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Regenbogenfamilie

Teil 22 - Es wird ernst

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Informationen

 

Heute Morgen, genau genommen unser zweiter Mittwoch auf der Insel, gehörten Thomas und ich erneut zu den Langschläfern, nachdem wir beide am gestrigen Abend erst zu später Stunde eingeschlafen waren, da wir im Bett noch lange über das Gespräch mit Alejandro und Jorge und meiner frechen Bemerkung dazu diskutiert hatten.

Marcus erschien bereits zum zweiten Mal diese Woche, nachdem er angeklopft hatte, in unserem Schlafzimmer und lud uns zum Frühstück ein. Wir versprachen uns zu beeilen, um mit ihnen gemeinsam zu frühstücken.

Bereits zehn Minuten später saßen wir am Tisch und früh­stückten mit Mutter und den beiden Jungs. Nach einem ausgiebigen Frühstück brachen meine Mutter und die beiden Jungs auf, um meinen Vater an diesem Vormittag im Krankenhaus zu besuchen. Thomas und ich räumten nur kurz auf und gingen anschließend in Vaters Büro, um weiter die Digitalisierung der wichtigsten Dokumente voranzutreiben.

Wir kamen gut voran, Störungen wie gestern Nachmittag waren für heute Vormittag nicht zu erwarten. Beim Sichten der Unterlagen hatten wir immerhin die Hälfte der vorhandenen Ordner bereits über­schritten, das Scannen nahm jedoch bedeutend mehr Zeit in Anspruch als die Aus­wahl der Dokumente.

Wir hatten heute Morgen beim Frühstück beschlossen, das Mittagessen ausnahmsweise ausfallen zu lassen und stattdessen zu dieser Zeit den nachmittäglichen Kaffee zu uns zu nehmen, deshalb konnten wir ohne Unterbrechungen durcharbeiten, bis meine Mutter mit den beiden Jungs zurückkommen würde. Thomas digitalisierte wieder die Dokumente, während ich mich durch die nächsten Ordner wühlte, um die Auswahl der wichtigsten Dokumente zu treffen.

Es war schon fast dreizehn Uhr, als wir endlich Stimmen auf dem Flur vernahmen. Mutter und unsere beiden Jungs waren vom Kranken­besuch bei meinem Vater wieder zurück. Ich unterbrach kurzerhand meine Arbeit und folgte den Stimmen.

Ich fand alle drei bereits in der Küche, sie waren auf dem Rückweg direkt einkaufen gewesen und räumten gerade ihre vollen Tüten und Taschen aus. Mutter füllte die Kaffeemaschine mit Wasser, um frischen Kaffee zu kochen. Sie erklärte mir: „Das Einkaufen hat sich angeboten, da wir wegen der Tortenstücke sowieso in die Konditorei gefahren sind und das Einkaufszentrum direkt auf dem weiteren Heimweg lag.“

Da ich die drei bei ihrer Arbeit nicht weiter stören wollte, wechselte ich ins Esszimmer, um dort den Kaffeetisch einzudecken. Um auf der Terrasse unseren Kaffee zu genießen, war es, wie ich vorher noch schnell feststellen konnte, zu wolkig, und selbst den Wind konnte man heute nicht als laues Lüftchen bezeichnen.

Fertig mit dem Eindecken des Tisches, ging ich zurück ins Arbeitszimmer meines Vaters und holte Thomas. Bei unserem Eintreffen im Esszimmer saßen die drei bereits am Tisch und hatten sowohl den Kaffee als auch verschiedene Tortenstück aus der Konditorei auf den Tisch gestellt.

Während wir noch gemütlich am Tisch saßen, brachten wir die Jungs auf den neuesten Stand unserer Digi­talisierungsbemühungen, damit sie am Nachmittag, wenn Thomas und ich zu meinem Vater ins Krankenhaus fuhren, problemlos weiter­arbeiten konnten.

Meine Mutter erzählte von ihrem Gespräch mit Vater, das sie am Vormittag mit ihm führen konnte. Auch der Rechtsanwalt sei erst heute Vormittag kurz dagewesen und Vater habe den Beschluss der beiden Gesell­schafter ohne große Nachfrage sofort unterzeichnet. Damit sei ich jetzt offiziell ein weiterer Geschäftsführer der spanischen Firma und der zukünftigen Stiftung, die meine Eltern eingerichtet hatten.

