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Ein Winterlied
Teil 6 - Ein Winterlied
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Informationen
- Story: Ein Winterlied
- Autor: Scipio
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama
-6: Ein Winterlied-
Unruhig ging Caspar hin und her, versuchte krampfhaft sich zu beschäftigen und konnte sich doch nicht länger als zwei Minuten auf eine Sache konzentrieren, setzte sich schließlich ruhelos auf die Couch, die Knie angezogen, eines der Dekorkissen zwischen Oberschenkel und Bauch geklemmt.
„Wo zum Teufel bleibt er??“, dachte er besorgt und gleichzeitig schon halb verzweifelt. Tausend Dinge schwirrten ihm durch den Kopf, als er diesen resigniert sinken ließ und ihm so Nathanaels Duft in die Nase stieg. Beunruhigt fragte er sich, ob der junge Schwarzhaarige vielleicht in Schwierigkeiten geraten und einem alten Freier begegnet oder nun einfach nur sauer auf ihn war. Sogar Caspar selbst konnte schließlich nicht sagen, weshalb er so ausgetickt war und all die Dinge gesagt hatte, die ihm schon jetzt so unendlich Leid taten.
Wie konnte er sich auch einfach so das Recht herausnehmen über Nathanael zu urteilen, obwohl er doch nur so wenig über ihn wusste? Nun... Vielleicht genauso, wie er sich in den schwarzäugigen Engel verliebt hatte, ohne ihn wirklich zu kennen...
Apathisch starrte er auf die Ziffern seiner Digitaluhr, die sich scheinbar Millionen Male vor seinen Augen änderten, bis er plötzlich aufsprang.
Nein! Irgendetwas stimmte da nicht und wenn er Nathanael jetzt nicht suchen ging, dann war es vielleicht schon zu spät! So schnappte er sich nur schnell den Mantel sowie die Schlüssel für Wohnung und Auto, denn innerlich rechnete er bereits mit dem Schlimmsten und dann würde er mit seinem Motorrad wohl nicht viel anfangen können.
Allerdings kam er nicht sehr weit. Um genau zu sein, bis zur Tür, denn gerade als er hinaus stürmen wollte, trat er mit dem Fuß gegen etwas Weiches und fand so ein Päckchen, dessen Inhalt er beklemmend gut kannte.
„Scheiße!!“, fluchte er und trat wütend gegen den Türrahmen. Nathanael war hier gewesen und er hatte nichts gemerkt, hatte ihn nicht vom Gehen abhalten können? Wem zum Teufel hatte er ins Trinken gepisst, dass er so etwas verdient hatte??
Hastig überflog er die wenigen Zeilen, ging sich innerlich selbst an die Kehle, während eine unsichtbare Hand sein Herz zerdrückte wie eine überreife Tomate, dann schmiss er die Sachen einfach in die Wohnung und zog die Tür ins Schloss, ohne sich noch mit deren Abschließen aufzuhalten, nahm vier Stufen auf einmal als er die Treppen hinunter stürmte und anschließend mehr in seinen BMW hechtete als irgendetwas anderes.
„Das tust du mir nicht an, Nathan, das kannst du mir nicht antun, verdammt noch mal!!“, dachte er immer wieder, würgte vor Aufregung zweimal den Motor ab, als er vor dem Lenkrad saß, und hätte schlicht vergessen sich anzuschnallen, wenn ihn das an seinen Nerven zehrende Piepen nicht daran erinnert hätte, bis auch das erledigt war.
Noch nie hatte er den New Yorker Verkehr so gotteslästerlich verflucht wie heute, dennoch hatte er letztendlich erstaunlich wenig Zeit benötigt, was wohl damit zu tun haben musste, dass er unzähligen Leuten die Vorfahrt geschnitten, die roten Ampeln auf seinem Weg ganz zufällig allesamt übersehen hatte und noch etwa vierhundert Verkehrsregeln gebrochen hatte, immer vorausgesetzt natürlich, dass das New Yorker Straßenverkehrsgesetz überhaupt so viele besaß.
Doch alles, woran er denken konnte war das Küchenmesser, dass Nathanael einmal mitgenommen hatte, und die noch frische Schnittwunde über der Pulsader bei ihrem nächsten Zusammentreffen.
Dann – ENDLICH!!! – kam der heiß ersehnte Rohbau in Sicht und Caspar trat so heftig auf die Bremse, dass es schon fast ein Wunder war, dass er nun kein Loch im Wagenboden hatte... Schnell sprang er aus dem Wagen, schob die Tür jedoch klugerweise ganz leise zu, sodass Nathanael nicht etwa durch das Türknallen alarmiert wurde. Dann stürmte er in das Fast-Haus, hangelte sich das Seil in einer Zeit hinauf, für die ihm sein ehemaliger Sportlehrer wohl ein „A“ mit Kusshand gegeben hätte, und sah sich heftig atmend um, bevor er erblickte, was er suchte.
Einen Moment lang wurde ihm richtiggehend schlecht vor Erleichterung, dann überwand er die wenigen Meter und hatte Nathanael auch schon fest in seine Arme gezogen, bevor dieser auch nur blinzeln konnte.
„Nathan“, stieß er hervor und vergrub sein Gesicht in dem schlanken Nacken des Jüngeren, küsste jede einzelne Narbe und konnte sich einfach nicht beruhigen. „Nathan, ich... Gott, danke...“ Glücklich drehte er den völlig überrumpelten Jungen in seinen Armen herum, drückte ihn wieder an sich und konnte minutenlang nichts anderes tun, als den verstörten Jungen mit Händen und Lippen zu kosen, sinnlose aber beruhigende Worte zu flüstern und ihn einfach nur dankbar zu umarmen. Der Blonde konnte gar nicht alles aufzählen, was er sich ausgemalt hatte, doch er konnte sich nun jedenfalls bescheinigen, eine ziemlich kranke Fantasie zu haben...
Irgendwann hatte er sich schließlich beruhigt, auch Nathanael wehrte sich immer stärker gegen Caspars eiserne Umarmung und er wusste, dass es nun an der Zeit war, Nathanael unmissverständlich klar zu machen, was er dachte und fühlte.
