zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Die Verratenen

Teil 1 - Con Sentimento. Mit Gefühl.

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Prolog

September 1941

Klack … Zwei Glaskügelchen stießen aneinander und rollten in verschiedene Richtungen davon. Auf allen vieren krabbelte Leo Mendel über den staubigen Boden seinen Murmeln hinterher, um die Kugeln wieder einzusammeln und die nächste Runde zu beginnen. Leo hatte zuletzt zwar kaum noch das Haus in der Holunderstraße verlassen, aber die Licht- und Schattenspiele des von Schäfchenwolken durchzogenen Spätsommerhimmels waren an diesem September-Tag im Jahre 1941 für einen zehnjährigen Jungen wie ihn einfach zu verlockend, als dass es ihn in der finsteren Stube gehalten hätte. Mit dem großen gipsweißen Haus im Rücken, in dem er gemeinsam mit seinen Eltern, den Großeltern und den drei Geschwistern lebte, brachte Leo die Murmeln wieder in die Ausgangsposition, und seine dunklen Locken fielen ihm in die Stirn, als er konzentriert das Kügelchen, das er treffen wollte, anvisierte. Er schnippte und seufzte dann vor sich hin, als die Murmel ihr Ziel um mehrere Zentimeter verfehlte.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Leo die Gestalt, die aus der Marschacker-Straße in die Holunderstraße kam, und er hob den Kopf. Ein Lächeln zauberte sich auf seine Lippen. „Grüß dich, Max!“

Der schlaksige blonde Junge in den kurzen Hosen und einem grobmaschigen Pullunder über dem Hemd beschleunigte seinen Schritt und schaute stur geradeaus. Doch sein Weg führte direkt an Leo vorbei. Der Blonde kniff die Lippen zusammen, als er den Boden vor seinen Füßen anstarrte, nur um Leo zu ignorieren. Leo räusperte sich, nahm die gefalteten Hände vor den Mund und gab einen Uhu-artigen Pfiff ab. Die Mundwinkel des blonden Jungen zuckten daraufhin, und am Ende schaffte es doch ein Grinsen auf seine Lippen, als er sich Leo zuwandte.

„Was machst du da?“, fragte der Blonde, und Leo legte altklug die Stirn in Falten.

„Wonach sieht's denn aus, Max? Spielst du mit?“

„Ist doch ein blödes Kinderspiel.“ Max Haim schaute unschlüssig auf den ein Jahr jüngeren Leo herab, mit dem er einstmals befreundet gewesen war, und auf die Murmeln vor ihm auf den Boden.

„Ach komm schon. Nur eine Runde.“

Max seufzte. Alles in ihm sträubte sich dagegen. Aber was hatte er Leos Dackelblick schon entgegenzusetzen, der ihn unter der schief sitzenden Brille heraus anschmachtete. Max schaute sich fahrig in alle Richtungen um. Als er sich unbeobachtet fühlte, sagte er: „Na gut. Aber wirklich nur eine Runde.“

Max kniete sich neben Leo auf den Boden und öffnete den Knopf seines Hemdkragens. Und auf einmal war es wieder so wie früher, als alles noch ein bisschen einfacher gewesen war. Das Klackern der Murmeln vermischte sich mit dem Kichern der Jungen und die lauernden Augen, die bestimmt durch die Fenster der umliegenden Häuser lugten, interessierten Max und Leo in diesen Augenblicken nicht. Während einer kurzen Pause zupfte Max Leo an dessen kariertem Hemd und nahm den gelben Stern, der darauf genäht war, in die Hand: „Das ist also die neueste Juden-Mode.“

Leo verzog ulkig die Mundwinkel: „Schick. Oder? Das müssen wir doch jetzt seit ein paar Tagen tragen. Damit ihr Volksdeutschen euch vor uns in Acht nehmen könnt.“

„Oha.“

Die Zwei blickten sich drei, vier Sekunden in die Augen, und dann brach das Lachen aus beiden heraus.

„Ihr Mendels seid aber auch sooooo gefährlich“, scherzte Max und das gab ihnen den Rest. Beiden standen vom Lachen die Tränen in den Augen. Klack – Leo schnippte die Murmel nach vorne und traf damit Max' gut platzierte Murmel, die ins Niemandsland rollte. „Mist“, motzte Max und nahm eine frische Kugel zwischen Daumen und Zeigefinger.

„Und wie geht es dir?“, fragte Leo, während sein Blick dem Glaskügelchen folgte, wie es seine Murmel antitschte, aber diese nicht von der Stelle bewegte.

„Ganz gut.“ Max' Augen glänzten. „Im Oktober fahren wir für eine Woche zum Zelten ins Allgäu. Mit dem Jungvolk und der Hitlerjugend.“

„Oh. Da würde ich auch gerne mitgehen.“ Leo schaute sentimental die Holunderstraße entlang.

„Das … das wird schon noch werden. Irgendwann bemerken die auch, dass die Juden doch nicht so böse sind, wie es immer heißt. Der Führer macht das schon. Da kannst du ihm vertrauen.“

Leo lachte humorlos: „Bestimmt.“

Max tat sein Bestes, um Leos Sarkasmus zu überhören. Aber die Murmel, die er schnippte, ging meilenweit an ihrem Ziel vorbei.

„Das war ja jetzt nix“, lästerte Leo und Max verzog spaßhaft das Gesicht. „Ich wollte nur ...“

„Ich glaub', ich spinne!“

Leo und Max schreckten hoch und drehten gleichzeitig die Köpfe. Max schloss resigniert die Augen. Denn niemand Geringeres als Eberhardt Wagner stand da. Und neben ihm dessen Spezi Fritz Längle. Während Max sich verzweifelt für eine Ausrede den Kopf zerbrach, kam Eberhardt - Max' 16jähriger Jungscharführer - auf die beiden Jungen zugestampft und trat die beieinander liegenden Murmeln mit einem Fußstoß über die Straße.

„Ich glaub', ich spinne“, wiederholte Eberhardt. „Was soll das, Haim? Erst hast du noch einen Eid auf die Fahne geschworen, und jetzt kriechst du mit der Judensau auf dem Boden herum? Pah!“ Eberhardt spuckte Max von oben herab ins Gesicht, und Max wischte sich schuldbewusst den Speichel aus den Augenbrauen. Als Eberhardt seinem vier Jahre jüngeren Schützling in die Seite trat und Max laut aufstöhnte, versuchte Fritz, Leo in den Schwitzkasten zu nehmen. Aber Leo war wendig genug, um sich herauszuwinden.

„Kommt!“, rief Frau Mendel aus der offenen Haustür. Leo stürmte direkt los und auch Max nutzte den Moment der Ablenkung, um sich ins Mendel-Haus zu retten.

„Dich kriegen wir noch, Haim!“, rief ihm Eberhardt hinterher, dann knallte Frau Mendel die Haustür hinter ihm zu. Sein Herz raste in der finsteren Diele, denn die Drohung machte ihm Angst. Leo drückte sich weinend an seine Mutter, und von draußen hörte man Fritz und Eberhardt krakeelen: „Kommt raus, Judenschweine! Bald seid ihr sowieso alle tot!“ Ein so dreckiges Lachen folgte, dass Max ein eisiger Schauder über den Rücken lief.

„Es wird alles gut“, flüsterte Frau Mendel ihrem weinenden Sohn zu und Max streichelte Leo instinktiv durch die gelockten Haare. Frau Mendel warf ihm einen dankbaren Blick zu. Dankbar alleine dafür, dass er sich getraut hatte, mit Leo zu spielen. Max wartete noch so lange, bis draußen die Beleidigungen und Morddrohungen verklungen waren und keine Steine mehr gegen die verbarrikadierten Fenster prallten. Dann wagte er sich hinaus.

Weit hatte es Max nicht, um nach Hause zu kommen. Zwei Wegbiegungen, und dann hätte er es geschafft. Aber die Panik ließ ihn am ganzen Körper zittern, als er von der Holunderstraße in die Hindenburgstraße hastete, die Gott sei Dank menschenleer war, und von dort aus nur noch in die Ostendstraße gehen musste. Max lugte um die letzte Kurve, dann stockte ihm der Atem. Sein Elternhaus war schon in Sichtweite. Aber auf halber Strecke hatten sich Eberhardt und Fritz postiert, um auf Max zu warten. Wie das Kaninchen vor der Schlange blieb er stehen und starrte die beiden Jugendlichen an. Er wollte wegrennen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Seine Kontrahenten machten keine Anstalten, auch nur einen Schritt auf Max zuzugehen.

Stattdessen rief Eberhardt ihm zu: „Hör zu, Judenfreund! Wenn du den Mumm hast, herzukommen und dir deinen Denkzettel abzuholen, sind wir quitt. Aber wenn du wie ein Pole davonrennst, mach ich dich für den Rest deines Lebens fertig. Also?“

Max dachte kurz nach. Aber welche Wahl hatte er schon? Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern trottete er auf Fritz und Eberhardt zu, um sich seine Abreibung abzuholen. Er stöhnte auf, als ihm Fritz den Arm auf den Rücken drehte. Eberhardt ballte die Faust und holte aus. Max kniff die Augenlider zusammen; und dann bekam er die Prügel seines Lebens.

1

August 1944:

Dass das Tausendjährige Reich schon nach elf Jahren vor dem Scherbenhaufen seines Größenwahns stehen sollte, wollten trotz aller Vorboten nur die wenigsten wahrhaben. Die Städte und Industriezentren lagen in Trümmern, das Volk begann allmählich zu hungern und selbst die Propaganda der Wochenschau war nun von überschwänglichen Siegesmeldungen in verbissene Durchhalteparolen gewechselt. An allen Fronten wurde das Reich in die Zange genommen. Kaum eine Familie trauerte nicht um im Krieg gefallene Söhne, Väter und Brüder und es wurde von Tag zu Tag schwerer, den bevorstehenden Untergang zu ignorieren.

Auf den ersten Blick schien Herdelsheim – ein Dorf im nordbadischen Kraichgau - an jenem Sonntag Morgen im August 1944 nichts mit der großdeutschen Apokalypse zu tun zu haben, als morgens um acht das Dorf in einer gemütlichen Geschäftigkeit erwachte. Der klare Himmel versprach einen herrlichen Sommertag. Das Gurren von Tauben und das nervtötende Krähen von Bauer Thielmanns Hahn läuteten den Tag des Herrn ein. Die ersten Kirchgänger waren in ihren dunklen Anzügen schon auf dem Weg zum Gotteshaus, obwohl sie noch eine halbe Stunde Zeit hatten. Auch Ida Haim hatte sich selbst und ihre sechsjährige Tochter Traudel für den Gottesdienst in die Sonntagskleider gesteckt und tischte nun ein armseliges Frühstück aus drei Brotscheiben und einem Gusseisenpfännchen mit Rührei auf. Ihrem Ehemann Ferdinand warf sie einen missbilligenden Blick zu, als dieser sich seine Guten-Morgen-Pfeife ansteckte und die ersten Rauchschwaden unter dem wackelnden Schnurrbart hervorblies.

„Wo bleibt der Bub bloß“, murrte er, ohne sich die Mühe zu machen, die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. Denn Ferdinand wusste aus jahrelanger Erfahrung, dass Ida das Frühstück erst freigeben würde, wenn die ganze Familie versammelt war. Gerade in diesen Tagen, wo die Lebensmittel so streng rationiert waren, legte sie auf dieses Sonntags-Ritual einen ganz besonderen Wert.

Als ob sie es besser wüsste, griff die kleine Traudel nach dem spärlich gefüllten Brotkorb und bekam von ihrer Mutter einen Klaps auf die Finger. „Au!“

„Erst wenn der Max da ist.“

„Ich hab aber Hunger!“

„Du kannst ja mal nach ihm schauen“, brummte Ferdinand und stieß dabei die nächste blaue Wolke aus.

„Maaaaahaaaax!!!“

Sowohl Ferndinand als auch Ida verzogen die Gesichter: „Schauen - und nicht schreien.“

Traudel hätte beim Aufstehen fast noch den Stuhl umgeworfen. Doch schon während sie durchs Zimmer staubte, öffnete sich die Stubentür und Max fing seine kleine Schwester aus dem Lauf heraus auf und hob sie hoch. „Komm her, kleine Maus.“

„He!“, rief Traudel in einer Mischung aus Empörung und Vergnügen und Max drückte sie an sich. „Ich fress dich jetzt.“ Traudel quiekte vergnügt, als Max ihr nasse Küsse auf Wangen und Nase drückte, anstatt sie zu verspeisen. Ida betrachtete belustigt ihre Kinder und selbst der immer so ernste Ferdinand hatte ein Schmunzeln auf den Lippen. Aber das wurde von seinem Walross-Schnurrbart verdeckt.

Fröhliches Gekeife und Kichern erfüllte die Wohnstube, und erst als Traudel zum dritten Mal „Lass mich runter!“ gluckste, hatte Max ein Einsehen, und die Kleine trampelte zurück zu ihrem Platz am Tisch.

„Guten Morgen“, sagte Max nun mit gerötetem Gesicht und schlecht gespielter Ernsthaftigkeit zu seinen Eltern und setzte sich seinem Vater gegenüber. Ferdinand schnitt eine der Brotscheiben in zwei Teile, gab seiner Frau die andere Hälfte und – wie fast jeden Sonntag um diese Zeit - musterte er seinen fünfzehnjährigen Sohn kritisch. Das khakibraune Uniformhemd der Hitlerjugend saß auch heute wieder wie angegossen und das Halstuch war mit militärischer Penetranz gebunden. Gewohnheitsmäßig rückte Max seine Hakenkreuz-Armbinde zurecht und schenkte sich dann Malzkaffee ein.

„Du könntest den Sonntag auch mal mit deiner Familie verbringen“, grummelte Ferdinand, während er – so wie immer – seine mit Rührei bestrichene halbe Brotscheibe nochmal in zwei Hälften klappte.

„Du weißt doch, dass das nicht geht.“

„Hm.“ Natürlich wusste Ferdinand nur zu gut, dass Max seine Verpflichtungen hatte. Doch er hätte trotzdem gerne mehr Zeit mit seinem Sohn verbracht. An den Werktagen war Max kaum noch zu sehen, weil er so wie fast alle Jugendlichen, die noch nicht bei der Flak waren, von morgens bis spätabends als Erntehelfer eingeteilt war. Und sonntags nahm ihn immer diese verdammte Hitlerjugend in Beschlag - damit die Familien bloß nicht zu großen Einfluss auf die Erziehung ihrer Kinder nehmen konnten.

Ein betretenes Schweigen kehrte ein, während alle auf ihren Broten kauten und vor sich hinbrüteten. Dann stahl sich ein Grinsen auf Max' Lippen und er zwickte Traudel in die Seite.

„Mama! Max hat mich gepfetzt!“

„Gar nichts hab ich getan“, sagte Max mit unschuldiger Miene und fing sich von seiner kleinen Maus einen überraschend festen Boxhieb an den Oberarm ein. „Hast du wohl.“

„Du könntest wenigstens mit in die Kirche gehen“, sinnierte Ida, so, als ob sie die kleine Auseinandersetzung zwischen den Kindern nie gegeben hätte.

Max biss von seinem Brot ab und murmelte mit vollem Mund: „Wir haben doch den Führer. Wofür brauchen wir da euren verdammten Herrgott und seine Schwarzkittel?“

Während Ida die Lippen zusammenkniff, grantelte Ferdinand: „Dein Führer ist ein Teufel und kein Herrgott.“

„Pass auf, was du sagst. Sonst ...“

„Was sonst? Willst ...“

„Ferdl!“, rief Ida, und Ferdinand zischte im Flüsterton weiter: „Willst du deinem eigenen Vater drohen? Willst du mich vielleicht ins Zuchthaus bringen?“

Weil Ida wusste, was jetzt kommen würde, setzte sie sich Traudel auf den Schoß und drückte ihre Handflächen an deren Ohren. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand verhaftet wurde, nur weil sich ein Kind verplapperte, das zu viel gehört hatte.

„Du bringst dich schon selber ins Zuchthaus mit deinem Zersetzungsgerede. Dafür brauchst du mich gar nicht“, flüsterte Max sauer zurück.

„Max ...“

„Könntest dir als Architekt eine goldene Nase verdienen, wenn du mitziehen würdest. Und was machst du? Zigarren rollen beim Helfinger-Josef. Was bin ich stolz auf dich – VATER.“

Ferdinand und Max schauten sich giftig an, dann zischte Ferdinand: „Lieber Zigarren rollen und seine Würde behalten, als sich diesem ... diesem Verbrecher-Regime zu unterwerfen. Du wirst noch an meine Worte denken, wenn dein geliebter Führer hier nichts als verbrannte Erde hinterlassen hat. Oder was denkst du, wo das alles hinführt?“

Es kostete Max Mühe, das Flüstern beizubehalten: „Der Führer hat einen Weitblick, den du nicht hast!“

„Der Hitler gehört an den Galgen. Genauso wie seine ganze Blutrührerbande vom Goebbels bis hinunter zu unserem Wüstrach auch.“

Max japste nach Luft, und Ida schrie: „Hört auf!“

Traudel, die wahrscheinlich mehr aufgeschnappt hatte, als es gut war, heulte los. Und Ferdinand fiel wieder in seinen typischen Brummton zurück. „So. Jetzt kannst du deinen Vater ans Messer liefern, wenn dir danach ist.“

„Das muss ich mir gut überlegen“, motzte Max und rümpfte die Nase. Das Schweigen lag nun bleischwer in der Luft. Aber schon Momente später schämte sich Max für seine eigenen Worte und schob ein kleinlautes „Verzeihung“ hinterher. Ferdinand nickte und beendete damit den Familienstreit.

2

Bei dieser Stimmung war Max froh, als er das Haus nach dem Frühstück verlassen konnte. Das Hungergefühl in seinem Bauch, das die eine Brotscheibe eher verstärkt als gelöscht hatte, machte seine Laune nicht besser. Er stapfte über den erdbraunen Hof, wo gedämpft das Gackern ihrer Hühner aus dem Stall hinter dem Haus zu hören war. Und zu allem Unglück streckte nun auch noch das dümmste Huhn - Tante Emma - am Anbauhaus den Kopf aus dem Fenster. „Habt ihr euch wieder gestritten, Max?“, rief sie mit ihrer schneidenden Stimme.

„Nein.“

„Das hat sich aber so angehört. Worüber habt ihr euch gestritten?“

Lass mich in Ruhe, du alte Tratschhenne, dachte Max in sich hinein, zog seiner Tante aber nur eine Grimasse.