Somit brauchte ich mir ab sofort keine weiteren Gedanken über unsere Digita­li­sierungsaktion zu machen, jetzt hatte ich als Geschäfts­führer ohnehin Anspruch auf Einsicht in alle Dokumente und Verträge. Ich gebe ehrlich zu, bisher war die ganze Aktion in einer rechtlichen Grauzone.

Nur durch die Duldung von meinen Eltern war es bisher möglich, die Dokumente einzu­sehen, einen rechtlichen Anspruch auf Einsicht in die Unterlagen hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Der Entschluss meiner Eltern, dass ich als Familienoberhaupt die Familie in die Zukunft führe, war nur darauf ausgelegt, dass ich dieses Amt nach dem Tod meines Vaters antreten werde.

Am Nachmittag, genauer gesagt nach dem üblichen Kaffeekränzchen, fuhren Thomas und ich zu meinem Vater ins Krankenhaus, wobei ich diesmal am Steuer sitzen durfte und mein Partner mit dem Beifahrersitz vorliebnahm.

Im Krankenhaus begegneten wir als erstes Vaters deutschsprechendem Arzt Dr. Garcia, der uns mit besorgter Miene bat, ihm in sein Büro zu folgen.

Dort erklärte er uns, dass sich seine Prognose vom Montag wahrscheinlich nicht mehr halten ließe. Wegen der rapiden Verschlechterung seiner Vitalwerte in den letzten achtundvierzig Stunden befürchtet er sogar, dass inzwischen möglicher­weise selbst achtundvierzig Stunden noch zu viel sein könnten. Für den ersten Augenblick wirkte ich etwas geschockt von seiner neuen Prognose.

Thomas nahm mich sofort in seine Arme und strei­chelte mich behutsam. Ich wollte mit Vater noch so vieles besprechen und klären, aber jetzt lief mir einfach die Zeit davon. Zeit, die ich noch dringend benötigt hätte und die mir scheinbar doch nicht mehr vergönnt war.

Nach diesem Gespräch ging ich nachdenklich neben Thomas zum Krankenzimmer meines Vaters. Wir fanden ihn wieder einmal schlafend vor, wahrscheinlich die Auswirkungen der Medikamente, die er inzwischen zur Linderung seiner Schmerzen bekam.

Irgendwann öffnete er seine Augen und als er mich erkann­te, erklärte er mit leiser Stimme: „Peter, ich hätte dir noch so viel zu sagen und erklären, aber ich werde das nicht mehr zu Ende bringen können. Ich bin mir je­doch nach wie vor sehr sicher, dass du auch ohne meine letzten Tipps und Anweisungen stets das Richtige für die Familie entscheiden wirst.

Lass uns heute Nachmittag lieber über die guten und schönen Erfahrungen reden, die ich im Laufe meines Lebens mit euch erfahren durfte. Über dich, deine Geschwister und über Gerlinde. Ihr seid mit das Beste gewesen, was ich in mei­nem langen Leben hatte.“

Nach kurzer Pause sprach er weiter: „Ja, ich bin ein sentimentaler alter Mann geworden, aber die Gedanken an mein glückliches Leben und mein Vertrauen in dich geben mir die große Hoffnung, dass es auch nach meinem Ableben für euch erfolgreich weitergehen wird.“

Während er dies gesagt hatte, hatte ich unbewusst seine Hand in meine ge­nom­men und streichelt mit der anderen über seinen Handrücken. In diesem Augenblick fühlte ich, wie eine mir unbekannte Kraft, die scheinbar von meinem Vater ausging, auf mich übertragen wurde.

Es fühlte sich für mich so an, als wenn er mir in diesem kurzen Moment die volle Verantwortung für den Gutshof und dessen Fortbestehen übergeben wolle. Doch je länger ich darüber nachdachte, desto mehr war ich überzeugt davon, dass es sich nur um eine Einbildung meinerseits handeln könne.