„Bitte hör mir zu, Nathan. Ich werde dich jetzt loslassen, aber bitte hör mir zu, ohne mich zu unterbrechen, ja?“, bat er, tat dann wie versprochen und der Schwarzhaarige wich ein paar Schritte zurück, blieb dann jedoch wo er war.
Erst jetzt fielen ihm die Haare auf, doch er sagte vorerst nichts dazu, weil es einige Dinge gab, die noch viel wichtiger waren als Haare, die jederzeit nachwachsen konnten: „Ich... ich habe deinen Brief gelesen und ich... ich weiß, dass ich nicht mehr kommen sollte, aber... ich kann nicht, verstehst du?“, stammelte er, trat hart schluckend einen Schritt auf seinen gefallen Engel zu, hielt jedoch sofort inne, um den Kleineren nicht zu verschrecken. „Das... das was ich in der Cafeteria gesagt habe, das... es war falsch. Nicht, dass ich eifersüchtig war, aber der Rest... Ich war nur so...“, er senkte die Stimme, zuckte hilflos mit den Schultern, „eifersüchtig eben... und es hat mich wütend gemacht, dass du... und dann ist einfach eine Sicherung bei mir durchgebrannt... Es war nicht so gemeint, das musst du mir glauben! Ich konnte ja nicht ahnen... nein, das stimmt nicht, aber ich habe in dem Moment einfach nicht so weit gedacht und... ich mag dich trotzdem sehr, deswegen... deswegen darfst du einfach nicht von mir verlangen, dich nie wieder zu sehen, weil... Wenn du mir schon nicht dein Herz schenken kannst, musst du mir wenigstens deine Freundschaft lassen, Nathan... bitte...“
Dann hielt Caspar es einfach nicht mehr aus, zog Nathanael wieder in seine Arme und küsste ihn mit einer solchen Entschlossenheit und zugleich Zärtlichkeit, dass es ihn selbst überraschte, und er hoffte, der Jüngere würde verstehen, dass sowohl seine Worte als auch seine Gefühle ehrlich waren. „Vergib mir, Nathanael... auch wegen deiner Haare... sie waren und sind wunderschön und... darf ich sie dir wieder gerade schneiden? ...bitte?“
Alain erstarrte, als er in ein paar starke Arme gezogen wurde.
„Vater!!“, war das Erste, das ihm durch den Kopf schoss, doch schon wenige Augenblicke später wurde ihm klar, dass er sich geirrt hatte... Aber er war auch nicht sicher, ob er darüber nun froh war oder nicht.
Er tat, wie ihm gesagt wurde und hörte stumm zu. Seine Emotionen hinter seiner Maske gut verborgen.
Nachdem Caspar geendet hatte ließ Alain seinen kalten Blick lange auf dessen Gesicht ruhen, wartete, ob noch etwas kommen würde, ehe er sprach.
„Was ich mit meinen Haaren mache geht Sie überhaupt nichts an, Sir! Ich sag Ihnen doch auch nicht, wie Ihre Frisur auszusehen hat! Mir gefällt’s so!“, log er und drehte sich weg.
Langsam ging er zu seiner Hütte zurück.
„Sie wissen, dass das einfach nicht funktionieren kann. Ich werde meinem Beruf weiterhin nachgehen müssen und Sie werden wieder ausrasten. Es wäre wirklich besser, wenn wir uns nicht mehr sehen. Ich habe mir darüber ernsthaft Gedanken gemacht, ob Sie das nun glauben oder nicht. Und ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass es so am besten für uns beide ist. Bitte gehen Sie!
Auch wenn Ihnen das wohl so erscheint, es ist nicht besonders schwer, mich zu vergessen.“
Schnell und ohne noch einmal zurückzusehen verschwand Alain in seiner Hütte, schmiss sich auf die alte Matratze und kauerte sich zusammen, das Gesicht ganz nah an die Eis überzogene Wand gedrückt. Tränen rannen über seine Wangen.
Seinen Groschenroman hielt er fest an seine Brust gedrückt. Wieso war in den Büchern immer alles gut? Es gab dort immer nur einen Bösewicht und sonst ging alles gut. Der Ritter gewann alle Schlachten, wurde von allen bewundert und bekam natürlich am Ende seine Prinzessin.
Plötzlich wütend schmiss er das Buch gegen die Wand am Fußende. Er biss in seine dünne Decke, um kein verräterisches Geräusch zu machen, als krampfhaftes Schluchzen seine Kehle empor kroch und ihm die Luft abschnürte.
Schnell wickelte er sich ganz in die Decke, genoss die davon ausgehende Wärme und versuchte, die immer schneller nach strömenden Tränen mit einem Deckenzipfel weg zuwischen.
„Bitte, Caspar. Geh! Mach es mir nicht schwerer als es schon ist.“, dachte er verzweifelt und versuchte mit dem Weinen aufzuhören, was allerdings nur dazu führte, dass er noch krampfhafter schluchzte.
Er hörte erst viel zu spät, dass Caspar auf seine Höhle zu kam. Er wollte ihm zurufen, er sollte ihn alleine lassen, aber er traute seiner Stimme nicht. Er wollte nicht, dass Caspar sein Schluchzen hörte.
„Sir? SIE??“, wiederholte er leise, aber deshalb nicht minder hysterisch, zitternd, spürte wie sein Herz brutal krampfte, als Nathanael ihn bat zu gehen.
„Dich vergessen? Nein! Niemals!“, dachte er entsetzt, schüttelte den Kopf. Nein! Das konnte und das würde er nicht!
Doch der schwarzhaarige Junge sagte nichts mehr und ließ Caspar einfach stehen.
Erstarrt stand der Braunäugige da und blickte auf die Stelle, an der Nathanael aus seinem Blickfeld verschwunden war, ohne zu einem klaren Gedanken fähig zu sein, wusste nur, dass das, was der Jüngere da von ihm verlangte, schlicht und einfach unmöglich war.
Dann ballte er die Hände zu Fäusten und setzte sich leise in Bewegung, betrat jedoch erst nach einigem Zögern den kleinen abgegrenzten Abteil – vielleicht hatte er ja innerlich schon geahnt, dass ihm Nathanaels Anblick schier das Herz zerreißen würde.
