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NetEscape
Teil 8
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Informationen
- Story: NetEscape
- Autor: Thomas
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama, Coming Out, Lovestory
Vorwort
Hi Leute,
im letzten Teil ist David ja in seiner neuen Heimat und bei seiner neuen Familie angekommen - und jetzt mache ich einen kleinen Zeitsprung mitten in den Winter von Michigan, um genau zu sein, in die Woche vor Weihnachten. Das Thema »Junge kommt in neue Familie« habe ich ziemlich ausführlich in »Zuhause« beschrieben und ich finde, das reicht, deshalb ist David jetzt seit rund vier Monaten bei den Andersons und hat die erste Eingewöhnungszeit hinter sich. Vieles ist inzwischen für ihn Alltag, er lebt ein normales Leben - eigentlich. Wenn da nicht noch ein paar Dinge wären, die für Aufregung sorgen ...
Ich halte eigentlich nicht viel von Widmungen bei Internet-Stories, aber an diesem Teil und an seinem Verlauf ist ein bestimmter Mensch schuld: Hey, Nick, der ist für dich!
Und - weil es notwendig ist - noch etwas. NetEscape-8 ist etwas härter und ich empfehle dir dringend, ihn nicht zu lesen, wenn es dir gerade nicht gut geht.
Wir schreiben also den 18. Dezember in Kalamazoo, Michigan, so gegen 7 p.m.
David Masters
Ob das wohl irgendwann mal aufhört, zu schneien? Am Anfang war's ja noch toll gewesen, aber Kit und ich wechselten uns mit dem Schneeschippen ab und egal, was kam, heute abend war ich dran. Naja, gut, zum Glück mußten wir nicht wirklich schippen, sondern hatten so einen kleinen Traktor. Das Ding ist echt praktisch, egal, ob wir Bäume aus dem Wald ziehen, unseren kleinen See saubermachen oder eben Schnee schieben - allerdings gibt es keine Kabine und bei minus 7 C und ganz gut Wind kann man sich da echt den Arsch abfrieren ... äh, die Hände abfrieren. Ich hab ja gebrüllt vor Lachen, als Dad mir ein paar lange Unterhosen mitgebracht hat, aber an so Tagen wie heute bin ich verdammt froh darüber. Okay, also rein in meine Polarforscher-Montur und los geht's
»Dad, ich mach eben die Zufahrt sauber!«
»Viel Spaß, und ...«
Pöh, der saß gemütlich vor dem Kaminfeuer.
» ... laß die Bäume stehen!«
Na, das würd' er mir noch Jahre anhängen. Ich hab den Traktor mal vor den Baum gesetzt, nee, nichts schlimmes, nur die Schaufel war ein bißchen verbogen, aber es war eben Winter und es lag mächtig viel Schnee auf dem Baum. Und der lag dann hinterher auf mir. Als Kit mitgekriegt hatte, daß mir nichts passiert war, hat er stundenlang nicht mehr aufgehört zu lachen und Digitalkameras haben auch Nachteile, noch am gleichen Tag hatte Mom das Foto auf ihrem Schirm. Ich hab Dad mit viel Mühe davon abgebracht, das Foto auch zu Miriam zu schicken ... ach so, ja, also Miriam ist Miss Fletcher und die Chefin des »Kalamazoo Mirror«. Hört sich schon nach Provinz an, oder? Jepp, ist es auch. Wenn unser über alles geliebter Präsident mal wieder Mist macht, ist das für den Mirror unwichtig, aber wer den größten Kürbis hat, steht auf der Titelseite, oder die beste Weihnachtsdeko oder das die Werkstatt über Weihnachten geschlossen hat und da hätte das Bild von mir mit einem kleinen Unfallbericht natürlich toll reingepaßt. Naja, egal, jedenfalls ging ich in den Schuppen und holte den Traktor und fing an. Ist immer das gleiche Spiel, spätestens nach 'ner Viertelstunde seh ich nichts mehr, weil ich soviel Schnee in den Augen habe und diese Brillen echt bescheuert aussehen. Aber an dem Abend hab ich doch was gesehen. Da waren wohl Leute quer über den Weg gelaufen, an den Seiten konnte man noch die tiefen Abdrücke sehen. Damals in Deutschland wär das ja nichts aufregendes gewesen, aber hier ist sowas wichtig, weil, wir wohnen ja so'n bißchen abseits und wenn sich da wer im Winter zu Fuß quer durch den Schnee schlägt, dann kann man nicht einfach weggucken. Kann ja sein, daß jemand Hilfe braucht. Oder daß er einer der Gründe ist, warum Dad einen Gewehrschrank hat. Okay, immerhin würde ich gleich nicht mehr alleine draußen sein ...
