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Regenbogenfamilie

Kapitel 4 - Erster Adventsonntag

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Der Wecker schepperte gnadenlos und ich glitt langsam aus Morpheus‘ Armen in einen Wachzustand und beendete mit einem kräftigen Druck auf das richtige Knöpfchen den Lärm, den der Wecker verursacht hatte. Na, zumindest war der Rest der Nacht ohne weitere Über­raschungen an uns vorübergegangen. Ich hoffte, dass wir heute etwas Zeit hätten, um dem Chaos um Philipp und Marcus beikommen zu können, bevor wir uns um den Umzug von Thomas‘ Mutter küm­mern würden.

Zuerst muss jedoch das gesamte Haus auf Vordermann gebracht werden, bevor wir uns damit beschäftigen können. Heute Nachmittag wird es noch eine Kaffeerunde nur mit der Familie geben und sicher werden wir die Reste vom gestrigen Buffet noch weiter reduzieren, damit am Ende doch nicht so viel weggeworfen wird. Mit meinen Über­legungen waren inzwischen weitere zehn Minuten vergangen; ich sollte wirklich langsam aufstehen und wenigstens das Frühstück vorbereiten, bevor ich die anderen aus dem Bett zu scheuchen versuche.

Kaum, dass ich mich vorsichtig von Thomas gelöst und im Bett aufgesetzt hatte, klingelte es an der Haustür. Thomas drehte sich um zu mir und meinte verschlafen: „Wer in Gottes Namen steht denn jetzt schon wieder vor der Haustüre und stört unseren Schlaf?“ Ich zuckte mit den Schultern und antwortete: „Keine Ahnung, ich schaue trotzdem nach, aber du könntest auch langsam aufstehen.“ Ich schlüpfte in meinen Bademantel und ging nach unten. Auf der Treppe überlegte ich, wer das wohl sein könnte; hoffentlich nicht Marcus‘ Eltern, die könnte ich jetzt um diese Zeit sicher noch nicht gebrauchen.

Ich öffnete vorsichtig die Haustüre und traute meinen Augen nicht: Dort standen Kevin und Christoph und grinsten mir frech entgegen. Schlagfertig und sicher wohl auch etwas sarkastisch fragte ich die beiden: „Seid ihr jetzt auch schwul und man hat euch zu Hause rausgeworfen?“

Christoph schaute mich kurz an und antwortete genauso schlagfertig: „Rausgeworfen ja, aber nicht, weil wir schwul wären; Martina wollte heute noch etwas länger schlafen, um sich vom Stress der letzten Wochen zu erholen und du kennst doch Kevin … Sie meinte, wir sollten besser zu euch gehen und beim Aufräumen helfen, anstatt sie dauernd zu nerven. Ich muss euch dazu noch mehr erklären, aber erst, wenn wir alle zusammen sind.“

Verwirrt schaute ich Christoph an und meinte: „Ihr habt doch einen Schlüssel von unserem Haus, warum seid ihr nicht einfach hereingekommen?“ Christoph grinste und meinte nur: „Den haben wir im Eifer des Gefechts einfach vergessen und erneut nach Hause fahren wollte ich auch nicht.“

So fragte ich Christoph, ob er denn zwischenzeitlich mit Kevin das Frühstück machen wolle, ich wollte wenigstens kurz duschen und mich frisch machen und ihm dann helfen. Er solle doch bitte für sechs Personen zum Frühstück aufdecken. Christoph schaute mich kurz an, er wollte wohl was sagen, dann schüttelte er nur den Kopf, zuckte mit seinen Schultern und verschwand mit Kevin in der Küche. Ihm ist bestimmt meine Begrüßung von vorhin eingefallen und er konnte sich vielleicht denken oder zumindest vermuten, was heute Nacht geschehen war.

Ich war schon wieder gemütlich auf dem Weg nach oben ins Bad, als Kevin von hinten zum Überholen ansetzte. „Wo rennst du denn hin?“, wollte ich von ihm wissen. „Philipp und Thomas aufwecken, mein Papa hat mir das erlaubt.“ „Philipp kannst du aufwecken, bei Thomas wirst du ein Problem haben, der scheint bereits im Bad zu sein.“ „Na dann eben nur Onkel Philipp“, kam von ihm und weg war er wieder.

Da ich selbst nicht so genau wusste, ob Marcus heute Nacht im Gästezimmer oder bei Philipp im Zimmer geschlafen hatte, ich aber im Grunde genommen davon ausging, dass die beiden in Philipps Bett eingeschlafen waren, wartete ich auf das, was vermutlich zwangsläufig kom­men musste, wenn Kevin die beiden zusammen in Philipps Bett vorfinden würde.

Ich war inzwischen im Obergeschoss angekommen und beobachtete, wie Kevin die Tür zu Philipps Zimmer vorsichtig öffnete und losstürmen wollte, um wie üblich über ihn herzufallen, wenn er bei uns übernachtet hat. Schlagartig blieb er jedoch stehen, drehte sich um und lief zu mir zurück.