Schnell kniete er sich neben den Kleineren und nahm ihn sanft in seine Arme, zog ihm dann bestimmt den Zipfel der Decke aus dem Mund, hörte fast augenblicklich das Schluchzen, das Nathanaels Körper schüttelte. Traurig strich er die warmen Tränen von dem blassen, aber hübschen Gesicht, seufzte leise, bevor er es wagte, den Blick der bodenlosen Tiefen einzufangen.
„Ich weiß, wir kennen uns noch nicht sehr lange, Nathan...“, begann er und stockte, holte noch einmal tief Luft, während er eine der schwarzen Strähnen hinter das kleine Ohr schob, um dann entschlossen hinein zu flüstern: „Aber du solltest mittlerweile zumindest wissen, dass ich dich niemals so einfach aufgeben werde... Du kannst von mir verlangen, dass ich jetzt gehe, aber... letztendlich würde ich früher oder später ja doch wiederkommen und du weißt das.“
Einen Moment noch zögerte er, dann nahm er Nathanaels Kinn und drehte es sich zu, küsste ihn kurz und nur sehr vorsichtig. „Du sagst, es wäre nicht schwer, dich zu vergessen, aber das stimmt nicht. Es ist schwer, weil du weitaus wundervoller und schöner bist, als du immer behauptest.
Und du bist mir mehr wert als du dir offensichtlich einzureden versuchst. Ich bitte nicht jeden Menschen darum, Weihnachten mit mir zu verbringen, verstehst du? Ich habe überhaupt noch nie jemand auf so eine Art und Weise dazu eingeladen – nicht bevor ich dich traf. Und... ich habe noch nie jemanden darum gebeten, bei mir zu wohnen, aber... ich... - nun bitte ich dich darum.
Wenn es dir unangenehm ist, kostenlos bei mir zu wohnen, dann kannst du mir ja ein wenig im Haushalt helfen, aber... ich möchte... möchte, dass du... bei mir bist. Denn ich – werde dich nicht vergessen. Ich konnte es all die Monate seit unserem ersten Treffen nicht, aber nun kann ich es erst recht nicht mehr.“
Langsam, mit geröteten Wangen, ließ er Nathanael los, nahm sich bloß seine Hände, betrachte sie mit einem dicken Kloß im Hals. Dann drückte er sie sanft und flüsterte: „Ich werde auch versuchen, meine Eifersucht zurückzuhalten, aber... bitte komm mit mir. Bitte...“
„Bitte... gehen Sie weg! Lassen sie mich in Ruhe!“, schluchzte Alain, klammerte sich aber gleichzeitig so fest an den Größeren, dass dieser gar nicht die Möglichkeit gehabt hätte, sich von ihm zu lösen.
„Ich will nicht dahin zurück!“, flüsterte er in einem plötzlichen Stimmungsumschwung, das Gesicht in Caspars Jacke vergraben.
„Kannst du mir nicht da raus helfen? Ich schaffe das allein nicht!“
Alain wurde ruhiger. Eine Weile blieb er noch so liegen, den Kopf gegen Caspars Brust gelehnt und ließ sich von dem ruhigen Herzschlages des Größeren trösten.
Dann stand er schnell auf.
„Willst du zum Essen bleiben? Ich muss noch mal schnell... einkaufen, aber ich bin gleich wieder da! Wartest du solange auf mich?“
Hoffnungsvoll setzte er seinen Bettelblick auf und sah Caspar von unten her an.
Überrascht blickte der Blonde in die schönen schwarzen Augen, die ihn geradezu anflehten, blieb einige Momente still vor fassungslosem Glück.
„Hat er mich gerade wirklich gefragt, ob ich zum Essen bleiben will?“, dachte er betäubt, spürte seinen Herzschlag nicht mehr, weil er die Grenze des Gesunden längst überschritten hatte.
Dann nahm er unwillkürlich die Hand des Anderen, fuhr mit der anderen streichelnd über die ausgekühlte Wange, bevor er nickte, nur um sofort wieder den Kopf zu schütteln. „Ja – oder warte: Kann ich nicht mit dir kommen? Ich könnte dich fahren, dann geht es schneller!“, erklärte er hastig, auch wenn man ihm wohl ansah, dass er Nathanael im Moment einfach nicht hergeben wollte. Nicht, nachdem er kurz davor gewesen war, ihn endgültig zu verlieren.
Dann zog er den Schwarzhaarigen, noch bevor jener antworten konnte, mit sanftem Nachdruck an sich, beugte sich leicht hinunter und flüsterte ihm mit ernster Stimme ins Ohr: „Ich werde alles für dich tun, was in meiner Macht steht, Kleiner – alles...“
„Äh...“, machte Alain besonders geistreich. „Najaaaa... weißt du.. ich. Ich shoppe eigentlich lieber allein. Außerdem...“
Alains Gedanken rasten. Wenn Caspar jetzt mitkam, könnte er nicht auf seine übliche Weise einkaufen, aber er brauchte das Geld. Außerdem wollte er doch noch Geschenke für Caspar und Virginia besorgen...
Warum musste das auch immer alles so schwer sein?
„Weißt du, Caspar... es würde mir viel mehr helfen, wenn du hier bleiben und ein ordentlich großes Feuer entfachen würdest, damit sich die Hütte hier ein wenig aufgeheizt hat, wenn ich wiederkomme.“
Alain wühlte einen Moment unter seiner Matratze, zog einen seiner Groschenromane hervor, sah kurz auf das Titelblatt, legte es weg und suchte weiter. Noch zwei weitere Bücher wurden aussortiert, bis er fünf etwas zerfledderte Hefte in Caspars Richtung hielt.
„Die kannst du zum Anzünden nehmen. Streichhölzer müssten hier auch irgendwo sein... warte mal..“
Er wühlte weiter, bis er eine platt gedrückte Streichholzschachtel gefunden hatte.
Mit einem schnellen Griff hatte er die untere Hälfte der Matte umgeklappt, so dass am Fußende seiner Hütte etwas Platz entstand, der auch schon eindeutige, verkohlte Stellen aufwies.
Schnell kletterte er noch auf das Dach, schob zwei der Bretter, die er über seine Backsteinmauern gelegt hatte, zur Seite, damit der Rauch abziehen konnte.
Als er damit fertig war, sah er Caspar grinsend an.