»Dad, da sind Spuren im Schnee!«
»Du tropfst. Was für Spuren?«
»Bin ich Old Shatterhand?«
»Wer?«
Ich hab mich eigentlich ganz gut eingewöhnt, aber manchmal kommt das Deutsche doch noch raus.
»Äh ... bin ich Rambo?«
Dad guckte mich von oben bis unten an.
»Tut mir leid, du würdest nicht mal als sein kleiner Bruder durchgehen, aber für die Muppet-Show könnte es reichen.«
Er ist sogar höflich, wenn er mich verarscht.
»Dad!«
»Ja, so heiße ich. Freut mich dich kennenzulernen.«
Er kann einen zum Wahnsinn treiben. Aber er hatte schon vergessen, daß ich noch naß vom Schnee war und ich hab mich einfach auf ihn gesetzt. Klar, hat nur funktioniert, weil er nicht damit gerechnet hat, aber das dumpfe »Umph« war toll.
»Vergiß es. Da sind zwei Leute oder so quer durch den Schnee gelaufen, da, wo's tief ist.«
Er stöhnte.
»Oh nein, bitte nicht wieder so ein paar Verrückte! Jetzt geh von mir runter!Kit!«
Na, das war ja noch besser, da durften wir uns alle drei den Hintern abfrieren. Die Beiden zogen sich warm an und ich holte inzwischen das Zeug zusammen. Also, das hatte ich auch erst hier gelernt, man ruft nicht um Hilfe, sondern schaut erstmal, was man selbst tun kann und das hieß hier: Taschenlampen, Feuerzeug, Verbandskasten und noch ein paar Kleinigkeiten zusammenpacken und selbst losziehen. Ich werd' mich nie dran gewöhnen, daß Dad Waffen hat, aber ich zucke nicht mehr zusammen, wenn er ein Gewehr in der Hand hat und es war sicher keine schlechte Idee so ein Ding mitzunehmen. Tja, und dann ging die Expedition los, und weil unsere Taschenlampen was taugen, hab ich die Spuren auch ziemlich schnell gefunden. Dad und Kit schauten näher hin.
»Was meinst du?«
»Groß ... ziemlich groß.«
»Mmmhh. Gut, daß du das Gewehr hast.«
Was ging denn da ab?
»Wieso? Was ist los?«
Kit grinste mich an.
»Warum bin ich eigentlich mit dir jagen gegangen ...«
Oh nein, das war eine echte Katastrophe gewesen. Ich bin bestimmt der erste Jäger, der sich die Seele aus dem Leib gekotzt hat, als das Kaninchen ausgenommen wurde. Ich weiß schon, warum ich das Fleisch aus der Tiefkühltruhe und nicht aus dem Wald hole. Was kann ich denn dafür, ich mein, da hoppelt das kleine Vieh ahnungslos durch die Gegend und dann knallt's und dann wird ihm die Haut abgezogen und der Bauch aufgeschnitten. Toll, wirklich toll.
»... wenn du alles sofort wieder vergißt?«
»Wenn ich es mal vergessen könnte!«
Ja, schon klar, natürlich war sowas viel schlimmer, als aus Deutschland zu kommen. Und ich Trottel hab das dann auch noch ahnungslos in der Schule erzählt. Ich hätte genausogut auf einer Rinderfarm erzählen können, daß ich Vegetarier bin, oder als schwarzer, schwuler Jude auf 'ne Nazi-Versammlung gehen. Das war dann gar nicht mehr lustig, weil, naja, hier ist das ganz anders, als in Deutschland. Wenn die Jungs dich hier für 'n Weichei halten, dann hast du aber echt ausgeschissen, da ist Schule hier wirklich brutal. Am nächsten Tag hab ich dann Quinn verprügelt. War eine ganz, ganz miese Idee, aber ich wußt' einfach nicht, was ich machen sollte. Hat ziemlichen Ärger gegeben, aber danach war ich zwar immer noch der Typ, der kotzt, wenn man Kaninchen ausnimmt, aber ich war auch der Typ, dem man sowas besser nicht sagt.