„Verzogener Balg“, maulte Tante Emma und murmelte fast nicht hörbar „Kommst ganz nach deinem nichtsnutzigen Vater“ in ihr Wabbelkinn. Max hätte vieles zu sagen gehabt. Aber Tante Emma war nachtragend. Und Max hatte für einen Sonntag Morgen schon genug Streit gehabt. Er ignorierte seine Tante, trat auf die Straße und begann ein Marschlied zu pfeifen, das ihm gerade durch den Kopf schwirrte, damit er seine Laune aufhellen konnte. Doch richtig gut gelang ihm das nicht. Er zerbrach sich immer noch über die Auseinandersetzung mit seinem Vater den Kopf. Manchmal war Max nämlich kurz davor, dem alten Ferdinand sein Gerede abzukaufen. Aber auf der anderen Seite war das doch lächerlich. Klar. Es waren schlimme Dinge passiert – auch hier in Herdelsheim. Aber er fand es ketzerisch, ausgerechnet dem verehrten Führer dafür die Schuld in die Schuhe zu schieben. Berlin war schließlich weit weg und der Führer hatte sicher genug damit zu tun, sich um die große Politik zu kümmern. Wenn er doch nur gewusst hätte, was ein Bürgermeister Roth und vor allem dessen rechte Hand - oder besser gesagt Faust -, der Ortspolizist Wüstrach mit seinen Schergen hier trieben ...

Max ging gewohnheitsmäßig den Umweg von der Hindenburgstraße in die Ringstraße, damit er nicht durch die Holunderstraße musste, und hatte noch nicht aufgehört zu grübeln. Ein unaufdringlicher Gülle-Geruch mischte sich in die Luft, als er sich dem Thielmann-Hof näherte. Er machte einen Bogen um eine Gans, die hier gemeinsam mit einer Handvoll Artgenossen irgendwelche unsichtbaren Körner aus dem Staub der Straße pickte und stieß vor der Scheune einen Pfiff zwischen den Zähnen aus.

Nichts geschah.

Max pfiff noch einmal und rief „Hubi?!“ in Richtung Bauernhof, aber das wurde nur vom Kläffen eines Hundes beantwortet. Er wartete noch eine halbe Minute, dann zuckte er mit den Schultern und ging weiter. Gerade hatte Max den Hof passiert, da hörte er ein verdächtiges Scharren, und im nächsten Augenblick sprang jemand Max in den Rücken.

Max stieß einen erstickten Schrei aus. Aber als er kapiert hatte, was los war, rief er laut lachend: „Geh runter, du Fettsack!“ Er versuchte Hubert abzuschütteln, der sich ihm auf den Rücken geworfen und seine Beine um seine Hüfte geschlungen hatte. Huberts unverkennbares Lachen, das eher wie das Wiehern eines Pferdes klang, hatte er direkt im Ohr, als er seinen besten Freund mit einem übertriebenen Torkeln die Straße entlang schleppte. Erst an der nächsten Einmündung hatte Hubert ein Erbarmen. Er ging von Max' Rücken runter, und ohne sich darüber bewusst zu sein, nahmen die Jungen Gleichschritt an, als sie nebeneinander her gingen. „Alles gut?“, fragte Hubert zur Begrüßung und Max knurrte: „Alles Bestens.“

„Ehrlich?“

„Ja.“

Hubert drehte den Kopf zur Seite und betrachtete den fast einen Kopf größeren Max mit gerunzelter Stirn im Profil. „Das kommt mir aber nicht so vor.“

Kurz hielt Max inne, doch dann platzte es aus ihm heraus: „Mein Alter hat vorhin wieder ... geredet.“

Hubert lachte und seine Stimme wurde leise: „Ja ja. Der Haim-Ferdl. Der alte Pazifist.“

Max schnaubte zustimmend und es entstand ein einvernehmliches Schweigen. Denn wie jedes Mal in solchen Situationen fragte Hubert nicht genauer nach. Max' Vater hatte als einstiger Sozialdemokrat und Judenfreund seinen Ruf weg und lebte in ständiger Angst um sein Leben. Zwar galt auch Huberts tief religiöses Elternhaus als nicht allzu linientreu, aber weil sein Vater, der Thielmann-Bauer, die Partei-Granden des Dorfes regelmäßig mit Hausmacherwurst aus seinen Schwarz-Schlachtungen versorgte, wurde bei den Thielmanns eher ein Auge zugedrückt. Zwischen den beiden Jungen hatte sich während der letzten Jahre eine seltsame Kommunikationsstrategie eingespielt - ein tiefes Verständnis für das, was nicht ausgesprochen wurde. Falls Max nämlich ins Detail gegangen wäre, hätte er Hubert in die Bredouille gebracht, sich zum Mittäter zu machen, wenn er sein Wissen nicht gemeldet hätte.

Nach kurzem Zögern atmete Hubert hörbar ein. „Du lässt dir von ihm doch nichts einreden. Oder?“

„Natürlich nicht.“

„Gut.“ Er klopfte Max auf den Rücken. Das Thema war beiden unangenehm und nach einer angemessenen Pause brachte Hubert das Gespräch in sicherere Fahrwasser. „Im Rundfunk haben sie übrigens gebracht, dass die Siebte zum Gegenschlag Richtung Avranches zieht.“

„Echt?“

„Ja. Die sagen, bald wird sich im Westen das Blatt wieder wenden.“

„Wollen wir's hoffen“, sagte Max mit wenig Nachdruck und legte die Stirn in Falten.

Hubert schmunzelte: „Du hoffnungsloser Zweifler. Ein bisschen mehr - Fanatismus - würde dir auch gut tun – oooder?“ Erst schaute er Max erwartungsvoll an, dann wurde sein Grinsen immer breiter, als Max tatsächlich die Steilvorlage aufgriff. Man konnte förmlich mit ansehen, wie sich die gute Laune Max' Mimik zurück eroberte. Er schob seinen Unterkiefer vor, presste die Augenlider zu Schweinsäuglein zusammen und krümmte den Buckel, um den Oberschul-Lehrer Grube nachzuahmen.

Dann krächzte er zu Huberts Schadenfreude mit verstellter Gurgel-Stimme: „Die aaaarisch-deutsche Jugend ist ZIELSTREBIG – FANATISCH – und – TODESVERACHTEND. Ehrfürchtig dem Führer und gnaaaaadenlos seinem Feind.“ Max kniff das linke Auge ganz zu und stierte Hubert, dessen Lippen bebten, mit dem rechten an. „Mit ihrem edlen Fanatismus wird die deutsche Jugend den Volkszorrrn über die Zweifler und die Zerrrsetzer kommen lassen und sie – HINWEGFEGEN!“

Bei den letzten Worten hatte sich Max' Stimme genauso ulkig wie authentisch überschlagen, und nun lachten sich die zwei scheckig. Es gab genügend Mitschüler, die dem kauzigen Lehrer an den Lippen hingen, wenn er sich in seinen endlosen Monologen über germanisches Heldentum, arisches Blut und minderwertiges Blut und den Zorn der Jugend ergötzte. Für Max und Hubert waren das aber eher Gelegenheiten gewesen, um neuen Stoff für ihre Parodien zu sammeln. Und keiner in der Schule konnte den Lehrer Grube besser nachmachen als Max.

Als sie auf die Hauptstraße kamen, zwangen sich die Jungen zumindest zu einem Grundmaß an Ernsthaftigkeit. Hier waren nun einige Menschen unterwegs und gerade in ihren HJ-Uniformen wollten die beiden nicht negativ auffallen. Sie grüßten höflich den Meininger-Josef und seine Frau und grinsten über die Familie Hinz. Während so gut wie alle Leute, von denen es die meisten in die Kirche zog, an diesem Morgen zu Fuß unterwegs waren, hatte der Schuster Hinz seine ganze Sippe aufs Ochsengespann gesetzt, um sie zum Gottesdienst zu bringen. Er selbst würde sich wie jeden Sonntag wieder auf den Heimweg machen, wenn er seine Bagage auf dem Kirchberg abgesetzt hatte.

Hubert stupste Max an und grinste herausfordernd, als das Gespann sie passiert und ordentlich Staub aufgewirbelt hatte.

„Was?“, fragte Max, und Hubert summte ein melodiöses: „Hmhmhmhmhm.“

„Was heißt hmhmhmhmhm?“

„Na, da“, seufzte Hubert ungeduldig und wies mit dem Kinn auf die andere Straßenseite. Max stöhnte in sich hinein, als er sah, worauf Hubert hinaus wollte. Vor der Brandruine des Wirtshauses Zum Ochsen schlenderten die Herwigs mitsamt ihrer Töchter Rita und Käthe. Die 18-jährige Käthe und die 16-jährige Rita hatten den Ruf, Dorfschönheiten zu sein. Max kümmerte das zwar nur wenig, aber Hubert schnalzte laut genug mit der Zunge, so, dass alle, die in Hörweite waren, zumindest kurz den Kopf drehten. Auch die Mädchen und deren Familie. Käthe, die die verstohlenen Blicke der Jungen bemerkte, wendete den Blick mit demonstrativem Desinteresse ab und Hubert murrte: „Sind sowieso überhebliche Ziegen.“

Erst dann sah er, dass die Blicke von Max und Rita aneinander hängen geblieben waren. Von ihren Eltern und ihrer Schwester unbemerkt strich Rita sich die kastanienbraunen Haare mit einer herausfordernden Schüchternheit zur Seite. Eine Bewegung, die wohl fast jeden Jungen hätte dahinschmelzen lassen. Max lächelte höflich und der Zauber verflog. Rita sagte etwas über die Distanz nicht hörbares zu ihrem Vater und Hubert schob Max mit seiner Schulter voran.

Max merkte, dass Hubert ein bisschen eingeschnappt war. Mit seinem gedrungenen Körper, der Hubert dicklicher wirken ließ, als er es tatsächlich war, und seinem kugelrunden Kopf tat er sich schwer damit, bei Mädchen einen Stein ins Brett zu bekommen. Das war besonders schade, weil Hubert deutlich mehr Interesse an Mädchen zeigte als Max. Aber lange ließ sich Hubert von dieser Schmach nicht beeindrucken. Als sich die beiden dem Siegfriedsheim näherten, wo die Hitler-Jungen ihren Treffpunkt hatten, schmiedete er schon wieder halbgare Zukunftspläne, in denen Käthe die zweite Hauptrolle spielte und die sich Max unkommentiert anhörte.

Vor dem Backsteingebäude, das im rechten Winkel zum Rathaus stand, hatten sich schon einige der Hitler-Jungen und der Pimpfe, wie die unter 14-jährigen des Jungvolks genannt wurden, postiert. Schon aus der Entfernung sahen Max und Hubert, dass sich Klaus Schneider, flankiert von seinen Adjutanten Reinhold Petsch und Gerd Apel, neben der Eingangstür aufgestellt hatten.

Hubert rempelte Max an: „Sieht aus, als hätten sie uns den Duce aufs Auge gedrückt“, und Max versuchte mit mäßigem Erfolg einen Lachkrampf zu unterdrücken. Seit die Jungen aus Max' und Huberts 1928er Jahrgang die ältesten Hitler-Jungen waren, weil alle darüberliegenden Jahrgänge als Flak-Helfer oder Soldaten im Krieg waren, war der 16-jährige Klaus Schneider zum Scharführer ernannt worden und war nun der höchstrangige HJ-ler in Herdelsheim. Ein Eiferer, wie er im Buche stand. Aber wie er nun mit stolz geschwellter Brust dastand, eingerahmt von seinen beiden Stellvertretern, sah es einfach nur lächerlich aus und hatte tatsächlich etwas vom italienischen Diktator Benito Mussolini, so wie ihn die Jungen manchmal in der Wochenschau gesehen hatten.

Die Gesichter der beiden wurden jedoch rechtzeitig ernst, als sie sich näherten und vor Klaus Haltung annahmen. Max und Hubert hoben synchron die rechten Arme und riefen ihrem Scharführer „Heil Hitler!“ entgegen. Klaus verzog so herablassend das Gesicht, dass Max beinahe schlecht geworden wäre. „Heil Hitler. Einreihen, Kameraden.“

Hubert und Max gingen nun an der Reihe der Jungen entlang, und als sie erst wenige Schritte von Klaus entfernt waren, säuselte Hubert ganz leise ein gesungenes: „Mussoliiiiiniiii.“ Die Jungvolk-Pimpfe, die in Hörweite standen, lachten frei heraus, und Klaus drehte ruckartig den Kopf: „Was?!“

Die Jungvölkler rissen sich augenblicklich zusammen und schauten mehr oder weniger teilnahmslos geradeaus, und Max und Hubert schlenderten mit engelhafter Unschuld an der Reihe entlang und reihten sich in ihrer 1928er Kameradschaft an ihren Stammplätzen ein. Max als Zweitgrößter, neben den bärenstarken Müllersohn Franz Hemberger, und Hubert zwischen Konstantin Wüstrach und Albrecht Moor, der noch eine Handbreit kleiner war. Max nickte Franz zu und bekam ein schräges Lächeln als Antwort, und Hubert rempelte ‚aus Versehen‘ Konstantin Wüstrach an. „Mann“, beschwerte sich der zierliche, rothaarige Junge und Hubert motzte „Mach dich halt nicht so breit“ zurück. Einige, die das mitbekommen hatten, lachten fies und Max rollte mit den Augen.

Der erste Höhepunkt des Sonntags war die Flaggenparade. Max erfüllte es mit Stolz, als bei den Anwohnern so manches Fenster aufging und Köpfe herausgestreckt wurden, während Reinhold und Gerd am Siegfriedsheim die Hakenkreuz-Flagge hissten und mehr als vierzig Jungen „Uns're Fahne flattert uns voran“ dazu sangen. Die Magie der Gemeinschaft, die Max gerade in solchen Momenten immer ganz besonders beeindruckte, wurde aber schon bald von dem Knattern eines Motorrades gestört, das sich näherte und die Jungen dazu bewog, immer lauter zu singen, je näher sie dem Schluss des Liedes kamen. Die letzte Textzeile „Die Fahne ist mehr als der Tod“ brüllten Max und seine Kameraden regelrecht heraus, während das schwarze DKW-Motorrad von Herr Göbel auf den Paradeplatz rollte.

Herr Göbel, der stellvertretende NSDAP-Ortsgruppenleiter, stieg von seinem Motorrad, und als Klaus Schneider auf ihn zu ging, um Meldung zu machen, war Max schon klar, dass auf ihn einmal mehr ein unangenehmer Tag zukommen würde. In der Vergangenheit war die Hitlerjugend unter dem Motto ‚Jugend erzieht Jugend‘ meistens unter sich gewesen. Doch während der letzten Monate, in denen die Führungskräfte immer jünger geworden waren, schickte die Partei häufig einen Aufpasser vorbei, und das war oft Herr Göbel. Die meisten Jungen freuten sich zwar darüber, weil Herr Göbel gut mit Jugendlichen umgehen konnte, und auch bei Max war das bis vor Kurzem nicht anders gewesen. Bis der Parteifunktionär damit begonnen hatte, ihm sein anderes Gesicht zu zeigen.

Die Formation löste sich nach der Flaggenparade auf, und die meisten Jungen scharrten sich nun um das Motorrad. Gerade in einem Nest wie Herdelsheim, in dem motorisierte Fahrzeuge noch immer eine Ausnahme waren, sorgte die DKW für Aufsehen. Herr Göbel genoss die Aufmerksamkeit, die ihm und seinem Fahrzeug entgegengebracht wurden. Hubert, der sich für solche Dinge begeisterte, hatte sich ganz nach vorne gedrängt und auf den Boden gekniet, um genau zu sehen, was passierte, wenn Herr Göbel den Motor aufkreischen ließ. Und als der Funktionär dann noch eine Ehrenrunde über den Platz fuhr, rannten ihm einige Jungen begeistert hinterher. Max hielt sich zurück, und neben ihm war Konstantin Wüstrach stehen geblieben. Die beiden schauten sich kurz an, aber obwohl sie schon seit Jahren in derselben Kameradschaft waren, hatten sie sich üblicherweise nicht viel zu sagen. Dafür betrachteten sie sich das Geschehen. Denn jetzt ließ Herr Göbel sogar seinen Neffen Gerd Apel eine Runde fahren.

Die Jungen johlten und selbst Max schmunzelte. Obwohl er Gerd nicht mochte, stellte er schon ein lustiges Bild dar, wie er weit nach vorne gebeugt auf der Maschine saß und auf dem Dorfplatz im Kreis fuhr. Natürlich wollten nun andere Jungen auch mit dem Motorrad fahren. Aber Herr Göbel blockte ab: „Jetzt nehmt wieder Haltung an, Jung-Landser!“

Folgsam brüllte Klaus Schneider seine Knaben-Brigade wieder in Formation, reihte sich ein, dann trat Herr Göbel wie ein Offizier vor die Gruppe.

„Meine Herren.“ Ein leises Kichern ging bei dieser förmlichen Anrede durch die Reihe der Jungen, das Herr Göbel wohlwollend überhörte. „Ihr werdet in exakt fünf Minuten im Parteisalon erwartet. Marsch-Marsch.“ Dann wandte sich der Funktionär demonstrativ ab.

„Ihr habt es gehört – Marschformation“, schrie Klaus, und keine Minute, nachdem Herr Göbel auf seinem Motorrad den Paradeplatz verlassen und nur eine stinkende Rauchwolke hinterlassen hatte, setzten sich auch die Jungen in ihrer Formation in Bewegung.

3

Die zweihundert Meter bis zum sogenannten Parteisalon der NSDAP, das eine Räumlichkeit im Erdgeschoss der Zigarrenfabrik war, in der auch Max' Vater Ferdinand arbeitete, zelebrierten die Jungen als eine Machtdemonstration. Freddie Habeler, der Kleinste der Pimpfe, ging mit der Fahne voraus, die Hitler-Jungen sangen „Vorwärts! Vorwärts! Schmettern die hellen Fanfaren“, und die Menschen, die die Jungen passierten, gingen in Habachtstellung, bis der Zug an ihnen vorbei war. Klaus führte seine Hitler-Jungen auf dem Kirchberg links vom Johannesbrunnen extra nah an der Kirche vorbei, um den verhassten Schwarzkitteln, die drinnen ihre Messe hielten, eine volle Breitseite an Verachtung mit auf den Weg zu geben.

Vor dem hochaufragenden gebalkten Fachwerkhaus wartete Herr Göbel schon. Die Jungen stellten sich militärische korrekt der Reihe nach auf, doch sobald der Vize-Ortsgruppenleiter ihnen entgegenrief: „Jetzt schnell rein! Wollt ihr eure Überraschung nicht sehen?“, wurde aus den Möchtegern-Soldaten auf einen Schlag wieder Kinder und Jugendliche, als jeder von ihnen der Erste sein wollte. Gerade auf der Staffel direkt hinter der Eingangstür, von der es dann links in den Salon oder weiter nach oben zu den Arbeitsräumen ging, war ein dichtes Gedränge, als sich alle Jungen gleichzeitig hindurchdrücken wollten. Vielleicht, um seine neue Machtposition als Klaus Schneiders Stellvertreter zu unterstreichen, vielleicht auch nur, weil er ein unangenehmer Zeitgenosse war, schob sich Gerd rücksichtslos durch das Gedränge. Einige der Jüngeren motzten, doch als es Konstantin Wüstrach nach einem Stoß der Länge nach auf die Stufen legte, hallte ein lautes Lachen aus vielen Kehlen durch das Treppenhaus. Klaus Schneider, der Gerd gefolgt war, trat Konstantin in die Seite, als dieser sich aufrappeln wollte. „Steh auf, du Fallobst.“

„Fallobst“, gluckste jemand blöde, und sobald Konstantin den nächsten Versuch wagte, trat Gerd ihm mit solcher Wucht in den Hintern, dass Konstantin mit einem verzweifelten Stöhnen sofort wieder auf der Treppe landete. Das Lachen, das darauf folgte, war im Treppenhaus beinahe ohrenbetäubend.