„So, ich geh mal schnell los... mal sehen, was du hier als Feuermeister zustande bringst!“
Schweigend sah Caspar in das fröhliche Gesicht und fast kam es ihm vor wie das des Christkindes, nur mit schwarzem und nicht blondem Haar umrahmt. Vielleicht war dies ja auch der Grund, warum ihm der Name „Nathanael“ für den Jungen am besten gefallen hatte.
Dann, bevor der Kleinere sich davon machen konnte, trat er einen Schritt näher, berührte die beiden ausgekühlten Wangen mit seinen Fingern und zog sie etwas zu sich heran, um die blassen Lippen wieder rot zu küssen. Er tat es sanft und bedächtig, jede Sekunde auskostend, ohne jedoch mehr zu tun als diesen unvorstellbar süßen Mund zu liebkosen und es zu genießen.
Schließlich zog er seinen Kopf ein Stück zurück, besah sich die dunkelschimmernden Lippen, die glänzend schwarzen Augen. Kurz beugte sich der Blonde noch einmal vor, um seinen Mund schnell und liebevoll auf die weiße Stirn zu drücken, dann ließ er Nathanael los und flüsterte mit einem Lächeln: „Also gut. Ich werde hier auf dich warten... Aber bleib nicht zu lange...“
Alain rannte. Die eisige Luft schnitt ihm in die Haut, aber er ignorierte das. Er wollte Caspar nicht warten lassen, aber er musste auch noch Geschenke suchen!
Das Essen zu besorgen ging relativ leicht und schnell... er hatte nicht gehofft den Würstchenverkäufer schlafend anzutreffen, und hatte sich so nicht nur eine Hand voll rohe Würste schnappen können und die dann durch schnelles Rennen verteidigen (ja, das hatte er auch schon ausprobiert. Der Verkäufer gehörte der Erfahrung nach nicht zu den trainiertesten Sprintern), sondern er hatte sich auch noch in aller Ruhe einige Brötchen und eine Flasche Ketchup in einen Beutel packen können.
Heute musste sein Glückstag sein.
Zuvor war er noch in einer Kirche gewesen, hatte eine Hand voll Hostien, eine Flasche Messwein und vier Kerzen eingesteckt und irrte nun durch die Einkaufsmeile auf der Suche nach einem Geschenk.
„Was schenken sich die Leute überhaupt?“, war die erste Frage, die ihm in den Sinn kam.
Worüber würde er selbst sich freuen?
Ehe er dazu kam, den Gedanken weiter zu verfolgen, tippte ihm von hinten jemand auf die Schulter. Erschrocken fuhr er herum und sah in Simons breit grinsendes Gesicht.
„Na, Kleiner? Brauchst du wieder was? Ich mach dir auch ein super Weihnachtsangebot!“
Alain überlegte, entschloss sich dann dazu, sich tatsächlich etwas zu kaufen.
Obwohl er das in der Aufregung der letzten Stunden gar nicht mitbekommen hatte, sehnte sich sein Körper wieder nach den Tabletten, doch Simon suchte keine Pillen, sondern eine kleine Spritze aus dem Inneren seiner Innentaschen hervor.
Ohne dass es noch weiterer Worte benötigt hätte, ging Alain weiter, bog in eine Seitenstraße ein, die zu der Zeit völlig verwaist war, setzte sich auf den gefrorene und Schneebedeckten Boden und wartete auf Simon, der auch wenige Minuten später erschien.
Ein wunderbar warmes Gefühl im Inneren schlenderte Alain nun an den Schaufenstern entlang.
Simon hatte ihm den Tipp gegeben, das sich die Leute oft gegenseitig Bücher schenkten.
So stand er nun etwas unsicher vor der großen Buchhandlung und betrachtete das Angebot. Es gab so viele... und er wusste nicht, was Caspar und Virginia denn gerne lasen.
Außerdem hatte er sich vorgenommen, die Geschenke nicht zu stehlen.
Wenig später verließ er den Laden wieder mit zwei Büchern, die er in schön buntes Papier eingewickelt bekommen hatte und machte sich zurück zur Ruine.
Rasch und geübt hangelte er sich einhändig am Seil nach oben, zog es ein, versteckte die Tüte mit den Büchern in einer Ecke und ging dann auf seine Hütte zu.
Unschlüssig besah sich Caspar die Dinge, die ihm zum Feuermachen zur Verfügung standen und musste unwillkürlich an seine Heizung daheim denken. Einen Moment lang überlegte der Braunäugige, ob er nachher, wenn der Kleine wieder zurück war, nicht einfach vorschlagen sollte, zu ihm zu gehen, wo es nicht nur wärmer, sondern auch sicherer und komfortabler war als hier. Dann jedoch verwarf er den Gedanken wieder.
Nathanael hatte ihn zum Essen eingeladen, nicht anders herum und das vermutlich, um sich erkenntlich zu zeigen. Wenn er nun seine Wohnung vorschlug, würde er den Jüngeren damit wohl nur vor den Kopf stoßen und das wollte er nicht.
Also nahm er sich die Streichhölzer und alles andere und begann ein kleines Feuer zu entfachen so wie er es aus seinen Skiferien kannte, als sie sich eine Skihütte mit Kamin gemietet hatten.
Lange würde es nicht brennen, dafür waren die paar Hefte aus Papier zu wenig und Holz, das er hätte verwenden können, sah er nicht. Daher ging er kurz heraus und nahm sich einige Ziegelsteine, die er nacheinander in das Feuer legte, damit sie heiß wurden und die Wärme in sich aufnahmen. Die erhitzten Steine legte er dann unter Nathanaels Decke, denn so würde sich der Kleine schnell wieder aufwärmen können, wenn er zurück war.
Dann setzte er sich auf die aufrollbare Campingmatratze und zog den Mantel enger um sich, blicklos in das Feuer starrend. Irgendwann jedoch schloss er einfach die Augen, stellte sich das Gesicht des Jüngeren vor, und spürte erneut, wie erleichtert er darüber war, nicht endgültig von ihm zurückgestoßen worden zu sein.
Nein, er wollte sich wirklich nicht ausmalen, was er getan hätte, wenn es doch so gekommen wäre. Ob er wohl ausgetickt und wahnsinnig geworden wäre? War seine Liebe schon so stark, seine Abhängigkeit von jenem wundervollen Lächeln der blassen schmalen Lippen so groß?