„Opa, Opa, da liegt ein anderer Junge in Philipps Bett.“

Ich schaute Kevin an und fragte „Allein oder liegt Philipp mit in seinem Bett?“

Ich hob Kevin vom Boden auf, nahm ihn in meinen Arm und sagte: „Na, dann lass uns gemeinsam nachschauen, wer da im Bett von Philipp liegt.“ Mit Kevin im Arm ging ich nun zu Philipps Zimmer und wir beide schauten hinein. Marcus lag eng an Philipp gekuschelt und die beiden schliefen noch fest. „Siehst du“, sagte ich zu Kevin, „Philipp ist doch auch da und die beiden schlafen noch. Marcus kennst du doch, er ist Philipps Freund.“

Das erste, was Kevin mich danach fragte, war: „Sind Marcus und Philipp ein Paar wie du und Thomas?“ Ich antwortete ihm: „Ich denke schon.“

Was dann folgte, verschlug mir momentan die Sprache und ich werde wohl in Jahren noch über diesen Spruch lachen können. „Muss ich jetzt Onkel Marcus zu ihm sagen?“, schossen die Worte aus Kevins Mund.

„Ich weiß nicht, dass musst du Marcus schon selbst fragen“, antwortete ich ihm.

Ich stellte ihn wieder zurück auf den Boden und meinte: „Nun wecke sie schon auf, ich verschwinde inzwischen kurz ins Bad und danach wollen wir alle gemeinsam frühstücken.“

Ich drehte mich um, verließ das Zimmer und ging zu Thomas ins Bad. Was danach im Zimmer der beiden passierte, kann ich euch beim besten Willen nicht im Detail erzählen, da ich Thomas im Bad nur darüber informierte, dass Christoph und Kevin an der Tür gewesen seien, Christoph jetzt das Frühstück machte und Kevin die beiden Jungs aufwecken würde und vor allem, was Kevin zu mir gesagt hat. Natürlich erwähnte ich noch, dass uns die beiden beim Aufräumen helfen wollen. Ich hörte dann, dass Kevin wieder nach unten zu seinem Vater lief, vermutlich wird er ihm die Neuig­keiten erzählen wollen.

Ich war mit Thomas schon wieder im Schlafzimmer, als ich auch die beiden Jungs im Flur hörte. Philipp steckte seinen Kopf durch die Schlafzimmertür und meinte: „Paps, musste das jetzt sein?“ Ich grinste ihn an, sagte jedoch keinen Ton dazu. Thomas meinte noch: „Beeilt euch, Christoph macht das Frühstück, danach sollten wir uns aber an die Arbeit machen und endlich für Ordnung im Haus sorgen.“

„Nein, nicht auch das noch“, stöhnte Philipp und verzog sich zu Marcus ins Bad. Wie hat er den Ausspruch jetzt wieder gemeint? Ich grübelte: Meinte er damit das Aufräumen oder die Tatsache, dass Christoph und Kevin hier sind?

Da wir beide inzwischen vollständig angezogen waren, gingen wir sofort nach unten ins Erdgeschoss, um Christoph noch ein wenig bei den Vorbereitungen zu unserem Frühstück zu helfen.

Als wir in die Küche traten, lächelte uns Christoph an und sagte dann zu mir: „Jetzt weiß ich inzwischen auch, warum ich den Tisch für sechs Personen decken sollte; ich dachte schon, du wolltest mich mit deiner Aussage vorhin auf den Arm nehmen. Kevin hat mir alles erklärt. Besonders wichtig war ihm, dass er jetzt einen weiteren Onkel habe, genauso wie er drei Opas hat.“

Falls ihr mit den drei Opas gerade ein Problem haben solltet, die Lösung ist eigentlich ganz einfach: Christophs Vater ist Opa Nummer eins, ich bin Opa zwei und Thomas ist folge­richtig Opa drei. Außerdem hat er jetzt auch fünf Urgroßmütter, ich hoffe jedoch, dass ich euch das jetzt nicht wieder extra erklären muss.

Wir vier hatten uns kaum am Esstisch niedergelassen, als auch schon die beiden Jungs von oben herunterkamen und sich zu uns setzten. Wir frühstückten gemütlich zusammen und als nach gut einer halben Stunde so langsam alle satt waren, meinte ich: „So, jetzt sollten wir aber wirklich langsam anfangen mit dem Aufräumen im gesamten Haus, sonst sind wir heute Nachmittag immer noch nicht fertig.“

„Wartet noch einen Moment, ich muss euch doch noch etwas sagen, bevor wir mit dem Aufräumen anfangen“, mischte sich Christoph ein. „Schwieger-Papa, ich habe dir ja vorhin schon gesagt beziehungsweise angedeutet, dass uns Martina heute Morgen rausgeworfen hat, weil sie noch etwas länger schlafen wollte nach dem Stress der letzten Wochen; was wir dir und damit euch allen aber bisher noch nicht verraten haben, sie ist wieder schwanger und wir erwarten unser zweites Kind. Kevin weiß es schon, dass er ein Geschwister­chen bekommt, durfte euch aber bisher nichts verraten.“

Dass bei Kevin solche Geheimnisse gut aufgehoben sind, hatte ich gestern schon festgestellt, er hatte auch nichts von Thomas‘ Mutter verraten, obwohl er die ganze Zeit davon gewusst hatte.