Aus einem Reflex heraus drängte Max sich dazwischen und stieß Gerd von Konstantin weg. „Lass ihn in Ruhe, verdammt!“

Gerds Augen blitzten streitlustig auf. Doch Klaus hielt ihn am Arm zurück und die Autorität seines Ranges als Scharführer schwang in seiner Stimme mit, als er sich an Max wandte: „Halt du dich da raus, Haim. Wenn der Wüstrach zu verweichlicht ist, um sich selber durchzusetzen, hat er's auch nicht anders verdient.“

Trotzdem schüttelte Max Klaus' Hand ab. Er stampfte einen Schritt auf Gerd zu, und Gerd zog aggressiv die Arme an. Doch dann ließ Max Gerd links liegen und half stattdessen unter der Empörung der jungen Schaulustigen Konstantin auf.

„Danke“, nuschelte Konstantin und versuchte zu lächeln. Und aus irgendeinem Grund fühlte Max an der Hitze seiner Wangen, dass er errötete. Deshalb blickte er schnell zur Seite. Die verächtlichen Blicke, die ihn durchbohrten, fühlte er mehr, als dass er sie sah. Konstantin zu helfen, war ein Kurzschluss gewesen. Eine Dummheit. Klaus hatte schließlich recht gehabt. Konstantin war ein Schwächling. Und bei der Hitlerjugend galt die Devise: Wenn ein Junge zu feige war, um sich zu wehren, war er es auch nicht wert, dass ihm geholfen wurde. Das mochte richtig sein oder auch nicht. Aber kein Zweifel bestand für Max darin, dass Konstantin Max' natürlicher Erbfeind war. Eigentlich sollte Max sich freuen, wenn dieser Wüstrach litt.

Klaus schlug Max beim Vorbeigehen mit der flachen Hand in den Nacken, um seine Missbilligung auszudrücken, und obwohl Max der Größere von beiden war, nahm er das hin. Nach diesem kurzen Spektakel folgte er den anderen Jungen in den Saal der Ortsgruppe, und schon war aller Unmut vergessen. Der Salon hatte auch an diesem sonnigen Vormittag eine behagliche dunkle Atmosphäre. Der Geruch von Leder und altem Zigarren-Rauch kitzelte Max in der Nase und sein Blick ging voller Ehrfurcht zu dem großen Portrait Adolf Hitlers, der mit verklärtem Blick über seine Jungen, die sich ihm mit ihrem Leben verschworen hatten, zu wachen schien. Die bequem wirkenden Sofas und Sessel, die mit braunem Wildleder überzogen waren, ließen die Jungen links liegen. Dafür bewunderten sie die beiden reichlich mit Brot, Wurst und Käse gedeckten Tische, die in Zeiten des Verzichts eine unwiderstehliche Sündhaftigkeit ausstrahlten. Herrn Göbels Ehefrau Mathilde und seine 13-jährige Tochter standen etwas abseits. Wahrscheinlich waren sie es, die die Tische gedeckt hatten.

Herr Göbel war hinter den Jungen eingetreten und betrachtete ironisch die Begeisterung und das ungläubige Getuschel. „Für unsere angehenden Soldaten nur das Beste. Schlagt euch die Bäuche voll und dankt eurem Führer dafür“, sagte er ernst, dann amüsierter: „Später gibt es noch eine Wehrübung. Da könnt ihr die Kraft gut gebrauchen.“ Max' Blick streifte Klaus, dem anzusehen war, dass er sich bei der Tagesplanung übergangen fühlte, auch wenn er das, so gut er konnte, versuchte zu verbergen.

Kurze Zeit später hatten sich die Jungen an den Tischen verteilt und Max genoss sein zweites Frühstück. Nicht so karg wie es die meisten von ihnen zuhause erlebt hatten. Denn obwohl Herdelsheim vom Terror des Krieges bis dahin verschont geblieben war und sich mit der Landwirtschaft selbst versorgen konnte, musste die Gemeinde einen beachtlichen Teil des Erwirtschafteten abgeben, um die Regionen am Leben zu erhalten, die es nicht so gut erwischt hatten. Vor allem Mannheim und Ludwigshafen wurden hier in der Nähe von immer und immer wiederkehrenden Bomberwellen malträtiert. Max saß zwischen Hubert und dem 14-jährigen Reinhold Petsch – ein gehorsamer dunkelblonder Lockenkopf mit Brave-Jungs-Gesicht, der, obwohl er jünger war, in der Hierarchie Max und Hubert schon überholt hatte. Alle Jungen schlugen nun kräftig zu. Selbst Hubert, der wahrscheinlich der einzige war, der dank der Bauernschläue seines Vaters schon ein ordentliches Frühstück hinter sich hatte, ließ sich nicht bitten.

„Was war das denn eben?“, fragte Hubert mit vollem Mund, und Max tat so, als wüsste er nicht, wovon Hubert redete.

„Was meinst du?“

„Na, die Sache mit dem Wüstrach – der schwulen Ratte.“ Er warf einen Blick zu Konstantin, der den beiden schräg gegenüber saß und schnell den Kopf abwandte. Auch Albrecht Moor aus ihrer 1928er Kameradschaft, der links neben Hubert saß, brummte zustimmend.

„Ich weiß auch nicht“, murmelte Max und Hubert seufzte theatralisch.

Doch die vier Worte waren die reine Wahrheit. All seine Vernunft sagte Max zwar, dass er Konstantin Wüstrach hassen musste. Und gerade, weil Konstantin ein dankbares Opfer war, wäre es für Max ein Leichtes gewesen, ihn jedes Mal aufs Neue zu demütigen, so wie Gerd und Klaus es immer taten. Der Führer hatte das Leitbild, wie ein deutscher Junge zu sein hatte, einmal mit den Worten „Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und schnell wie ein Windhund“ auf den Punkt gebracht. Konstantin war so ziemlich das genaue Gegenteil davon. Trotz seiner schon 16 Jahre hatte er eine zerbrechlich wirkende Figur und ein zartes Gesicht, das von bösen Zungen sogar als mädchenhaft bezeichnet wurde, scheute Mutproben und Auseinandersetzungen und widmete sich lieber den künstlerischen Beschäftigungen als den körperlichen. Vor allem das Violinen-Spiel war Konstantins große Muse. Eigentlich durch und durch verachtenswert. Aber gerade die Tatsache, dass Konstantin so gar nicht in das vorgegebene Weltbild passte, machte ihn für Max auf eine kaum zu erfassende Weise faszinierend.

„Du bist zu gut für diese Welt“, meinte Hubert schließlich und griff, während alle anderen noch an ihrem ersten belegten Brot kauten, schon nach der zweiten Portion. Doch ehe er das Tablett erreichte, griff Albrecht nach Huberts Hand und hielt sie am Handgelenk fest.

„Mach mal langsam, du Vielfraß.“

Statt sich zu befreien, wollte Hubert sich einfach die freie rechte Hand nehmen, aber die schnappte sich Max.

„Finger weg. Du bekommst gar nichts mehr“, unkte Max. „Du bist der Fetteste von allen und frisst den anderen noch die Haare vom Kopf.“

„Lasst mich. Ich muss noch wachsen. Ich bin halt nicht so ein langes Elend wie du“, lästerte Hubert, aber Max und Albrecht ließen ihn nicht. Sie kicherten, Hubert wieherte sein unnachahmliches Lachen, zappelte mit den Armen und versuchte erfolglos, sich aus den Griffen seiner Freunde herauszukämpfen.

„Nix da, du fetter Hering“, säuselte Albrecht und Max nahm die Steilvorlage auf und raunte: „So dick wie der Göring.“

Er dachte sich nichts dabei. Der Spruch ‚Hering, so dick wie der Göring‘ war unter den Jugendlichen in Herdelsheim ein üblicher Gassenhauer. Aber als Reinhold Petsch neben Max wie wild anfing, mit dem Finger zu schnippen, schwante ihm schon nichts Gutes. Und er sollte Recht behalten.

„Herr Göbel! Herr Göbel!“, rief Reinhold aufgeregt. „Der Haim hat sich über den Herr Reichsmarschall lustig gemacht.“

„Hab ich nicht“, entgegnete Max und Reinhold schmollte: „Hast du wohl. Du hast gesagt, der Thielmann wäre so dick wie der Göring.“

„Stimmt doch gar nicht, was der Petsch da gehört hat – die taube Nuss“, mischte sich nun Hubert ein und Albrecht sagte: „Der Haim hat gesagt: So ein dicker Hering.“

„Hab ich auch so verstanden“, bestätigte Konstantin Wüstrach, obwohl er es von seinem Platz aus nie und nimmer gehört haben konnte. Max warf ihm einen kurzen, dankbaren Blick zu und an Konstantins Mundwinkel zeichneten sich kleine Grübchen, als er zurücklächelte. Herr Göbel schaute Reinhold, dem schon Tränen in den Augen standen, kritisch an.

„Ich hab's genau gehört“, jammerte er, und Hubert zischte: „Du kriegst auf die Fresse, du Lügner.“

„Jetzt ist aber gut!“, sagte Herr Göbel betont gleichgültig und damit war der Streit beendet. Vielleicht war es ihm ja auch nicht recht, dass Reinhold aus einer Mücke so einen Elefanten gemacht hatte, versuchte sich Max einzureden. Aber er glaubte es selbst nicht so wirklich.

Im Gegensatz zu Hubert war Max nach diesem Zwischenfall der Appetit vergangen. Die Leute wurden immer dünnhäutiger, und ein Spruch, der vor ein paar Wochen noch harmlos gewesen wäre, konnte einen heute schon in Schwierigkeiten bringen. Dieses Mal war es scheinbar noch einmal gut gegangen. Aber er musste sich in Zukunft unbedingt mehr vor den Petschs, Apels und Schneiders dieser Welt in Acht nehmen. Während des restlichen Frühstücks blieb er ruhig und zerknirscht, während Hubert weiter mit Albrecht herumalberte.

Erst, nachdem die Platten restlos leergeputzt waren, machten sich die Jungen daran, alles zusammenzuräumen und aufzustapeln. Max wollte dabei helfen, doch als er sich gerade Huberts Teller genommen hatte, kam Herr Göbel zu ihm und legte ihm freundschaftlich einen Arm um die Schulter: „Ich muss mal ein Wort mit dir reden, Maximilian.“

„Worüber?“, fragte Max mit flauem Magen.

Herr Göbel drehte Max Richtung Tür. „Unter vier Augen.“

Max nickte und folgte Herrn Göbel. Er ahnte zwar in etwa, was nun kommen würde, versuchte aber, sich das nicht anmerken zu lassen. Sie gingen hinaus ins Treppenhaus. Als Herr Göbel die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, schaute Max ihn fragend an.

Herr Göbel betrachtete ihn tadelnd. „Dir ist hoffentlich bewusst, dass ich dir vorhin den Arsch gerettet habe, Maximilian. Das, was du da gesagt hast, war kein Kavaliersdelikt.“

Max schwieg. Der Göring-Satz war doch schon tausendmal gesagt worden, und nie hatte es jemanden interessiert. Schließlich war Göring nicht Hitler.

Als Herr Göbel sich damit abgefunden hatte, von Max keine Antwort zu bekommen, lächelte er ihn verschwörerisch an: „Die Flausen hat dir dein Vater in den Kopf gesetzt. Oder?“

„Nein“, sagte Max leise und versuchte sich sein Unbehagen über diese vorhersehbare Wendung nicht anmerken zu lassen.

Der Parteifunktionär nickte. So, als ob Max ihm zugestimmt hätte. „Du weißt, dass wir letzte Woche schon darüber geredet haben. Ich kann dir nur immer wieder raten, dir von deinem Erzeuger nicht den Verstand vergiften zu lassen.“

„Keine Sorge“, antwortete Max.

Herr Göbel nahm sich unendlich viel Zeit, um Max zu betrachten, und ein unangenehmes Kribbeln machte sich in dessen Hintern breit. Schließlich brummte der Funktionär: „Mehr hast du mir nicht zu sagen?“

Max schüttelte mit dem Kopf.

„Du kapierst das einfach nicht, Maximilian. Oder? Dein Erzeuger ist keiner von uns. Er ist eine Made im Speck. Das war er schon immer.“ Max schwieg und ertrug den Blick nun kaum mehr, mit dem Herr Göbel ihn anstierte. Endlich redete er weiter. „Du bist unser Auge und unser Ohr im Hause Haim, Maximilian. Wir beide wissen, dass dein Erzeuger auf Dauer den Mund nicht halten kann. Das hat er noch nie gekonnt. Und – im Namen des Führers - deine Aufgabe ... nein, deine Pflicht ist es, mir jegliche Entgleisung zu melden.“

„Ja“, hauchte Max. Von drinnen war wie aus einer anderen Welt Huberts gewiehertes Lachen zu hören. Zwischen Herrn Göbels Augenbrauen grub sich eine Zornesfalte, als er zischte: „Und warum tust du es dann nicht?!“

Max zuckte bei dem Wutausbruch zusammen. Er fühlte, wie seine Augen feucht wurden. Herr Göbel atmete durch und redete ruhiger weiter. In einem Ton, als wäre Max ein begriffsstutziges Kleinkind. „Gut. Also noch einmal. Lass uns jetzt Klartext reden – es bleibt doch unter uns, Maximilian. Was versucht dir dein Erzeuger einzureden, wenn die Türen im Hause Haim verschlossen sind? Womit will er dich vergiften?“

„Gar nichts. Er redet nicht mehr viel.“

Herr Göbel schaute Max mit einem Blick an, der ‚Hast du mir denn gar nicht zugehört?‘ ausdrückte. „Hör auf zu lügen.“

„Das ist aber die Wahrheit.“

„Ich kenne den alten Ferdinand Haim ganz genau. Gut genug, um mir sicher sein zu können, dass er dich – unseren tapferen Jung-Landser – verdrehen möchte. Weil er dich verachtet, so aufrichtig, wie du bist. Also, raus mit der Sprache, Maximilian. Wie macht der alte Ferdl das?“

Max biss sich von innen auf die Lippen. Herr Göbel legte seine Hände an Max' Schulter und drückte seinen Rücken gegen die Wand. Sein Gesicht war so nah an dem von Max, dass Max seinen Atem roch. „Jetzt mach endlich den Mund auf! Du hast einen heiligen Eid auf den Führer geschworen. Vergiss das niemals. Jetzt, wo alles auf der Kippe steht, können wir uns keine Zersetzer in unserem Volk leisten. Und du bist gerade dabei, so ein Treiben zu decken? So etwas nennt man Hochverrat, Maximilian! Eidbruch!“ Er kratzte sich am Hals. „Ich denke, ich muss dir nicht sagen, was die Konsequenzen sind. Also? Was – redet – dein – Vater?“

Herr Göbel hatte nun so eindringlich auf ihn eingeredet, dass es Max eine fast unmenschliche Selbstbeherrschung kostete, nicht in die Hose zu pinkeln. Im ersten Moment war der Kloß im Hals so dick, dass Max glaubte, keinen Ton herauszubringen. Doch dann stammelte er: „Aber wenn er doch nichts gesagt hat? Seit er verhört worden ist, redet er gar nicht mehr über Politik.“ Nach kurzem Schweigen schob er hinterher: „Und wenn er jemals etwas Zersetzendes sagt, werde ich es Ihnen melden.“

Herr Göbel schaute Max so tief in die Augen, als wolle er hindurch sehen und seine Gedanken lesen. Max versuchte sich abzuschotten, wusste aber, dass er kläglich scheiterte. Lange würde es bis zum Zusammenbruch nicht mehr dauern, das fühlte er. Er konnte richtig spüren, wie sich das Geständnis über seine Zunge zu seinen Lippen vortastete. Das erlösende Geständnis. Es waren die Erinnerungen, die sich wie ein Albtraum in seinen Kopf gebrannt hatten, die ihn abhielten. Erinnerungen, wie spätnachts die Haustür der Haims eingetreten worden war und dann der Ortspolizist Wüstrach gemeinsam mit zwei Gestapo-Männern seinen Vater mitgenommen hatte. Wie seine Mutter in den drei Tagen, während derer der alte Ferdinand verschollen war, zu nichts mehr zu gebrauchen gewesen war und Max trotz seiner Angst die kleine Traudel versorgt und getröstet hatte; und wie sein Vater dann grün und blau geschlagen wieder nach Hause gekommen war. Wie der befreundete Ochsenwirt und dessen Frau wenige Tage später im Obergeschoss ihrer eigenen Gaststätte verbrannten und an die schlaflosen Nächte, in denen die Haims voller Panik gewesen waren, ihnen könne dasselbe passieren.

„Verschwinde.“ Herr Göbel machte eine Kopfbewegung an Max vorbei Richtung Tür, nachdem Max ihn sekundenlang treudoof angeblickt hatte. Max zögerte, weil er es für eine Falle hielt. Doch dann drehte er sich doch um und ging mit zittrigen Gliedern der Tür zum Salon entgegen.

„Hast null Ehrgefühl“, sagte Herr Göbel hinter ihm. „Null Ehrgefühl.“

Max kämpfte gegen die Tränen, als er wieder in den NSDAP-Salon ging. „Was hat er von dir gewollt?“, fragte Hubert sofort.

„Nichts. Nur einen Vortrag über den Göring.“

Wahrscheinlich las Hubert in Max' Augen, dass es besser war, nicht nachzuhaken. Max registrierte das kaum. Dafür war er viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Er fragte sich, ob er wirklich gerade seinen Führer verraten hatte, weil er seinen Vater nicht ans Messer geliefert hatte. Max hasste seinen Vater – seinen Erzeuger - in diesem Moment. Dafür, dass er ihn mit seinem Geschwätz in solche Probleme stürzte. Hätte er Herrn Göbel doch einfach die Wahrheit gesagt. Er wollte doch ein guter Nationalsozialist sein. Aber manchmal war das verdammt schwer.