Ich war so verwirrt von dem, was in den letzten Minuten geschah, dass ich in den nächsten Minuten nur still neben dem Krankenbett meines Vaters saß, Thomas hatte erneut seine Arme um mich geschlungen und wir beobachteten beide meinen Vater, bis er erneut seine Augen öffnete und zu mir sagte: „Ein Letztes muss ich dir noch mit auf deinen weiteren Lebensweg mitgeben, so wie es damals Gerlindes Vater an seinem Sterbebett bei mir getan hat.

Kümmere dich gut um unsere Besitztümer, damit du eines Tages, so wie ich es in diesem Augenblick getan habe, mit gutem Gewissen dein Lebenswerk an deine Kinder und Enkelkinder weitergeben kannst. Du kennst sicher den alten Spruch, Besitz verpflichtet, vergiss das bitte nie.“

Was hatte mein Vater eben gesagt - damit du eines Tages, so wie ich es in diesem Augenblick getan habe. Ich hörte diese Worte immer wieder in meinem Kopf. Wollte er mir damit sagen, dass er mir in diesem Moment die volle Verantwortung übertragen hatte, und das hatte sich für mich angefühlt, als wenn eine für mich verwirrende Kraftübertragung stattgefunden hätte.

Thomas gab mir in diesem Moment einen Kuss in den Nacken und schmiegte sich noch enger an mich. Die erneute Stille wirkte plötzlich unheimlich auf mich, bis Vater wieder zu sprechen anfing: „Thomas, du weißt genau, dass ich anfangs nicht an eure große Liebe ge­glaubt habe und dass Peter mit seiner Partnerwahl glücklich wird, aber ihr habt mich beide in all den Jahren eines Besseren belehrt.

Bleib so, wie du bist, und gib Peter weiterhin die Kraft, die er brauchen wird, um mit allen Problemen, die noch auf euch zu­kom­men, zurecht zu kommen. Du bist inzwischen nicht nur mein Schwie­ger­sohn, nein, inzwischen bist du für mich wie ein eigener Sohn. Ich weiß, das hätte ich dir bereits viel früher sagen müssen, nur konnte ich mich bis heute nie dazu durchringen.

Mir ist inzwischen sehr wohl bewusst, dass ich dir, genaugenommen euch beiden, das eigentlich viel zu spät erkläre, aber immer noch besser, als wenn ich es dir, beziehungsweise euch, niemals erzählt und mit ins Grab genommen hätte. Ich hoffe, ihr könnt verstehen, dass auch ich manchmal meine Gefühle nicht so zeigen konnte, wie ich es vielleicht gerne gemocht hätte.“

In meinem Nacken wurde es feucht, weinte Thomas etwa? Ich drehte mich vorsichtig um und sah in sein verheultes Gesicht. Ich legte die Hand meines Vaters wieder aufs Bett, stand auf und drückte Thomas fest an mich, bis er sich langsam wieder beruhigte. In der Zwischenzeit hatte ich Vater weiterhin beobachtet. Ich erkannte, dass er inzwischen wieder einge­schlafen war. Nur das leise Piepsen von Vaters Über­wachungs­geräten überzeugt mich davon, dass er wirklich nur schlief.

Ich holte ein Papiertaschentuch aus meiner Hosentasche und trocknete die letzten Tränen aus dem Gesicht von Thomas. Ich wusste in diesem Augenblick, dass es keinen Sinn machen würde, jetzt noch länger an Vaters Bett sitzen zu bleiben. Es würde sicher längere Zeit dauern, bis er wieder wachen werden würde. Deshalb ergriff ich Thomas' Hand, öffnete die Tür zum Krankenzimmer und wir verließen schweigend den Raum, um uns auf den Rückweg zur Finca zu machen.

Wir saßen trotzdem noch fast eine halbe Stunde schweigend im Auto, in der wir uns nur in die Augen sahen, bevor ich endlich den Motor startete, um den Rück­weg zur Finca anzutreten. Die ganze Fahrt über saß Thomas nur mit starrem Blick ne­ben mir, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen.