„Eigentlich war geplant, dass wir es euch gestern noch erzählen, aber dann gab es dazu keine Gelegenheit mehr, nachdem wir euch Thomas‘ Mutter als Überraschungsgast präsentiert hatten. Wir wollten es allen nunmehr heute Nachmittag bei der Kaffeerunde mit den Großeltern erzählen, aber nachdem Kevin heute Morgen nicht zu bremsen war und wir deshalb aus dem Haus verbannt wurden, ist mir keine andere Wahl geblieben, als euch jetzt schon mit dem Ganzen zu konfrontieren. Ihr wärt sicher zu neugierig gewesen und hättet sicher genau wissen wollen, warum uns Martina davongescheucht hat. Sie weiß davon, dass ich es zumindest euch beim Frühstück erzählen werde.“

Während er die letzten Worte sagte, schaute ich so in die Runde. Thomas lächelte mich wissend an, Philipp starrte mit offenem Mund auf Christoph, und Marcus, seinem Gesicht konnte ich in diesem Moment so rein gar nichts entnehmen. Okay, ich kann ihn ja verstehen, vor Kurzem wurde er zum Onkel befördert und jetzt sollte er bald nochmal einen Neffen oder eine Nichte bekommen. Das muss man erst mal verdauen und nicht nur das eben eingenommene Frühstück.

Ich selbst freute mich über die Nachricht, dass ich jetzt zum zweiten Mal Großvater werden sollte, fauchte jedoch Christoph an: „Ich bin Peter oder Opa Peter, aber dieses ‚Schwieger-Papa‘ will ich zukünftig nicht mehr hören, da fühle ich mich einfach nur als uralter Mann oder derjenige, der es benutzt, hat ein schlechtes Gewissen, was ich zumindest bei dir nicht unbedingt vermute.“

„Christoph, wird es eine Junge oder ein Mädchen?“, kam plötzlich die Frage von Philipp. „Wissen wir nicht und wir wollen es auch gar nicht wissen. Wir lassen uns da lieber überraschen, was es wird; Hauptsache es ist so gesund wie Kevin“, kam es von Christoph.

Nachdem jetzt alles gesagt war, fingen wir endlich mit dem Auf­räumen an. Ich ging mit den beiden Jungs in den Keller, Thomas und Christoph fingen im Wohnzimmer und im Esszimmer an und fütterten gleichzeitig den Geschirrspüler in der Küche.

Zwischendurch bekam ich mit, dass Christoph kurz mit Martina telefonierte. Was die beiden dabei besprachen, bekam ich jedoch nicht mit, nur als Christoph am Schluss sagte: „So langsam sieht es bei Opa wieder ordentlich aufgeräumt aus, wenn heute Nachmittag alle Opas und Omas eintreffen, trifft keinen der Schlag. Bis später.“

Die beiden Jungs schleppten nach und nach die Tabletts mit schmut­zigem Geschirr nach oben und ich beschloss, mich kurz mal hinzusetzen und eine kleine Pause einzulegen. Ich setzte mich in den einzigen Sessel im Hobbyraum und plötzlich fiel mir wieder ein, dass ich euch ja immer noch meine Geschichte weitererzählen wollte.

Ja, wo war ich eigentlich stehen geblieben bei meiner Geschichte, irgendwie nach der Betriebsweihnachtsfeier, dem Samstag mit dem Besuch des Weihnachtsmarktes zusammen mit Thomas und unserem Gespräch am Montag danach.

Weihnachten, genauer genommen am Heiligen Abend geht es wohl weiter. Thomas kam schon am frühen Nachmittag zu uns und ging mit mir und den Kindern in die Kirche zur Kindermette. Ja, ich höre euch schon schreien, schwul und Kirche passt nicht zusammen, aus eurer Sicht mögt ihr ja vielleicht Recht haben und ich verstehe euch auch, aber als glücklicher Vater, auch wenn er schwul oder bisexuell ist, sieht man manche Dinge doch etwas anders. Außerdem solltet ihr dabei bedenken, ich war ja noch nicht mit Thomas zusammen, zu dieser Zeit war ich nur ein Witwer mit zwei minderjährigen Kindern.

Nach dem Gottesdienst marschierten wir durch den frischen Schnee nach Hause. Während wir in der Kirche gewesen waren, hatte es wieder angefangen zu schneien. Zuhause angekommen fragte Philipp, ob wir nicht einen Schneemann bauen könnten. Ich grinste Thomas an und wünschte den dreien viel Glück bei dem Versuch, einen vernünftigen Schneemann zu bauen; ich selbst würde ins Haus verschwinden, um für alle das Abend­­­essen vorzubereiten.

Traditionell, wie schon in den Jahren davor, im Grunde genommen immer noch und bis zum heutigen Tag, gibt es bei uns an Heiligabend Weißwürste mit Senf, Kartoffelsalat und Semmeln oder Brezeln. Ich stand gerade in der Küche, den Kartoffelsalat hatte ich schon vormittags gemacht, die Weißwürste lagen schon im warmen Wasser und die gefrorenen Brezeln im Backofen, als die drei zurück ins Haus kamen. Philipp schimpfte lauthals, dass es noch viel zu wenig Schnee sei, um einen vernünftigen Schneemann zu bauen.

Zwischendurch hatte ich die Zeit genutzt, um die Geschenke für meine Kinder schon unter den Baum zu bringen, zumindest die Geschenke, die die Kinder von mir bekommen sollten. Ach so, den Baum hatten wir schon am Vormittag gemein­sam geschmückt. Logisch, meine beiden Kinder und ich hatten das erledigt, Thomas war noch bei sich zu Hause oder einkaufen gewesen, so genau wusste ich das nicht. Hektik und Stress konnte ich an Heiligabend nicht gebrauchen, außerdem waren die beiden inzwischen zu alt, um aus dem Aufstellen des Weih­nachtsbaumes noch groß ein Geheimnis zu machen.

