreichte ihn schnell. Als der junge Strafgefangene KeYNamM unter sich auftauchen sah, begann er hektisch weiter hochzusteigen.
Der Gifttrank, die Anstrengungen des Aufstiegs und das Schaukeln der Leiter hatten Azrur sichtbar mitgenommen. Er sah grässlich aus. Sein sonst braunes Gesicht war bleich, Schweiß lief ihm über die Wangen, das weite Hemd klebte ihm am Körper. Mit jedem Moment verschlechterte sich seine Verfassung. Er roch schon jetzt wie ein Toter. Als er KeYNamM näherkommen sah, mobilisierte er alle noch vorhandenen Kräfte, kletterte schnell weiter und gewann einen kleinen Vorsprung.
Als beide Kontrahenten Zweidrittel der Leiter geschafft hatten, war der Abstand zwischen den Holmen soweit geschrumpft, dass nur für einen von ihnen Platz blieb. Hier, wo die Holme schon recht dünn waren, spürte KeYNamM die Schwingungen der Leiter stärker als je zuvor. Die Auslenkungen waren so heftig, dass er sich beinahe nicht mehr festhalten konnte. Er drückte seinen Körper gegen die Leiter, umarmte sie und verschnaufte einen Moment. Erst jetzt nahm er die Anfeuerungsrufe der blutrünstigen Menge wahr: „Und Hopp, uuund Hopp, uuund Hopp!“ Diese Rufe galten aber nicht ihnen, sondern den Henkersknechten und Soldaten, die die Himmelsleiter schüttelten.
Beim Griff nach der nächsten Sprosse berührte KeYNamM die nackte Ferse von Azrur. Die Berührung war nicht beabsichtigt. Sie erfolgte aus Versehen, hatte jedoch eine tödliche Folge. Azrur glaubte KeYNamM wollte ihn von der Leiter ziehen und stieß mit dem Bein nach dessen Kopf. Auf Grund der unüberlegten, überhasteten Bewegung und den Schwingungen der Leiter verlor er jetzt auch den Halt mit dem anderen Fuß auf der Sprosse und hing nur noch mit beiden Händen an der Leiter.
Die Menge bemerkte das sofort und verstärkte ihre Anfeuerungsrufe. „Und Hopp, uuund Hopp, uuund Hopp!“, feuerte sie die Wächter am Fuß der Leiter an. Die Auslenkungen der Leiter wurden stärker und gleichzeitig unregelmäßiger. Azrur rutschte mit seiner verschwitzten rechten Hand von der Sprosse und konnte sich nur noch mit der Linken, seiner schwächeren, festhalten. Beim nächsten Ausschwingen der Leiter verlor er den Halt vollständig. Mit einem schrecklichen Aufschrei glitt er an KeYNamM vorbei in die Tiefe. Er drehte sich einmal in der Luft, schlug mit seinem Kopf auf einen Holm und dann traf sein Körper auf den Wald von Lanzenspitzen. Ein Moment herrschte Stille, dann kam sein Todesschrei, der jedoch wurde durch das Triumphgeschrei der Menge übertönt. Das Gejohle der Menge steigerte sich noch, als ihnen der bluttriefende, sich noch windende Körper auf den Lanzenspitzen präsentierten wurde. Die Wächter hielten den Körper des Unglücklichen hoch und schwenkten ihn wie eine Trophäe über den Köpfen.
KeYNamM realisierte diese Vorgänge nicht mehr. Er merkte nur, dass die Schwingungen der Leiter aufgehört hatten und kletterte das letzte Drittel der Leiter hoch, so schnell er nur konnte. Sein Herz raste. Es schlug „Gewonnen! Gewonnen! Frei! Frei! Frei!“ Als die Schwingungen wieder einsetzten, hatte er eine Hand schon auf die oberste Sprosse gelegt und im nächsten Moment warf er beide Arme über die Mauerkrone und versuchte sich über die Brüstung zu ziehen. Seine Finger fanden aber keinen Halt auf der glatten Mauerkrone. Doch gerade als er abzurutschen drohte, packten ihn Hände und zogen ihn mit einem Ruck über den Mauerrand. Dort fiel er in den Sand. Bevor ihm schwarz vor Augen wurde, schlug sein Herz: „Frei! Frei! Endlich frei! Ich habe gewonnen, das Imperium muss mich freilassen!“ Dann nahm er nichts mehr wahr, weder das enttäuschte Johlen der Menge am Fuß der Stadtmauer, noch die aufmunternden Worte der beiden Stadtwächter, die ihn über die Mauerkrone gezogen hatten.
