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NetEscape

Teil 4

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Vorwort

Dieser Teil hat lange auf sich warten lassen, tut mir leid, manche Dinge kann ich nicht ändern. Als (sehr) kleine Erinnerungsstütze und um dir den Einstieg zu erleichtern, hier eine kurze Zusammenfassung der ersten drei Teile:

David, 15, wird von seinem Stiefvater regelmäßig mißhandelt. Als sein Bruder Benni stirbt, wehrt er sich und wird daraufhin von seinem Stiefvater zusammengeschlagen. Davids Lehrer, Schröder, findet ihn und sorgt für den Rettungswagen. Die Justiz verhaftet Davids Vater, der kommt aber wieder frei, weil sich Davids Mutter auf seine Seite stellt. David packt seinen Kram und haut ab. In Münster lernt er Julian kennen, einen schwulen Jungen und bleibt für ein paar Tage bei ihm und seiner Familie. Ein Internet-Freund, Simon, bietet ihm an, in die USA zu kommen und David stimmt zu. Er fährt nach Bremen und trifft dort Richard Jackson (Rick), den Vertreter einer Gruppe, die sich um Kids wie David kümmert. Nach einigen Tagen bringt Rick David nach Hamburg, damit sich ein Kieferorthopäde um Davids ausgeschlagene Zähne kümmert.

 

Am Samstag wurd's dann ernst. Nach dem Mittagessen packte ich meinen Kram zusammen und dann waren wir auch schon auf der Autobahn in Richtung Hamburg. Ich war zwar neugierig auf diesen berühmten Kieferorthopäden, aber auch ziemlich traurig, weil ich von Rick weg mußte und weil wir uns wahrscheinlich nicht wiedersehen würden.

Und dann sah ich, warum Rick so gelacht hatte, als ich ‚Zahnarzt‘ gesagt hatte, das Haus war ja riesig und mit einem riesigen Garten und einem riesigen BMW und noch ein paar Autos, scheiße, wo war ich hier? Ich hatte zwar meine guten Sachen angezogen, aber hier wär' ich, glaub ich, doch lieber im Anzug rumgelaufen, verdammt, ich kam mir reichlich klein vor. Rick kriegte natürlich mit, daß ich plötzlich gar nicht mehr so neugierig war und griff lächelnd auf den Rücksitz.

»Hier, ich hab dir doch gesagt, daß ich dir eine Krawatte besorge!«

Ich freute mich wirklich, nicht so sehr über die Krawatte, sondern weil er dran gedacht hatte, aber jetzt saß ich da auch ziemlich ratlos mit dem Ding in der Hand neben Rick.

»Äh, wie bindet man sich sowas eigentlich um?«

Am Ende band Rick die Krawatte, nahm sie ab und legte sie mir um den Hals, also, das wollte ich auch irgendwann mal lernen, egal, jedenfalls gingen wir dann in den Vorgarten, wo ein Schäferhund über mich herfiel, naja, nicht ganz, aber er stand vor mir und bellte und ich stand stocksteif, ich mag zwar Hunde, aber woher soll ich wissen, ob dieser Hund mich mochte ... oder zu sehr mochte und mich mal probieren wollte.

»Keine Panik, bleibt einfach ganz ruhig stehen, morgen früh um sieben bekommt er sein Frühstück, dann ist er abgelenkt und ihr könnte ins Haus kommen!«

Ich sortierte noch den Satz, als Rick sich lachend umdrehte.

»Rip! Du hättest mich auch vorwarnen können!«

»Klar, aber dann wäre mir dieser Spaß entgangen! Rinty, platz!«

Tat er auch. Also, er platze nicht, sondern setzte sich hin.

»So, und du bist demzufolge David?«

Äh, ‚demzufolge‘?? Hat mal wer ’n Wörterbuch? Der Typ guckte aber sonst ganz freundlich.

»Ja, genau.«

Er streckte mir die Hand entgegen.

»Ich bin Dr. Masters, aber du bist ein Freund von Rick und kannst mich ruhig Rip nennen, komm, gehen wir ins Haus, ich bin sicher, die anderen werden sich freuen, euch zu sehen!«

Irgendwie hatt' ich ja gedacht, drinnen wär' alles voll mit alten Bildern und Statuen oder so, aber wir gingen in die Küche und da lief die Kaffeemaschine und das Radio lief und es sah alles richtig normal aus.

»Setz euch, die anderen werden auch gleich da sein, ich glaube, Richie hat den Kaffee gekocht, also seid vorsichtig, er neigt dazu ...«

»Wozu neige ich? Hi Rick, schön dich zu sehen! Und du bist bestimmt David?«

Da war so 'n Typ in die Küche gekommen und der sah so aus, als ob er sich freute, daß Rick da war ... und ich.

»Ja, bin ich und du bist Richie und du hast irgendwas mit dem Kaffee zu tun?«

Er lachte.

»Es gibt Leute, die meinen, ich würde den Kaffee zu stark machen, aber ...«

Und dann tauchte da noch wer auf.

»... das ist jetzt auch egal, darf ich vorstellen, Jason, mein Freund.«

»Hi, nice to meet you.«

»Hallo, sag mal, ich kenn' ...«

Richie unterbrach mich.

»Moment, Jason ist Amerikaner, er spricht nicht viel Deutsch und du kennst ihn wahrscheinlich aus dem Kino.«

Also, jetzt wurd's mir doch ziemlich mulmig, das war _der_ Jason, ’n waschechter Star aus Hollywood und er war der Freund von diesem Richie und ich war hier in ’ner Hütte, die mehr gekostet hatte, als das ganze Mietshaus, in dem ich gewesen war und jetzt sollt' ich auch noch Englisch reden ... also, ich sagte erstmal gar nichts, zum Glück war Rick noch da.

»Hey, mach den Mund wieder zu, sind alles gute Freunde. Rip, hattest du was von Kaffee gesagt?«

»Ja, den brauche ich jetzt auch. Ich schlage vor, daß wir englisch sprechen, wenn Jason dabei ist, dann hast du gleich ein bißchen Übung und sonst können wir bei deutsch bleiben, einverstanden?«

Er guckte mich fragend an ... äh, ich glaub' er wollte wirklich wissen, ob ich einverstanden war.

»Ja ... klar.«

Richie übersetzte das ganze kurz für Jason und dann gab's Kaffee ... und was für einen, das war echt ’n Hammerzeug, nach dem ersten Schluck tat ich einen guten Schuß Milch in meine Tasse, das war hier auch so aufregend genug. Mal sehen, ob ich das auf die Reihe kriegte, Dr. Masters, also Rip, war dann wohl dieser berühmte Kieferorthopäde und Richie war bestimmt sein Sohn und Jason machte hier Urlaub oder so. Naja, wenn man berühmt ist, dann kennt man bestimmt auch Stars, ist ja irgendwie klar.