So meinte ich nur: „Ihr könnt ja schon einmal den Tisch decken, das Essen wird gleich fertig sein.“ Martina holte erst mal die Teller und Philipp brachte das Besteck mit ins Esszimmer. Thomas war kurzzeitig verschwunden, ich konnte ihn jedenfalls auf Anhieb weder in der Küche noch im Esszimmer finden.

Die Weißwürste sollten inzwischen warm genug sein, dachte ich mir, also ging ich zurück in die Küche. Die Brezeln in einen Korb gelegt, den heißen Topf mit den Würsten vom Herd genommen und beides in die Essecke ge­tragen. Da saßen inzwischen alle drei am Tisch und warteten auf mich. Ich setzte mich zu ihnen und nun wurde in Ruhe unser Abendessen verspeist.

Kaum waren wir mit dem Essen fertig, als meine beiden Kleinen wieder hektisch wurden. Sie wollten endlich ihre Weihnachts­geschenke auspacken. Ich hielt sie davon ab, sofort ins Wohn­zimmer zu verschwinden, und meinte: „Ich glaube, ihr solltet erst mal noch den Tisch abdecken, bevor das Christkind sich das mit euren Geschenken nochmal überlegt.“ Sie räumten zusammen rasch den Tisch ab, Thomas half ihnen dabei und räumte das schmutzige Geschirr in die Geschirrspül­maschine ein.

Nachdem sie mit dem Abräumen fertig waren, konnte ich sie nun nicht mehr bremsen und die beiden stürmten das Wohnzimmer. Thomas und ich folgten ihnen, aber nicht so stürmisch wie die beiden vor uns. Beim Eintritt sah ich, dass die Geschenke sich zwischen­zeitlich vermehrt hatten; hatten etwa meine Kinder bereits ihre Geschenke dazu­gestellt? Nein, das konnte gar nicht sein, und so sah es auch nicht aus, deshalb ging ich davon aus, dass Thomas da noch einige Päckchen hinzu geschmuggelt hatte.

Wie von einer Tarantel gestochen, verschwanden Martina und Philipp und kehrten nach kurzer Zeit mit zwei Tüten zurück ins Wohnzimmer, die sie leerten und die Päckchen ebenfalls unter den Baum legten. Ich zählte insgesamt sechs Päckchen meiner Kinder und ich glaubte in diesem Moment, dass die alle für mich wären, aber da hatte ich die Rechnung ohne meine Kinder gemacht, jeweils eins von den Päckchen über­reichten sie später Thomas.

Zuerst übergab ich jetzt Martina und Philipp ihre Päckchen und freute mich, weil ich beim Auspacken feststellen konnte, dass ich in Vertretung des Christkinds wieder mal voll ihren Geschmack und ihre Wünsche ans Christkind getroffen hatte. Wenn ich ehrlich sein soll, es war nicht sehr einfach für mich gewesen; früher hatte sich immer Gabi um die Geschenke gekümmert und jetzt musste ich mich darum kümmern. Gut, es war inzwischen schon das zweite Weihnachtsfest ohne Gabi und so langsam bekam ich dafür Routine.

Als sämtliche Geschenke für meine Kinder von ihren überflüssigen Hüllen befreit waren, stand Thomas auf und über­reichte den beiden auch jeweils ein Päckchen. Da lagen jetzt noch zwei Päckchen von ihm, darauf stand ‚für Peter‘ und ‚für alle‘. Ich schaute Thomas an, das konnte und wollte ich einfach nicht glauben, dass er auch ein Geschenk für mich hatte. Ich blickte verzweifelt zur Decke und sagte: „Du, Thomas, ich habe kein Geschenk für dich, ich habe nicht einmal damit gerechnet, dass du für meine Kinder etwas mitbringst, geschweige denn, dass ich auch etwas abbekomme.“

Thomas setzte sich neben mich, drückte mir mein Päckchen in die Hand und antwortete mir: „Hallo, ich habe mein Geschenk doch schon vor Weihnachten von euch erhalten; das größte Geschenk, das ihr mir gemacht habt, war die Einladung, mit euch Weih­nachten zu feiern und dass ich deshalb heute Abend nicht trübsinnig und allein zu Hause herum­sitzen muss.“

Neugierig öffnete ich also genau wie meine Kinder mein Päckchen. Über den Inhalt freute ich mich dann doch ganz besonders, es war eine wundervolle neue Armbanduhr; meine alte Uhr war vor wenigen Tagen kaputtgegangen und ich hatte mir bisher aus Zeitgründen noch keine neue kaufen können. Mir fiel wieder ein, Thomas hatte das Dilemma mit meiner Uhr vor vier Tagen im Büro mitbekommen. Aber woher wusste er, dass ich noch keine gekauft hatte oder eine Ersatzuhr zuhause liegen hatte?

Philipp und Martina verteilten nun ihre Päckchen, jeweils zwei erhielt ich und Thomas erhielt von ihnen ebenfalls je ein Päckchen.

Wir öffneten unsere Päckchen und staunten nicht schlecht: In zwei meiner vier Päckchen, die ich erhalten hatte, befand sich das Gleiche, was auch in Thomas‘ Päckchen zum Vorschein kam, einmal ein selbstgebastelter Teelichthalter und ein ebenfalls in Handarbeit gehäkelter Schal im Partnerlook. Was hatten sich meine beiden da wohl wieder gedacht dabei?