KeYNamM wachte erst auf, als ihm ein Schwall Wasser über Kopf und Brust gegossen wurde. Er versuchte sich aufzurichten, kam aber nicht auf die Beine. Die Stadtwächter zerrten ihn hoch, nahmen ihn dann in die Mitte und schleiften ihn über einen sonnenbeschienenen Platz zu einer schmalen Pforte in einer Mauer.
Dunkel erinnerte er sich an diesen Ort. Die Pforte war der Eingang zum Brunnenhaus der Stadt am Platz vor dem Stadthaus, in dem der Gouverneur residierte und das gleichzeitig als Gerichtsgebäude diente. Von hier aus war es zur Villa des Gouverneurs in einer Seitengasse nicht mehr weit. Im Brunnenhaus schleppten ihn die Wächter einen kalten, dunklen Gang bis zu einer Abzweigung entlang. Dort stießen sie ihn einige Stufen hinauf zur Tür in eine niedrige Kammer, die Quellkammer. Drinnen warfen sie ihn auf den glitschigen Boden, verließen den Raum und verriegelten den Zugang.
2 Brunnenkinder
Der Widerhall von Kinderstimmen weckte KeYNamM. Eine davon hell wie Vogelgezwitscher am Morgen, die andere schon etwas angeraut, wie die eines Jungen, an der Grenze zum Erwachsenenalter. Die Stimmen drangen durch das Gitter der Brunnenkammer in die Quellkammer, einem schmalen niedrigen Raum, in dem das Wasser aus dem Berg sickerte. Von dort floss es weiter durch einen engen Auslass in die Brunnenkammer, um im tiefen Brunnenschacht aufgefangen zu werden.
KeYNamM schob sich näher an das Gitter und spähte in die Brunnenkammer. Im Halbdunkel erblickte er zwei magere Gestalten, einen etwa Vierzehnjährigen und einen Knaben von vielleicht neun Jahren. Beide hatten die Kleider abgelegt und während der Ältere sich sorgfältig wusch, tanzte der Jüngere in den Wasserpfützen am Brunnenschacht und spritze den anderen nass.
„Komm spiele mit, Ikken!“, bat er, nahm den Mund voll Wasser und blies die Fontäne dem anderen ins Gesicht. „Komm, sei kein Feigling, du hast versprochen, dass wir hier drinnen Spaß haben werden!“
„Du bist schon nass wie ein Spatz in der Pfütze! Beeil dich Aylal, kleiner Vogel! Mach schon! Jeden Augenblick können die Stadtwächter kommen und da müssen wir draußen sein, sonst gibts Ärger.“
„Komm Ikken, es ist doch viel zu schön hier! So schön kühl! Soviel Wasser! Du hast versprochen, dass du hier mit mir spielst, wenn ich nicht zur Himmelsleiter gehe. Alle meine Freunde sind hingegangen und du lässt mich nicht! Warum? Die erzählen bestimmt den ganzen Tag von dem Kampf der beiden Verbrecher auf der Himmelsleiter und von dem vielen Blut und wie die geschrien haben, wenn sie von den Lanzen aufgespießt wurden.“
„Das erkläre ich dir später kleiner Bruder, ein andermal!“
Noch bevor Aylal weiterprotestieren konnte, ertönten Stimmen im Gang zur Brunnenkammer. Schnell packte der Größere seinen Bruder, hielt ihm den Mund zu und zog ihn in den Türschatten neben dem Eingang. Ängstlich in die Ecke gedrückt, schaute er sich in dem kahlen Raum nach einem besseren Versteck um. Da fiel sein Blick auf das Gitter, das Quellkammer und Brunnenkammer trennte. Für einen Augenblick kreuzten sich die Blicke KeYNamM's und des Jugendlichen. Der erschrak, wollte schon aufschreien, hielt sich dann jedoch die Hand vor den Mund und erstickte den Schrei!
Die Wächter gingen jedoch nicht in die Brunnenkammer, sondern stiegen die acht Stufen zur Quellkammer hoch und schoben unter Fluchen den rostigen Riegel der Eingangstür zurück. KeYNamM rollte sich schnell zur Mitte der Kammer und blieb dort wie ohnmächtig liegen.
„Komm wach auf! Komm schon, seine Hoheit der Gouverneur des Imperators, der Gouverneur Gwasila will dich sehen. Er ist immer noch dein Herr, auch wenn dich die Menschen am Draa König nennen, König vom Unland!“, mahnte der eine Stadtwächter.
KeYNamM stellte sich ohnmächtig. Er rührte sich nicht und atmete nur flach. Er wollte den Jungen die Möglichkeit geben, aus der Kammer zu flüchten.