4

Wenig später verließen die Jungen in voller Mannschaftsstärke den Partei-Salon und Klaus führte sein Gefolge aus dem Dorf hinaus zum Hummelberg – ein Hügel am westlichen Rand des Kraichgaus, wo die Jungen meistens ihre Gelände-Übungen abhielten. Es ging schon auf Mittag zu und die Sommersonne streichelte angenehm Max' Haut an Gesicht, Unterarmen und Waden, als sie, wie immer in Formation marschierend, hinter dem Pichlau-Hof Herdelsheim verließen. Der Weg führte erst sachte, dann durch einen Hohlweg ein kurzes Stück steil bergan. Oben mündete der Heiliggeist-Weg, wie dieser Anstieg hieß, in ein sanftes Plateau aus Feldern und Wiesen. Von dort reichte der Blick weit in die Ferne. Unter ihnen das idyllische Herdelsheim mit seinen Bauernhöfen, den hohen Fachwerkhäusern, die um den Kirchturm, der als Zentrum alles überragte, angelegt waren, und den modernen eineinhalbstöckigen Siedlungshäusern am Nordende des Dorfes. Über Herdelsheim hinweg ging der Blick über den etwas außerhalb liegenden Mohnsee und den Haselwald über die Weite der Rheinebene hinaus bis ins Unendliche. In der Ferne des Westens waren die Kuppen des Pfälzer Waldes im Sommerdunst eher zu erahnen als zu erkennen. Aber die dicht bewaldeten Odenwald-Berge rund um den Königsstuhl im Norden zeichneten sich dunkel und deutlich am Horizont ab. Wenn man gute Augen hatte, konnte man links davon sogar Mannheim mit seinen Industrieruinen erkennen. Immer, wenn Max hier hoch kam, musste er an jene September-Nacht vor einem Jahr zurückdenken.

Die Alten hatten sich damals in ihre Keller gekauert, als die Alarmsirenen losheulten. So wie immer. Aber die Herdelsheimer Jugend hatte schon lange keine Angst mehr. Keiner glaubte ernsthaft daran, dass ihr kleines Kaff ein lohnenswertes Ziel für die alliierten Bomber sein würde. So rannte die Dorfjugend im Heulen der Sirenen aus den Häusern heraus und hinauf auf den Hummelberg. Es war oft geschehen, dass die Bomberverbände direkt über Herdelsheim hinweggedonnert waren, um ihre Ziele in Franken oder in Nordbayern anzufliegen. Aber in dieser Nacht nicht. In dieser Nacht war es anders.

Das ist Mannheim!“, hatte Gerhard Wengler aufgeregt gerufen. Alle schauten nach Norden, wo auf einmal die 'Christbäume', wie man hier in Herdelsheim die Markierungsfeuer nannte, im Himmel loderten. Und schon bald brach die Hölle los. Mit einer Mischung aus Angst, Grausen und Sensationsgier stierten die Jugendlichen Richtung Rhein-Neckar-Gebiet. Sie rauchten Zigaretten, ließen Selbstgebrannten herumgehen, den Hubert im Chaos des Bombenalarms daheim gemopst hatte, und schon bald erzitterte sogar hier, in 40 Kilometer Entfernung, die Erde, als Mannheim so schwer getroffen wurde wie nie zuvor. Die Einschläge der schweren Sprengbomben waren eher als dumpfes Wummern in der Magengrube zu fühlen als zu hören, und funkensprühende Feuersäulen stoben in einem leisen, aber unaufhörlichen Donnergrollen in den Himmel. Lange saßen die Jugendlichen in dieser Nacht noch hier oben und betrachtete den orange-flackernden Horizont. Ein teuflisches Glühen, das die ganze Nacht nicht enden wollte. Am nächsten Morgen waren die Herdelsheimer Jungen von einem Transportwagen des Reichs-Arbeitsdienstes abgeholt worden, um in Mannheim ‚Klarschiff‘ zu machen, wie es genannt wurde.

Die Eindrücke dieser Tage würden Max wohl ein Leben lang verfolgen und übermannten ihn auch wieder an jenem Sonntag. Es war seltsam, wie es sich an solchen schönen Tagen anfühlte, als ob die Welt heute mit dem Damals so gar nichts zu tun hätte. Dabei wusste jeder, dass ihnen allen das Schlimmste noch bevorstand.

Am ‚Wengerthäusle‘, einer kleinen Rasthütte, die die Form eines Weinfasses hatte und vielleicht zweihundert Meter vom Rand des Kreuzwaldes entfernt war, der das Plateau nach Osten begrenzte, sah Max schon von einiger Entfernung wieder Herrn Göbels Motorrad. Herrn Göbels Anwesenheit bereitete ihm nun Kopfschmerzen. Es wäre töricht gewesen zu denken, dass das Ganze schon ausgestanden war. Die Worte Hochverrat und Eidbruch dröhnten in seinem Kopf. Die Vernunft sagte Max zwar, dass Herr Göbel mit seinen Drohungen übertrieben hatte, aber welchen Wert hatte die Vernunft in jenen Tagen noch. Wenn es überhaupt noch eine Konstante gab, dann war das die Unberechenbarkeit. Max wusste nur, dass ihm die Angst nun den Atem abschnürte wie der Strick um den Hals, den der Funktionär ihm angedeutet hatte. Er gab sein Bestes, sich seine Verzweiflung und sein schlechtes Gewissen nicht anmerken zu lassen, und auch Herr Göbel war nun wieder der vertrauenswürdige Kamerad wie eh und je, als sich die Jungen vor ihm aufgereiht hatten.

„Tapfere Jung-Landser! Vier Gruppen bilden zum Flaggen-Kampf. Marsch-Marsch. Ich will heute vollen Einsatz sehen.“

„Ihr habt's gehört!“, brüllte Klaus, aber da waren die Jungen schon dabei, sich aufzuteilen.

Der Flaggen-Kampf war ein Geländespiel, das oft gespielt wurde, und die Gruppen, in denen die Jahrgänge bunt durchmischt waren, waren eigentlich immer die gleichen. Die Ehrgeizlinge scharten sich um Klaus und Gerd, und Max und Hubert, die als Älteste Gruppenführer und Vizegruppenführer waren, bekamen eher diejenigen der Jüngeren, die sonst niemand haben wollte.

Die Bezeichnung ‚Flaggenkampf‘ kam noch von früheren Tagen, als jede Gruppe ihre eigene Flagge hatte, um die gekämpft wurde. Aber inzwischen gab es keine Flaggen mehr, sondern es ging um das ‚Bändchen‘, also den Gürtel des Gruppenführers. Wenn einem Gruppenführer das Bändchen gestohlen wurde, war die Gruppe besiegt. Das Spiel war zu Ende, wenn nur noch ein Gruppenführer sein Bändchen hatte. Obwohl es dabei immer sehr rabiat zuging und meistens Klaus gewann, mochte Max das Spiel. Ihm machte einfach das Toben Spaß, und es reizte ihn, mit den Außenseitern, die er immer zugesteckt bekam, den Eiferern das Leben schwer zu machen. Max war auch heute wieder der Gruppenführer. Hubert war zwar fünf Monate älter als er und damit schon sechzehn, aber dafür war Max der charismatischere von beiden.

Max führte seine Gruppe aus vier Hitlerjungen und fünf Pimpfen in den Kreuzwald hinein; erleichtert, vorerst der Nähe von Herr Göbel entkommen zu sein. Als sie in einer Senke ein gutes Versteck gefunden hatten, scharten sich die Jüngeren um Max und Hubert und schauten Max mit erwartungsvoll glänzenden Augen an. „Zuhören, Jungs. Wir sind heute die 111er.“ Max machte eine dramaturgische Pause und Hubert brummte zufrieden, ehe Max weiterredete. „Wir legen einen Hinterhalt und lassen die anderen kommen. Heute fällt der Klaus.“

Die Pimpfe jubelten im Flüsterton und Hubert fügte sauer an: „Und der Reinhold, der alte Verräter.“ Leises Kichern folgte.

„Auf die 111er“, rief Max im Flüsterton. „Mir nach.“ Dann machte er sich auf und seine Jungs folgten ihm in einer fast lautlosen Geschmeidigkeit erfahrener Geländegänger. Wie immer, wenn Max und Hubert Krieg spielten, hatten sie sich nach dem Infanterie-Regiment Markgraf Ludwig Wilhelm, Nr.111 – oder kurz den 111ern – benannt hatte. Das Regiment, für das Huberts Bruder Jakob gekämpft hatte, bis er im Dezember 1942 erfroren war. Bis zum davorliegenden Sommer hatten Max und Hubert immer an seinen Lippen gehangen, wenn Jakob im Fronturlaub zuhause war und seine glanzvollen Heldengeschichten erzählt hatte.

Max führte den Trupp in gebückter Haltung zu den drei zugewucherten Steinkreuzen, nach denen der Wald benannt war und um deren Existenz sich dutzende Mythen und Legenden rankten. Wenige Meter dahinter führte in einem Graben der Kreuzbach entlang, der in diesen Sommertagen ein armseliges Rinnsal war. Hans Gebhardt, ein 13-jähriger Pimpf, der ein Leben lang nervös zu sein schien, tippte Max an und wies wortlos auf den Kreuzbachgraben. Ein bei den Flaggenkämpfen gerne genutzter Hinterhalt. Doch Max schüttelte mit dem Kopf. „Das erwarten sie“, flüsterte er.

„Und?“

Er wies auf eine unscheinbare Bodenwelle, vielleicht 30 Meter entfernt: „Ihr legt euch da flach auf den Boden.“

„Und du?“

„Hubert und ich kommen von hinten“, sagte Max und betrachtete lächelnd einen Hartriegelstrauch zur Linken der Kreuze. Der Schlachtplan wurde ausgetüftelt, dann legten sich die Jungen bis auf Max und Hubert an ihrem dürftigen Versteck flach auf den Boden, und Max und Hubert verschanzten sich hinter dem Strauch. Hubert fluchte leise vor sich hin, als die Zweige seine Haut zerkratzten, und auch Max war schon nach kurzer Zeit von dem Gehölz genervt, das ihn überall an seinem Körper piekte. Aber er blieb ruhig. Jammern galt nicht. Die Zeit verging und Max versank in seinen Gedanken, als nichts geschah. ‚Hochverrat‘, röhrte Herrn Göbels Stimme immer wieder durch seinen Kopf. Er biss die Zähne zusammen, um diesen Gedanken loszuwerden, aber er schaffte es nicht so ganz. Nach fast 20 Minuten des Ausharrens schlich die Gruppe von Albrecht Moor ganz nah an sie heran. Eine willkommene Abwechslung, um die düsteren Gedanken zu verdrängen. Max und Hubert kostete es Mühe, nicht zu lachen, als Albrecht so nah an ihren Busch kam, dass sie sich, wenn sie sich genug gestreckt hätten, fast schon seinen Gürtel hätten greifen können. Aber alle hielten sich an den Plan. Die Eiferer um Klaus waren ihr Ziel. Und für Albrecht und seine Jungs wollten sie ihre Tarnung nicht aufgeben. Die feindliche Gruppe verschwand und das Warten ging weiter. Minutenlang.

Das Knacken eines Zweiges riss Max aus seinen Gedanken. Sein Blick zwischen den Zweigen hindurch suchte die Richtung ab, aus der das Geräusch gekommen war, und dort sah er auch die Bewegung im Gebüsch. Die feindliche Gruppe war zwar vorsichtig, aber trotzdem glaubte er, Gerd Apel an seiner unschierigen Art, sich zu bewegen, zu erkennen. Ein kurzer Blick zu Hubert, der mit einem Kopfnicken bestätigte, dann zischte Max „Kst“ zu seinem auf dem Boden versteckten Gefolge. Der kleine Freddie und sein bester Freund Alfons Jorgens rafften sich sofort auf, gingen zu den Kreuzen und begannen sich leise, aber für das Spiel doch zu laut sich zu unterhalten.

„Schnappt sie euch!“, drang Klaus' Stimme aus dem Unterholz und im nächsten Moment stürmte er mit seiner Gruppe auf die Kreuze und die beiden Pimpfe zu. Max sah für einen Sekundenbruchteil etwas wie Verwirrung in den Augen der Angreifer, weil die beiden Kleinen allein waren, aber als Freddie und Alfons scheinbar panisch auf den Kreuzbachgraben zuflüchteten, glaubte Reinhold, sie durchschaut zu haben: „Die anderen verstecken sich im Graben!“, rief er noch. Aber fast gleichzeitig sprangen die Jungs aus Max' Gruppe laut schreiend aus ihrer Verschanzung hervor und griffen die andere Gruppe in deren Flanke an. Es entstand eine wilde Rauferei. Fäuste flogen und erstickte Schreie durchdrangen die Stille. Klaus' Stimme klang wütend, als er aus dem Tumult heraus „Wo ist der Haim?“ schrie. Bald sollte er es erfahren. Max' Jungs ließen sich in die Defensive drängen und verlagerten das Geschehen direkt vor den Hartriegelstrauch. Max sprang Klaus mit den Knien voran in den Rücken und neben ihm schlug Hubert ein wie eine Kanonenkugel. Klaus fiel mit einem Schrei, in dem sowohl Schmerz als auch Zorn steckte, zu Boden und Max schmiss sich auf ihn drauf. Die ganze Gruppe stürzte sich nun auf Klaus. Alle versuchten, sein Bändchen zu lösen. Max' und Hans' Finger machten sich an der Gürtelschnalle zu schaffen, während Hände an ihren Schultern rissen und Max ein Ellbogen an die Wange gerammt wurde. Ganz nah überschlug sich Reinhold Petschs Stimme: „Aah. Der Thielmann beißt, die Sau.“ Ein Schlag traf Max am Hinterkopf. Er spürte, wie sich jemand an seinem Bändchen zu schaffen machte, der aber eine Sekunde später weggerissen wurde.

Dann hatten sie es geschafft. Hans richtete sich auf und hielt mit beiden Armen Klaus' Bändchen in die Höhe und Max' Jungs brachen in Jubel aus. Gleichzeitig hörten die Kämpfe auf.

„Ihr Arschlöcher. Das war unfair“, schimpfte Gerd und Hubert antwortete: „Klappe. Ihr wart nur zu blöde. Dilettanten.“

„Halt die Fresse, du Bauerntrampel.“

Der Streit, der eben noch ausgekämpft worden war, wurde nun verbal. Fast 20 Jungen schrien aufeinander ein. Aber zwischen die meckernden Jungs mischte sich nun auch von Weitem ein anderes, rumpelndes Geräusch. Das Geräusch eines Automobils, das anscheinend hier rauf, auf den Hummelberg fuhr. Sofort vergaß Max alles um sich herum. Da war sie wieder, die Angst. Es gab hier nicht viele Automobile. Schon gar nicht in privater Hand. Hatte Herr Göbel vielleicht den alten Wüstrach gerufen, damit er Max – den Verräter – in die Mangel nehmen konnte? Oder gleich die Folterknechte der Gestapo, die damals seine Vater im Verhör beinahe umgebracht hätten? Während immer noch wütend diskutiert und lamentiert wurde, schlich Max sich davon. Er kannte das Gelände gut und wusste, dass er, wenn er ein Stückchen bergauf ging, zwischen den Bäumen hindurch auf den Weg bis zum Wengerthäusle schauen konnte. Oben kniff er die Augenlider zusammen und glaubte in dem Auto, das auf seinem Weg eine Staubwolke wie einen Schweif hinterher zog, vielleicht einen W24 der Auto Union zu erkennen. Sicher war er sich nicht. Er kannte sich bei motorisierten Fahrzeugen nicht so gut aus wie Hubert. Aber zumindest war es nicht der rostrote KdF-Wagen vom Ortspolizisten Wüstrach, was Max zumindest ein bisschen beruhigte.

Er schickte sich an, zurückzukommen. Die Streitereien seiner Kameraden hatten sich nämlich auch schon gelegt und es würde wohl nicht lange dauern, bis die nächste Gruppe, angelockt von der Lautstärke, den Kampf aufnehmen würde. Max wandte sich um. Doch dann waren auf einmal trampelnde Schritte zu hören. Und im nächsten Moment lag Max auf dem Bauch und konnte sich nicht mehr regen.

„Scheiße“, fluchte er. Es war zwar alles so schnell gegangen, dass er noch nicht richtig wusste, was los war, aber die starken Arme, die seinen Körper umschlangen, konnten nur Franz Hemberger gehören. Andere, schadenfrohe Gesichter tauchten um ihn herum auf. Franz' Stimme knurrte direkt an seiner Ohrmuschel: „Mann. Du machst es einem aber leicht, Haim.“ Ohne eine Chance zu haben, sich unter dem Gewichte des massigen Kerls zu wehren, kam nun das zarte, sommersprossige Gesicht von Konstantin Wüstrach in sein Blickfeld. Konstantin grinste fast schon entschuldigend, als er Max sein Bändchen abnahm. Max' letzte verzweifelte Versuche, sich hin- und herzuwälzen, scheiterten kläglich. Am Ende drückte er Konstantin lediglich eine Schnute, um zumindest auf diese Weise sein Missfallen zu äußern.

Während Max' Gruppe laut schreiend wie eine Horde Wilder den Hang hochgestürmt kam, um ihrem Gruppenführer zu helfen, und trotzdem schon alles verloren hatte, ließ Franz Max los und klopfte ihm mit seiner Pranke auf die Schulter: „Mensch, Haim. So wirst du nie einen Krieg gewinnen.“

„Schwätzer“, murrte Max und überlegte schon, wie er seine Dummheit der Gruppe jetzt erklären sollte. Es half alles nichts. Kurze Zeit später waren Max' Jungs gemeinsam mit den geschlagenen Eiferern um Klaus Schneider im ‚Gefangenenlager‘ am südlichen Waldrand, schimpften aufeinander ein und warteten darauf, bis die Gruppen um Franz und Albrecht ihren Kampf ausgetragen hatten. Allzu lange dauerte es auch nicht mehr, bis Franz Hemberger seine kleine Kampfeinheit zum glorreichen Sieg geführt hatte. Seine Trophäen in Form von drei Gürteln trug er über der Schulter. So gut wie alle hatten nun Schmutz an ihren Uniformen und frische Schrammen an Ellbogen, Knien und anderen Stellen. So führte Franz als Gewinner die vier Gruppen wieder zurück zum Wengerthäusle, um neue Aufträge entgegenzunehmen.

Schon aus der Ferne sah Max, dass das Automobil, das er vorhin gesehen hatte, neben der Hütte abgestellt war und ein zweiter Mann bei Herrn Göbel stand. Einerseits beruhigte ihn das, denn falls er tatsächlich zum Verhör abgeführt werden sollte, wären die Häscher mindestens zu zweit gekommen. Doch andererseits erfüllte ihn die schwarz uniformierte Gestalt mit einem neuen Unbehagen, das sich mit jedem Schritt, den sie näher kamen, steigerte, obwohl das Gemurmel im ihn herum immer begeisterter wurde.

Hubert rempelte Max an und fragte: „Weißt du, was das soll?“, als sie nah genug waren, dass sie sowohl die SS-Runen als auch die drei Rauten und zwei Streifen auf den Kragenspiegeln des Soldaten erkennen konnten.