Denn inzwischen konnte er zwar mit Sicherheit sagen, dass er sich verliebt hatte, doch waren richtige Liebe und bloßes Verliebtsein noch lange nicht dasselbe. ...oder?
Er wusste es nicht genau.
Und während er darüber nachdachte, glitt er langsam aber stetig immer tiefer hinab in sein Unterbewusstsein, bis er schließlich in einen leichten Schlaf gesunken war.
Alain ging auf seine Hütte zu. Gleich als erstes fiel ihm auf, dass nur eine kleine Flamme zu funzeln schien. Verwirrt sah er auf die kleine Flamme, die sich gerade über sein letztes Buch hermachte.
„Wieso hat er kein Holz aufgelegt?“
Einen schnellen Blick auf den schlafenden Caspar werfend, drehte er sich um und kletterte das Seil wieder hinab. Er hatte natürlich vergessen, Caspar zu sagen womit er Feuer machen sollte, da es ihm selber so offensichtlich erschien.
Mit wenigen, recht schnellen Schritten ging er zu dem Haufen Sperrmüll, der sich vor dem Eingang stapelte, trat einem der kaputten Küchenschränke die Rückwand aus und zerlegte den Rest ebenso geübt in seine Einzelteile. Manchmal erschien es ihm fast wie ein Wunder, wie immer mehr Sperrmüll hier her kam, wo doch alle, die in der Gegend leben mussten, garantiert nicht das Geld für neue Einrichtungen hatten.
Aber selbst wenn der Müllabholdienst es einfach irgendwo abwerfen sollte: ihm war es egal, solange es sich zum Großteil um verwendbares Holz handelte.
Eben dieses Holz band er nun mit einigen Knoten am unteren Ende seines Kletterseils fest, überprüfte den richtigen Halt und sprang, da er so viel Seil verbraucht hatte, dass er nicht mehr einfach durch Strecken an das Seil über dem Holz reichte, griff sich das Tau und hangelte sich schnell nach oben, um gleich darauf das Bündel nachzuziehen und das Seil wieder sicher zur Seite zu legen.
Mit dem Holz stapelte er hinter sich den Eingang seiner Hütte zu, so dass wenigstens etwas Wind auch von dort abgeblockt werden konnte, schmiss schnell ein Stück der Rückwand (die aus gut brennbarem Sperrholz bestand) in die noch leicht flackernden Seiten seiner Groschenromane und wartete, bis diese Feuer gefangen hatten und er dickeres Holz auflegen konnte.
Dann griff er sich eine der rohen Bratwürste, die er mitgebracht hatte, riss den Darm mit einem Eckzahn auf und nuckelte an der Stelle ein wenig herum, bis er das erste Fleisch schmecken konnte.
So genüsslich vor sich hin mampfend drehte er sich um und sah zu Caspar, der noch immer zu schlafen schien.
Unter der Decke, die Caspar wohl im Schlaf um sich gewickelt haben musste, so verdreht wie sie war, lagen einige Ziegelsteine, was Alain doch irgendwo verwunderte, aber er ließ sie Liegen... Caspar würde sich schon was dabei gedacht haben!
Mit einem Anflug von Stolz packte er das Essen aus, legte alles ordentlich neben das Feuer und griff sogleich nach einer weiteren Wurst, mit der er über Caspar krabbelte, so dass er direkt in sein Gesicht schauen konnte und dem noch Schlafenden hinhielt.
Alain kniete sich über Caspars Brust und stütze sich mit der freien Hand auf dem Körper des Studenten ab, als er sich vor beugte und Caspar heiser ins Ohr flüsterte:
„Hey, wach auf! Ich hab was zu Essen mitgebracht.“
Er hauchte Caspar noch einen Kuss auf die Nasenspitze und lehnte sich dann zurück, um es sich auf Caspars Bauch bequem zu machen, während er mit der Wurst vor dessen Gesicht rumwedelte und derweil an seiner eigenen weiter rumlutschte.
Verschlafen blinzelte Caspar als er den sanften Kuss spürte, schlang automatisch die Arme um die schlanke Gestalt, die auf seinem Schoß hockte, zuckte jedoch leicht zusammen als das Erste, was er sah, ein riesiger, ekliger Wurm war, der sich erst auf den zweiten Blick als noch rohe Bratwurst herausstellte. Er selbst kannte die Dinger nur von einem kleinen deutschen Imbiss, der hauptsächlich alle möglichen Arten gebratener Würste zu verkaufen schien, und hatte sie eigentlich noch nie roh gesehen... War eben nicht so wirklich das typisch amerikanische Essen...
Aber wen kümmerte das schon? Nathanael hatte es nur für sie beide beschafft und auch wenn er sich sicher war, dass er lieber nicht ganz so genau wissen wollte, wie der Kleine es beschafft hatte, rührte ihn die Geste doch sehr. Vorsichtig zog der Blonde die Decke zwischen ihren beiden Körpern hervor, zog sie dann über sie beide, sodass sich der Andere schnell wieder aufwärmen konnte. Zufrieden seufzte er auf. Sein schwarzhaariger Engel war viel zu mager, um ihm zu schwer zu sein, aber er genoss das Gewicht auf seinem viel muskulöseren, männlicheren Körper. Er spürte eine leichte, vom anderen ausgehende Bewegung, sah auf und verzog den Mund. „Die grillen wir vorher besser“, bestimmte er nach einem Blick auf das deutlich gewachsene Feuer. „Sonst hast du nachher nur Bauchschmerzen...“ Rigoros nahm er dem Jüngeren also seine Wurst weg, legte sie beiseite zu den anderen und senkte dann seine Lippen auf den weichen Hals, ließ seine Finger neugierig unter das Hemd gleiten, strich verspielt über den glatten Bauch, um eifrig dabei zu helfen, die weichzarte Haut wieder warm zu kriegen...
Erst nach einer Weile hielt er schließlich inne, starrte in die schwarzen Tiefen, ließ sich eine Weile in ihnen fallen, bevor er sich endlich eingestand, dass sein Magen davon auch nicht voller wurde. „Dann lass mal sehen...“, lächelte er den Schwarzhaarigen aufmunternd an, achtete jedoch ganz unauffällig darauf, dass er Nathanael wenigstens mit einem Arm halten durfte.