Auf der Fensterbank stand ein Aschenbecher ... und fragen konnt' ich ja mal.

»Darf ich hier rauchen?«

Rip lächelte.

»Nur, wenn du das auch auf englisch fragen kannst.«

Ähem, na gut.

»Is it allowed to smoke here?«

Ich kriegte schon wieder rote Ohren, also langsam wurd' das lästig. Dafür lächelte Jason mich an.

»Sure, take the ashtray down there. Besides is there a special reason for wearing your tie?«

»Yes, it's a present from Rick!«

Oops, das hatt' ich schon gesagt, bevor ich gemerkt hatte, daß ich englisch redete.

(Okay, so toll ist mein Englisch auch noch nicht, ich erzähl jetzt einfach in Deutsch weiter)

Jason nickte.

»Das ist ein guter Grund, aber bei uns läuft eigentlich nur Rip mit Krawatte durch die Gegend.«

Ja, das konnte ich mir vorstellen, das war hier alles völlig anders, als ich gedacht hatte. Na gut, ich nahm den Aschenbecher, holte meinen Tabak raus und fing an zu drehen, als Rip mir ’ne Schachtel von seinen Kippen rüberschmiß.

»Rauchen ist per se ungesund, aber wenn du ohne Filter rauchst, dann ist es unvermeidlich, daß du Tabak an der Mundschleimhaut hast und natürlich auch im Magen-Darm-Trakt und das macht es noch gefährlicher. Behalt das Päckchen, ich kümmere mich um den Nachschub. Rick, können wir kurz in mein Büro gehen?«

Die Beiden nahmen ihren Kaffee und zogen los und ich rauchte eine Benson und Hedges ..., hm, schmeckte ziemlich gut, egal, ich saß bei einem Star und seinem Freund und wußte nicht so ganz, wo ich mich hintun sollte und was ich reden sollte und so und immerhin waren die beiden ja auch schon ein bißchen älter als ich. Zum Glück war Richie wirklich cool und erzählte so ein bißchen über sich und Jason und wir redeten dann wie ganz normale Leute, war echt schön. Dann tauchte Rick wieder auf.

»David, kommst du eben mit?«

Tat ich und ich kriegte gerade noch so mit, wie sich Richie und Jason überrascht anschauten. Wow, Rips Büro sah echt nach Arbeit aus, der Schreibtisch war riesig, aber wir setzen uns in die Ecke, da war so ’ne Couchecke.

»David, ich habe den Jungs bisher nur gesagt, daß du ein Freund von Rick bist und für ein paar Tage kommst, um deine Zähne behandeln zu lassen. Es ist deine Entscheidung, nur würde ich vorschlagen, den Dreien die Wahrheit zu sagen. Ich habe zwar schon früher Leute behandelt, die über die Gruppe zu mir gekommen sind, aber du bist der erste, der auch ein paar Tage hierbleibt, daher ist das für uns alle etwas neues. Und ich glaube, es ist auch an der Zeit, meine Familie über die Gruppe aufzuklären, nach den letzten Tagen dürften sie dafür Verständnis haben.«

Also, ich wußte zwar nicht, was er mit diesen ‚letzten Tagen‘ meinte, aber von mir aus konnten Richie und Jason ruhig wissen, was los war.

»Äh, ja, klar, aber ... könnt ihr mir ein bißchen helfen, ich mein, wegen Englisch, so gut kann ich das noch nicht.«

Rick lächelte.

»Ich mach dir einen Vorschlag: Ich erzähle deine Geschichte und wenn ich was vergesse, dann sagst du es einfach ... und anschließend kann Rip die Drei über die Gruppe informieren.«

Damit war ich gut zufrieden und wir gingen wieder in die Küche.

»Richie, könntest du bitte Nick holen, wir haben etwas zu besprechen.«

»Aha, das Geheimnis wird gelüftet?«

Rip schaute ihn zuerst ziemlich durchdringend an und zwinkerte uns dann zu.

»Es gibt in dieser Familie keine Geheimnisse, nur Informationen, die erst zum geeigneten Zeitpunkt gegeben werden.«

Äh, und wo war da der Unterschied? Egal, jedenfalls tauchte Richie schnell wieder auf und dann kam dieser Nick ... wow. Also, bei Jason wußte ich einfach nicht so richtig, was ich sagen sollte, ich mein, er ist ein Star, aber bei Nick blieb mir echt die Spucke weg. Er sagte irgendwas, aber ich guckte nur in seine Augen und sein Lächeln und dann trat mich Rick unterm Tisch vor's Schienbein.

»Au ... äh, hallo Nick!«

Schon wieder rote Ohren, ich glaub', ich sollte meine Haare länger wachsen lassen, das wurd' ja langsam zum Problem. Ich versteckte mich schnell hinter der Kaffeetasse, und als ich mich traute, wieder hochzuschauen, lächelte mich Richie an, oh Mann, er hatte da wohl was mitgekriegt. Zum Glück fing Rick an zu reden.

»Also gut, hört mal zu ...«

Er erzählte von mir und wo ich herkam und was mir passiert war und wie ich zu ihm gekommen war und wo ich hinwollte, nur diese Gruppe ließ er weg. Richie und Nick guckten mich ziemlich entsetzt an, aber Jason sah wirklich ... hm, traurig aus. Dann redete Rip weiter.

»So, und jetzt kommt etwas, daß mich betrifft und das ihr jetzt auch wissen sollt. Es gibt noch mehr Jugendliche wie David, das wißt ihr ja inzwischen ...«

Die drei nickten, dafür hatte ich keinen blassen Schimmer, wovon er eigentlich redete.

»... und ich bin schon früher damit in Kontakt gekommen. Bei Unfällen werden natürlich hin und wieder auch die Zähne in Mitleidenschaft gezogen, aber eben auch dann, wenn Kinder oder Jugendliche verprügelt werden. Roland hat mich vor einigen Jahren einmal gebeten, einem Jugendlichen zu helfen, dem sein Vater einige Zähne abgebrochen bzw. ausgeschlagen hatte ... nun, ich habe natürlich zugesagt, und als der Junge vor mir saß, da war ich schockiert .... erschrocken, wütend ... ich konnte einfach nicht glauben, das so etwas möglich war, daß es solche Väter gibt.«

Rip machte ’n Moment Pause.

»Ich habe dann Roland gefragt, ob ich noch etwas für diesen Jungen tun könnte und er hat mich gefragt, ob ich mich ernsthaft für solche Kids engagieren möchte. Ich habe Ja gesagt und Roland hat mir dann von einer Gruppe erzählt, eine Gruppe, die es sich zur Aufgabe gemacht, eben diesen Jugendlichen zu helfen, auch dann, wenn die juristische Seite problematisch ist und ich habe ihn nur gefragt, wo ich unterschreiben muß, um Mitglied zu werden.«

Richie guckte, als ob ihm Rip gerade erzählt hätte, daß die Uhren ab heute rückwärts gehen und Nick war auch überrascht.