Zuletzt wurde das noch verbliebene Päckchen von Thomas mit der Aufschrift ‚für alle‘ geöffnet. Es enthielt ein neues Brettspiel für die ganze Familie, das wir noch nicht in unserer Sammlung hatten. Thomas erzählte mir später, dass er wegen des Spiels mit den Kindern gesprochen hatte, welches neue Familienspiel sie sich wünschten.

Später spielten wir zusammen noch mit dem neuen Spiel, das Thomas uns allen geschenkt hatte; klar, zusammen mit Thomas, nicht nur meine Kinder und ich. Es war selbstverständlich, dass Thomas am Weihnachtsabend wieder bei uns im Gästezimmer übernachtete; wir wollten ihn bei dem Wetter, das draußen herrschte, nicht nach Hause schicken. So konnten Martina und Philipp am ersten Weihnachts­feiertag vormittags ge­mein­sam mit Thomas etwas unter­nehmen und spielen. Am Nach­mittag sind wir drei dann, diesmal ohne Thomas, zu meinen Eltern gefahren.

In den folgenden Wochen und Monaten kam dann Thomas immer öfter zu uns übers Wochenende; manchmal machten wir Ausflüge, er half uns bei der Gartenarbeit oder wir unternahmen sonst irgendwas mit den Kindern. Die beiden hatten inzwischen einen Narren an ihm gefressen und nannten ihn auch bald liebevoll ‚Onkel Thomas‘.

Bei der Arbeit klappte es ab diese Zeitpunkt auch immer besser mit der Zusammenarbeit, nur zu einem vernünftigen Gespräch über seine unglückliche Liebe ist es nie gekommen, er wollte einfach nicht mit mir darüber reden. Warum er nicht mit mir darüber reden konnte und wollte, ist mir im Grunde genommen erst viel später klargeworden.

Ja, ich kann mich noch gut daran erinnern, es war wieder einmal um den Jahrestag herum, an dem Gabi gestorben war; Thomas war an diesem Wochenende bei uns. Wir saßen abends, nachdem wir die beiden Kinder ins Bett gebracht hatten, noch im Wohnzimmer und unter­hielten uns über so einiges, auch darüber, dass ich im Moment wieder sehr traurig und melancholisch bin in Anbetracht des anstehenden Todestages.

„Papa, Papa, schläfst du?“ Mit diesen Worten schreckte mich Philipp wieder aus meinen Erinnerungen zurück. „Komm mit nach oben, Christoph und Kevin wollen aufbrechen und nach Hause fahren, wir sind mit dem Aufräumen so gut wie fertig.“

Langsam erhob ich mich aus meinem Sessel und folgt meinem Sohn nach oben in die Diele. Kevin und sein Vater standen dort schon abmarschbereit und warteten auf uns. Ich bedankte mich bei den beiden für die Mithilfe beim Aufräumen heute Vormittag und meinte noch: „Wir sehen uns später heute Nachmittag noch zum Kaffee, also dann bis nachher, ihr zwei Vertriebenen.“ Diese Bemerkung konnte ich mir in diesem Augenblick einfach nicht verkneifen.

An Philipp gewandt, fragte ich: „Weißt du, wo Thomas und Marcus sich verstecken? Wir sollten die Zeit nutzen und über euch beide sprechen, vor allem sollten wir dabei erst einmal klären, wie es in nächster Zeit weitergehen könnte.“ „Ich denke, die beiden sind entweder im Wohnzimmer oder noch in der Küche“, kam es von meinem Sohn wie aus der Pistole geschossen.

Nachdem Christoph und Kevin draußen waren, gingen wir zusammen ins Wohnzimmer, wo wir die Gesuchten fanden. Thomas saß auf einem der Sessel und Marcus auf dem Sofa. Philipp setzte sich direkt neben Marcus, ergriff seine Hand, schaute ihm in seine Augen und sagte: „Peter und Thomas wollen mit uns klären, wie es jetzt weitergehen soll mit uns beiden, beziehungsweise mit dir.“

Ich setzte mich auf den zweiten Sessel und schaute erst zu Thomas und dann zu den beiden, bevor ich erklärte: „Wie wir beide gestern beim Frühstück schon zu Philipp sagten, sehen wir kein Problem darin, wenn du auf Dauer hier bei uns bleiben willst. Ich befürchte dabei nur, dass Philipps Zimmer für euch zwei auf die Dauer zu klein sein wird. Mir ist außerdem klar, dass du sicherlich nicht die ganze Zeit allein im Gästezimmer verbringen willst.“

Ich wartete, ob von Marcus oder Philipp ein Vorschlag kommen würde. Die zwei schauten sich nur an, dann wieder zu mir oder zu Thomas, aber den Mund brachten Sie nicht auf.