»David, Menschen machen bestimmte Fußabdrücke und die hier sind von einem Vierbeiner. Du hast mich aber trotzdem nicht umsonst aus dem warmen Haus geholt, das war nämlich ein Bär.«
»Oh!«
Na, was sollt' ich denn sonst sagen? Bären sind klein, warm und kuschelig, zumindest die Version, die ich so kannte.
»Kit, sag in der Stadt Bescheid und ruf auch die Nachbarn an. Ach so ... David, kein Grund zur Panik ...«
Als wenn ich panisch ausgesehen hätte, mir war nur kalt.
» ... wenn er dich erwischt, geht's schnell.«
Hab ich schon erwähnt, daß unser Haus sehr gemütlich aussieht? Muß wohl sowas wie ein Reflex gewesen sein, jedenfalls war ich schon fast drin, als Dad sich meldete.
»Hey, du bist mit der Einfahrt noch nicht fertig!«
Wie bitte?
»Was? Du willst mich doch hier nicht alleine draußen lassen, wenn ein Bär frei herumläuft?«
»Klar. Du willst dich doch jetzt nicht den Rest des Winters im Haus verkriechen, oder?«
»Wieso Rest des Winters? Irgendjemand wird den Bären doch wohl einfangen, oder?«
Dad fing an zu lachen und hörte so schnell nicht mehr auf.
»David, du bist schon klasse! Der Bär hat nur Hunger und wird wahrscheinlich irgendwo im Müll wühlen und dann ist er wieder weg. Also, hör auf, den Angsthasen zu spielen und mach die Einfahrt frei.«
Von wegen, Angsthasen 'spielen' - aber ich hab dann die Einfahrt freigeräumt ... und ich hab auch gesehen, wie Dad die ganze Zeit im Schuppen stand, mit dem Gewehr in der Hand.
.
George 'Dad' Anderson
Nachdenklich ließ ich die Gardine los und setzte mich wieder an das Kaminfeuer. David war immer wieder gut für eine Überraschung. Kit hatte mir mal erzählt, daß David ihn im ersten Moment an einen streunenden Hund erinnert hatte - mag sein, inzwischen war er jedenfalls ein ziemlich normaler Junge und ich dachte immer häufiger an David als meinen Sohn. Er lernte unglaublich schnell, es war fast so, als ob er schon immer hier gelebt hätte und sich nur erinnern müßte. Trotzdem, manchmal verstand ich ihn nicht. Es war fast so, als ob er durchdrehen würde ... die Geschichte mit dem Jagen war ja gar nicht weiter schlimm, aber was er danach getan hatte ... Himmel, David hatte wirklich Talent für Katastrophen. Vielleicht hatte er auch zu viele Filme gesehen, jedenfalls war er aus heiterem Himmel auf einen Mitschüler losgegangen. Der Punkt war natürlich, daß dieser Quinn zwei Jahre älter und mindestens fünfzig Pfund schwerer als David ist. Ich hatte einige längere Gespräche mit seinen Eltern, der Schulleitung und natürlich mit David. Der Junge hatte mich mit großen Augen angesehen und gemeint, er hätte einfach nicht gewußt, was er machen sollte und ich glaubte ihm. Colin hat mir dann ein paar Dinge erklärt und das war wie eine kalte Dusche. Um Colin zu zitieren: »George, David hat keine Ahnung, wozu ein Vater eigentlich gut ist! Er hat sich immer alleine durchgeschlagen und er ist wahrscheinlich gar nicht auf die Idee gekommen, dich zu fragen, was er tun soll!« Nun, es war nicht unbedingt eine meiner väterlichen Sternstunden gewesen und was jetzt kam, fühlte sich auch nicht besser an. Davids Lehrer hatte angerufen. Nein, diesmal gab es keinen Ärger, es war nur so, daß die Schüler so langsam dran waren, sich in einem sozialen Bereich zu engagieren. Ich halte so etwas nach wie vor für eine gute Sache und dieses Praktikum ist einer der Gründe, warum ich damals diese Schule für Kit ausgesucht habe, aber mit meinem zweiten Sohn würde das wohl etwas schwierig werden.