»Ich habe seitdem einige Kinder und Jugendliche in der Praxis gehabt, die in der Buchhaltung nicht auftauchen und ich habe schon länger darüber nachgedacht, mehr zu tun, als sie zu behandeln und ihr seht, daß ich zu einer Entscheidung gekommen bin, David ist ja nun hier. Eines noch: Was wir tun, ist illegal, aber ich bin trotzdem der festen Überzeugung, daß es richtig ist. Es tut mir leid, daß ich euch nicht vorher informiert habe, aber es war natürlich notwendig ...«

Richie unterbrach ihn.

»Das Ganze geheim zu halten, schon klar. Dad, ich finde es großartig, was du tust, ich wünschte nur ... du hättest uns eher ins Vertrauen gezogen!«

Rip seufzte.

»Ja, vielleicht war es ein Fehler, so lange zu warten, aber ... ich glaube, ich wollte euch einfach nicht mit solchen Dingen konfrontieren, ich habe selbst manche Nacht nicht geschlafen und ich bin immerhin Arzt und habe schon viel gesehen. Nun gut, jetzt habe ich es euch gesagt, Richie hat ja schon seine Meinung gesagt, aber wie steht ihr anderen dazu?«

Jason holte tief Luft.

»Ich glaube, bei mir kannst du dir das denken, ich bin natürlich dabei!«

Nick guckte immer noch ziemlich erstaunt.

»Wart mal bitte! Soll das heißen, du hast die ganzen Jahre ... ja, so eine Art Geheimleben geführt und illegal Jugendlichen geholfen hast? Die viele Arbeit, die du hast, den Streß, die langen Nächte, die dabei draufgegangen sind, ich meine, ich finde es gut, aber ich kann nicht verstehen, warum du uns nicht eher eingeweiht hast! Und ich möchte wissen, wer noch dazu gehört!«

»Nick, ich glaube, du hast da eine falsche Vorstellung. David ist erst der achte Patient, der über die Gruppe zu mir kommt und über die Jahre ist das wirklich nicht viel Arbeit, ich bin ja kein Geheimagent oder so etwas. Ich habe schon gesagt, daß Roland zur Gruppe gehört und ihr könnt euch denken, daß Rick auch dabei ist.«

»Und ich glaube ...«

Nick sprach sehr langsam.

»... daß ihr eine internationale Gruppe seid. David hat über seinen amerikanischen Brieffreund Kontakt zu euch bekommen, und das bedeutet, daß es wohl auch in den USA Leute gibt, die da mitmachen.«

Rip und Rick schauten sich an, dann übernahm Rick.

»Du hast recht. Die Gruppe ist weitgehend international tätig, aber mach da jetzt bitte keinen Geheimdienst draus, wir sind hier nicht bei Mission Impossible. Wir verstehen uns eher als eine Art Netzwerk, jeder Beteiligte bringt seine Fähigkeiten ein, und zusammen haben wir dann schon eine recht beachtliche Kapazität. Das funktioniert aber nur deshalb, weil wir geheim arbeiten. Uns ist klar, daß ihr den Mund halten könnt, sonst hätten wir gar nicht erst über die Gruppe gesprochen.«

»Okay, ich denke auch, daß es richtig ist, was ihr tut.«

Rip sah ziemlich erleichtert aus.

»Das hatte ich gehofft und ich bin sehr froh, danke! Gut, dann mal an die Arbeit, es ist zwar Wochenende, aber ich würde gern einen kurzen Blick auf Davids Zähne werfen. Richie, bereitest du das bitte vor und nimmst seine Daten auf, gib sie aber noch nicht ein, Patienten wie David tauchen in den offiziellen Dateien nicht auf.«

Richie grinste.

»Natürlich, aber sollten wir nicht zuerst David zeigen, wo er seinen Kram lassen kann?«

Gute Idee, ich war nicht so rasend heiß auf diese ganze Zahnarztsache, nee, ich hatte nicht wirklich Angst davor, aber ein paar andere aus meiner Klasse hatten mal erzählt, daß das ziemlich weh tun konnte. Nick hatte die Lösung.

»Das kann ich machen, du brauchst ja sowie etwas Zeit für die Vorbereitung, ich bring ihn dann vorbei!«

Dann stand Rick auf.

»Und ich muß dann auch wieder los, Ingo kommt gleich noch vorbei.«

Wir gingen vor die Tür und Rick nahm mich in den Arm und küßte mich auf die Stirn.

»Paß auf dich auf, Kleiner! Und laß mal was von dir hören!«

»Darauf kannst du dich verlassen und grüß Ingo, ja? Und Rick, danke für alles!«

»Da nich für.«

Ich kannte ihn ja eigentlich noch gar nicht so lange, aber ich hatte trotzdem feuchte Augen und ich drückte ihn ganz fest und ich schaute noch hinter ihm her, als er schon weg war. Wieder so ein Abschied ... Nick legte mir die Hand auf die Schulter und ich zuckte zusammen, nicht weil ich erschrocken war, sondern weil er die linke erwischt hatte, aber das konnte er ja nicht wissen, er stotterte.

»Oh … tut mir leid, ich dachte ... ich wollte nicht ...«

Oh Mann, ich war schon wieder ’n Moment weg, Nick hatte wirklich grüne Augen und da hätt' ich drin baden können.

»Nee, kein Problem, aber meine Schulter ist' noch 'n bißchen kaputt.«

»Oh, tut mir leid, was hast du denn?«

Ich erklärte es ihm und er verzog das Gesicht.

»Puh, hör auf, da tut ja schon das Zuhören weh! Sag mal ...«

Nick schaute mich 'n Moment an, bevor er weiter redete.

» ... ist dir klar, daß Richie und Jason ... sich sehr nahe stehen?«

Ich lächelte.

»Du meinst, sie sind schwul?«

Naja, ich mein, so wie die beiden sich angeguckt hatten, war das ziemlich klar gewesen und wo ich jetzt endlich mal klargekriegt hatte, daß ich nicht der einzige Junge auf dieser Welt war, der Jungs mochte, guckte ich eben auch auf sowas.

»Ja. Wenn du damit ein Problem hast, dann sag es besser gleich!«

Also, jetzt mußte ich wirklich grinsen.

»Nee, ich sicher nicht und ...«

Naja, wenn Richie und Jason schwul waren und das für Nick okay war, dann konnt' ich ja auch sagen, was mit mir war.

» ... ich bin ja ... naja ...«

Das war jetzt aber echt schwieriger, als ich gedacht hatte.

» ... ich mein ... ich bin auch schwul.«

Puh, geschafft. Nick lächelte

»Gut, dann sind wir ja schon vier. Komm, gib mir mal deinen Rucksack, den mußt du mit deiner Schulter wirklich nicht selbst tragen.«

Äh, nochmal langsam ... wieso vier? Richie, Jason, ich und ... tja, Nick mußte wohl sich selbst gemeint haben, aber er war schon losgegangen, irgendwie war das für ihn wohl völlig klar ... also, hier war das mit dem Schwulsein wohl wirklich kein Problem.