Zuhause angekommen, änderte sich nicht viel an Thomas' Zustand, er meinte nur kurz, er würde etwas Zeit für sich benötigen, um über die anerkennenden Worte meines Vaters, die er im Krankenhaus zu ihm gesagt hatte, nachzu­denken. Meinetwegen kann er alle Zeit der Welt haben, die er braucht, um alles zu verarbeiten, was ich ihm auch so sagte, trotzdem wollte ich heute Abend mit ihm über das am heutigen Nachmittag Erlebte ein ausführlicheres Gespräch führen.

Meine Mutter, die Thomas nur verwirrt angestarrt hatte, als er in Gedanken versunken und schweigend an ihr vorbeischlich, wollte nun von mir wissen, was sich im Krankenhaus ereignet habe. Da Thomas direkt nach oben in unser Schlafzimmer ging, bat ich meine Mut­ter, mir ins Wohnzimmer zu folgen, damit ich mit ihr über unser Erlebnis und mein spezielles Empfinden im Krankenhaus reden konnte.

Ich erklärte ihr in meinen Worten, was Vater zu Thomas gesagt hatte. Sie schaute mich dabei nachdenklich an und als ich mit meinen Ausführungen geendet hatte, erklärte sie mir: „Ich wuss­te, wie Vater über Thomas anfangs gedacht hat, mir ist aber auch aufgefallen, dass sich seine Meinung über euch beide im Laufe der Jahre geändert hat. Nur in dieser Deutlichkeit, wie er es euch heute erklärt hat, kam es bisher nie über seine Lippen. Ihr solltet darüber glücklich sein, es zeigt, wie sehr er euch beide inzwischen doch bewundert und geschätzt hat.“

Wir unterhielten uns noch einige Zeit, bis plötzlich Philipp und Marcus im Wohnzimmer standen und fragten, wie unser Besuch im Krankenhaus abgelaufen sei. Da ich Mutter bisher noch nichts von unserem Gespräch mit dem behandelnden Arzt unseres Vaters und Großvaters erzählt hatte, ergriff ich die Gelegenheit und berichtete von unserer Unterredung mit Dr. Garcia.

In die Stille, die danach entstand, hörte ich Mutter nach wenigen Minuten folgendes sagen: „Ich hatte heute Morgen schon so ein seltsames Gefühl, als ich mit den beiden Jungs bei ihm im Krankenhaus war. Nach mehr als fünfzig Ehejahren kennt man sich einfach zu gut, um solche gravierenden Veränderungen nicht zu bemerken. Ich wollte euch heute Mittag nicht damit beunruhigen, darum habe ich es bei unserer Kaffeerunde nicht angesprochen.“

Nach ihren Worten wurde ich noch einen Tick nachdenklicher, als ich es schon gewesen bin. Ich erin­nerte mich wieder an das verwirrende Gefühl im Krankenhaus, als ich glaubte zu fühlen, Vater würde seine ganze Kraft und Stärke auf mich übertragen. Vorsichtig fing ich an, über meine Gefühle und Em­pfindungen in dieser Situation zu sprechen. Philipp und Marcus schauten mich dabei nur ungläubig an. Mutters Gesicht wirkte dagegen entspannt und eher verständnisvoll.

Ich war kaum mit meiner Schilderung fertig, als Mutter mir erwiderte: „Es gibt so viele Phänomene zwischen Himmel und Erde, die weder rational noch wissenschaftlich erklärbar sind. Du solltest dir deswegen nicht deinen klugen Kopf zerbrechen. Was mich mehr interessieren würde, hat dieses Gefühl der Kraftübertra­gung, so wie du es bezeichnet hast, zu einer Veränderung deiner Persönlichkeit geführt, hat es etwas in deiner Einstellung zum Leben verändert?“

Je länger ich über ihre Frage nachdachte, desto unsicherer wurde ich. Mir fiel jetzt erst auf, dass ich Vaters persönliche Worte, die er direkt an Thomas gerichtet hatte, viel gelas­sener aufgenommen habe, als ich es von mir erwartet hätte. Vermutlich hätte ich bestimmt genauso geheult wie Thomas, und doch habe ich völlig atypisch in dieser Situation reagiert.

Da war dann noch etwas, was nicht zu meinen üblichen Reaktionen passte. Als Thomas mir vorher erklärte, dass er allein und in Ruhe über alles nach­denken will, bin ich nicht in die übliche Aufregung geraten, das wäre normalerweise meine allererste Reaktion gewesen.