»David! Kommst du mal bitte!«
Es ist schon interessant, wie er so dastand und sich das nasse Haar aus der Stirn wischte, war ich unglaublich stolz auf ihn.
»Komm, setz dich ans Feuer, sonst erkältest du dich noch.«
David weiß immer sehr genau, ob etwas im Busch ist.
»Na gut, was ist los?«
Hm, wenn ich ihn jetzt reden ließ, würde ich wahrscheinlich rauskriegen, wo die kleine Beule am rechten Kotflügel herkam, aber es gab wichtigeres.
»David, dein Klassenlehrer hat angerufen. Nein, es ist nichts passiert, es ist nur so, das für dich nun das Sozialpraktikum ansteht.«
Seine Erleichterung konnte man mit den Händen greifen ... was er wohl so alles auf dem Kerbholz hatte?
»Und? Geh ich halt zwei Wochen ins Krankenhaus und die Sache ist erledigt.«
Grummel, sind alle europäischen Kids so? Irgendwie kommt David nie auf die Idee, daß er in der Schule auch etwas wichtiges lernen könnte.
»Genau darum geht es. Wir haben uns überlegt, dich einer Stelle zuzuteilen, die du nicht mal so eben nebenbei erledigen kannst.«
Wenn ich mich besser gefühlt hätte, dann hätte ich laut gelacht, als ich Davids Blick gesehen habe. Er war ein Mittelding zwischen »treuer Hundeblick« und »warum müssen blöde Erwachsene mir dauernd Knüppel zwischen die Beine werfen«. Er seufzte, als wäre er unmittelbar vor der Hinrichtung
»Also? Was muß ich machen?«
»David, du 'mußt' das nicht machen und wir sind ehrlich gesagt nicht sicher, ob es gut für dich ist, aber wenn du das Risiko eingehen willst, dann kannst du das Praktikum im 'Jared-Goodwin-House' machen.«
Vielleicht bin ich kein genialer Vater, aber wenn man als Erwachsener Worte wie 'Risiko' und 'ob das gut für dich ist' benutzt, dann hat man eigentlich immer das Interesse der Kids - so auch hier.
»Was is'n das für ein Laden?«
Mir war sehr bewußt, daß es gleich zu einer Explosion kommen konnte.
»Es ist ein Haus für mißbrauchte und mißhandelte Kinder. Kinder wie dich oder diesen Janosch, von dem du erzählt hast. Kinder, die Hilfe brauchen. Deine Hilfe.«
Ich hatte ja mit vielen Reaktionen gerechnet, aber nicht damit, daß David einfach aufstand und ging. Ich saß noch reichlich ratlos am Feuer, als ich die Haustür hörte - ich konnte mir denken, daß David gerade gegangen war und das, obwohl er den Winter nun wirklich nicht mochte und wahrscheinlich den Bären vergessen hatte. Ich gab ihm fünf Minuten, dann zog ich mich warm an und ging auch raus. Immerhin war es nicht schwierig, ihn zu finden, ich roch seine Zigarette und ging langsam zu ihm. Er schaute einfach zum Horizont und ich legte meinen Arm um ihn.
»Warum?«
»Warum ich das Goodwin Haus vorgeschlagen habe?«
»Ja. Bin ich denn nicht schon genug Außenseiter? Ich bin Deutscher, ich bin schwul, ich bin mißhandelt worden, reicht es denn immer noch nicht?«
»Du bist Deutscher, du bist schwul, du bist mißhandelt worden und du bist mein Sohn und deshalb möchte ich nur das beste für dich. Das ist keine Strafe, sondern eine Chance.«
»Tolle Chance. Ich möcht' doch nur so sein, wie alle anderen. Normal eben, einfach David. Und jetzt kommst du mit dem Scheiß.«
Ich vergaß, daß es dunkel war und schüttelte nur den Kopf. Dann fiel mir ein, daß er das ja nicht sehen konnte.