„Nein“, zischte Max. Klaus Schneider war nun in eine Hektik verfallen, die nah an einer Panik war, um Ordnung in seinen wilden Haufen zu bekommen. Denn auch er hatte die Symbole an der Uniform des Neuankömmlings gesehen. Schnell hatten sie es geschafft, in Formation zu kommen, und nachdem die Jungen angetreten waren, sah Max, wie Klaus' Fingerspitzen zitterten, als er dem SS-Offizier mit seiner pubertär-krächzenden Stimme die Meldung ins Gesicht schrie: „Herr Hauptsturmführer. Scharführer Schneider meldet, HJ-Division Herdelsheim mit 43 Mann von der Gelände-Übung zurück!“

Der Hauptsturmführer hatte ein Grinsen im Gesicht, in dem wenig Menschliches steckte, als er Klaus ins Glied einreihen ließ und dann mit befehlsgewohnter Stimme sagte: „HJ-Division Herdelsheim – rührt euch.“

Ein gleichzeitiger Schlag von auf den Boden trampelnder Stiefel erklang, gefolgt von gespannter Stille. Während der Offizier einen Jungen nach dem anderen musterte, übernahm Herr Göbel das Wort. „Meine Herren, wir haben heute die ganz besondere Ehre, den Herrn Hauptsturmführer Borchert unter uns begrüßen zu dürfen. Der Herr Hauptsturmführer will es sich nicht nehmen lassen, euch angehenden Kriegshelden seine eigenen Erlebnisse vom Krieg zu erzählen, um euch einen Vorgeschmack zu geben. Wollt ihr sie hören?“

„Jawoll“, brüllten die Jungen wie aus einer Kehle.

„Herr Hauptsturmführer“, sagte Herr Göbel, um dem SS-Mann das Wort zu erteilen.

„Weggetreten.“

Eine Minute später saßen die Jungen in lockerer Haltung um den Hauptsturmführer herum auf dem Boden und lauschten gespannt seinen Worte über Heldentum an der Front, der Gnadenlosigkeit gegenüber dem Feind und der Ehre des Sterbens für den Führer. Nicht nur die Augen der Kleinsten leuchteten bei jedem Wort heller. Selbst die Älteren hatten etwas von kleinen Kindern, die an den Lippen eines Märchenerzählers hingen. Nur Max sträubten sich die Nackenhaare. „Die SSler sind die schlimmsten Verbrecher von allen“, hatte seinen Vater einmal gesagt. Vieles, was der alte Ferdinand so laberte, hielt Max zwar für dummes Geschwätz, aber nicht das. Im Schulunterricht und in der Propaganda wurde die SS als hart und gnadenlos gegenüber dem Feind und dem Weltjudentum gepriesen. Wenn Max an diese Worte dachte, hatte er immer nur ein einziges Bild im Kopf. Ein kleiner Junge, der zu Boden stürzt, als ihm ein SS-Soldat seinen Pistolengriff auf den Rücken schlägt. Hart und gnadenlos.

Und der Verbrecher hörte einfach nicht auf zu grinsen. Die Verehrung, die ihm die Jungen entgegenbrachten, ging beim Hauptsturmführer Borchert runter wie Öl. Das war nicht zu übersehen und zu überhören, als seine schnarrende Stimme immer selbstgefälliger wurde. Nach seinen Ausführungen über Heldentaten in der Ostfront und in der Westfront kam er nun zu etwas, wovon sie natürlich alle schon gehört hatten. Zur 12. SS-Panzerdivision Hitlerjugend, die im Jahr zuvor aufgebaut worden war. Damals wurden 16- und 17-jährige Jungen des 1926er Jahrganges rekrutiert, die nun in ‚edelstem Fanatismus', wie es der Hauptsturmführer ausdrückte, an der Westfront ihren Mann standen und dem Feind das Fürchten lehrten. „Und weil sich eure jungen Kameraden im Kampf auch gegen die blutrünstigen Feinde so tapfer bewährt haben, wird nun neuer Nachwuchs rekrutiert. Für ein neues Bataillon. Euch ...“, seine Augen gingen die Ältesten der Hitlerjungen ab, zu denen auch Max und Hubert gehörten. „Euch gelobt die Ehre, für euer Land, euren Führer und eure Familien in den Kampf zu ziehen. Das Wohl und das Leben eurer Liebsten zu verteidigen vor der Mordlust des Feindes.“ In den Augen der Jungen, die alle ein Leben lang darauf getrimmt worden waren, als junge Männer in den Krieg zu ziehen, um zu Helden zu werden, leuchtete purer Eifer. Eine spannungsgeladene Stille trat ein, als der Hauptsturmführer seine Worte wirken ließ.

Dann rief er: „Freiwillige vor!“, und die Jungen schrien wie aus einem Mund: „Dabei!“

Herr Göbel übernahm nun wieder das Wort und klang nach der flammenden Rede des SS-Offiziers recht bieder. „Am Mittwoch findet in Bruchsal in der Volksschule eine Musterung für die Waffen-SS statt. Unser verehrter Bürgermeister, der Herr Roth, hat angeordnet, dass unser 1928er Jahrgang geschlossen dort antritt, um Führer, Volk und Vaterland zu dienen. Um Punkt 9 Uhr erwarte ich alle von diesem Jahrgang vor dem Siegfriedsheim, damit wir zusammen dorthin fahren können.“ Er schaute nun Max direkt in die Augen. „Und lasst euch eines sagen. Jeder, der unseren Bürgermeister und die Ehre unserer Gemeinde verrät, wird Konsequenzen zu spüren bekommen, dass er seines Lebens nicht mehr glücklich wird. Verstanden?“

„Jawoll“, brüllten alle. Es waren zwar nur die 1928er aufgefordert, aber Max konnte sich gut vorstellen, dass am Mittwoch Morgen selbst die Kleinsten dastehen würden, um ihr Glück zu probieren.

Und dann war es vorbei. Der Hauptsturmführer Borchert setzte sich in seinen W24 und brauste davon, und auch Herr Göbel entließ die Jungen in die Freizeit. „Genießt die nächsten Tage. Ab Mittwoch wird es ernst. Da werdet ihr zu Helden“, hatte er ihnen mit auf den Weg gegeben. Kurze Zeit später gingen die Jungen wieder auf dem Heiliggeist-Weg hinunter in den Ort, denn die Badeanstalt des Mohnsees lockte. Während die meisten aus ihrer Begeisterung keinen Hehl machten, hatten sich Hubert und Max abgesetzt und trotteten den anderen hinterher mit Gesichtern, als hätten sie Lebertran geschluckt.

„Mein Alter schlägt mich tot, wenn ich zur SS gehe“, brummte Hubert.

„Meiner auch“, sagte Max. Es wussten zwar beide, dass Ferdinand im Gegensatz zu Huberts Vater niemals die Hand gegen Max erheben würde, aber das war auch egal. Er wollte da einfach nicht hin. Er wollte nicht zum harten und gnadenlosen Verbrecher werden.

Lange schwiegen die zwei und schauten beim Gehen auf den Boden vor sich, dann murmelte Hubert: „Wie wär's wenn ...“ Er stoppte Max, indem er seinen Arm wie eine Schranke ausstreckte, und Max hielt auch tatsächlich an.

„Was?“

Hubert wartete, bis die anderen außer Sicht waren. Dann zischte er: „Wir setzen uns vorher ab.“

„Du hast doch den Göbel gehört. Der lässt uns suchen und macht uns fertig. Das überleben wir vielleicht nicht. Und wenn er sagt, er macht uns fertig, dann macht er auch unsere Familien fertig.“

„Ich will mich ja auch nicht drücken. Wir fahren morgen nach Pforzheim und melden und bei der Wehrmacht.“ Seine Augen blitzten auf. „Bei den 111ern.“

„Spinner“, lachte Max.

„Wieso?“

„Als wenn die uns nehmen würden. Ich bin ja noch nicht mal sechzehn.“

„Der ... der Hennig-Werner war auch erst sechzehn, als er sich im Frühjahr als Freiwilliger bei der Wehrmacht gemeldet hat, und ist genommen worden. Die können es sich gar nicht leisten, uns abzulehnen. So, wie die Landser an der Front im Moment wegsterben. Für die SS sind wir schließlich auch alt genug, warum dann nicht für die Wehrmacht?“

Max presste die Zähne aufeinander und Hubert nickte ihm herausfordernd zu. Darüber, dass der Hennig-Werner keinen Monat an der Front überlebt hatte, redeten sie lieber nicht.

„Mein Vater ...“, wollte Max sinnieren, aber Hubert fiel ihm ins Wort.

„Unsere Alten kapieren doch gar nichts.“ Er zwinkerte Max zu. „Du hast die Wahl. SS-Heini oder ein ehrvoller 111er?“

Schließlich nickte Max langsam. „Einen Versuch ist es wert.“

Hubert hielt ihm die Hand hin: „Nur wir zwei, Max. Kameraden im Frieden wie im Kriege. Zusammen bis in den Tod.“

Max schlug ein: „Nur wir zwei. Kameraden bis in den Tod.“

5

Als Max und Hubert wenig später Herdelsheim durchquert hatten und sich der Badeanstalt am Mohnsee näherten, waren sie von einem erhabenen Gefühl erfüllt. In ihrem Selbstverständnis war es das Höchste im Leben eines jungen Mannes, für sein Land im Krieg kämpfen zu dürfen. Und für seine Familie. Was mit seiner kleinen Traudel geschehen würde, wenn Herdelsheim einmal dem Feind in die Hände fiele, wagte er sich gar nicht auszumalen. Und nun sollte das schon morgen losgehen. Natürlich hatte Max Angst. Aber vielleicht konnten sie ja wirklich etwas am Kriegsverlauf ändern. Wer wusste das schon? Schon von außen war am Reden von Erwachsenen, dem Lachen von Kindern und dem unregelmäßigen Titschen eines Balles zu erahnen, dass die Anstalt heute gut besucht war. Kein Wunder, an so einem wundervollen Sommer-Sonntag. Die beiden passierten das mit überdimensionierter Schrift beschriebene Schild mit der Aufschrift „JUDEN HABEN KEINEN ZUTRITT“ am Eingang, das im Jahre 1944 aber nur noch Dekorationszwecke hatte. Denn in Herdelsheim gab es schon lange keine Juden mehr.

Auch hier gesellten sich Hubert und Max wieder zu ihren Kameraden der Hitler-Jugend. Auch wenn sie nicht jeden von ihnen mochten, war das ihre Familie. Vielleicht mehr noch, als die Eltern und Geschwister, die sie zuhause hatten. Selbstverständlich bestimmten die neuen Aussichten, bald selbst am Kampf teilnehmen zu können, das Geschehen. Während Hubert und Max sich mit ihrem Geheimplan verschwiegen hielten, gaben Klaus und Gerd an, als hätten sie den großen Plan für den Endsieg in der Tasche. Der starke Franz Hemberger hatte sich ins Gras gelegt, und so, wie er in sich selbst ruhte, war unmöglich zu erkennen, was die neue Perspektive mit ihm machte. Man hätte meinen können, es ginge komplett an ihm vorbei. Albrecht und Günther Lang spielten mit den Jüngeren Abwerf-Ball, als ob alles beim Alten wären. Nur Konstantin Wüstrach, der als Außenseiter etwas abseits dasaß, wirkte schwermütig. Max beobachtete ihn im Profil, wie er, tief in Gedanken versunken, über den See hinwegschaute. Seine zarte Gestalt und die helle, mit Sommersprossen gesprenkelte Haut hatten gemeinsam mit seinen weichen Gesichtszügen für Max eine Ästhetik, von der er sich bewusst war, dass sie außer ihm niemand erkannte. Als Konstantin bemerkte, dass Max ihn beobachtete, schenkte er ihm ein melancholisches Lächeln. Eines, das all diese Eindrücke noch verstärkte. Einen kurzen Moment spielte Max mit dem Gedanken, zu ihm hinzugehen, doch bevor es dazu kommen konnte, hatte Hubert seine Aufmerksamkeit schon wieder in Beschlag genommen.

„Du, Max. Hast du gesehen?“

„Was?“

„Na, die Herwig-Schwestern. Da vorne.“

„Und?“

Hubert schaute Max beschwörend an. „Wollen wir nicht hingehen?“

„Geh doch. Wenn du dich unbedingt blamieren willst“, seufzte Max und drehte sich demonstrativ vom Rücken auf den Bauch.

„Merk dir meine Worte, Max. Wenn du so weitermachst, endest du noch als alte Jungfer.“ Hubert stand auf und tippte Max mit den Zehenspitzen in die Seite. „Jetzt komm.“

„Lass mich in Ruhe, Fettsack.“

„Ääääh“, stöhnte Hubert. Er gab Max noch einen spaßhaften Tritt auf die Pobacke und machte sich alleine auf den Weg. Max legte seine Wange auf den verschränkten Unterarmen ab und beobachtete Huberts Anbändelungsversuch mit einer Mischung aus Neugierde und Belustigung, als er zu den Herwig-Schwestern ging, die gemeinsam mit ihrem Bund-Deutscher-Mädchen-Kreis hier waren. Aus den Augenwinkeln hatte Max bereits gesehen, dass die Mädchen schon die ganze Zeit die Hitlerjungen im Auge hatten. Sie wirkten sogar genervt, weil die Jungs sie bis dahin links liegen gelassen hatten.

Er hörte zwar nicht, was geredet wurde, aber als Hubert die ersten Worte gesagt hatte, begannen die Mädchen zu kichern. Hubert schien dieser Erfolg anzustacheln, denn Max konnte erkennen, wie er angeberisch die Augenbrauen hochzog, als er weiterredete. Die Mädchen schienen sich zwar ein bisschen über ihn lustig zu machen, doch obwohl Hubert nicht der Schönste war, kam er allem Anschein nach gut an. Nur Rita, seine heimliche Flamme, nahm unauffällig Reißaus. Hubert bemerkte das jedoch gar nicht oder es störte ihn nicht. Er schien sich pudelwohl zu fühlen. Max gönnte es ihm. Doch seine Stimmung änderte sich, als Hubert die Mädchen auf Max aufmerksam machte und auf einmal alle zu ihm schauten und tuschelten. Unter anderem auch Käthe Herwig, die scheinbar unbewusst ihre Unterlippe zwischen die Zähne nahm, während sie versuchte, seinen Blick einzufangen.

„Mistkerl“, murmelte Max vor sich hin, dann lächelte er pflichtbewusst zurück. Er wollte doch einfach seine Ruhe haben und nicht mit diesen blöden Mädchen ...

Sein Blick ging zur anderen Seite. Zu Konstantin Wüstrach, der dieselbe Szene und Max' unbeholfene Reaktion amüsiert betrachtete. Max schaute ihn fragend an, Konstantin zog die Augenbrauen hoch, dann raffte Max sich auf und ging zu dem rothaarigen Jungen, der zwar ein gottverdammter Wüstrach war, aber immerhin auch eine Möglichkeit, um sich aus der Schusslinie zu bringen.

„Da hast du ja einen Haufen Verehrerinnen“, scherzte Konstantin mit seiner bedachten Stimme, als sich Max neben ihn setzte und die Arme um die Knie schlang.

„Sind doch blöde Hühner.“

Konstantin lächelte wieder, und Max konnte nicht anders, als ebenfalls zu schmunzeln - dem Kichern der Mädchen, das wohl ihm und seiner Verklemmtheit galt, zum Trotze. „Blöde Hühner mit einem Hahn im Korb“, sagte Konstantin und Max' Grinsen wurde breiter. Hubert erinnerte nun wirklich an einen Gockel, wie er sich aufplusterte, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken.

„Ja“, lachte Max. Schweigend betrachteten sie das Geschehen, wie sich nun auch langsam andere der Jungen trauten, zu den Mädchen zu gehen. Jetzt, wo Hubert einen Anfang gemacht hatte. Max verstand die ganze Aufregung nicht, die immer um Mädchen gemacht wurde. Für den Moment fühlte er sich hier bei Konstantin wohler.

„Und du willst auch nicht zu den Mädchen?“, fragte Max.

Konstantin verzog spaßhaft das Gesicht: „Wie hast du gesagt? Blöde Hühner?“

Beide lachten zusammen, dann hängte Konstantin an: „Ich will jetzt sowieso bald nach Hause gehen. Noch ein bisschen auf der Violine üben.“

„Ach so“, sagte Max. Er glaubte zu wissen, dass es eher daran lag, dass sich Konstantin in der Nähe der anderen Jungen, die ihn immer fertig machten, unwohl fühlte.

Ein Schweigen, bei dem Max sich nicht ganz sicher war, ob es angenehm oder unangenehm war, folgte. Dann fragte er, hauptsächlich um dieses Schweigen zu beenden: „Und ... was übst du da?“

„Verschiedenes. Brahms, Bach ... und zur Zeit versuche ich auch Paganini.“

„Pa-ga-ni-no?“ Max schaute Konstantin fragend an.

„Pagani-ni. Das war ein Italiener. Ein richtiges Wunderkind. Das zu spielen ist ziemlich schwierig.“

„Oh.“

Sie schauten sich in die Augen, und aus irgendeinem Grund, den Max nicht verstand, mussten sie beide lachen. Dann gingen ihre Blicke wieder nach links zu den Mädchen. Und was sie da sahen, war nicht ohne.

„Pfui“, rief Max übertrieben entsetzt. Und Konstantin fügte in ähnlichem Ton an: „Wie erbärmlich.“

Denn Hubert war gerade dabei, mit der Lietz-Magda anzubändeln, der Tochter des Metzgers. Ihr Problem war, dass sie auch so aussah, wie man sich die Tochter eines Metzgers vorstellte. Ein breiteres Kreuz als Hubert, grobporige Haut und ein Gesicht, das ... na ja. Sie war zumindest oft das Gespött der Jungen. Aber Hubert schien in dieser Hinsicht schmerzfrei zu sein. Er hatte nämlich einen Arm um ihre Schulter gelegt, während er mit schmeichelnder Mimik auf sie einredete.

„Und ... ähm ... Max?“

„Ja?“

„Danke, dass du mir vorhin gegen den Apel geholfen hast“, sagte Konstantin, nachdem sie sich vom Lachen etwas beruhigt hatten.

„Schon gut“, antwortete Max. Wenngleich beide wussten, dass das alles andere als eine Selbstverständlichkeit war. Wieder ein Schweigen. Obwohl sie sich so lange kannten, wusste Max nicht so recht, worüber er mit Konstantin reden sollte. Das Naheliegendste vielleicht? Die SS? Bestimmt nicht.

Konstantin bemerkte wohl Max' Unsicherheit. „Gut. Ich muss dann auch los.“

„Na gut“, sagte Max und kniff die Lippen zusammen.

Konstantin versuchte Max in die Augen zu sehen, und Max wich dem Blick verlegen aus.