Nick half mir dann, meinen Kram in einen Schrank zu räumen und zeigte mir, wo das Bad war und vor allem, wo die Waschmaschine stand, ich mußte unbedingt mal ein paar Sachen waschen und dann ging's zu Richie. Wow, Rip hatte wohl alles in dem Haus, wir gingen runter und durch ein paar Türen und dann war das wie beim Arzt, Richie hatte sogar weiße Sachen angezogen und er fragte mich alle möglichen Sachen und ob ich schon mal krank gewesen wäre und sowas, jedenfalls kam dann Rip, auch in weiß, und schaute kurz auf das Blatt, auf dem Richie alles aufgeschrieben hatte.

»Okay, laß mal sehen ... du warst vor sechs Jahren das letzte Mal beim Zahnarzt?«

Er sagte das so, als ob ich drei Köpfe hätte.

»Ja, in der Schule, da kam ein Zahnarzt und hat gemeint, ich sollte mal so richtig zum Zahnarzt gehen, aber irgendwie hat das nicht geklappt.«

»Das hört sich nach Arbeit an!«

Erst ging's zum Röntgen, danach mußte ich dann auf diesen Stuhl und kriegte eine Serviette umgehängt und dann machte ich den Mund auf. Rip hatte so kleine Metalldinger in der Hand und schaute in meinen Mund. Er sagte irgendwelche Zahlen und ein paar andere Wörter, die ich nicht kannte und Richie schrieb das alles auf.

»David, in deinem Mund sieht es ungefähr so schlimm aus, wie ich befürchtet hatte, da haben wir eine Menge zu tun. Dur solltest am Montag gut frühstücken, denn das Mittagessen fällt für dich aus.»

»Äh, ja, aber mußt du denn wirklich ...«

»David, ich muß. Es ist besser, die Sache jetzt einmal in Ordnung zu bringen und dann hast du Ruhe.«

Ich stöhnte.

»Keine Panik, wir fangen erst am Montag an. Gut, dann bist du jetzt fertig.«

Das hieß, daß ich aus dem blöden Stuhl rauskam und ich war so schnell draußen, daß ich Kondensstreifen zog. Ich hab' die Küche dann wiedergefunden, aber da war keiner und da ging ich dann Wäsche waschen, also erstmal wieder meine alten Sachen anziehen und das fühlte sich schon komisch an und dann ab zur Waschmaschine. Tja, und dann wußt' ich nicht, was ich machen sollte, ich mein, so ein großes Haus ist bestimmt was tolles, aber wenn man mal einfach so jemanden treffen will, dann ist das schon schwierig und die Leute hatten bestimmt auch ohne mich genug zu tun. Fernsehen wollt' ich nicht und die Sonne schien, also ging ich mir mal den Garten anschauen ... ganz schön groß, ich holte mir einen von diesen Stühlen und stellten ihn in den Schatten, so richtig gemütlich. Und dann tat ich so, als ob ich nachdenken würde, naja, so wie in der Schule eben, Augen offen und an was schönes denken. Na gut, ich geb's ja zu, ich hab an Nick gedacht, wär schon toll, wenn er mein Freund wär' ... dann könnten wir zusammen schwimmen gehen und in der Sonne liegen und ich könnte ihm den Rücken eincremen und er könnte mir das Knie lecken und ... was? Ich zuckte zusammen, weil da wirklich wer mein Knie leckte und das war dieser Schäferhund, der mich angebellt hatte.

»Na, mein Kleiner, ich mag dich ja auch, aber jetzt hör auf, mich abzulecken, meine Knie sind ziemlich sauber.«

Ich streichelte ihn, ich find Hunde einfach toll, solange sie mich nicht anbellen und dieser hier mochte mich wohl. Irgendwann zog ich die Hand weg und er schaute mich dann nur groß an ... und sprang mir auf den Bauch. Und leckte mir das Gesicht!! Das ist der Nachteil von diesen Gartenstühlen, wo man die Lehne ganz weit runterstellen kann, es dauerte einfach viel zu lange, bis ich hochkam und der Hund wieder auf dem Boden war ... Mist, mein einziges sauberes T-Shirt hatte sich jetzt auch erledigt, ich hatte Spucke im Gesicht und trotzdem mußte ich lachen.

»Hey, Hund, jetzt muß ich mich waschen und wenn ich wiederkomme, dann spring ich dir auf den Bauch und leck dir die Schnauze ab, also versteck' dich besser!«

Okay, als mein Gesicht wieder sauber war, ging ich noch mal eben unauffällig in der Küche vorbei, denn da war ein Kühlschrank und wo ein Kühlschrank ist, da ist auch Wurst; ja, ich weiß, sicher kriegte der Hund hier genug zu fressen, aber so ein Scheibchen Wurst zwischendurch ... die Wurst war schneller weg, als ich gucken konnte und dann hielt ich ihm die Hand hin, weil ich ihm zeigen wollte, das nichts mehr da war und er sabberte mir die Hand ab - gab es irgendwas, das dieser Hund nicht ableckte? Egal, jedenfalls konnte er Stöckchen holen und das spielten wir ziemlich lange und dann versuchten wir, Verstecken zu spielen, aber das war nicht so der Hit und dann wollte ich ihm beibringen, sich hinzulegen und dann auf dem Rücken zu wälzen ... hm, sagen wir mal, das mit dem Hinlegen kapierte er ja noch so irgendwie, aber sich dann so auf dem Rücken umdrehen - keine Chance. Ich zeigte es ihm sogar, ich drehte mich wie ein Blöder auf dem Rasen hin und her und der Hund guckte auch ganz genau zu, aber das war's dann auch, er setzte sich auf sein Hinterteil und kratzte sich und dann klatschte jemand.

»Interessante Vorstellung, du solltest Eintritt nehmen!«

Ich sprang auf ... oh ha, Rip und zwei Jungs, die ich nicht kannte, scheiße, wenn die gesehen hatten, was ich da auf dem Rasen gemacht hatte ... mußten sie wohl, denn sie wußten gar nicht mehr, wohin mit ihrem Grinsen und der Hund sprang wie bescheuert um den Jungen herum, also um den jüngeren von den Jungs. Hm, der war sogar jünger als ich und guckte mich ganz genau an und der Ältere sah irgendwie so aus, als wär' er innendrin sehr müde.

»Hi, das ist Janosch und ich bin Luke, wir wohnen auch für ein paar Tage hier. Rinty gehorcht wohl noch nicht aufs Wort, wie?«

Verdammt, ja, Rinty hieß der Hund, hatte Rip ja auch gesagt.

»Ja, hat eigentlich ganz gut geklappt, nur zum Schluß hat er nicht mehr mitgemacht, aber das bring ich ihm noch bei!«

Rip lachte.