»Nein David. Du kannst vor deiner Vergangenheit nicht weglaufen, das kann niemand. Du kannst aber etwas daraus machen. Es gibt wahrscheinlich in ganz Kalamazoo County keine zehn Menschen, die besser wissen, wie diese Kids sich fühlen, als du. Du kannst helfen, diesen Kindern ihr Lächeln wieder zu geben. Du bist der einzige Schüler in deinem ganzen Jahrgang, der da wirklich mitarbeiten kann. David, wir würden dir einfach gern die Chance geben, deine Fähigkeiten besser kennenzulernen.«
»Und dabei kaputt zu gehen?«
Er sagte das so ... resigniert, ohne Hoffnung. Manchmal ist es entsetzlich schwer, Vater zu sein und ich hätte ihn am liebsten ganz fest umarmt und ihn beschützt. Vor allem beschützt. Und genau das wäre völlig falsch gewesen.
»Nein, David. Weglaufen macht dich kaputt. Als du dir den Nagel in den Fuß getreten hast, bist du auch nicht weiter gelaufen, sondern zum Arzt gefahren ...«
Und er hatte sehr genau zugeschaut, wie der Arzt den Nagel entfernte, auch wenn er ein bißchen grün um die Nase geworden war.
» ... und danach konnte die Wunde heilen. Deine Vergangenheit ist immer noch so etwas wie eine offene Wunde und dieses Praktikum kann dir helfen. Du mußt es nicht jetzt entscheiden, nimm dir ruhig Zeit.«
»Besser nicht. Sonst werd' ich den Schwanz einziehen. Okay, ich mach's.«
Ich drückte die Gestalt, die nun mein Sohn war, an mich. Es hätte mich sehr gewundert, wenn er 'Nein' gesagt hätte, David hat viel mehr Kraft, als er weiß und ich war ganz sicher, daß er gerade einen wichtigen Schritt gemacht hatte.
David Masters
Bei Dad ist man nie vor Überraschungen sicher und heute abend er hatte sich mal wieder selbst übertroffen. Aber man muß ja nicht über Sachen nachdenken, wenn man nicht will und deshalb hab ich noch ein bißchen Hausaufgaben gemacht und mich dann ins Bett gepackt. Immerhin war bald Weihnachten und ich hatte immer noch keine Geschenke und ich hatte eigentlich nicht vor, einfach Sachen zu kaufen. In den nächsten Tagen hatte ich aber einfach keine Zeit und deshalb war dann irgendwann mal Essig mit Geschenke basteln und ich bin in die Stadt gefahren. Ja, 'ich' bin in die Stadt gefahren. Mit dem Pick-Up, acht Zylinder und PS ohne Ende und Heckantrieb und das ganze auf Schnee. Nee, Dad fand das gar nicht so lustig, aber ich hab ihm gesagt, das ich ja wohl erwachsen genug bin, um diesen Kindern zu helfen und da würde ich ja wohl auch fahren können. Hehe, ja, es war ein bißchen gemein, aber es hat funktioniert und Kit war ziemlich neidisch. Zum Glück war nicht so viel los und bei uns hier sind die Straßen eher breit und ich kam völlig problemlos an ... okay, okay, ich kam mit ein bißchen Rutschen und einer roten Ampel auf dem Gewissen an. Für die rote Ampel konnte ich aber wirklich nichts, ich mein, wenn's so glatt ist, kann man einfach nicht so richtig bremsen, ist ja auch egal, jedenfalls bin ich dann wie ein Blöder durch die Mall gelaufen, also, Mall, das ist sowas wie drei oder vier deutsche Kaufhäuser zusammen und da kann man sich echt drin verlaufen und da gibt's Millionen von Geschenken ... genau, aber natürlich nichts, was irgendwie gut war. Ich stand sogar schon vor so einem Waffenladen und dachte über so ein Fernrohr für Kit nach, auch wenn's mir wirklich gegen den Strich ging - und dann sah ich so ein riesiges Fernrohr und dann kam's mir. Okay, ab in den Pick-Up und rein ins Internet, mal sehen, ob das noch klappte ... 'ne Stunde und ein längeres Telefonat später war alles klar, jetzt mußte nur noch die Post mitspielen, aber ich hatte versprochen, die Expressgebühren zu übernehmen, müßte also funktionieren. Gut, jetzt konnte Weihnachten kommen ... oder besser: jetzt konnte kommen, was die Amis unter Weihnachten verstehen.