„Willst ... willst du vielleicht mitkommen? Dann spiele ich dir Paganini vor.“

Max stockte. ‚Nein!‘, schrien all seine Sinne. Aber auf eine unerklärliche Weise war Konstantin an diesem Nachmittag auch schwer zu widerstehen. Konstantin grinste, als hätte er Max durchschaut. „Du musst dir keine Sorgen machen. Sonntag mittags ist mein Vater normalerweise nicht zuhause. Da ist er in Egstingen bei meiner Oma zum Kaffee trinken.“

„Ah ja.“ Max hatte Mühe, nicht aufzulachen. Der Tyrann beim fröhlichen Kaffeeklatsch? Die Vorstellung war so absurd.

„Also?“

Max hatte immer noch seine Zweifel. Doch gegen Konstantins bittendes Lächeln kam er einfach nicht an.

„Na gut.“

„Schön.“

Während nun alle anderen Jungs mit den Mädchen beschäftigt waren, schlüpften Max und Konstantin in ihre Uniformen und verließen die Badeanstalt.

6

Für Max war es ein furchtbar belastender Weg, der ihn nun durch Herdelsheim führte. Und das alles nur, um diesen Konstantin – diesen Wüstrach - fiedeln zu hören? Durch die schnurgerade Hauptstraße, am Kirchberg vorbei und dann in die Marschacker-Straße. Als er an der Seite von Konstantin in die Holunderstraße einbog, die er zuletzt gemieden hatte wie der Teufel das Weihwasser, und das gipsweiße Haus in sein Blickfeld geriet, fühlte er sich in der Zeit zurückversetzt. Er erwartete fast schon, einen murmelspielenden Jungen davor zu erblicken. Nur, dass es diesen Jungen nicht mehr gab. Konstantin erzählte etwas von con sentimento und nannte es mit Gefühl – etwas, das es bei den deutschen Komponisten nicht gäbe - als sie diesem Haus immer näher kamen. Max kapierte nicht, was Konstantin ihm damit sagen wollte, und es interessierte ihn auch nicht. Sein Zwerchfell verkrampfte sich, als ihn die Fenster dieses Geisterhauses wie tote Augen anstarrten. Die Fenster, die früher mit Holz verbarrikadiert waren. Seine Hoden zogen sich an seinen Körper, als sie den Vorgarten betraten. Max konnte es nicht. Er konnte da nicht reingehen. Und doch folgte er Konstantin auf den Schritt. Konstantin drehte den Schlüssel im Schloss, die Tür ging auf und im nächsten Moment hätte Max beinahe laut aufgeschrien. Auge in Auge sah er sich Karl Wüstrach gegenüber. Dem Ortspolizisten, der angeblich bei der Oma war.

Der Mann, der gerade im Begriff gewesen war, das Haus zu verlassen, hatte dieselben roten Haare wie sein Sohn, aber das war auch die einzigen Gemeinsamkeit. Karl Wüstrach, der heute einen Sommeranzug trug statt der Uniform, in der man ihn normalerweise kannte, war nicht zierlich, sondern bullig. Er hatte trotz der allgemeinen Nahrungsknappheit volle Wangen, die mit einem dichten Bart bedeckt waren, und einen feurigen Blick. Seine Haare waren zumindest der Versuch eines Scheitels, aber dessen Versagen gab ihm eine löwenhafte Wildheit. Bei ihm stand seine Frau, die jedoch neben der Überpräsenz des Ortspolizisten kaum zur Geltung kam.

„Du hast Besuch?“, fragte der Polizist seinen Sohn mit leiser, aber gebieterischen Stimme und Konstantin antwortete verzagt: „Ja, Vater. Das ist Max. Aus der Hitler-Jugend.“

„Ich weiß, wer das ist. Maximilian Haim“, grollte Herr Wüstrach und wandte sich Max zu. „Wie geht es deinem Vater?“

„Gut“, nuschelte Max. Obwohl das bierernst geklungen hatte, war sich Max des Spottes, der in der Frage steckte, bewusst.

„Dachte ich's mir.“

Max nickte, und Konstantin nuschelte: „Ich habe Max versprochen, ihm etwas auf der Geige vorspielen, Vater. Ist es erlaubt, dass ich das tue?“

In jeder anderen Situation hätte Max wohl laut aufgelacht, über den geschwollenen Ton, den Konstantin in Gegenwart seines Vaters anschlug. Aber nicht hier. Und nicht jetzt. Es wird alles gut, hatte Helene Mendel drei Jahre zuvor ihrem Sohn Leo versprochen. Genau hier. An jener Stelle, wo sich Max nun Karl Wüstrach gegenüber sah. Wie fatal sie sich doch geirrt hatte.

Herr Wüstrach brummte: „Der Feind greift uns an allen Fronten an, und ihr Jungen habt nichts Besseres im Sinn als diese dreckige Fiedelei? Schämt ihr euch nicht?“

„Wir gehen aber am Mittwoch zur Musterung für die Waffen-SS“, sagte Max und schämte sich gleichzeitig für seine Unterwürfigkeit in Grund und Boden.

Der Ortspolizist lachte humorlos. „Ha. Die nehmen jetzt wohl auch jede Flachzange.“ Dabei schaute er abfällig seinen Sohn an. Nach einem der größten römischen Kaiser hatte er ihn benannt. Und dann war so ein Rohrkrepierer aus ihm geworden. „Aber gut. Die werden euch eure Köpfe schon gerade drehen.“

„Ja, Herr Wüstrach“, sagte Max.

„Nun ja. Einen kleinen Rest an Anstand scheint ihr ja doch noch zu haben. Gerade du, Maximilian. Du hast eine besondere Erbschuld zu begleichen. Mit deinem quertreibenden Schweinevater.“

Max nickte artig und dachte: ‚Zumindest ist mein Vater kein Mörder'. Es schien, als ob Karl Wüstrach seine Gedanken gelesen hätte. Denn für einen Moment verdüsterte sich sein Blick, mit dem er Max anschaute, zu einem Höllenschlund. Dann brummte er: „Macht mir keine Schande“, und wandte sich zur Haustür.

Es war eine Erleichterung für Max, als Herr Wüstrach und seine Frau das Haus verließen. Frau Wüstrach gab ihrem Sohn zum Abschied einen Kuss auf die Wange, was ihr Mann mit einem bitterbösen Blick quittierte. Konstantin führte Max die Treppen hoch. So, wie Leo ihn früher, als er noch ein kleines Kind und Geschäfte machen mit Juden noch nicht verboten war, nach oben geführt hatte. Oftmals, wenn sein Vater bei der Schneiderin Frau Mendel einen Termin gehabt hatte (und anschließend mit Leos Vater und seinem Großvater Obstler trank), hatte er Max mitgenommen in diesen vitalen Haushalt, in dem die Familie in drei Generationen gelebt hatte. Und Max waren das immer schöne Tage gewesen.

Konstantin schien nichts von Max' Gefühlschaos zu bemerken, als er ihn in sein Zimmer führte. Mit einer einladenden Geste bat er Max herein, in einen hellen Raum mit einem schönen Blick auf die Holunderstraße und darüber hinaus. Es war eine große Stube für ihn alleine, um die ihn wohl die meisten Herdelsheimer Jugendlichen beneiden konnten – eingerichtet mit einem eigenen Schreibtisch, einem Eichenschrank mit Spiegel, sogar mit einem modischen Sekretär-Schränkchen. Und das als Sohn des Ortspolizisten, der nicht gerade zum Wohlstand gehörte. Aber so waren die Zeiten eben. Max hielt es für gesünder, sich nicht zu sehr den Kopf darüber zu zerbrechen.

„Setz dich einfach da hin“, sagte Konstantin.

Max setzte sich auf die Bettkante und betrachtete seinen Kameraden, wie er geduldig seinen Notenständer aufbaute, die Blätter darauf sortierte und dann die Violine ansetzte. Er begann einzelne, langgezogene Töne zu spielen und Max scherzte: „Ist das jetzt schon dieser Perganino?“

„Pa-ga-ni-ni. Und nein. Selbst ein Kulturbanause wie du sollte wissen, dass man sein Instrument zuerst stimmen muss, bevor man darauf spielt. Und das tue ich gerade.“

„Ich glaubte, du überschätzt mich“, sagte Max und Konstantin grinste, während er an den Mechaniken drehte.

„Das befürchte ich auch. So. Jetzt kann es losgehen. Wie wäre es mit einem Schubert für den Anfang?“

„Wie du willst.“

„Na gut. Eine Violinsonate in G-Moll für den Herrn“, sagte Konstantin und begann zu spielen. Ein getragenes Stück mit bewegender Melancholie, das Max sogar berührte, obwohl diese Art von Musik eigentlich nicht seine Welt war. Doch es war mehr. Während die Minuten vergingen und Konstantin von Schubert zu Brahms wechselte und über einen schwungvollen Telemann zum besinnlichen Reger kam, schloss Max manchmal die Augen, wenn ihm etwas besonders gut gefiel. Aber oft genoss er es auch, Konstantin zu betrachten. Seine Lippen, die zur Musik tanzten und die Augen, die manchmal konzentriert auf das Notenblatt schauten und sich dann wieder, wenn Konstantin eine Stelle auswendig konnte, hinter geschlossenen Lidern verbargen und ihm etwas Träumerisches verliehen. Seine Finger. Zartgliedrig, wie sie waren, schienen sie für das Griffbrett in ihrer Filigranität wie gemacht.

„Hat dir das gefallen?“, fragte Konstantin, nachdem er Max einen Großteil seines Repertoires vorgetragen hatte.

„Ja. Es war sehr schön.“

Konstantin strahlte über das Kompliment, was Max selbst zum Lächeln brachte.

„Aber nun kommen wir zum Höhepunkt des Abends. Ähäm. Des Nachmittags.“

„Paganini“, rief Max und Konstantin bestätigte: „Paganini. Il Carneval di Venezia.“

Schon alleine der Titel weckte in Max exotische Erwartungen. Und er wurde nicht enttäuscht, als Konstantin zu spielen begann. Es klang so anders als alles, was er bisher dargeboten hatte. Nach einer braven Einleitung wurde das Stück so verspielt, fröhlich und unkonventionell, dass man einfach lächeln musste. Es war ein Stück wie auf Konstantin geschneidert. In diesem Moment verstand Max, was Konstantin so anders machte als die anderen Jungen. Und was ihn so sehr an ihm faszinierte. Es war die Leichtigkeit. Die Anmut.

Max klatschte Applaus, als Konstantin mit seinem Vortrag fertig war, und Konstantin verneigte sich gestelzt.

„Da hast du mir nicht zu viel versprochen“, sagte Max. Konstantin hielt ihm den Bogen hin.

„Willst du es auch mal probieren?“

„Nein. Ich kann das nicht.“

„Nun los. Vielleicht bist du ein Virtuose und weißt es nicht einmal.“

Max bezweifelte das. Doch er wollte kein Spielverderber sein und drückte sich das Instrument an den Hals. „Siehst du? Das passt doch wie angegossen“, lobte ihn Konstantin, wobei sich Max alles andere als sicher war, ob das ernst gemeint war.

„Danke.“

„Und jetzt die Finger so.“ Konstantin rutschte auf Knien auf die Matratze, positionierte sich schräg hinter Max und griff sich dessen Finger, um sie auf dem Griffbrett zu platzieren. Als er dann noch mit der anderen Hand Max' Hand umgriff, die den Bogen hielt und ihn führte, begann Max' Herz zu rasen. In einem Gefühl, wie er es noch nie erlebt hatte. Die Töne, die das Instrument nun hervorbrachte, waren erbärmlich und klangen eher nach einem jammernden Marder als einer Violine. Doch die Art, wie Konstantin Max berührte, und seine Nähe raubte ihm den Atem.

„Falls dich einmal jemand fragen sollte: Du bist kein Virtuose“, bescheinigte Konstantin Max. Seine Fingerkuppen streichelten über Max' Handrücken, bevor er ihm den Bogen abnahm. Und Max bekam einen Eindruck, wie sich wohl ein Herzinfarkt anfühlen musste.

„Was du nicht sagst“, murmelte Max. Nur, um überhaupt etwas zu sagen.

Konstantin setzte sich neben Max auf die Bettkante und betrachtete ihn von der Seite mit seinem zauberhaften Lächeln. Max tat so, als geschähe das unbewusst, als er sein Bein etwas zur Seite nahm, so dass sich ihre Knie berührten. Es folgte eines dieser Schweigen, die sich in Konstantins Gesellschaft so ausdrucksstark anfühlten.

„Und am Mittwoch ist es für uns also soweit“, sagte Konstantin nach einer Zeit nachdenklich und reizte das Thema an, das über allem schwebte. „Es war ja auch zu erwarten.“

„Dein Vater kann stolz auf dich sein“, antwortete Max aufmunternd und Konstantin lachte.

„Ja. Mein Vater.“ Drei Worte. Und so viel Verachtung, dass es Max am Hinterkopf kribbelte.

„Du hast es schwer mit ihm. Oder?“

„Was soll ich sagen?“ Konstantin biss sich von innen auf die Lippen.

Max tat das, was in diesen Zeiten oftmals das Beste war. Den Mund halten. Wie gegensätzlich sich Vater und Sohn doch waren. Hier der Violine spielende Feingeist, der am Vormittag anscheinend kurz davor gestanden hatte, sich bei Max zu entschuldigen, als er ihn im Kampfspiel besiegt hatte; und dort der Grobian, der wegen seiner Grausamkeit selbst bei den parteitreuesten Nazis des Dorfes umstritten war. Der Mann, der im Jahre 1936 den Volkszorn-Trupp angeführt hatte, der den sozialdemokratischen Bürgermeister Klemm totgeschlagen hatte und nach der Übernahme des neuen NSDAP-Bürgermeisters Roth statt ins Gefängnis sogar ins Ordnungshüter-Amt gehoben worden war. Die eiserne Hand und auch die Willkür, mit der Karl Wüstrach die öffentliche Ordnung in Herdelsheim sicherstellte, war nicht nur berüchtigt, sondern auch gefürchtet. Auch noch weitere Todesfälle, wie der des Ochsenwirtes und seiner Frau, die beim mysteriösen Brand des Wirtshauses im Januar 1943 elendig ums Leben gekommen waren, ließen seine Handschrift erkennen. Eine Warnung an alle Herdelsheimer, die besagte: Fügt euch, oder euch wird es genauso ergehen.

Von einem Moment auf den anderen fasste Max einen Beschluss. „Hubert und ich werden nicht zur SS gehen.“ Konstantin zog eine Augenbraue hoch und Max erklärte: „Wir türmen morgen in aller Frühe und melden uns bei der Wehrmacht in Pforzheim als Kriegsfreiwillige.“ Seine Augen glänzten. „Bei den 111ern.“

„Aha?“

„Komm doch einfach mit.“

Konstantin schluckte überrumpelt. „Das ist keine gute Idee.“

„Wieso nicht?“

Mit schrägem Grinsen wies Konstantin auf seine schmale Brust. „Sieh mich doch an. Die Waffen-SS ist die Elite. Glaubst du, die nehmen einen wie mich? Die schicken mich wieder nach Hause, und ich kann sagen, ich habe es zumindest versucht.“

Max schaute Konstantin mit großen Augen an. „Du willst gar nicht in den Krieg?“, fragte er entsetzt. Die Vorstellung, dass ein Hitlerjunge nicht dafür brannte, für Führer, Volk und Vaterland zu kämpfen und in letzter Konsequenz auch zu sterben, war jenseits seiner Vorstellungskraft.

Konstantin lächelte.

„Du ... äh ... wir müssen unser Land verteidigen. Der Feind drückt an die Grenzen“, stotterte Max, und als er seine Gedanken sortiert hatte, sagte er klarer: „Und wenn sie dich bei der SS doch nehmen? Ich glaube, dein Vater hatte recht. Die werden inzwischen auch kaum jemanden mehr wegschicken.“

„Zu denen gehe ich aber nicht. Was man da so für Geschichten hört“, sagte Konstantin trotzig.

„Der Göbel und seine Leute werden dir ordentlich den Kopf waschen, wenn du dich drückst. Ganz zu schweigen von deinem Vater. Oder glaubst du echt, du kommst davon, nur weil du noch nicht wehrpflichtig bist?“

„Dann ... dann werde ich mich eben verstecken.“ Konstantin warf Max einen goldig-bissigen Blick zu. „Und das hat auch nichts mit Drückebergerei zu tun. Das ist Überzeugung.“

„Pfff - Überzeugung“, lachte Max. „Wir haben eine Verantwortung, und der müssen wir gerecht werden. Das haben wir geschworen.“ Er schaute Konstantin an, und als er an dessen Gesicht sah, dass er mit solchen Argumenten nicht weiterkam, fragte er: „Wie lang willst du dich denn eigentlich verstecken? Das werden dann ja wohl Jahre. Oder Jahrzehnte.“

„Bis Weihnachten sind wir vom Feind überrannt. Und das ist auch gut.“

Max stockte der Atem. Dann schimpfte er: „Ist dir bewusst, dass du dich gerade um Kopf und Kragen redest? Wenn ich meiner Pflicht nachkomme und den Stuss melde, den du da schwätzt, dann kann dich dein Herr Papa auch nicht mehr vor der Gestapo retten.“

„Na. Dann melde es doch“, spottete Konstantin und Max hätte ihm am liebsten seinen Frust ins Gesicht gebrüllt. Wenn Konstantin doch nur nicht so süß gewesen wäre.

Statt zu explodieren atmete Max mehrmals hörbar durch, bis sich seine Wangen weniger heiß anfühlten. Dann sagte er betont ruhig: „Morgen früh um fünf treffen Hubert und ich uns am Johannesbrunnen.“

„Und?“

„Und wenn du nur halb so schlau bist, wie du es von dir denkst, kommst du auch.“ Konstantins Augen waren anzusehen, dass er schon dabei war, sich eine gepfefferte Antwort zusammenzureimen. Aber da drehte sich Max auch schon zur Tür. „Ich gehe jetzt heim. Deinen Blödsinn muss ich mir nicht weiter anhören. Denk darüber nach, was ich dir gesagt habe.“

„Glaub bloß nicht, dass deine ach so edle Wehrmacht viel weniger verbrecherisch ist als die SS“, schimpfte Konstantin ihm hinterher. Doch darauf reagierte Max nicht.

7

Als Max das Haus verließ, wusste er nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Nicht nur die Erinnerungen, die mit voller Wucht zugeschlagen hatten. Auch Konstantins Zersetzungsgerede hatte ihn durcheinander gebracht. Selbst wenn – und Max durfte diese Option als Gedankenspiel erst gar nicht zulassen. Aber trotzdem. Selbst wenn in Konstantins Worten ein Körnchen Wahrheit steckte. Man durfte so etwas nicht sagen und auch nicht denken. Überall wurde einem doch gesagt, dass Denkverbote absolut notwendig waren, weil – na ja – weil eben aus Gedanken Worte werden konnten und Worte konnten die Beharrlichkeit des Volkes untergraben. So hatte er es von Kindesbeinen an gelernt, und das, was er eben erlebt hatte, war die beste Bestätigung dafür. Aber ... dass ausgerechnet Konstantin – Karl Wüstrachs Sohn – so dachte ... Max konnte nicht anders, als zu grinsen. Er überlegte, ob er wieder zum Mohnsee gehen sollte. Der Tag war noch lang und schließlich war es doch auch sein letzter Nachmittag, bevor der Ernst des Lebens beginnen würde. Doch er entschied sich dagegen. Er wollte alleine sein. Die Eindrücke der vergangenen Stunden verdauen.