»Da hast du dir ja was vorgenommen. Na komm, gehen wir rein, es gibt gleich Abendessen und vielleicht möchtest du dich vorher noch waschen und umziehen.«

»Waschen ja, aber Umziehen wird schwierig, denn mein Zeug ist gerade in der Waschmaschine.«

»Kein Problem, einer der Jungs kann dir bestimmt ein T-Shirt leihen.«

Rip nahm mich dann noch eben schnell zur Seite.

»David, Luke und Janosch wissen nur, daß du wegen einer Zahnbehandlung hier bist. Du mußt selbst entscheiden, ob du ihnen mehr von dir erzählen willst, ich glaube, sie würden dich gut verstehen.«

Ich nickte ... naja, mal sehen, ich wollt' erstmal wissen, wie die beiden so waren. Egal, ich ging noch eben schnell zu Nick hoch.

»Hi, äh, ich hab ’n bißchen mit Rinty gespielt und mein anderes Zeug ist in der Waschmaschine und Rip meinte, daß du mir vielleicht ’n sauberes T-Shirt leihen kannst?«

Er grinste.

»Klar, aber es wird dir ein bißchen zu groß sein, aber das macht ja nichts, wart mal ...«

Er griff in seinen Schrank.

»... probier das mal, das könnte gehen!«

Tat ich auch, also, ich wollt' es gerade anziehen, als Nick tief Luft holte.

»Scheiße! Das darf doch wohl nicht wahr sein!«

Mist! Die blauen Flecken war zwar nicht mehr so ganz blau, aber man konnte sie noch ganz gut sehen und die Schulter sowieso und da hatt' ich nicht mehr dran gedacht.

»Laß mal, ist schon wieder besser.«

Nick guckte aber immer entsetzter.

»Oh Mann! Das gibt es ja gar nicht. Warte hier, das soll sich Dad mal ansehen!«

Und weg war er. Na toll. Irgendwie hatte ich ja gehofft, daß wir Freunde werden könnten, aber das konnt' ich mir ja jetzt wohl in die Haare schmieren. Scheiße, war's denn immer noch nicht genug? Nu' war ich schon abgehauen und mein Stiefvater versaute mir immer noch alles. Ich hatte echt die Schnauze voll, ich mein, wenn mich früher mal wer aus meiner Klasse zu sich nach Hause eingeladen hatte, dann war das meist nur einmal, weil ich ja einer von denen war, mir denen man besser nichts zu tun hat. Und wenn ich dann ging, dann stand da immer 'ne Mutter so oder und die brauchte nicht viel sagen, war schon klar, daß ich nicht wiederkommen sollte. Als das dann mit Chris und Kai passierte, da hatte ich gedacht, daß das jetzt anders würde und dann Julian und Rick und Rip. Und jetzt war's, als ob ich wieder 13 wär' ... und für 'n Moment hatte ich echt Angst, daß Rip mich so angucken würde, wie damals die Eltern von den anderen.

Rip kam rein.

»Nick sagte, ich sollte zu dir kommen ... tut mir leid, David, er hat so etwas noch nie gesehen. Wie geht es denn deiner Schulter?«

»Wird so langsam besser, ich merk eigentlich nicht mehr viel.«

»Und die anderen Wunden? Tut da noch etwas weh?«

»Eigentlich nicht.«

Rip nickte.

»Ich gebe dir später noch Salbe, die sollte dafür sorgen, daß die Blutergüsse schneller zurückgehen und sag bitte Bescheid, wenn du medizinische Hilfe brauchst, okay?«

Ich nickte.

»Gut, dann komm, ein vernünftiges Abendessen wird dir sicher nicht schaden.«

Ich zog schnell Nicks T-Shirt an und dann gingen wir runter ... ja, das hatt' ich schon gedacht, Nick setzte sich ans andere Ende vom Tisch und guckte nur zwischendurch mal rüber zu mir. Ich fühlte mich ziemlich mies, aber passiert war passiert. Ich hörte nur so halb hin, was die Leute so sagten und kaute auf dem Essen herum und dann hörte ich meinen Namen.

»... und da könnte David ja auch helfen, es macht bestimmt Spaß, den großen Baum zu fällen!«

Rip sah gar nicht glücklich aus, aber da knallte Nick schon volles Rohr dazwischen.

»Nein!«

Ich zuckte zusammen und den anderen ging's genauso und sogar Rip guckte ziemlich erstaunt.

»Wie dem auch sei, eure Arbeitsbereitschaft in allen Ehren, aber ich bin auch nicht so begeistert. Der Garten gefällt mir so, wie er ist.«

Damit hatte sich das mit dem Baum dann erledigt, nur war ich wegen Nick traurig. Ich kriegte mit, wie er nach dem Essen kurz mit Rip redete und dann gingen die beiden weg. Wir räumten noch schnell alles auf und dann ging ich erstmal, meinen Kram aus der Waschmaschine holen ... und da gab's sogar ’nen Trockner. Als ich wieder hochkam, lief mir Nick über den Weg.

»David! Wart mal! Ich wollt dir noch was sagen ...«

Und ich wußte auch ziemlich gut, was er mir sagen wollte, das hatt' ich schon zu oft gehört, war immer das gleiche, einmal mehr würd' mich nicht umbringen.

»Okay, is' schon klar, ich hab das schon oft gehört, also mach's kurz.«

»Was hast du schon oft gehört?«

»Das, was du gleich sagst. In meiner Gegend heißt das einfach ‚Verpiß dich‘, vielleicht sagst du's ’n bißchen freundlicher, aber es ist das gleiche.«

Erst guckte er mich groß an und dann wurden seine Augen traurig.

»David, ich wollt mich bei dir entschuldigen! Rick hat zwar erzählt, daß dein Vater dich verprügelt hat ...«

»Mein Stiefvater!«

» ... sorry, dein Stiefvater, und du hast mir von deiner Schulter erzählt und ich konnte mir ja schon denken, daß das nicht so harmlos war, aber als ich dich gesehen habe, da ... ich wußte einfach nicht, was ich machen sollte! Ich war einfach ... völlig durcheinander und dann war ich wütend und dann ... jedenfalls habe ich eben mit Dad gesprochen und ich wollte dir einfach sagen, daß ich sehr froh bin, das du hier bist!«

»Das ... ich hier bin? Du ... du bist nicht sauer?«

»Nein, sicher nicht, ganz im Gegenteil! Du bist jemand ganz besonderes und ich wäre sehr stolz, wenn wir Freunde werden würden!«

Meine Stimme war ziemlich leise.

»Ich auch.«

Er umarmte mich und ich ihn auch, wow, davon hätt' ich höchstens geträumt.