„Ich will erst mal wissen, wie ernst es mit euch beiden ist“, kam nun von Thomas. „Und vor allem: Habt ihr euch schon Gedanken darüber­gemacht, wie ihr das ganze seht? Es hilft nichts, wenn Peter und ich oder genauer genommen wir alle uns den Kopf zerbrechen, wie wir das zukünftig in einem Vier-Männer-Haushalt managen wollen, wenn ihr in vierzehn Tagen oder drei Wochen dann feststellt, dass ihr über kurz oder lang doch ausziehen wollt. Zuerst sollte geklärt werden, ob ihr uns noch etwas längere Zeit erhalten bleibt.“

Eine ganze Zeit lang war es ruhig im Raum, bis Philipp anfing: „So genau haben wir bisher über das Ganze noch gar nicht nachgedacht. Ich für meinen Teil fände es nicht schlecht, wenn Marcus und meine Wenigkeit noch länger hier wohnen könnten. Das Haus ist groß genug und bis zu Martinas und Christophs endgültigen Auszug haben wir auch zu viert und fünft hier gelebt. Es hat damals funktioniert, warum sollte das nicht auch mit Marcus vernünftig ablaufen.“ Nach einer kurzen Pause fügte er noch an: „Marcus, wie siehst du das?“

Marcus schien zu überlegen, was er dazu sagen sollte. Da ich für mich dachte, dass das noch ein wenig dauern kann, bis er seinen Überlegungen zu Ende gebracht hat, fragte ich, ob jemand was zum Trinken wolle. Thomas nickte mit seinem Kopf, Philipp tat es ihm gleich und Marcus sagte: „Ja bitte, dann habe ich noch einen kurzen Moment mehr, mir alles durch den Kopf gehen zu lassen.“

Ich stand auf und ging in den Keller, um die frischen Getränke zu holen. Thomas sagte, dass er in der Zwischenzeit in die Küche gehen und Gläser holen wolle. Nicht dumm von Thomas, so hatten die beiden einen kurzen Moment für sich, um sich auszutauschen, ohne dass wir zwei daneben saßen. Auf dem Weg nach oben merkte ich, dass die Jungs im Wohnzimmer leise tuschelten. Gut, dann hatte Thomas‘ Strategie ja hervorragend funktioniert. Ich ging erst in die Küche zu Thomas und gemeinsam kehrten wir in die gute Stube zurück.

Thomas stellte seine Gläser auf den Tisch, ich die beiden Flaschen mit Wasser und Cola und wir setzten uns wieder. Marcus schenkte sich ein Glas Cola ein und dann fing er an: „Eigentlich wollte ich vorerst gerne weiter zu Hause bei meinen Eltern wohnen, aber wenn das jetzt nicht mehr möglich sein sollte nach gestern Abend, dann bin ich mit meinem Schatz einer Meinung, lieber mit euch beiden zusammen hier im Haus.“

„Gut“, meinte Thomas, „dann sollten wir uns überlegen, welche Möglichkeiten sich dabei ergeben. Habt ihr euch da schon was überlegt?“ Philipp antwortete: „Nein, natürlich nicht, dazu war die Zeit von letzter Nacht bis jetzt auch viel zu kurz und heute Vormittag haben wir hauptsächlich zusammen die Wohnung aufge­räumt.“

Wieder wurde es ruhig, jeder dachte wohl darüber nach, welche Möglich­keiten es gäbe. Für mich gab es da gar nicht so viel zu überlegen, ich hatte da ja noch einige Dinge im Kopf, an die ich früher schon mal gedacht hatte und die man jetzt in dieser Situation umsetzen könnte.

„Also“, hob ich an und setzte dann fort: „ich wüsste da schon etwas, das wir machen könnten.“ Drei Gesichter ruhten nun auf mir und die Fragezeichen standen ihnen mitten ins Gesicht geschrieben. „Was denn?“, begann Thomas und sprach weiter: „Jetzt spann uns nicht auf die Folter, oder willst du uns am Ende doch lieber dumm sterben lassen?“

Na ja, dumm sterben lassen wollte ich sie auf keinen Fall, aber wenn mir dauernd dazwischengeredet wird, das passte mir auch nicht. Ich setzte also fort: „Wenn man mich vielleicht einmal ausreden lässt, dann könnte ich euch schon erzählen, was mir da so vorschwebt. Also, Philipp, du hattest dir ja schon Gedanken darüber gemacht, es dir im Dachgeschoss gemütlich zu machen, aber auf die Dauer wird es für euch zwei dort wohl ein bisschen eng werden. Deshalb könnte man dein bisheriges Jugendzimmer zu einem reinen Schlafraum für euch beide umfunktionieren und oben unterm Dach wäre dann euer Bereich mit einer kleinen Küche. Ich gehe der Einfachheit halber einmal davon aus, dass ihr nicht immer mit uns zusammen essen, sondern euch gelegentlich selbst was kochen wollt, was aber nicht bedeuten soll, wir wollten euch nicht bei uns haben.“

Zuerst blieben alle drei erst mal ruhig und sprachen kein Wort. Thomas fing sich als erster und ergänzte meine Ausführungen: „Was Peter sagt, hat schon was an sich, ihr wollt sicher gelegentlich allein sein oder mit Freunden nicht immer bei uns herumsitzen, also wäre quasi ein Wohnraum mit kleiner Küche sicher nicht das Dümmste, immer vorausgesetzt, ihr wollt nicht woanders eine eigene Wohnung für euch einrichten.“

Jetzt meldete sich Marcus zu Wort: „Ich finde die Idee auch gut, wir müssten eigentlich nur ein größeres Bett in dein ehemaliges Kinderzimmer stellen und das eine oder andere heraus räumen. Auch eine kleine Küche ist sicher eine praktische Angelegenheit.“

Jetzt mischte ich mich wieder ein und meinte: „Ich denke, wir sollten alle in Ruhe über den Vorschlag nachdenken, wenn einer noch bessere Ideen hat, können wir gerne entweder heute oder morgen Abend weiter darüber diskutieren und vor allem dann endgültige Pläne machen. Wir sollten dabei nicht vergessen, dass Thomas‘ Mutter angekündigt hat, dass sie ebenfalls von Hannover umziehen will, in unsere Nähe, und das muss so nebenbei auch geplant und durchgeführt werden.“