Max verließ Herdelsheim nach Nordwesten, wo hinter der Siedlung der Haselwald angrenzte. Ein finsterer, aber auch verträumter Mischwald, von dem Max wusste, dass ihm das Spazierengehen darin gut tat, wenn er aufgewühlt war. Und auch dieses Mal war es nicht anders. Er schlenderte ziellos zwischen knorrigen Stämmen umher, atmete Luft ein, die nach Moos roch, ließ das Zwitschern der Vögel aus den Baumkronen auf sich wirken und genoss die Kühle im Schatten der dicht stehenden Bäume. Am Fallbrünnle, einer etwas abseits des Weges im Gestrüpp versteckten Quelle, die auch heute, im Hochsommer, noch Wasser führte, machte Max Rast und trank das kalte Wasser aus der hohlen Hand. Als er noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte sein Vater ihm einmal gesagt, dass man das Quellwasser hier trinken konnte. Und Max war sich sicher: Nirgendwo auf der Welt schmeckte das Wasser besser als hier.

Er setzte sich in den Dreck, und während er das beruhigende Plätschern des Fallbrünnle auf sich wirken ließ, ließ Max seinen Gedanken freien Lauf. Vielleicht – nein, ganz sicher – kam der Aufbruch für ihn genau zur richtigen Zeit. Er hielt es sowieso nicht mehr in Herdelsheim aus. Das Dorf mit all seinen Tücken und all den Erinnerungen drohte ihn zu zermürben. Er hatte das Gefühl, dass ein böses Ende bevorstünde, falls er nicht schnell genug die Flucht ergriff. Wie lange würde er wohl noch Herrn Göbel und seinesgleichen widerstehen können, die Max dazu benutzen wollten, seinen Vater zu denunzieren? Heute war er kurz davor gewesen, einzubrechen. Und beim nächsten Mal? Wenn dann sogar der faulige Gestank des Drückebergers an ihm klebte? Nein. Er musste hier weg. Herdelsheim war ein böser Ort mit schlechten Menschen, die lachten und lästerten, wenn es den braven Leuten an den Kragen ging. Wieder musste er an seinen Kindheitsfreund Leo denken und den Tag, an dem er ihn zum letzten Mal gesehen hatte.

Max blieb länger im Haselwald, als er es geplant hatte. Doch viel ausgeglichener als zuvor fühlte er sich auch nicht, als er wieder nach Herdelsheim kam. Es waren Stunden vergangen, in denen er gegrübelt hatte. Und das, obwohl doch alle sagten, dass ein volksdeutscher Junge nicht grübeln durfte. Als er in die Ostendstraße kam und die beiden Anbauhäuser von Tante Emma und seiner Familie in Sichtweite kamen, stand die Sonne schon weit im Westen. Beim Annähern sah er gerade noch Traudels kleine Gestalt mit einem Eimer um die Ecke huschen. Schon alleine der Anblick seiner kleinen Schwester ließ seine Laune besser werden. Auf leisen Sohlen schlich er sich hinterher um das Haus herum, wo die Familie gemeinsam mit Tante Emma ihre Hühner in einem Stall hielt. Traudel hatte gerade die Stalltür des mannhohen Geheges geöffnet und wild durcheinander gackernd scharten sich die Tiere um das kleine Mädchen. Bei dem Geräuschpegel fiel es Max dementsprechend leicht, sich von hinten anzuschleichen. Traudel warf die Körner in Bögen vor sich hin, die Hühner rannten sich beinahe über den Haufen; und dann zuckte Traudel vor Schreck zusammen, als Max ihr mit Daumen und Zeigefinger in die Schulter zwickte.

Er grinste breit, als sich die kleine Maus umdrehte und war gefasst auf einen der typischen Anpfiffe, in die sie ihr volles Temperament legen konnte. Doch das geschah nicht. Traudel wich einen Schritt vor Max zurück und sah ihn ängstlich an. Beinahe wäre sie dabei über ein Huhn gestolpert, das sie empört angackerte.

„Max“, sagte sie nur, und Max' Grinsen gefror ihm auf den Lippen ein.

„Ist ... ist etwas passiert?“

Traudel biss sich von innen auf die Lippen: „Muss Papa jetzt ins Gefängnis?“

Max runzelte die Stirn. Er verstand nicht. „Wieso sollte Papa ins Gefängnis müssen?“

„Du hast ihn doch verraten. Oder?“

„Nein“, sagte er entsetzt. Er streichelte Traudel durch die Haare und bemerkte dabei, wie seine Finger zitterten. „Wie kommst du denn darauf?“

Traudels Augen glänzten vor Zorn und unvergossenen Tränen. „Tante Emma hat vorhin gesagt, die Nagler-Wilma hat gesehen, dass du zum Ortspolizisten Wüstrach gegangen bist. Mama will, dass Papa sich versteckt. Aber Papa hat sich geweigert.“ Jetzt kullerten die Tränen. „Ich will Papa nicht verlieren, Max.“

Kann man in dem Scheiß Kaff nirgendwo hingehen, ohne gesehen zu werden?, dachte Max und sagte zu Traudel: „Ich habe Papa nicht angezeigt. Ich habe nur Konstantin Wüstrach besucht.“

„Lügenbeutel!“, blaffte Traudel.

„Ich lüge nicht.“

Traudel schaute Max mit drolligen Kleine-Kinder-Augen an. „Ehrenwort?“

„Ehrenwort. Und jetzt lass uns reingehen.“

Angesäuert folgte Max seiner Schwester, nachdem die Tiere versorgt waren, ums Haus herum. Sie klopfte an die Haustür, was Max schon seltsam vorkam, und rief mit ihrer kindlich-beißenden Stimme: „Mama?!“

Sekunden später wurde von innen der Riegel zurückgezogen. Etwas absolut Unübliches, denn die Tür war normalerweise nie verschlossen, wenn jemand zuhause war. Dann ging die Tür auf. Traudel hüpfte ins Innere und Max stand seiner Mutter gegenüber. Sie versteinerte zur Salzsäule und schaute Max so vergrämt an, als hätte sie den Wüstrach persönlich vor sich stehen. Hinten sah er seinen Vater wie immer Pfeife rauchend im Schaukelstuhl sitzen, der ihn mit einer Mischung aus Verachtung und gestellter Gleichgültigkeit betrachtete.

„Max“, sagte seine Mutter nur, und Max' Blick verdüsterte sich.

„Der Verräter ist zurück“, sagte er beleidigt und erntete mehrere Sekunden betretenen Schweigens.

„Was … hast ...“

„Max hat Papa nicht verpetzt!“, plärrte Traudel dazwischen, und Max brummte: „Was denkt ihr nur von mir?“

„Aber du warst doch beim Wüstrach“, sagte Ferdinand von hinten.

„Ich war bei Konstantin. Er hat mir etwas auf der Geige vorgespielt. Das hat euer Spitzel wahrscheinlich nicht mitbekommen.“

„Und das war wirklich alles?“, fragte Ida scharf. Statt zu antworten, schaute Max sie vorwurfsvoll an. Die hilflose Wut, die ihre Augen spiegelten, ging in ein schlechtes Gewissen über. „Entschuldigung.“

Max nickte: „Egal. Morgen seid ihr mich sowieso los.“

„Wieso?“

„Hubert und ich fahren nach Pforzheim und melden uns als Freiwillige für den Krieg. Dann habt ihr eure Ruhe.“

Totenstille. Die betretenen Blicke, die Max betrachteten, wurden zu purem Entsetzen. Traudel drückte sich an ihre Mutter und Ferdinand war der Erste, der wieder Worte fand.

„Das lasse ich nicht zu“, murmelte er.

„Leider fragt dich niemand, ob du das zulässt oder nicht“, entgegnete Max.

„Max. Du bist Fünfzehn“, sagte Ida und sah ihn flehend an. „Fünfzehn!“

„Alt genug.“

„Ja. Alt genug zum Sterben“, sagte Ferdinand bitter.

„Nein, alt genug, um zu kämpfen. Versteht ihr das nicht? Der Feind steht vor der Tür, und wer, wenn nicht wir Jungen, sollte ihn aufhalten?“ Er schaute seinen Vater spöttisch an. „Du vielleicht?“

„Das Ende kommt so oder so. Und vielleicht ist es sogar eine Erlösung. Was soll denn das für ein Land sein, das Kinder in den Krieg schickt?“

„Ich bin kein Kind mehr“, motzte Max und stapfte beleidigt – eben wie ein kleines Kind – durch die Wohnstube in seine Schlafstube und knallte die Tür hinter sich zu. Er legte sich auf den Bauch, stützte das Kinn auf die Fäuste und starrte die Wand an. Auf der anderen Seite der Tür hörte er seine Eltern diskutieren, wie sie ihn von seinem Plan abbringen könnten. Eine Unverschämtheit. Er hatte ja nicht erwartet, dass Mama und Papa Freudensprünge machen würden. Aber ein bisschen mehr Respekt vor seiner Entscheidung? Wäre der nicht angebracht? Nicht zuletzt wollte er doch auch für sie kämpfen. Für seine Eltern und für Traudel. Wenn nur ein Bruchteil von dem stimmte, was Herr Göbel oder der Lehrer Grube angedeutet hatten oder auch in den Zeitungen beschrieben wurde, wenn die Alliierten siegen würden ... Dann würde es schlimm um sie alle stehen. Warum verstanden das seine Eltern nur nicht? Gerade sein Vater, der schon im vergangenen großen Krieg gekämpft hatte, musste ihn doch verstehen; von Krieger zu Krieger sozusagen. Auch wenn der alte Ferdinand nie darüber geredet hatte.

Auch beim Abendessen stellte Max auf stur. Egal ob Bitten, Beschwörungen, Tränen oder Drohungen. Er ließ sich nicht umstimmen. Und die Tatsache, dass es saure Bohnen gab, kam ihm dabei gerade richtig. Er hasste saure Bohnen. Und unter diesen Umständen war es leichter, seine Unnachgiebigkeit aufrechtzuerhalten. Nach dem Essen verzog er sich gleich wieder in die Schlafstube. Die Stimmung in der Essstube war schließlich zum Kotzen und er ertrug es auch nicht mehr, seine Mutter weinen zu sehen. Und er brauchte auch den Schlaf. Er musste am nächsten Morgen ja früh raus.

Gerade war er ein bisschen eingedöst, da öffnete sich die Tür einen Spalt. Max holte schon Luft, um zu schimpfen, aber es war nur Traudels zierliche Gestalt, die da im Rahmen stand.

„Darf ich bei dir schlafen, Max?“, sagte sie leise.

„Ja.“

Offiziell teilten sich Max und Traudel zwar die Stube, aber in Wirklichkeit schlief Traudel immer zwischen ihren Eltern im Ehebett. Max wusste, dass das Ferdinand und Ida nicht so richtig in den Kram passte, aber um Traudel abzuweisen waren sie zu gutmütig. Traudel schlüpfte nun zu Max unter die Bettdecke und kuschelte sich an ihn. Lange sagte sie nichts, und Max hatte schon gedacht, Traudel wäre eingeschlafen. Da nuschelte sie: „Kannst du nicht zuhause bleiben?“

„Nein. Ich muss euch doch beschützen.“

„Mama sagt, du wirst sterben.“

Max lachte: „Nein, kleine Maus. Ich werde nicht sterben.“

„Versprichst du mir, dass du wieder zurückkommst? Hoch und heilig?“

Max gab ihr einen Kuss auf die Stirn: „Versprochen. Hoch und heilig.“ Und Traudel schnurrte wie eine Katze.

Die Zeit verging nun, und Max schaffte es nicht einzuschlafen. Er sinnierte vor sich hin und genoss die Wärme Traudels an sich. Durch die Ritze unter der Tür konnte er sehen, dass in der Wohnstube immer noch Licht brannte. Und das, obwohl seine Eltern immer früh ins Bett gingen. Manchmal war das Knarzen der Kufen des Schaukelstuhls auf dem Holzboden zu hören, dann war es wieder lange Zeit still. Es musste schon nach Mitternacht gewesen sein. Und noch immer war in der Wohnstube Licht. Da konnte Max nicht mehr anders. Er stieg aus dem Bett und streichelte Traudel über die Wange, als sie ein verschlafenes Brummen von sich gab. Als er in die Stube kam, sah er seinen Vater im Schaukelstuhl. Ein Schatten seiner selbst im düster flackernden Licht. Seine Augen waren gerötet, und das setzte Max am meisten zu. Sein Vater hatte geweint. Er hatte ihn noch nie weinen gesehen. Selbst, nachdem er nach dem Gestapo-Verhör halb totgeprügelt wieder nach Hause gekommen war, hatte der alte Ferdinand seine Fassung nicht verloren.

Max lächelte zaghaft und sein Vater nickte ihm zu, als Max sich ihm gegenüber setzte. Erst schauten die zwei sich unsicher in die Augen. Zwei Menschen, die sich völlig voneinander entfremdet hatten. Dann sagte Ferdinand leise: „Geh nicht, Max.“

„Du verstehst nicht, Vater.“

Ferdinand schwieg. Seine Augen fragten: Was verstehe ich nicht?

„Ich habe Verantwortung“, wiederholte Max schließlich das Mantra, das ihm und seinen Kameraden so lange eingeflößt worden war, bis es zum Selbstverständnis wurde.

„Du bist fünfzehn“, sagte Ferdinand in einer Ruhe, die in ihren Vater-Sohn-Gesprächen selten geworden war. „Meine Generation trägt die Verantwortung für all das, was hier passiert. Und nicht du. Ich will nicht, dass du das Unheil ausbaden musst.“

„So ist es eben“, murmelte Max. „Jungen werden zu Männer, und Männer zu Soldaten. So war es schon immer. Und warum soll es jemals anders sein?“

Max wandte seinen Blick ab. Das war eine Floskel, wie sie in der Schule gelehrt wurden. Und mit Floskeln ließ sich sein Vater nie abspeisen. Deshalb rückte er mit der Wahrheit heraus. „Am Mittwoch ist in Bruchsal eine Musterung für die Waffen-SS. Freiwillig.“ Max lachte bitter. Denn sowohl er als auch sein Vater wussten, was das Wörtchen freiwillig in jenen Tagen bedeutete. „Wer sich drückt, ist am Arsch. Und ich werde niemals zur SS gehen.“

„Und dann bist du und der sturköpfige Hubert auf so eine hirnrissige Schnapsidee gekommen, vorher zur Wehrmacht zu gehen“, schlussfolgerte Ferdinand.

„So sieht es aus“, sagte Max. Er grinste zaghaft, und auch Ferdinand lächelte. Eigentlich kaum der Rede wert. Doch Max konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann er das letzte Mal gemeinsam mit seinem Vater gelächelt hatte.

„Du solltest trotzdem nicht gehen. Die können dich nicht zwingen. Du bist noch nicht wehrpflichtig.“

„So einfach ist das nicht, Vater. Der Göbel und seine Leute suchen nur einen Grund, um dich ranzunehmen. Und wenn du deinen Sohn zum Drückeberger gemacht hast? Mich werden sie in einen Zwangs-Arbeitsdienst stecken, und du wirst bestimmt auch verschwinden. So wie der Hammer-Robert damals. Und was soll dann aus Traudel werden?“

Sie schauten sich lange an.

„Trotzdem“, sagte Ferdinand.

Max legte seinem Vater eine Hand auf die Schulter. „Hör zu. Du kannst mir das nicht ausreden. Es gibt keine andere Möglichkeit. Lass uns im Guten auseinandergehen, falls ich nicht mehr zurückkomme. Es wäre mir wichtig.“

Ferdinand nickte. Eine Träne glitt über seine Wange und hinterließ eine glänzende Spur. „Nur eines musst du mir schwören“, sagte er schließlich.

Max sah ihn fragend an.

„Bleib anständig.“

„Natürlich“, sagte Max, ohne zu ahnen, wie sehr ihn dieses Versprechen noch verfolgen würde. „Jetzt lass uns schlafen gehen.“

Nachdem Max wieder ins Bett gegangen war, kuschelte sich Traudel an ihn. „Wo warst du?“, flüsterte sie schlaftrunken.

„Mit Papa reden.“

„Habt ihr euch vertragen?“

„Ja.“

„Schön“, nuschelte Traudel und drückte ihre Stirn an Max' Hals.

Ganz langsam und unmerklich glitt Max in eine Dämmerung, die irgendwo zwischen Schlafen und Wachen lag. Er fühlte immer noch Traudel an sich, roch den erdigen Geruch, der immer hier in der Stube lag. Aber sein Geist driftete zurück in die Vergangenheit. Und Max war wieder zwölf. So, wie ein Teil von ihm wohl immer zwölf bleiben würde, der an jenem Tag gestorben war.

Es geschah an einem Samstag im Oktober. Gerade einmal einen Monat, nachdem er zum letzten Mal mit Leo Murmeln gespielt hatte. Am Vormittag hatte es geregnet und auch am frühen Nachmittag hingen die Wolken bleigrau und schwer im Himmel. Max war gerade in der Waschküche, um zwei Hemden zu waschen, als der Tumult begann. Die verzogene Holztür zum Hof und der angrenzenden Straße stand einen Spalt breit offen, deshalb hatte Max es schon recht früh gehört. Ein erst undefinierbares Durcheinander-Schreien. Doch als Max aus der Waschküche heraus ging und sich darauf konzentrierte, waren immer mehr Worte und Sätze auszumachen, die durch die Herdelsheimer Straßen hallten.

Kommt alle raus, Blutsdeutsche!!!“, verstand er, und irgendetwas von „Zeugen werden!!!“ „Heute geht es dem Schweinepack an den Kragen!!!“ „Die Gerechtigkeit siegt!!!“

Es waren die altbekannten Stimmen, die die Dörfler zusammentrommelten. Wüstrach, der NSDAP-Ortsgruppenleiter Jahns, sein Stellvertreter Göbel und noch zwei, drei mehr, deren Stimmen Max nicht auf Anhieb zuordnen konnte. Von Neugier und auch Sensationslust gepackt, ließ er seine Arbeit links liegen und folgte dem Lärm und den anderen aufgescheuchten Dörflern, die sich ebenfalls aufgemacht hatten, um nachzusehen, was denn überhaupt los war. Alle zog es zur Holunderstraße. Und auch Max war da keine Ausnahme. Schon hinter der zweiten Wegbiegung sah er die beiden schwarzen Kastenwagen, die vor dem großen gipsweißen Haus der Mendels mit offenen Hecktüren geparkt waren. Die meisten Schaulustigen standen verstreut in der Holunderstraße verteilt, rauchten, tratschten und harrten der Dinge, doch auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Mendelhauses hatte sich ein Pulk gebildet. Einige der Scharfmacher um den Ortspolizisten Wüstrach bildeten an der Vorderseite des Pulks eine Kette, um die Meute im Zaum zu halten. Natürlich waren auch die älteren Hitlerjungen um Eberhardt Wagner und Fritz Längle an vorderster Front, um die Stimmung anzuheizen.