»David, nicht böse sein, ich muß gleich noch weg, aber was hältst du davon, wenn wir morgen mal zusammen losziehen?«

»Super! Klar! Gerne!«

»Gut, ich freu mich drauf!«

Und wie ich mich erst freute! Ich summte so leise vor mich hin und ging ins Wohnzimmer, die Nachrichten liefen grade ... nee, ich da hatt' ich jetzt keine Lust drauf, mal sehen, was Rinty so machte. Er lag neben dem Stuhl, den ich da hingestellt hatte und auf dem Stuhl saß der Junge, dieser Janosch. Es war ganz still und der Junge zuckte richtig zusammen, als ich näher rankam.

»Oh ... sorry, wenn du willst, laß ich dich allein.«

Ich hatt' zu spät gesehen, daß seine Augen rot waren.

»Nein, schon okay ... bleib ruhig hier.«

»Was is'n los mit dir?«

»Mein Vater ist gestern gestorben.

»Tut mir leid.«

»Mir nicht.«

Oops, da war was in seiner Stimme ... er meinte genau das, was er da gesagt hatte.

»Streß mit ihm gehabt?«

»Ja, so ungefähr.«

»Hm, ich hab zwar keinen blassen Schimmer, wer mein Vater ist, aber ich glaub', ich würd' auch weinen, wenn er gestorben wär'.«

Der Kleine guckte mich ganz groß an.

»Du kennst deinen Vater nicht?«

»Nee, echt nicht. Ich glaub, so ganz genau weiß meine Mutter das auch nicht, sie hat jedenfalls nie was gesagt.«

»Ich wünschte, ich hätte das Glück wie du!«

Ich verzog das Gesicht.

»Dann hättest du aber vielleicht ’n Stiefvater gekriegt und das ist dann echt der letzte Scheiß und ...«

Ja, ich wußt schon ziemlich genau, was ich da redete, aber ich dacht mir halt, daß Janosch merken würde, daß sein Alter vielleicht doch gar nicht so schlimm gewesen war.

»... was meinst du, wer mir die Zähne rausgehauen hat?«

»Was?«

»Ja, nach der Beerdigung wollt' ich nicht nach Hause und am nächsten Tag hat er mich dann so richtig verprügelt und im Krankenhaus hab ich dann mit den Bullen geredet, aber dann ist er wieder aus dem Knast gekommen und da bin ich dann abgehauen.«

»Was?«

»Kannst du auch noch ’n anderes Wort?«

»Klar, aber ich hab' irgendwie nicht mal die Hälfte von dem verstanden, was du gerade erzählt hast - Beerdigung, Knast und so weiter.«

»Also, das war so ...«

’n paar Kippen später kannte er die ganze Geschichte, war schon komisch, ich mein, ich hatt' sie jetzt schon so oft erzählt, aber es wurd' nicht einfacher.

»Kann ich auch 'ne Kippe haben?«

»Du rauchst? Wie alt bist ’n du?«

»14. Und ich rauche nur manchmal. Also, kann ich?«

Ich gab ihm die Schachtel, ich mein, er war zwar nur ’n bißchen älter als Benni, aber wenn er sowieso schon qualmte. Wir machten die Dinger an, der Kleine guckte in den Qualm und meinte dann:

»Ich hätte das auch machen sollen.«

»Was hast damit gemeint? Das du das auch hättest machen sollen?«

»Na, abhauen.«

Davon hatte Benni auch manchmal geträumt und davon auf ’n Schiff zu gehen und dann rund um die Welt zu fahren ... ich schluckte und ich kam mir grade verdammt alt vor:

»Laß mal, so toll is' das nicht. Und nur wegen ’n bißchen Ärger haut man nicht ab.«

»Nein, nicht wegen ein bißchen, aber ...«

Seine Stimme war rauh und er machte die Kippe auf dem Rasen aus.

»... deswegen vielleicht!«

Er zog sein T-Shirt hoch ... rote Flecken, ’ne ganze Menge. Ich wußt' sofort, was das war, der Arsch hatte das auch mal mit mir gemacht, aber nicht so oft. Es tat echt höllisch weh und ich hatte plötzlich wieder den Geruch in der Nase, es stinkt, wenn man ’ne Kippe auf Haut ausmacht. Ich schaute ihm in die Augen.

»Das gottverdammte Arschloch!«

»Er ... er hat mich vergewaltigt.«

Als ich kapierte, was er meinte, da sah ich plötzlich Benni vor mir sitzen und dann war's wieder Janosch und dann sah ich ihn nur noch verschwommen und kriegte mit, daß ich weinte. Ich weiß auch nicht, da war einer, der wußte, wie es war, Angst zu haben, wenn man nach Hause kam und da mußt' ich mich nicht schämen. Ich glaub', ich weinte wegen Benni und Janosch und auch ’n bißchen wegen mir, naja, irgendwie war's fast so, als ob ich wieder ’n Bruder hätte ... und ich glaub', Janosch is' viel mehr mein Bruder, als jemand, der zufällig die gleichen Eltern hat.

Muß jedenfalls ’n ziemlich bescheuertes Bild gewesen sein, wie wir da saßen und heulten, aber als wir uns wieder losließen, da war was anders, ich mein, zwischen uns und ich wußt' ganz genau, daß ich jetzt ’n verdammt guten Freund hatte. Es war ganz einfach, mit Janosch zu reden, nicht nur über Väter und so, sondern überhaupt und wir fingen dann noch an, Rinty zu dressieren, aber entweder war Rinty zu blöd oder wir waren einfach miese Lehrer, jedenfalls zog er nach ’ner Weile einfach ab und ließ uns sitzen.

»Wird sowieso schon dunkel, sollen wir reingehen?«

»Klar ... was meinst du, gibt's noch was zu essen?«

Janosch grinste.

»Ich bin hier noch nie verhungert und Rips Kühlschrank ist eigentlich immer voll. Was meinst du, ob die anderen auch was wollen?«

»Fragen kann nicht schaden.«

Im Wohnzimmer saß aber nur Rip und guckte sich irgend so eine Politiksache an, aber er meinte er würd' ’ne Kleinigkeit mitessen und damit hatten wir freie Bahn; wir gingen in die Küche und grinsten uns an ...

»Wie groß ist bei Rip denn eine ‚Kleinigkeit‘?«

»Ooch, ich glaube, das können wir entscheiden ... sind fünf Gänge zuviel?«

Naja, fünf Gänge wurden's dann doch nicht, aber das Problem war, daß Janosch unbedingt ein paar Würstchen warm machen wollte und ich Hunger auf Rührei hatte - es wurde dann doch Rührei und Rip kriegte einen großen Teller, der für mich und Benni gereicht hätte und fiel fast vom Sessel und wir kriegten uns nicht mehr ein vor lachen. Jedenfalls ließ er sich breitschlagen und wir konnten noch ’n Krimi gucken, aber Rip ging dann so in der Mitte vom Film schlafen. Janosch und ich teilten uns die Couch und schauten zu, wie irgend so ein Verrückter Leute abknallte und ’n Bulle, der genauso bescheuert war, versuchte dann, den Typen zu kriegen ... war nicht so toll und wir machten die Kiste dann aus.