„So, eure alten Herrschaften“, womit ich Thomas und mich meinte, „brauchen jetzt doch noch etwas Ruhe, bevor heute Nachmittag wieder der große Trubel beginnt. Ihr könnt euch in der Zwischenzeit eure eigenen Gedanken und Pläne ohne uns machen.“

Philipp schnappte sich seinen Marcus, die beiden verließen das Wohnzimmer und machten sich auf den Weg nach oben. Ich fragte Thomas: „Wollen wir nach oben ins Bett oder machen wir es uns hier unten gemütlich?“

Thomas meinte nur: „Lass uns hierbleiben, wenn ich mich jetzt ins Bett lege, kann ich für nichts garantieren; wir bleiben lieber hier.“

Thomas hatte sich zwischenzeitlich auf die Ottomane, das Sofa mit dem längeren Fußteil, gelegt, ich stand von meinem Sessel auf, legte mich neben Thomas und kuschelte mich fest an ihn. Ja, ich wollte auch zur Ruhe kommen, aber in meinem Gehirn spielte mal wieder alles verrückt. Verschiedenes ging mir durch den Kopf und das auch noch mit einem ziemlichen Durcheinander, bis ich meinte, ich glaube, ich muss das einbremsen, abschalten oder was auch immer, sonst komme ich gar nicht mehr zur Ruhe.

Ich schaute Thomas in die Augen und stellte fest, dass auch er eher abwesend als anwesend wirkte. Scheinbar gingen ihm auch so einige Dinge durch den Kopf.

„Thomas“, sagte ich, aber keinerlei Reaktion. Nochmal und auch etwas lauter: „Thomas.“ Wieder nichts, dann muss ich ihn wohl durchrütteln, was ich dann auch sofort tat. Endlich reagierte er, schaute mich verwundert an und fragte: „Was ist los?“

„Eigentlich nichts“, antwortete ich ihm und fuhr fort: „Aber du warst anscheinend so in deine eigenen Gedanken vertieft, was in den letzten zwei Tagen eher meine Angelegenheit war, dass du nicht einmal mitbekommen hast, dass ich dich mehrmals ange­sprochen habe. Ich glaube, du solltest auch einmal richtig abschalten.“

„Ja“, meinte er und fuhr fort: „Du hast ja recht, ich habe über deinen Vorschlag mit dem Umbau nachgedacht. Ganz glücklich bin ich über die Lösung nicht, aber es gibt derzeit keine vernünftige Alternative. Ich habe auch darüber nachgedacht, wie das mit meiner Mutter laufen könnte, wenn sie hierherzieht, und vor allem, deine Eltern sind inzwischen auch nicht mehr gerade die Jüngsten, vielleicht kommen sie eines Tages auch auf die die Idee, nach Deutschland zurückzukehren.“

„Da hast du nicht ganz Unrecht, aber kurzfristig wirst du sicher keine bessere Lösung finden, vor allem wissen wir ja nicht einmal, wie es mit Philipp und Marcus langfristig wirklich weitergeht. Vielleicht trennen sich die beiden nach kurzer Zeit wieder oder wir gehen ihnen zu sehr auf den Sack und sie ziehen von sich aus weg, aus unserem Haus aus. Solange da keine absolute Klarheit herrscht, ist es nicht unbedingt sinnvoll, über sonstige größere Veränderungen nachzu­denken. Ich denke, für die nächsten Monate haben wir auf alle Fälle erst mal eine brauchbare Lösung“, meinte ich dann zu ihm.

Ich setzte fort: „Ich wollte eigentlich mit dir über ganz was anderes reden, über unsere gemeinsame Vergangenheit und das was mir seit gestern alles so durch den Kopf geht. Ich bin zuletzt hängen­geblieben …, wo bin ich eigentlich hängengeblieben, vorhin unten im Keller. Ach ja, der Todestag von Gabi rückte näher und du warst an diesem Wochenende wieder mal bei uns. Die Kinder lagen bereits im Bett und wir hatten es uns im Wohnzimmer gemütlich gemacht und uns unterhalten.“

„Richtig“, setzte Thomas fort und sprach weiter: „Ja, ich kann mich noch genau an diesen Abend erinnern, du bist auf der Couch gesessen und hattest ein Gesicht und eine Laune, die schon fast nicht zum Aushalten war. Ich fragte dich, was los sei, und du meintest nur, in wenigen Tagen jährt sich wieder der Todestag von Gabi und deswegen wärst du etwas melancholisch, vielleicht auch depressiv. Ich kann mich gut erinnern, wie ich mich damals neben dich gesetzt und dich in den Arm genommen habe.“

Thomas stoppte mit dem Weitererzählen, was mich doch etwas wunderte. Dachte er vielleicht daran, dass das der Punkt in seinem Leben war, an dem sich sein größter Wunsch so langsam erfüllen sollte? Also sprach ich weiter: „Zuerst wollte ich mich ja noch gegen deine Umarmung wehren, aber irgendwie verspürte ich auch, dass ich durch deine kleine Geste ruhiger wurde und sich ein Gefühl von Gebor­genheit in mir ausbreitete. Anstatt dich abzuwehren oder dich sogar wegzuschieben, kuschelte ich mich immer mehr an dich.“