Mit zittrigen Knien blieb Max vielleicht dreißig Meter vom Haus seines ehemaligen Freundes entfernt stehen und schaffte es nicht umzudrehen. Trotz des Wissens, dass gleich etwas Furchtbares passieren würde. Die Minuten, die vergingen, schienen sich in eine Ewigkeit zu dehnen. Das Schreien, Lachen und Beschimpfen wich einer erwartungsvollen Stille. Die ganze Welt schien den Atem anzuhalten. Und dann ging die Haustür auf. Leute, die Max bis dahin für anständige Menschen gehalten hatte, begannen zu johlen und hämisch zu applaudieren, als zuerst Leos Vater Daniel von SS-Männern herausgeführt wurden. Er hatte einen Arm um Leos Großmutter Esther gelegt, der wohl Trost spenden sollte, aber die SSler trieben sie unerbittlich voran, und schon bald waren sie im vorderen der beiden Kastenwagen verschwunden. Einer nach dem anderen der Großfamilie wurde herausgetrieben. Schläge wurden von den Schaulustigen mit Lachern quittiert und die Gewaltlust der Zuschauer schien die Häscher sogar noch anzustacheln.

Nach Daniel und der Oma Esther, die Max früher immer heimlich Bonbons zugesteckt hatte, kam der Großvater Adam, mit dem Max' Vater immer so gerne geschnäpselt hatte, und der nun grob mit dem Lauf eines Gewehres vorwärts geschoben wurde. Leos älterer Schwester Danas Gesicht wurde von einem Bluterguss auf dem linken Wangenknochen entstellt. Max konnte nicht sagen, ob die Verletzung frisch oder schon älter war. Die Mendels waren schließlich ständig Opfer von Gewalt gewesen. Als dann die Brüder Simon und Hans herausgeführt wurden, hatte Max eine irre Hoffnung, Leo hätte sich vielleicht in Sicherheit gebracht. Mit seiner Mutter. Doch schon im nächsten Augenblick zerbrach der Wunschtraum wie ein morsches Stück Holz im Sturm. Leo kam aus der Tür. Seine Mutter Helene wollte bei ihm bleiben, aber einer ihrer beiden SS-Eskorteure wies sie barsch ab. Ein Soldat hatte Leo an der Schulter gepackt, der zweite hielt die Pistole nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. Die Mündung deutete direkt auf Leos Genick. Trotz der Entfernung sah Max, dass der kleine Leo am ganzen Körper zitterte. Mit einer gebückten Körperhaltung, die den Jungen wie ein alter Mann erscheinen ließ, schaute Leo zu den Zuschauern, die ihn und seine Familie so eiskalt verspotteten. Max sah, wie Hermine Jost, die immer so nett und so lustig war, in Leos Richtung spuckte, als er sie anschaute, und Leo wandte den Blick schnell wieder ab.

Und dann geschah das Unerträglichste. Obwohl ihn seine Schritte weiter nach vorne trugen, drehte Leo seinen Kopf weit nach hinten, und auf einmal schaute er Max direkt in die Augen. Max' Herz wollte aufhören zu schlagen, bei all der Verzweiflung, der Angst und der Hoffnungslosigkeit, die darin steckte. Der Moment, der Max Nacht für Nacht um den Schlaf bringen sollte, dauerte nicht einmal eine Sekunde. Leo kam ins Straucheln, und dann schlug ihm der SS-Sturmmann seine Pistole auf den Rücken. Leo sackte auf die Knie. Seine Brille rutschte ihm von der Nase und fiel in den staubigen Boden. „Steh auf, Jude!“, brüllte der SS-Mann, und ehe Leo sich seine Brille wieder angeln konnte, war er schon wieder auf die Füße gezerrt und wurde weiter geschoben. Die Menge lachte wie dumm über diese Einlage. Während Helene und Leo als Letzte in den hinteren Kastenwagen eskortiert wurden, ging das Geschreie der Schaulustigen in einen „Juden raus“ - „Juden raus“ - Chor über, den die Hitlerjungen angestimmt hatten. Die Transporter mit den Mendels waren noch nicht einmal außer Sichtweite, und schon kam neue Bewegung ins Geschehen. Eberhardt krallte sich Leos Brille vom Boden, die sich sicherlich zu Geld machen ließe, und Karl Wüstrach trampelte mit seinen Handlangern in das plötzlich herrenlose Haus, um zu plündern. Dann hatte Max genug. Die Tränen standen ihm schon in den Augen und wollten sich ihren Weg bahnen. Und wenn die älteren Jungen bemerkten, dass er um Juden weinte, würde es eine Abreibung geben, die noch viel schlimmer war, als die, die erst ein paar Wochen zurücklag und ihm noch immer zusetzte.

Max hatte sich manchmal den Kopf über die Frage zerbrochen, was aus Leo geworden war. Es war etwas von Südfrankreich geredet worden, wohin die Juden umgesiedelt werden sollten und sogar von Madagaskar. Eine Zeit lang hatte sich Max eingeredet, dass es zum Besten der Mendels war. Dass es Leo sogar besser ginge als zuvor in diesem feindseligen Herdelsheim. Doch wenn er ganz ehrlich zu sich war, wusste er es besser. Wenn er die kleinen Anhaltspunkte, die es immer wieder aufzuschnappen gab, addierte – Erzählungen von Fronturlaubern, Joseph Göbbels‘ Tiraden in Funk und Fernsehen und das Gerede über die Endlösung, die in aller Munde lag, blieb von der Madagaskar-Romantik nicht mehr viel übrig. In jener August-Nacht im Jahr 1944, in der er schlaflos auf das Morgengrauen wartete, hatte Max alle Hoffnung aufgegeben, dass Leo noch am Leben war. Aber warum war das nur getan worden? Auch wenn es ein Sakrileg war, so zu denken, fand Max die Vorstellung absurd, die Mendels hätten die Weltherrschaft an sich reißen wollen, um alles zu unterjochen. Ausgerechnet jene Mendels, die bis zum bitteren Ende an das Gute im Menschen geglaubt hatten und vielleicht ausgerechnet an dieser Gutgläubigkeit zugrunde gegangen waren. Wieso erkannte der Führer diese Wahrheit nur nicht?

Die Müdigkeit und die Eindrücke des vergangenen Tages entführten Max in eine Welt aus düsteren Träumen. Träume von Krieg und sterbenden Soldaten, alten Freunden, die ihm gestohlen worden waren und rothaarigen Geigenspielern, die eine ungeahnte und unwiderstehliche Art der Gefahr in sich bargen. Die Gefahr von Verführung und Verdammnis, die Max bis ins letzte Detail erträumte. Als er am frühen Morgen aus dem Schlaf gerissen wurde, kam er sich vor wie von einem Panzer überrollt. Aber da war noch etwas. Etwas Feuchtes an seiner Unterwäsche. Verdammt. Konstantin hatte einen bleibenden Eindruck auf Max hinterlassen, der ihn bis in den Schlaf verfolgt hatte. Diese Erkenntnis schockte Max. Er hoffte in diesen Augenblicken inständig, dass Konstantin seine Worte wahrmachen und nicht am Johannesbrunnen aufkreuzen würde. Wie konnte er nur so blöde sein und ihn noch dazu drängen mitzugehen?

8

Max versuchte Traudel nicht zu wecken, als er das Bett verließ, aber natürlich gelang ihm das nicht. Traudel räkelte sich und nuschelte: „Musst du jetzt gehen?“

„Ja“, flüsterte Max. „Schlaf jetzt weiter, kleine Maus.“

„Hmmm.“

Auf leisen Sohlen verließ Max im ersten Morgengrauen seine Stube und das Haus, um sich in der Waschküche die Müdigkeit und die Spuren seines feuchten Traums vom Körper zu schrubben. Danach fühlte er sich in jeglicher Hinsicht sauberer, als er, nur in Unterhosen, zurück zum Haus ging. Jetzt sich leise anziehen, den Rucksack auf den Rücken, in dem er schon das Nötigste zusammengerichtet hatte und dann das Fahrrad schnappen und dann: auf und davon. Das war zumindest der Plan. Alles im Stillen. Und ohne große Szene das Haus und sein Heimatdorf hinter sich lassen. Doch natürlich kam es, wie es kommen musste. Als Max zurück durch die Haustür kam, standen sie alle schon parat. Mama Ida, Vater Ferdinand und sogar die kleine Traudel im Schlafgewand.

„Ihr hättet ruhig weiterschlafen können“, sagte Max anstelle eines ‚Guten Morgen‘, und Ferdinand grummelte: „Willst du uns nicht einmal die Gelegenheit geben, unseren Sohn vielleicht ein letztes Mal lebend zu sehen?“

„Ach ja, Vater. Mit deiner Zuversicht geht es mir gleich viel besser.“ Max lächelte zaghaft über die Marotten seines Vaters und glaubte am Wackeln von Ferdinands Walrossbart zu erkennen, dass er auch schmunzelte.

„Realitätssinn, Max. Das ist nur Realitätssinn.“ Seine Stimme klang tatsächlich schalkhaft, aber Ida konnte mit dieser Art von Humor nichts anfangen.

„Red doch nicht so einen Unsinn, Ferdl.“ Sie schaute Max bittend an. „Bleib einfach hier. Bei uns.“

Max schüttelte langsam mit dem Kopf. „Ich werde zurückkommen, Mama. Das schwöre ich dir.“

Das schlimmste für Max war zu sehen, wie sich die Augen seiner Mutter mit Tränen füllten. Sie nahm seine Wangen zwischen die Handflächen und schaute ihn eindringlich an. „Bestimmt schicken sie euch gleich wieder nach Hause. Wer wird denn schon einen 15-jährigen in den Krieg schicken?“

„Wie wenn die jemanden heimschicken würden. Der Krieg frisst sie alle und sie brauchen immer wieder Nachschub“, entgegnete Ferdinand, und Max biss sich auf die Zunge. Konnte der alte Zauderer nicht ein einziges Mal Fingerspitzengefühl zeigen? Er sah, wie die Tränen die Augen seiner Mutter verließen und über die Wangen glitten.

„Bleib hier, Max. Bitte.“

„Nein.“

Sie nahm ihn in den Arm, drückte ihr Gesicht an seinen Hals und Max fühlte die Tränen heiß an seiner Haut. „Und wenn ich dich nicht gehen lasse?“, weinte sie. „Ich lass dich einfach nicht gehen, mein Junge.“

Max warf seinem Vater einen hilfesuchenden Blick zu und Ferdinand schaute bedröppelt zur Seite.

„Alles wird gut, Mama.“

„Nein. Wird es nicht.“

Max streichelte seiner Mutter zärtlich durch die Haare und nach einer gefühlten Unendlichkeit ließ sie von ihm ab. „Bleib bei uns“, flüsterte sie kraftlos und Max schwieg. Er wollte hier nur noch weg. Wenn er nicht schnellstens rauskam, würde er sicher alles über den Haufen werfen. Seine weinende Mutter; der knurrige Vater, bei dem er sich die Frage gar nicht zu stellen traute, was wohl der Groll auf die Oberen aus ihm machen würde, jetzt, wo er seinen Sohn an die Armee verlor. Was sollte nur aus ihnen werden?

Traudel stand verstört dabei und brachte kein einziges Wort heraus, während sie Max anstarrte, als wäre er schon ein Geist. Er zog sich schnell restlich an. Natürlich seine Hitlerjungen-Uniform, um einen guten Eindruck zu machen. Nachdem er schon den Rucksack geschultert hatte, bückte er sich nach Traudel. Max gab ihr einen Kuss auf die Stirn und dann brach alles aus ihr heraus. Sie schlang beide Arme um Max Nacken und zog ihn zu sich herunter: „Hör doch auf Mama, Max. Bitte.“

„Kleine Maus“, murmelte Max hilflos.

„Ich will nicht, dass du stirbst.“ Die Tränen kullerten nun hemmungslos über die Pausbäckchen. „Ich brauch dich doch ... Ich brauch dich doch.“

Er drückte seine Wange an Traudels fieberheiße Wange: „Ich komm zurück. Das habe ich dir doch versprochen. Oder?“

„Versprochen – gebrochen!“, plärrte Traudel kindlich, und nun war es geschehen. Auch Max konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

„Ich geh jetzt“, sagte er eher zu sich selbst als zu seiner Familie. Er kniff die Lippen zusammen, drückte beim Vorbeigehen seine Mutter lächerlich förmlich, dann stand er seinem Vater gegenüber.

„Lass mich noch ein paar Schritte mit dir gehen“, sagte Ferdinand und Max nickte. So ließen sie das Haus, in dem Max sein ganzes Leben verbracht hatte, hinter sich. Max schob sein Fahrrad die Ostendstraße entlang, die um diese Zeit noch totenstill war, und sein Vater ging langsam neben ihm her. Lange schwiegen sie. Dann sagte Ferdinand: „Wenn du dir es anders überlegst, würden wir sicher auch eine Lösung finden, damit wir in Sicherheit leben könnten.“

„Nirgends gäbe es Sicherheit“, entgegnete Max.

Ein paar Schritte gingen sie ohne etwas zu sagen, dann meinte Ferdinand mit einem bitteren Lachen: „Weißt du, Max? Zuletzt hatte ich wirklich daran geglaubt, dass du davonkommen könntest. Lange wird der Krieg nicht mehr dauern. Und dann geht alles von null los. Willst du es nicht zumindest versuchen, es auszusitzen?“(?)

„Gerade deswegen muss ich doch zumindest versuchen, gegen die Niederlage zu kämpfen.“ Max blieb stehen und schaute seinem Vater direkt in die Augen. „Du malst dir eine Welt aus, in der alles gut und schön und friedlich wäre. Aber das wird es nicht. Die Alliierten sind blutrünstig. Das sagen alle. Und eine friedvolle Welt wird es niemals geben. Das ist eine Illusion. Nichts wird jemals besser werden.“

„Schlimmer kann es zumindest nicht werden“, entgegnete Ferdinand, und Max schob sein Fahrrad wieder weiter, weil ihm keine Antwort einfiel. So gingen sie die letzten Meter schweigend bis zur Kreuzung zur Hindenburgstraße. Dort blieben sie stehen. Ferdinand legte beide Hände auf Max' Schulter und schaute ihn ernst an: „Denk daran, dass du anständig bleibst. Mach uns keine Schande. Ja?“

Max brummte.

Ferdinand deutete ein Lächeln an: „Und pass auf dich auf.“

„Pass du auf dich auf, Vater. Der Göbel hat dich im Visier.“

„Ja. Ich weiß.“

Max nickte, Ferdinand nickte und das war alles. Das war der große Abschied von Vater und Sohn.

Trotz des Verlusts fühlte Max sich erleichtert, als er nach seiner Schwester und seiner Mutter nun auch seinen Vater zurückgelassen hatte. Er stieg auf sein Rad und fuhr während der letzten Biegungen zum Kirchberg und Johannesbrunnen langsam weiter. Dabei ließ er die frische Morgenluft auf sich wirken, die schon bald wieder einer sommerlichen Schwüle weichen würde. ‚Bitte nicht Konstantin‘, flehte er in Gedanken, während der unvernünftige Teil seines Verstandes auf das genaue Gegenteil hoffte. Wie lächerlich das doch war. So ein unscheinbarer, harmloser Kerl, und Max hatte die Hosen voll. Doch wenn er ehrlich zu sich war, wusste er, dass Konstantin eine Flamme war, die nur darauf wartete, dass Max sich die Finger an ihr verbrannte.

Eine einsame Gestalt war da, als sich Max dem Brunnen näherte. Das Rad vor sich auf dem Boden liegend, saß sie locker auf dem Rand des Brunnens. Max pustete hörbar durch. Alles in Ordnung. Es war nur Hubert, der nun von seinem Platz auf dem Brunnen aufstand, als er Max kommen sah, und sich sein Fahrrad schnappte, um Max die letzten Meter entgegenzugehen. Eine naive Vorfreude auf das bevorstehende Abenteuer, die Max nicht so ganz teilen konnte, stand in seinem Gesicht.

„Guten Morgen, alter Krieger“, sagte Hubert mit breitem Grinsen und klopfte Max auf den Rücken.

„'N Morgen“, nuschelte Max. „Du bist aber gut gelaunt.“

Huberts Grinsen wurde zu einem verschmitzten Strahlen. „Vielleicht hab ich ja die Nacht mit der Lietz-Magda verbracht.“

„Igitt.“

„Und wenn wir vom Krieg zurückkommen, gibt es hier in Herdelsheim vielleicht sogar einen kleinen Hubert.“

„Was für eine grauenhafte Vorstellung“, tat Max entrüstet.

„Oder sogar Zwillinge.“

„Um Himmels Willen.“

Die beiden Jungen lachten gemeinsam, so wie es nur vertraute Freunde tun konnten. Dann fragte Max ernster: „Und hast du dich gar nicht von deinen Eltern verabschiedet?“

„Bist du blöde? Die hätten mich in den Keller gesperrt und noch am Stuhl festgebunden.“

„Ja. Aber trotzdem“, druckste Max. Natürlich. Huberts Eltern waren resoluter als die von Max und hätten ihn gerade nach dem Kriegstod von Huberts Bruder Jakob wohl wirklich nicht gehen lassen. Dennoch fand es Max tragisch, dass sich Hubert, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Staub gemacht hatte.

„Ich schreib ihnen schon einen Brief, wenn wir in Pforzheim sind. Keine Sorge“, sagte Hubert. „Können wir jetzt aufbrechen?“

„Ich ... ähm ... Es kommt vielleicht noch jemand.“

Hubert schaute sauer drein: „Was? Wer denn? Wir wollten doch nur zu zweit gehen.“

„Ja. Ich weiß. Wahrscheinlich kommt er ja auch gar nicht. Aber ich habe ...“

„Ach du Scheiße!“, rief Hubert. Und als Max den Kopf drehte, um dessen Blick zu folgen, war er im gleichen Augenblick im siebten Himmel und am Boden zerstört. Konstantin kam angeradelt. In Uniform, mit seinem Tornister auf dem Rücken und einem sanften, aber genauso frechen Lächeln im Gesicht.

„Guten Morgen, Kameraden“, sagte Konstantin mit seinem vollen jungenhaften Charme. Hubert schaute Max mit geöffnetem Mund an und Max lächelte schräg. „Nun, denn? Auf, nach Pforzheim.“

„Auf nach Pforzheim!“, riefen Hubert und Konstantin im Chor, ehe sie sich auf die Fahrräder schwangen, um Herdelsheim ein letztes Mal hinter sich zu lassen.

Lesemodus deaktivieren (?)