»Also, so richtig müde bin ich noch nicht.«

»Ich auch nicht. Bei mir im Zimmer steht ’ne kleine Anlage, sollen wir hingehen?«

»Klar!«

Die Anlage war wohl von irgendwem ausrangiert worden, aber es kam Musik raus. Wir legten uns auf's Bett und redeten, über Sachen die schön waren ... und auch über andere Sachen. Irgendwann hörte ich Janosch neben mir nur noch leise atmen und ich dachte an früher, als Benni noch bei mir im Zimmer schlief ... als ich noch zur Schule ging ... was Schröder wohl grade machte? Und Chris ... und Kai ... und ...

»Was?«

»Tut mir ja leid, euch zu wecken, aber wenn ihr noch frühstücken wollt, dann müßt ihr aufstehen?«

Ich machte die Augen auf - Rip. Und irgendwas war falsch ... klar, mein Arm war noch nicht wach, kein Wunder, da lag Janoschs Kopf drauf. Ich schüttelte seine Schulter.

»Hey, Janosch! Aufwachen!«

Er brummte nur, aber er drehte sich um ... war echt fies, wie das im Arm kribbelte. Rip lächelte mich nur an, ist schwer zu erklären, ich mein, er war auch vorher schon freundlich, aber jetzt war da sowas ... naja, als ob seine Augen leuchten würden. Janosch rührte sich immer noch nicht und ich wollt' ihm grade die Nase zuhalten, als mir einfiel, daß er nicht Benni war. Also setzte ich mich auf's Bett, lehnte mich zu ihm rüber und pustete ihm ins Ohr. Funktioniert immer, Janosch machte sogar die Augen auf.

»Hi, Kleiner! Rip meint, das jetzt Frühstück ist, mieser Kaffee und trocken Brot, also hau rein!«

Er grinste.

»Morgen, David. Also, miesen Kaffee hab ich hier noch nie gekriegt. Okay, dann mal los!«

Wir gingen runter. Natürlich gab's mehr, als trocken Brot und Jason saß noch über der Zeitung, oh ha, so früh am Tag schon Englisch reden, ging aber ganz gut. Zwischendurch kam immer mal wer rein und ich traf auch die Mutter von Janosch und Luke, Lynn ... war eigentlich ’n ruhiges Frühstück, aber da war schon irgendwas anders, ich wußt' nur nicht, was. Später traf ich dann Nick.

»Hi David! Na, was machen wir denn?«

Das wußte ich verdammt genau.

»Schwimmen gehen!«

Aber Nick schüttelte den Kopf.

»Keine gute Idee, wenn du in Badehose rumläufst, bist du Gesprächsthema Nummer eins und bestimmt werden dich ein paar Leute fragen, wo du dir die blauen Flecken geholt hast. Und dann noch deine Zähne, nee, laß mal, da könnten wir die Polizei gleich einladen. Aber ich hätte eine Idee.«

»Und welche?«

»Laß dich überraschen! Ich geh noch mal eben telefonieren.«

Nick brachte eine große Tasche mit und wir fuhren ein gutes Stück und kamen an einen See. Nick parkte und wir gingen ... zu Booten??

»Wirst du seekrank?«

»Äh, keine Ahnung, hast du 'n Schiff?«

Nick lachte,

»Nein, ich nicht, aber ich hab eben mit Andreas gesprochen, wir können es heute haben. Komm, du Landratte, jetzt gehen wir mal auf große Fahrt.«

Wahnsinn! Ich auf 'nem Schiff! Himmel, das Ding schwankte ganz schön und ich ging wirklich vorsichtig, schließlich wollte ich ja nicht ins Wasser fallen. Nick rödelte irgendwas rum und gab mir dann 'ne Schwimmweste.

»Hey, ich kann schwimmen!«

»Glaube ich dir, aber wenn du bei der Halse bewußtlos über Bord gehst, sackst du wie ein Stein. Nee, zieh die Weste an, ist besser.«

Na gut, keine Ahnung, was ein Schiff mit meinem Hals zu tun hat, aber was soll's. Jedenfalls machte ich dann die Seile los und Nick warf den Motor an und wir fuhren von den anderen Schiffen weg.

»So, David, dann bring uns mal in die Mitte des Sees!«

Das brauchte er mir nicht zweimal sagen. Ich stellte mich an's Steuer und los ging's! War echt 'n tolles Gefühl, das Schiff machte genau das, was ich ihm sagte - Mann, mit dem Ding wär ich gern mal um die Welt gefahren.

»Gut, jetzt segeln wir mal ein bißchen. Hilf mir mal!«

Klar, machte ich und da bekam ich dann auch mit, daß segeln was mit Arbeit zu tun hat. Aber als der Motor aus war und wir einfach so fuhren und es ganz leise wurde - irre, das war was wirklich schönes! Wir fuhren ein gutes Stück und dann lenkte Nick nach links.

»Wir haben Glück, da hinten gibt's einen kleinen Anleger, der nicht mehr benutzt wird. Da können wir Kaffee trinken.«

Wir packten das Segel wieder weg und als wir näher kamen, sah ich dann, warum Nick dort Pause machen wollte - da waren rundrum nur Bäume und Büsche und so, sah richtig gemütlich aus. Wir banden das Schiff fest und Nick holte die Tasche.

»Komm, der Strand hier ist toll!«

Und das war er wirklich. Wir setzten uns an's Wasser und Nick holte 'ne Thermoskanne mit Kaffee und sogar 'n paar Plätzchen raus. Es war so richtig gemütlich und ich fing an, Nick ein bißchen zu beneiden.

»Muß schon toll sein, sowas zu können. Segelst du schon lange?«

Nick lächelte.

»Nein, ich habe vor zwei Jahren angefangen, aber als ich hier ankam, hätte ich mir auch nicht träumen lassen, einen Segelschein zu machen.«

»Wie meinst du das ... als du hier ankamst?«

»Stimmt, das weißt du ja gar nicht.«

Er trank Kaffee und stellte den Becher dann weg.

»Rip ist mein Vater, aber ich habe eine andere Mutter als Richie. Ich bin praktisch in England aufgewachsen, in Scarborough ... bei meiner Mutter.«

»Bist du ... mußtest du auch abhauen?«

Nick schluckte.

»Nein, sicher nicht, sie war die beste Mom, die man sich vorstellen kann und sie hat mich geliebt und ich sie.«

Er schaute mich nicht an.

»Sie ist ... gestorben, bei einem Unfall. Zusammen mit ... weißt du, ich bin zusammengezuckt, als Dad sagte, daß du kommst ... weil du David heißt. Und weil Davey ...«

Ich hatte keinen blassen Schimmer, wovon Nick da eigentlich redete, aber ich sah seine Tränen und da hab ich ihn einfach in den Arm genommen. Dauerte ein bißchen und dann redete er weiter.