Ich sah Mutter ins Gesicht und erklärte ihr: „Ja und nein, gewisse Anzeichen, die ich bis jetzt erkennen konnte, deuten darauf hin, dass sich etwas in mir verändert haben könnte, aber endgültig überzeugt bin ich noch nicht davon.“

Um von dem Thema abzulenken, fragte ich meinen Sohn: „Wie ist es euch beiden ergangen bei euren Bemühungen, aus Papier elek­tronische Dokumente zu produzieren?“

Philipp grinste mich frech an, während Marcus antwortete: „Für einen professionellen Einsatz als Scanner ist das Gerät nur bedingt tauglich; wenn man täglich nur ein paar Seiten einscannt, reicht das sicher aus, aber mit den Mengen, die wir ihm seit gestern zumuten, kommt das Gerät schnell an seine technischen Grenzen. Nur gut, dass wir zwischendurch immer wieder kleine Pausen einlegen, damit sich der Scanner kurzfristig von seinen Strapazen erholen kann.“

Mein Sohn ergänzte dann: „Wir sind trotzdem weit gekommen heute, fast die Hälfte aller Ordner steht inzwischen wieder im Regal. Von den noch zu sichtenden Ordnern im Regal sind, wenn ich mich nicht verzählt habe, nur noch sieben Stück übriggeblieben.“

„Mir ist selbst klar, dass der Scanner nicht für den professionellen Einsatz vorgesehen und normalerweise nur für haushaltsübliche Mengen ausgelegt ist. Aber für diese einmalige Aktion bedeutet die Anschaf­fung eines Profi-Scanners, weit übers Ziel hinauszu­schießen“, antwortete ich den beiden.

Mutter verschwand in die Küche, nachdem sie uns erklärte hatte, dass sie sich um unser Abendessen kümmern wird. Marcus und Philipp verabschiedeten sich wieder ins Arbeitszimmer meines Vaters, um dort weiterzuarbeiten, und ich ging nach oben, um nach meinem Thomas zu schauen. Er ist seit unserer Rückkehr und seinem eiligen Rückzug ins Schlafzimmer nicht wieder in Erscheinung getreten.

Ich fand ihn auf dem Bett liegend vor, die Augen geschlossen, aber er schien nicht zu schlafen. Er richtete sich auf, nachdem ihm aufgefallen war, dass er sich nicht mehr allein in unserem Schlafzimmer befand, und fragte mich leicht verwirrt: „Gibt es etwa jetzt schon das Abendessen?“

Ich lachte und antwortete ihm: „Das kann noch einige Zeit dauern, Mutter ist erst vor wenigen Minuten in die Küche und die Jungs lassen sich wieder vom Scanner in Vaters Büro ärgern, nachdem sie zwischendurch bei Mutter und mir waren und ich ihnen von der neuerlichen Prognose des Arztes berichtet habe.“

Ich setzte mich neben ihm aufs Bett und schaute ihn fragend an. Es dauerte einige Minuten, bevor er mir erklärte: „Ich habe in­zwischen lange genug über die Worte deines Vaters nachdenken können. Ich rechne ihm hoch an, dass er, wenn auch reichlich spät, sich und uns eingestanden hat, dass unsere einmalige Partnerschaft nicht, wie er anfänglich vermutete, zum Scheitern verurteilt war.

Sicher hatten wir beide in den letzten Jahren viele Höhen und Tiefen, aber wir wussten trotzdem immer, was uns miteinander verbindet. Unsere Ge­mein­samkeiten waren glück­licherweise immer größer als jegliche Probleme, die hin und wieder aufgetaucht sind. Selbst die von einigen Familienmitgliedern unternommenen Versuche, uns mit Gewalt zu trennen, sicher nicht von deinen Eltern, schweißten uns umso mehr zusammen.