»Noch ein Stückchen nach links ... links, nicht rechts! ... Links!!«
»Mach ich doch! Hast du den anderen Kram?«
»Natürlich, jetzt dreh fest, sonst ist Dad wieder hier, bevor wir fertig sind.«
»Boah, jetzt mach hier kein' Streß! Wir haben's doch gleich.«
Wir hatten es natürlich noch lange nicht, aber woher sollte ich wissen, daß so ein Weihnachtsbaum ein verdammt komplizierte Sache ist. Meine Güte, bis die scheiß Silberfäden mal richtig hängen und das Licht läuft, das ist ja echt 'n Großunternehmen. Der größte Schwachsinn sind ja wohl diese riesigen Strümpfe, die man über den Kamin hängt, rot und weiß geringelt, Himmel, sehen die bescheuert aus. Und dann gab's da noch Weihnachten a la Anderson, also, da gibts Sachen, die macht man jedes Jahr nur zu Weihnachten. Man geht abends spazieren. Ungefähr 'ne Stunde und scheiß auf's Wetter. Als wir wiederkamen, hab ich meine Füße nicht mehr gemerkt und wollte den Kamin anschmeißen - ja, scheiße, war wohl nicht, Heiligabend gibts kein Feuer, nicht mal, als ich den sterbenden Eskimo gemimt hab. Dafür gab's dann auch nichts zu beißen, jedenfalls nicht sofort, weil wir alle zusammen kochen mußten, naja, wenigstens wurde es dabei warm und es machte ja auch Spaß ... naja, wenn Dad das Küchenmesser schwingt, gibt's immer was zu lachen. Tja, essen, ein bißchen in die Kiste gucken und das war's dann. Okay, ich mein, natürlich war's schon schön, wenn auch 'n bißchen komisch, aber naja, mir sollte es Recht sein, die Post war morgens wirklich da gewesen und damit hatte ich meine Geschenke zusammen und Weihnachten konnte kommen. Inzwischen weiß ich, daß Weihnachten normalerweise irgendwann frühmorgens stattfindet, aber zum Glück nicht bei uns. Wir stehen so gegen zehn auf und frühstücken erstmal in Ruhe und dann gibts die Geschenke, den Quatsch mit dem Singen schenken wir uns, aber dafür ist Feiertag angesagt, so richtig mit Schlips und Anzug. Erst machten wir die Fotos für Mom und dann gings an die Geschenke ... aber da war nur ein Briefumschlag mit meinem Namen drauf. Was sollte das denn? Dad und Kit grinsten nur, na, mal sehen »Wilkommen zur Weihnachtsralley! Um dein Geschenk zu finden, mußt du die versteckten Buchstaben finden und richtig zusammensetzen. Suche als erstes in der Küche.« Tja und dann gings ab. Wir sind quer durchs Haus gedüst und die Buchstaben waren wirklich gut versteckt und als ich sie endlich alle hatte, mußte ich sie nur noch zusammensetzen. Okay, was heißt 'nur noch', das waren verdammt viele Buchstaben und irgendwann meinte Dad »Wir gehen schon mal vor« und holte seinen Mantel und da kam es mir - 'Geräteschuppen', da sollte auch einer drauf kommen. Ich grinste.
»Na, hoffentlich hat sich das auch gelohnt!«
Aber die beiden guckten so glücklich, daß ich ziemlich sicher war, daß es wirklich eine Überraschung werden würde.
»Na, los, mach schon!«
»Jetzt hetz mich nicht, ich komm ja schon.«
Also, schneller konnte ich mich wirklich nicht anziehen und dann gings in den Schuppen und da hing ein großer Pfeil aus Pappe und zeigte auf ... nee, das gibts doch nicht. Nicht wirklich. David, wach auf! Aber als ich Dad und Kit anguckte, da wußte ich, daß es wahr war. Ich bin dann ganz langsam hingegangen und hab mich vor ihn hingekniet. Meine Güte, war der niedlich. Das war ganz klar und eindeutig Brandy. Der Brandy, von dem ich immer geträumt hatte. Der Brandy, von dem ich schon Benni erzählt hatte. Ein Irish Setter, ganz genau so, wie ich ihn mir immer vorgestellt hatte. Ich hab's erst geglaubt, als ich ihn auf dem Arm hatte und ich mußte mich erstmal kräftig räuspern, bis ich was sagen konnte.
»Hey, ich ... danke!«
Die Beiden sagten gar nichts und freuten sich einfach. Und Brandy freute sich, glaub ich, auch, denn mir wurd's ganz warm auf dem Bauch und da wußte ich, daß meine Klamotten in die Reinigung mußten. Dad grinste staubtrocken.