»Du hast wahrscheinlich gar nicht verstanden, was ich meinte, oder?«

»Ehrlich gesagt, kein Wort. Aber du mußt das auch nich' erzählen, wenn's so weh tut.«

»Doch, ich möchte es ... und ich glaube, Davey möchte es auch. Wir waren ungefähr so alt, wie du, als wir uns kennenlernten. Vorher hatten wir nur Zoff und das ging mir gewaltig auf die Nerven. Er ist mir dann mal abends über den Weg gelaufen und dann habe ich ihm sozusagen ein Gespräch aufgezwungen, es hat einfach seine Vorteile, daß Mum Psychologin war, da bleibt was hängen. Ich wollte einfach nur Frieden mit ihm schließen oder wenigstens in Ruhe gelassen werden. Und dann wurde es völlig verrückt. Der Grund, warum er dauernd versuchte, mich niederzumachen, war, daß er sich in mich verliebt hatte und er hatte einfach Angst, daß ich ihm deshalb weh tun würde ... er hatte einfach Angst. Die hatte ich dann auch, denn damals wußte nur Mom, daß ich schwul bin, aber ich hab es ihm dann auch gesagt und seitdem waren wir unzertrennlich. Wir haben unser coming out zusammen durchgezogen, sogar in der Schule ... es war manchmal wahnsinnig schwer und ich glaube nicht, daß ich es ohne Davey geschafft hätte. Er war dir sehr ähnlich David, nicht nur, weil ihr den gleichen Vornamen habt. Er konnte sehr stark sein, aber manchmal versteckte er seine Gefühle ... er kannte Angst und mußte erst wieder lernen, zu weinen und wenn er lächelte, dann strahlte er richtig, so wie du, David ... ich habe ihn mehr geliebt, als jeden anderen Menschen. Davey saß mit Mum im Auto, als der Unfall passierte. Sie haben beide nicht überlebt.«

Wir guckten auf den See und ich dachte daran, daß ich eben noch neidisch auf Nick gewesen war.

»Nick .... wenn was so richtig schön ist, warum tut das dann immer so weh? Ich mein, du weinst heute noch wegen Davey und wenn ich an Benni denke ... ich will nicht, daß mir sowas nochmal passiert.«

Nick schüttelte den Kopf.

»So etwas ähnliches hat Davey mir auch mal gesagt. Das funktioniert nicht, David. Wenn du einen Menschen sehr lieb hast, dann tut es besonders weh, wenn er geht, oder wenn ihr euch streitet. Aber es ist eben auch besonders schön, den anderen nur lächeln zu sehen oder mit ihm zu reden. Du kannst das eine nicht ohne das andere haben. Wäre es dir denn lieber, du hättest Benni nie kennengelernt?«

Ich wußte, was er mir sagen wollte.

»Nein, natürlich nicht. Ich glaub ... lieben is' sowas ähnliches, wie wenn du diese second-hand-Konserven kaufst.«

Nick guckte mich groß an.

»Was für Konserven?«

»Die ohne Etikett, wo du nicht weißt, was drin ist. Die Dinger sind echt billig, aber du weißt nicht, ob da Suppe oder Fleisch oder Gemüse drin ist, bis du sie aufgemacht hast - und dann ist es zu spät, entweder du magst es oder du mußt es wegschmeißen.«

Nick lachte.

»Also, du hast schon wirklich irre Vergleiche, aber da ist was dran. Gibt es solche Konserven wirklich?«

»Klar. Zwei Stück 'ne Mark. Benni mochte am liebsten Gulaschsuppe, aber ich hab mich mehr über Rouladen gefreut ... aber manchmal gab's nur Bohnen und so 'n Zeug.«

Nick schüttelte den Kopf.

»Hätte ich nicht gedacht, das es so etwas gibt. Habt ihr oft sowas kaufen müssen?«

»Nee, 'müssen' sowieso nicht, aber ich hab mir gedacht, es wär' ganz gut für Benni, wenn er auch mal was warmes kriegt und ...«

Ich mußte grinsen.

»... manchmal haben wir Wetten abgeschlossen, was drin ist und der Verlierer mußte kochen. Aber ... bei Rip schmeckt's schon viel besser.«

Nick schlug mir auf die Schulter.

»Irgendwann koche ich mal für dich. Aber jetzt sollten wir weiterfahren, wir kommen sowieso schon zu spät zum Abendessen.«

Wir machten den Motor an und ich spielte nochmal Kapitän ... und natürlich kamen wir zu spät zum Essen. Nick hatte aber noch eine Überraschung für mich, nach dem Essen nahm er mich mit in den Keller, da unten war ein richtiges Studio, mit allen möglichen Instrumenten und so.

»Du hast mich heute gefragt, wie das mit der Liebe ist und da ist mir ein Song eingefallen, den ich auch sehr gern mag. Ich bin zwar nicht der große Musiker, aber ich versuch's mal.«

Und dann nahm er eine von den Gitarren, die da rumstanden, und fing an, ganz leise zu spielen und zu singen:

Some say »Love it is a river that drowns the tender reed«

Some say »Love it is a razor that leaves your soul to bleed«

Some say »Love it is a hunger and endless aching need«

I say love it is a flower and you, it's only seed.

It's the heart afraid of breaking that never learns to dance

It's the dream afraid of waking that never takes the chance

It's the one who won't be taken

Who cannot seem to give

It's the soul afraid of dying that never learns to live

When the night has been too lonely and the road has been too long

And you think that love is only for the lucky and the strong

Just remember in the winter far beneath the bitter snows

Lies the seed that with the sun's love

In the spring becomes the Rose

(Bette Midler - The Rose)

Ich hatt' ja schon viel gehört, aber sowas noch nie. Und in dem Moment wußte ich ganz genau, daß es irgendwie gut weitergehen würde und das es irgendwo auf dieser Welt jemanden geben würde, den ich lieben konnte und der mich lieben würde. Und ich wußte auch, daß Nick mir da gerade was ganz großes geschenkt hatte. Ich umarmte ihn und flüsterte nur »Danke« ... jetzt war nich' die Zeit für reden.

Nachwort

Hallo,

du hast dich gerade durch 4. Teil von NetEscape gekämpft und ich hoffe natürlich, daß er dir gefallen hat. Trotzdem kennst du nur die halbe Geschichte *g* Rick und ich haben unsere Stories für eine Zeit sozusagen zusammengelegt, der 4. Teil von »Little Lies« läuft parallel und erzählt die Geschichte aus den Blickwinkeln von Janosch, Luke und den anderen. Wir haben uns sehr viel Arbeit gemacht (okay, es hat auch verdammt viel Spaß gemacht *g*) und wir fänden es sehr schade, wenn du nicht auch »Little Lies« lesen würdest, erst dann verstehst du auch einige Hintergründe besser.

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