Leise lachend die Decke ein wenig abschüttelnd richtete sich Alain wieder auf. Ein leises Knurren entwich seiner Kehle, als ihm sein Fleisch weggenommen wurde, aber er war eh schneller als Caspar. Noch bevor dieser seinen Arm zurückgezogen hatte, hatte Alain sich auch schon die fast aufgegessene Wurst geschnappt und wieder in den Mund geschoben.
„Wenn du willst, kann ich dir gerne eine übers Feuer hängen... aber sie verlieren dadurch ihren frischen Geschmack. Ich versteh nicht, wieso ihr immer alles erst kochen und braten müsst. Ich finde den natürlichen Geschmack viel besser als das gekochte... na gut, das stimmt nicht ganz, aber man sollte sich nicht ständig von irgendwelchen Gewürzen den Geschmack kaputt machen lassen...Oh Gott!“, frustriert schrie Alain auf.
„Ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich jetzt erzählt hab. Das war nicht nur völlig am Thema vorbeigeredet, sondern sogar für mich schlicht unverständlich!“
Mit einem letzten Achselzucken legte er die Sache beiseite, suchte sich unter dem Holz, das er mitgebracht hatte, einen langen Holzsplitter und spießte eine der Würste darauf.
Den Spieß zwischen seine Zähne klemmend griff er nach Caspars Knien, zog an ihnen, bis seine Beine aufrecht standen und er sich, auf dem Bauch des Studenten sitzend, bequem anlehnen konnte.
Obwohl der Span zu kurz war, zuckte Alain nicht zurück, als das Feuer unangenehm heiß an seinem Arm brannte. Immerhin begann es langsam seinen ganzen Körper durchzuwärmen. Und er war noch weit genug von den Flammen entfernt, dass auch sein immer übervorsichtiger Mediziner sich nicht beschweren konnte.
Einige Minuten saß er nur schweigend auf seinem neuen Liegestuhl, bis die Stille ihn zu erdrücken drohte.
„Wie soll das mit uns jetzt weitergehen?“, fragte er leise.
„Was du vorhin gesagt hast, klang zwar wirklich lieb, aber ich weiß, dass das nicht funktionieren kann! Vielleicht kannst du jetzt, wo du frisch verliebt bist... oder zu sein glaubst, über meine Fehler hinwegsehen, aber das wird nicht lange halten. Irgendwann fängst du an meine kleinen Macken, die dir am Anfang vielleicht noch `süß´ erschienen, zu hassen. Meine Narben... als sie frisch waren, hab ich sie mit Stolz getragen, als Zeichen, dass ich es überlebt und überstanden habe. Jetzt sind sie nur noch hässlich und zeigen immer wieder meine Schwäche auf. Du siehst nur noch das Schlechte. Ein kleiner Fehler, sei es auch nur das Heben einer Augebraue oder ein Blick in bestimmten Situationen, wie ich auf manche Dinge reagiere. Irgendwann macht dich das verrückt. Oder ein Kämpfer wie du wird es nie verstehen können, wie viel Macht mein Vater über mich hat. Und jedes Mal, wenn er mich wieder gefunden hat, wirst du ihn mehr hassen, bis dir eines Tages auffällt, dass meine Opferhaltung ihm gegenüber, meine Angst vor seiner Autorität das erst möglich macht. Mir fallen tausend Dinge an mir ein, die mich selber schon wütend machen, und egal, wie oft ich beschließe, diese Angewohnheiten abzulegen, es passiert doch immer wieder.
Außerdem glaub ich nicht, dass du es einfach so hinnehmen wirst, wenn ich weiterhin Drogen nehme. Aber für eine Entziehungskur habe ich nicht die Kraft.“
Eine ganze Weile schwiegen sie wieder, Alain wendete stumm Caspars Würstchen und schmiegte seine eiskalte Wange gegen dessen Knie.
„Und ich bin hoffnungslos pathetisch, wehleidig und ich bemitleide mich selbst viel zu sehr.“
Alain beschloss, das es wohl besser wäre, jetzt den Mund zu halten. Während des Redens hatte er noch zwei weitere Würste auf den Stock gespießt, so dass die aller unterste so nah an seinem Arm hing, dass sie nicht kalt werden konnte, aber auch nicht verbrannte.
Leise seufzend reichte er Caspar den Stock, legte sich dann auf die Matratze und kuschelte sich mit in seine Decke.
„Du solltest nach dem Essen nach Hause gehen. Hier ist es kalt und du bist immer noch krank, oder zumindest noch nicht richtig, und vor allem nicht so lange gesund...
Das wegen vorhin tut mir Leid.
Ich werde heute auch nicht mit zu dir kommen! Ich glaube wir brauchen jetzt Abstand. Oder eher: Du!
Ich... ach, ich weiß einfach nicht. Wieso konnte mich die Frau letztens nicht einfach richtig überfahren? Das hätte vieles einfacher gemacht. Meinen Trip hat sie mir eh vermasselt...“
Alain richtete sich noch einmal kurz auf, griff sich eine von den übrigen, noch rohen Würsten und ließ sich, zufrieden wie ein kleines Kind daran rumnuckelnd, wieder zurück in sein warmes Bett fallen. Daran, dass das gerade so schön kuschelig warm war, weil neben ihm noch ein anderer Mann lag, wollte er jetzt gar nicht denken, weil das ja heißen müsste, dass es wieder kalt würde, sobald der verschwand. Naja, wenigstens hatte er noch sein Feuer...
Als er hörte, was sein schwarzäugiger Engel da sagte, fuhr er erschrocken zusammen, wollte heftig etwas erwidern – dann aber wurde ihm klar, dass das Ganze nur zu einer weiteren Diskussion geführt hätte, weil ihm der Andere wohl wie so oft nicht geglaubt hätte. Daher hörte er eine ganze Weile lang nur schweigend zu, was Nathan so durch den Kopf ging, auch wenn er zuweilen einen starken Stich in der Brust verspürte. Er antwortete auch nicht, als der andere sagte, er solle nach dem Essen gehen, wobei er das Essen selbst im Moment kaum eines Blickes würdigte. Stattdessen begann er sich genau zu überlegen, was er nun sagen wollte: Es sollte ehrlich sein und von Herzen kommen, denn etwas anderes hatte der Jüngere nicht verdient. Belogen und betrogen wurde er auf der Straße sicher oft genug und auch die Liebe entschuldigte keine Lüge oder Halbwahrheit. Außerdem... außerdem hatte er Angst den schwarzhaarigen Jungen zu enttäuschen, der nun so vertraut mit ihm umging. Seine Antwort sollte Nathanael aber auch zeigen, dass er es ernst meinte und seine Gefühle nichts waren, was in einer Woche der Vergangenheit angehörte.