„Thomas, an diesem Abend spürte ich auch zum ersten Mal, dass du mehr als nur mein Arbeitskollege bist, ein sehr guter Freund für mich und meine beiden Kinder. Ja, du gabst mir ein Gefühl von Geborgenheit, das ich bisher so nur von Gabi gekannt hatte, aber, wenn ich ehrlich sein soll, ich hätte an diesem Abend nie daran geglaubt, dass da eines Tages mehr sein könnte als nur gute Freundschaft.“

„Also Schatz, wenn ich zurückdenke, ich war auch nicht überzeugt davon, dass aus uns beiden jemals ein Paar werden könnte; aber ich habe es mir so sehr gewünscht, nicht nur an diesem Abend. Ich hatte mich bei unserem ersten Kennenlernen in der Firma schon in dich verknallt, ich hatte eine Riesenangst davor, bei euch in der Firma zu bleiben, weil ich einfach nicht wusste, wie ich damit um­gehen sollte. Ich habe einfach versucht, mich mit der Situation zu arrangieren.“

Nach einer kurzen Pause sprach er weiter: „Dieser Abend war für mich einer der schwersten in meinem bisherigen Leben. Ich durfte dich im Arm halten, ja, aber wie weit konnte oder durfte ich gehen, dich küssen oder dich streicheln? Was wäre geschehen, wenn ich an diesem Abend vielleicht auch nur einen Schritt zu weit gegangen wäre?“

„Mir war an diesem Abend bewusst, wenn ich zu weit gehen würde, könnte ich alles auf einen Schlag zerstören. Die Freundschaft zu dir und deinen Kindern, aber auch unser zwischen­zeitlich sehr gutes Arbeits­verhältnis.“

Nach einer kurzen Pause sprach er weiter: „Auch ich fühlte eine große Geborgenheit, wenn ich dich im Arm halten konnte, und in mir wuchs ein Verlangen nach mehr, aber um nichts zu zerstören, ließ ich es dabei bewenden.“

Es wurde still im Wohnzimmer, keiner von uns beiden sagte einen Ton; vermutlich hätte man jetzt wieder mal eine Stecknadel fallen hören können. Ich setzte mit dem Erzählen fort: „Ehrlich gesagt, ich kann es dir auch heute noch nicht beantworten, was geschehen wäre. Vielleicht hätte ich mich bereits auf mehr eingelassen. Vermutlich hätte ich danach ein schlechtes Gewissen gehabt und es wäre zu dem von dir vermuteten Bruch gekommen, vielleicht aber auch nicht. Aus heutiger Sicht weiß ich jedenfalls, dass es, so wie es abgelaufen ist, das Richtige für uns beide war. Nun ist aber Schluss mit den Überlegungen, was wäre, wenn.“

„In der Zeit danach haben wir nur gelegentlich, wenn ich wieder mal nicht gut drauf war, im Wohnzimmer abends noch gekuschelt. Ein paar Wochen später bin ich dann einmal mitten in der Nacht, als es mir wieder mal besonders mies ging, bei dir im Gästezimmer aufgetaucht und habe mich einfach neben dich gelegt und es sehr genossen, dass du mich im Arm gehalten hast. In dieser Nacht sind wir dann auch zu vorgerückter Stunde in mein großes Bett im Schlafzimmer ausgewichen, das schmale Teil im Gästezimmer war einfach zu unbequem.“

„In der Folgezeit haben wir immer darauf geachtet, dass meine Kin­der nichts mitbekamen, du bist rechtzeitig frühmorgens zurück ins Gästezimmer.“

„Stimmt“, sagte Thomas, „das haben wir sogar später noch eine Zeit lang so beibehalten, nachdem wir uns doch Schritt für Schritt etwas näherge­kommen waren.“

Jetzt sprach ich wieder weiter: „Ich kann mich auch noch gut daran erinnern, welche Ängste und Sorgen mich plagten, als ich merkte, dass ich anfing, mich in dich zu verlieben. Ich wollte mir das zuerst nicht einge­stehen, geschweige, dass ich es so ohne weiteres akzeptieren konnte. Ich war verheiratet und mit Gabi so unendlich glücklich gewesen und plötzlich sollte das alles nicht mehr so sein, wie es für mich die ganzen Jahre gewesen war. Trotzdem war da immer etwas, was mich zu dir hingezogen hat.“

„Ich hatte Angst davor, was geschehen würde, wenn meine Umwelt, meine Kinder mitbekommen würde, dass ich mich in dich, Thomas, verliebt habe. Es war ein langer Prozess, bis meine Gefühle für dich endlich die Oberhand gewannen und die Sorgen und Ängste immer mehr in die Ecke gedrängt werden konnten.“

„Das war dann wohl der Zeitpunkt, an dem du mich das erste Mal geküsst hast und es nicht nur beim Kuscheln geblieben ist. An diesem Tag spürte ich, dass mein größter Wunsch doch noch in Erfüllung ge­gangen ist und wir zwei für immer zusammengehörten“, kam jetzt von Thomas.

Ich nickte mit meinem Kopf und blickte wie schon so oft verliebt in seine Augen, ja, das war der Zeitpunkt, an dem sich mein Leben und meine Einstellung verändert hatten. Noch war es kein Coming-Out, aber immerhin ein guter Anfang.

Ich wollte gerade wieder weitersprechen, doch in diesem Moment klingelte es wieder einmal an der Haustür.

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