Das Einzige, über das ich am längsten nach­­den­ken musste, war seine Aussage, dass er mich inzwi­schen nicht mehr nur als seinen Schwiegersohn betrachtet, sondern eher einen eigenen Sohn in mir sieht. Ich bin überglücklich über seine Aussage und sie bestätigt mir, dass ich in all den Jahren ihm gegenüber nichts falsch gemacht habe.“

Das musste ich jetzt erst einmal verdauen. Es hörte sich streckenweise wie eine Liebeserklärung für mich an. Da ich nicht wusste, was ich ihm darauf antworten sollte, wurde ich einfach handgreiflich, ich drückte Thomas an mich und wir versanken in einen nicht enden wollenden Kuss.

Immer noch fest aneinander gekuschelt und knutschend fand uns Philipp im Schlafzimmer vor, da er von meiner Mutter beauftragt war, uns zum Abend­essen nach unten zu holen. Als er uns so liegen sah, grinste er und lästerte dann: „Muss Liebe schön sein.“

Ich griff nach einem Kissen und warf es direkt nach ihm. Da er nicht mit meiner Aktion gerechnet hatte und auch nicht schnell genug zur Seite ausweichen konnte, war es eine einfache Angelegenheit, ihn zu treffen. Er packte sich schnell mein Wurfgeschoss und wollte es vermutlich wieder zurückschleu­dern, als er es sich noch einmal anders überlegte. Er kam zwei Schritte näher und legte das Kissen nur am Fußende unseres Bettes ab.

Verwundert schaute ich ihn an, mit dieser Reaktion von ihm hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Thomas und ich hatten uns schon auf die Abwehr des heranfliegenden Kissens eingestellt.

Er grinste uns nur an und auf unsere fragenden Blicke antwortete er: „Bevor ich mir Ärger mit Oma einfange, weil ich mit euch eine Kissenschlacht veranstaltet habe, anstatt euch zum Abendessen zu schleifen, gibt der Klügere lieber nach, aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.

Ihr könnt sicher sein, zu gegebener Zeit werde ich zusammen mit Marcus den derzeit ungleichen Kampf gegen euch wieder aufnehmen. Keine weiteren Ausreden oder weiteren Fluggeschosse von euch beiden. Ihr seht zu, dass ihr jetzt zackig aus dem Bett kommt, sonst muss ich euch wirklich zum Abendessen hinter mir her schleifen.“

Kaum hatte er das ausgesprochen, ergriff er die Flucht aus unserem Schlaf­zimmer und eilte nach unten. Wäre er nach seinen letzten Worten nicht sofort fluchtartig verschwunden, ich glaube, ich hätte mich aus dem Bett heraus auf ihn gestürzt und mir den frechen Kerl geschnappt. Ich bin mir sicher, Thomas und ich hätten ihn zur Strafe ordentlich durchgekitzelt, bis er um Nachsicht gebettelt hätte. Um meine Mutter nicht zu verärgern, kletterten wir aus dem Bett, ordneten unsere Klei­dung und Haare und folgten ihm nach unten ins Esszimmer.

Während des Abendessens blieb es erstaunlich ruhig, es wurde mit keiner Silbe erwähnt, was sich vor wenigen Minuten in unserem Schlafzimmer abge­spielt hatte. Marcus erklärte nur, dass aller Wahrscheinlichkeit nach bis Freitag alle Dokumente fertig digitalisiert sein könnten, trotz der Macken, die der Scanner zwischendurch zeigen würde.

Nach dem reichlichen Abendessen, es war doch einiges später als in den letzten Tagen, wollte Philipp wissen, ob wir alle noch Lust auf einen kurzweiligen Spielabend hätten, auch um uns von den heutigen Ereignissen etwas abzulenken. Thomas brummte so etwas wie „warum nicht“. Da wir in der Zeit, die wir bisher hier waren, keine Gelegenheit dazu gehabt hatten, hatte ich ebenfalls nichts gegen einen entspannenden Spieleabend einzuwenden.

Zehn Minuten später, die Jungs hatten nur das Geschirr schnell in die Küche getragen, saßen wir wieder zu fünft am Tisch und hatten Rommé-Karten vor uns liegen; Mutter hatte das Spiel vorge­schlagen, da sie dabei jederzeit aufhören und wir noch etwas länger weiter­spielen könnten.