„He, du König vom Unland!“, zischte der andere Stadtwächter und stieß ihn mit dem Fuß an. „Es kann dir gar nicht so schlecht gehen, schließlich hast du den Kampf gewonnen und wirst bald frei sein!
„An deiner Stelle hätte ich keinen Moment geschlafen! Los wach schon auf, wenn du nicht willst, dass es sich der Gouverneur anders überlegt und dich ins Straflager zurückschickt!“
„Gouverneur Gwasila kann alles! Und er sieht Aufrührer wie dich lieber tot als lebendig, vor allem einen, den Menschen König nennen!“
Die Wächter zerrten KeYNamM zum Ausgang der Brunnenanlage. Als sich die Augen KeYNamM's an das helle Sonnenlicht gewöhnt hatten, fiel sein Blick auf die beiden Jungen. Sie standen an der Stadtmauer und zogen sich an, schauten aber nicht zu ihm herüber. Er atmete auf. Sie hatten es also geschafft.
Als die beiden Wächter KeYNamM quer über den heißen Platz zum Stadthaus mit dem Gerichtssaal führten, fühlte der Mann plötzlich Blicke im Rücken. Sicher starrte jemand auf das Zeichen des Imperators auf seinem Rücken, die Markierung, die ihn, KeYNamM, als Eigentum des Imperators kennzeichnete! KeYNamM drehte sich unwillkürlich um und blickte zurück. Ihre Blicke begegneten sich erneut, KeYNamM's Blick und der des Halbwüchsigen, den der kleinere Junge Ikken genannt hatte. Ikken und Aylal, die Namen hatten sich in sein Gehirn eingeprägt.
Ikken packte seinen kleinen Bruder an der Hand und zerrte ihn über den in der Sonne glühenden Platz in den Schatten der Brunnenanlage. „Komm Aylal, wir müssen denen nach, den Dreien, den Stadtwächtern und dem Mann!“
„Aber warum? Ich hab Hunger! Du hast mir ein Bad und dann frisches Fladenbrot mit Datteln versprochen. Jetzt hab ich Hunger!“
„Nicht jetzt Aylal, später!“ Und der größere begann seinen kleinen Bruder über den Platz zu zerren.
„Aber warum? Warum müssen wir den Dreien nach. Du hast doch sonst immer Angst vor den Wächtern, Ikken.“
„Darum!“
„Warum?“, insistierte der Jüngere.
„Ich sag es dir später. Du verstehst es jetzt nicht!“
„Immer später! Warum?“
Ikken zögerte einen Augenblick lang, dann gab er nach, „Der Mann dort, schau wie er geht, schau, er geht wie Baba!“ Seine Stimme überstürzte sich. „Seine Haare, schau, hell wie die von Baba und …“, Ikken zögerte, „… ich hab auch sein Gesicht gesehen, im Dunkeln, in der Brunnenkammer! Er hat uns von der Quellkammer aus beobachtet! Er hat mich angesehen! Er sieht aus wie Baba!“
„Vater ist weg, schon lange weg! Du hast mir das immer gesagt, immer wieder!“ Aylal glaubte seinem Bruder nicht! „Du schwindelst! Du hast Baba nicht gesehen, du weißt gar nicht wie Baba aussieht! Er ist schon so lange von uns gegangen!“
„Du warst damals zu klein, du kannst dich nicht mehr an Baba erinnern. Du warst erst drei, ich aber acht!“
„Ich kann mich erinnern! Natürlich! Wie er mich immer auf dem Arm getragen hat, wie er mich mit seinem Bart gekitzelt hat! Wie groß er war!“
„Gib es doch zu! Du kannst dich nicht an sein Gesicht erinnern, seine Augen!“ Ikken dachte nach, dann, mit Triumph in der Stimme: „Der Mann hat Baba's Augen, blaue Augen!“
„Baba hatte buschige Augenbrauen. Aber ich erinnere mich nicht an die Farbe seiner Augen. Ich will seine Augen sehen! Komm schnell!“ Aylal riss sich los und rannte den Dreien nach. „Vielleicht ist es doch Baba! Ich frag ihn.“
Mit fünf Schritten holte Ikken ihn ein und riss seinen Bruder zurück! „Aylal, halt! Aylal, er ist es bestimmt nicht! Ich …“ Ikken wollte schon sagen, „Ich weiß wie er starb! Ich war dabei!“, doch dann sagte er nur, „Komm Bruder, Aylal, mein kleiner Vogel, wir schleichen ihnen nach! Mit Abstand! Vielleicht braucht der Fremde unsere Hilfe!“
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