„Ich habe keine Ahnung wie es weitergehen wird... Ich kann nämlich leider nicht in die Zukunft sehen, weißt du? Ich weiß nur, was ich mir für unsere Zukunft wünsche, mehr nicht“, flüsterte er dann auf einmal leise. Kurz zögerte er, dann aber holte er tief Luft und redete weiter: „Das, was du da sagst, mag stimmen und deine Situation ist ganz sicher nicht die Leichteste, vielleicht sogar die Schwerste von allen, aber... du darfst nicht immer bloß negativ von dir reden und denken. Jeder hat schlechte Eigenschaften, nicht nur du. Sicher gibt es einige Sachen, die mich stören, aber ich kann sie im Moment nicht ändern – vielleicht auch nie. Trotzdem liebe ich dich! Weil du auch viele gute Seiten an dir hast und weil du trotz deiner Fehler liebenswürdig bist. Denn ein Mensch besteht nun einmal nicht nur aus Fehlern – und selbst wenn ich dich noch so oft Engel nenne, bist und bleibst du das doch: ein Mensch.
Außerdem solltest du nicht vergessen, dass auch ich Fehler habe, dir auf die Nerven gegangen bin – und dennoch hast du mir eine zweite Chance gegeben, lässt mich ein wenig in deiner Nähe sein.“
Unsicher sah er in die schwarz glänzenden Augen, stellte seine Würste dann vorsichtig so ab, dass sie nicht schmutzig wurden, und nahm den Jüngeren einfach in den Arm, vergrub sein Gesicht in dem ganz weich gewordenen Haarschopf. Still genoss er die Wärme, den Duft, die bloße Nähe dieses kleinen Engels und weigerte sich; daran zu denken, dass er ihn irgendwann auch wieder loslassen musste.
„Mein Gott, seit wann bin ich so verschmust? So schlimm war ich ja nicht einmal als Kind!“, dachte er über sich selbst den Kopf schüttelnd – und wusste die Antwort doch längst: „Seit Nathan...“
Nathan... Plötzlich seufzte er leise auf, denn erneut wurde er sich der Distanz bewusst, die dieser ausgedachte Name zwischen ihnen schuf: „Nathanael“ wusste seinen vollständigen Namen, wusste wer er war. Doch Caspar musste sich mit einigen wenigen Teilen aus einem Hunderttausend-Teile-Puzzle zufrieden geben, die nicht einmal zueinander passten... Wie sollte er denn je herausfinden, ob er dem wahren „Nathanael“ oder nur einer Wunschgestalt verfallen war, wenn ihm alle Informationen nur bröckchenweise hingeworfen wurden wie einer Taube die Brotkrumen?
„Darf ich... weißt du, ich habe mich zwar daran gewöhnt, dich Nathanael zu nennen und ich kann mir denken, dass du sicher nicht ohne Grund jedem Menschen einen anderen Namen nennst, aber... ich würde dich gerne mit deinem echten Namen anreden... oder zumindest mit dem, mit dem du am liebsten angeredet werden möchtest... ver-verrätst du ihn mir? Bitte...?“
Mit geschlossenen Augen lehnte Alain an Caspars Brust, genoss die Sicherheit und die Wärme, die der Mann ihm bot. Er wollte nicht reden, hatte keine Lust die Sache mit seinem Namen zu erklären, aber andererseits wusste er auch, dass wenn überhaupt jemand, dann Caspar das Recht hatte es zu erfahren.
Aber es war so schwer. Wo sollte er anfangen?
„Ich habe keinen Namen!“, beschloss er es einfach auf den direkten Weg.
„Wenn ich irgendwo einen Namen höre oder lese, der mir gefällt, dann borge ich ihn mir für eine gewisse Zeit und eine Person... Das funktioniert gut. So kann ich mich auch meinem Gegenüber anpassen, ich überlege, was ihm wohl gefallen würde und suche mir dann eines der bedeutungslosen Worte aus, mit dem er mich rufen kann.“ Eine Weile sah er nur stumm in die Flammen und streichelte gedankenverloren über Caspars Arme, die ihn umschlossen.
„Eigentlich brauchen doch nur Leute, die auf irgendeinem Amt registriert sind, einen eigenen Namen, oder? Damit sie nicht immer wieder mit anderen verwechselt werden, wenn sie zum Beispiel Geld von der Bank holen wollen oder sowas. Ich selber nenne mich meistens... naja, Alain, aber wenn dir Nathan gefällt, kannst du es auch bei Nathan belassen. Mir ist das egal. Der Name bedeutet „Frieden“... also Alain! Ich hab in einem Laden mal ein Buch gesehen, da stand zu jedem Namen eine Bedeutung drin. Ich hab ewig darin herumgesucht.
Eigentlich mag ich den Klang noch nicht so richtig.
Ich bin immer auf der Suche nach Namen, die mir von der Bedeutung und vom Klang her gefallen... Nathanael heißt „Gott hat gegeben“ und Jonathan „Geschenk Jahwes“. Aber das ist egal. Ich hab mich bisher auf keinen Namen richtig festgelegt, also wenn du möchtest, kannst du dir einfach irgendeinen aussuchen.“
„Alain...“, wisperte er leise in das Ohr des Jungen, langsam und genüsslich als würde er sich den Klang wie ein Stück zartschmelzender Schokolade auf der Zunge zergehen lassen. „Ja, das passt zu dir... Denn mit dir in meinen Armen finde ich endlich den Frieden, den ich solange gesucht habe...“
„Ich weiß nicht... Du hast zwar Recht aber... für mich bedeutet mein Name auch zu wissen, wer ich bin. Zwar mag ich meinen zweiten Vornamen nicht wirklich, aber ich weiß zumindest, dass es meiner ist und ich denke, dass beruhigt ein bisschen... Aber... wenn dir der Klang von ‚Alain’ noch nicht so richtig gefällt, dann sollte ich dich vielleicht einfach „Engel“ nennen, bist du einen gefunden hast, den du wirklich magst?“, neckte er den Jüngeren und biss zart in die Ohrspitze hinein.