Die ersten Runden gewann alle meine Mutter. Mit ihrem Glück dabei, mehrere Male Hand-Rommé zu erreichen, hatte sie unsere Punkte­konten zwischenzeitlich ganz schön in die Höhe getrieben. Sie meinte: „Schade, dass wir heute nicht um echtes Geld spielen, bei so viel Glück könnte ich heute sicher meine Haushaltskasse etwas aufbessern.“

Ich lästerte in Richtung Marcus und Philipp: „Ich weiß nicht, ob sich unsere jungen Leute so einen hohen Verlust überhaupt leisten könnten, nicht dass wir sie am Ende des Spiels auslösen dürfen.“

Während Marcus noch ein bekanntes Sprichwort etwas verdreht von sich gab - Pech im Spiel, Glück in der Liebe - grinste Mutter und erklärte uns: „So ist es nun einmal bei Verliebten, mit dem Kopf nicht beim Kartenspiel, sondern mit ganz anderen Dingen beschäftigt, da kann das einfach nichts Vernünftiges werden.“

Danach gestalteten sich die Spiele etwas ausgeglichener, wobei Mutter immer nur wenige Punkte sammelte, wenn sie eines der Spiele ausnahmsweise nicht gewann. Sie legte ihre Karten immer so geschickt aus, dass sie am Ende eines Spiels oft nur eine oder zwei Karten in der Hand hielt, während wir teilweise noch keine oder nur wenige Karten ablegen konnten.

Nach knapp einer Stunde erklärte sie uns, dass sie jetzt zu Bett gehen würde, wir könnten jedoch weitermachen und einen Sieger ausspielen. Zum Thema Sieger fiel mir in diesem Augenblick ein, dass da noch eine offene Rechnung von Philipp im Raum stand.

Mutter hatte den Raum kaum verlassen, Marcus mischte erneut die Karten, als ich Philipp hinterlistig fragte: „War da nicht noch etwas, bei dem der oder die Sieger noch nicht feststehen würden?“

„Oh, Mist, dass hatte ich jetzt doch erfolgreich verdrängt und gehofft, dass von euch keiner mehr daran denkt“, erklärte er uns. Marcus, durch das Gesagte neugierig geworden, legte die Karten beiseite und schaute Philipp fragend an. Der wiederum blieb ihm die Erklärung schuldig, so dass Thomas sich bemüßigt fühlte, ihm kurz erzählte, was am frühen Abend in unserem Schlafzimmer vorgefallen war.

Marcus grinste und sagte zu Philipp: „Wenn ich vorher dabei gewesen wäre, dann wären die beiden nicht so glimpflich davongekommen, selbst wenn ich mir damit riesigen Ärger bei deiner Großmutter eingehandelt hätte. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, die Kissenschlacht können wir gerne bei einer passenden Gelegenheit fortsetzen und dann werdet ihr schon sehen, wer als Sieger das Schlachtfeld verlassen wird.“

Da ich heute meinen sozialen Tag hatte, sagte ich nichts dazu, sondern forderte die Jungs auf weiterzuspielen. Ich sei eher neugierig festzustellen, wer nach Mutters Ausscheiden ihre Glückssträhne übernehmen würde. Thomas meinte frech dazu: „Die Chancen stehen eins zu vier für jeden von uns. Wenn es beim Glück heute Abend nach dem Alter geht, wärest du jetzt an der Reihe, sollte jedoch nur weiblich und nicht männlich angesagt sein, dann hat sich die Glückgöttin soeben zusammen mit deiner Mutter aus dem Raum verabschiedet.“

Um es gleich vorwegzunehmen, letztgenannte Variante begleitete uns durch die weiteren Spiele, keiner schaffte es, sich punktemäßig nach unten abzusetzen, so dass wir eine dreiviertel Stunde später unseren Spieleabend für beendet erklärten.

Bevor wir nach oben gingen, wurde erst in der Küche noch aufgeräumt. Ansonsten hätten die Glücklichen, die morgen das Frühstück vorbereiten, die Aufgabe übernehmen müssen.

Im Obergeschoss angekommen, wünschten wir den Jungs noch eine gute Nacht und verschwanden Hals über Kopf in unserem Schlafraum. Glücklicherweise kamen weder Marcus noch Philipp auf die glorreiche Idee, am heutigen Abend den Sieger einer Kissenschlacht ermitteln zu wollen.

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