Und mit freudig klopfendem Herzen bemerkte er, dass sich ‚Alain’ nicht dagegen wehrte, sich nur stumm von ihm umarmen ließ und ab und an selbstvergessen über Caspars Arme streichelte.
Nachdem er wieder eine Weile überlegend in das flackernde Feuer gesehen hatte, lachte er leise.
„Caspar heißt Schatzmeister!“
„Schatzmeister?“, wiederholte der Blonde ein wenig überrascht, musste dann aber grinsen.
„Soso...“, säuselte er unschuldig. „Nun, dann sollte ich meinen Schatz gut hüten, um meinem Namen auch Ehre zu machen, nicht wahr?“
Und ehe sich der Schwarzäugige versehen hatte, zog er ihn fest an sich und küsste sich sanft über das zarte, beinahe unnatürlich helle Gesicht. „Wie schön du bist“, murmelte er bewundernd, fast ein wenig VERwundert. Wie hätte er auch ahnen können, dass er sich eines Tages in einen kleinen heimatlosen Stricherjungen verlieben würde?
Schließlich hatte seine Mutter ihn anständig erzogen und als ein Junge, der niemals Armut zu spüren bekommen hatte, war er natürlich auch mit den oft sehr kleinbürgerlichen, aber nun einmal allgegenwärtigen Vorurteilen aufgewachsen, die ihm bei aller Nächstenliebe, die ihm seine Mutter gepredigt hatte, sicher nicht dazu geraten hatten, Umgang mit „solchen“ Leuten zu pflegen.
Um sich nicht zu sehr in den wunderschönen, braunen Augen zu verlieren, wandte er sich ab und griff wieder nach seinem Grillstock, um Caspar mit diesem vor dem Gesicht herum zu wedeln.
„Jetzt wird erstmal gegessen!“, befahl er und biss selber in seine eigene, noch rohe Wurst. Er hatte jetzt keine Lust mehr, über jetzt und später nachzudenken. Besonders nicht über später, denn wenn er ganz ehrlich zu sich selber war, gefiel ihm „Jetzt“ sogar sehr gut!
Und obwohl er selber das Thema aufgebracht hatte, wollte er die Rede auf keinen Fall wieder darauf bringen.
Wie Napoleon schob er seine rechte Hand durch die Lücke zwischen zwei Hemdknöpfen und rieb mit seinen kalten Fingern über den juckenden Schorf, der seine Wunde bedeckte.
Wieso fing er eigentlich immer an irgendetwas zu erzählen, sobald er in Caspars Nähe war?
Lächelnd ließ Caspar sich seine Wurst geben und begann, sie zu essen. Ein denkbar einfaches Mahl – aber mit diesem kleinen Engel in seinen Armen schmeckte es immer noch tausendmal besser als jeder Kaviar der Welt.
Der Medizinstudent war einfach zufrieden und glücklich, dass sich trotz seiner Eifersucht alles zum Guten zu wenden schien, war dankbar, dass Alain ihm vergab und seine Nähe zuließ, ihm sogar schon so sehr vertraute, dass er immer mehr von sich preisgab – und ihn um Hilfe bat.
Blicklos auf Caspars schöne Hände starrend, kratzte er ein Teil des Schorfes ab, bis die ersten Bluttropfen seine Fingerkuppe berührte. Die brennenden Augen schließend schob er den Finger in den Mund. Vorsichtig ließ er seine Zunge um seine Fingerspitze gleiten und genoss den Geschmack des roten Lebenssaftes.
Erst jetzt schrak er aus seinem Wachtraum auf, wischte schnell den Rest des Blutes von seiner Brust, ehe es in seinem Hemd versickern konnte. Er wollte nicht morgen zum Weihnachtsessen mit einem Blutfleck auf dem Hemd auftauchen. Es war zwar trotzdem recht schmuddelig, aber Virginia würde sich mal wieder viel zu viele Sorgen machen.
„Darf ich trotzdem morgen zu euch kommen?“, fragte er leise an Caspars Finger gerichtet.
Stirnrunzelnd griff er nach Alains blutigen Fingern und legte den letzten Zipfel seiner Wurst beiseite. Ohne Widerrede zu dulden, drehte er ihn zu sich herum und öffnete die oberen Knöpfe des dünnen Hemdes, nur um zu sehen, was er sich schon gedacht hatte.
„Ach Engelchen, so geht das nicht!“, seufzte er kopfschüttelnd. „Deine Wunde wird nie heilen, wenn du den Schorf immer wieder aufkratzt. Ich weiß, es ist unangenehm und vermutlich juckt es auch, aber da musst du jetzt einfach durch, wenn du nicht dein Leben lang damit herumlaufen willst... Und wo ist eigentlich der Verband hin? Mom hat dir doch ganz sicher einen gemacht!“
Wieder seufzte er, dann sah er den Schwarzäugigen bestimmt und unnachgiebig an. „Nein, du darfst nicht morgen kommen. Du wirst jetzt mit mir kommen!
Du bist immer noch stark erkältet und außerdem muss deine Wunde versorgt werden, sonst könntest du Wundbrand bekommen – und glaub mir, Wundbrand ist nichts, was man sich wünschen wollte. Sei mir nicht böse, aber dein zu Hause hier ist jetzt einfach nicht der richtige Ort für dich, um wieder gesund zu werden. Und schon gar nicht, um Weihnachten zu feiern!
Lass uns zurück zu mir fahren! Dann können wir morgen meine Mutter besuchen und übermorgen kommt noch meine Schwester vorbei – sie hat mich schon die ganze Zeit damit genervt, dass ich ihr endlich den Kerl vorstellen soll, der mir so den Kopf verdreht hat...“ Er grinste ein wenig schief, zuckte dann mit den Achseln. So war sein Schwesterchen eben – und die Neugier lag den Frauen wohl ohnehin im Blut.
Nachwort
Auch hier ist noch nicht das Ende.... obwohl es eine Weile dauern wird, bis es weitergeht!! Wir freuen uns immer über Lob und konstruktive Kritik und möchten uns noch für alle bisherigen Mails bedanken!!! Ihr macht uns Mut ^___^
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