»David, du tropfst.«
Das war mir eigentlich völlig egal und ich ließ Brandy ein bißchen im Schnee spielen und wie ich da so stand und zuguckte, da hab ich gemerkt, das ich weinte. Und Dad und Kit haben das verstanden und es war einfach nur schön.
Ich hab mich dann schnell umgezogen und die Sachen eingeweicht ... ich hatte ja vorher gedacht, ich hätte geniale Weihnachtsgeschenke besorgt, aber neben Brandy fand ich sie ein bißchen armselig - aber zum Glück war ich der Einzige, der das meinte. Ich hatte den Beiden ein Grundstück geschenkt, jedem eins, direkt am Meer und gar nicht so klein ... allerdings auf dem Mond. War wirklich nett gemacht, mit einer Karte, wo alles eingezeichnet war und einer Urkunde und die Beiden freuten sich wirklich. Dann fiel Kit noch was ein.
»Hey, wir haben ja noch was vergessen! David, komm!«
Hm, okay, wir gingen also in den Keller ... und da war dann all das, was man für einen Hund so braucht. Kit warf mir noch einen Karton zu.
»Hier, das wirst du sicher auch brauchen, jedenfalls die erste Zeit.«
Putztücher. Ich dachte an meine Klamotten, die gerade vor sich hin weichten.
»Äh ... danke, stimmt. Hast du eine Idee, was Brandy denn eigentlich fressen darf?«
Naja, gut, er war ja noch nicht so groß und vielleicht brauchte er noch irgendwas besonderes. Ich glaube, Brandy wußte schon, wie er hieß, er stubste mich jedenfalls an.
»Er kann ganz normales Futter kriegen, aber du mußt die Tage noch mit ihm zum Tierarzt wegen den Impfungen.«
Naja, wo ich ja jetzt Auto fahren konnte, sollte das nu' echt kein Problem sein. War's dann auch nicht und der Tierdoc war zufrieden mit Brandy, allerdings gabs da noch ein kleines Problem. Brandy war ja noch ziemlich klein, aber Dad meinte, er müßte draußen schlafen. Also Brandy, nicht Dad. Okay, nicht ganz im Freien, sondern im Schuppen, aber ich fand das ziemlich bescheuert. Hab ich ihm auch gesagt ... okay, ich hätte es schon ein bißchen freundlicher sagen können, jedenfalls hat's ziemlich gekracht und ich mußte Brandy jeden Abend vor der Tür lassen. Gut, hab ich dann auch gemacht, aber ich hab mir dann noch einen alten Schlafsack organisiert und bin auch in den Schuppen gegangen. Naja, ich hab mir noch ein paar Decken und ein Kissen mitgenommen und dann hab ich einfach bei Brandy übernachtet. Hehe, Dad hat mich machen lassen, er hat bestimmt gedacht, ich würd schon wieder kommen. Bin ich aber nicht. Wir hatten ungefähr eine Woche lang ziemlich dicke Luft und Dad ist ja auch ein verdammt sturer Dickschädel und das Ganze lief, bis Brandy irgendwann Dad anknurrte.
»David, das reicht jetzt! So geht es nicht weiter. Wir wollten dir mit Brandy eine Freude machen und ich finde es ja auch schön, daß du dich so für ihn einsetzt, aber jetzt ist Schluß. Entweder normalisiert sich unser Leben hier auf der Stelle, oder Brandy geht. Endgültig. Ich habe wirklich keine Lust mehr auf dieses Affentheater.«
»Wenn Brandy geht, dann geh ich auch!«
»Okay. Ich glaube, das ist eine gute Idee. Geh ein paar Tage in die Wälder und denk darüber nach, was du willst und was dir wichtig ist. Kit wird dir beim Packen helfen. David, wenn du wiederkommst, will ich von dir eine klare Antwort. Entweder du hältst dich an ein paar Spielregeln oder wir suchen dir ein anderes Zuhause.«
George 'Dad' Anderson
Was dann kam, waren die längsten Tage meines Lebens. Ich hatte mir das Zusammenleben mit David ein wenig anders vorgestellt, ich war zu Kompromissen bereit, aber ich war nicht bereit, mich erpressen zu lassen. Ich glaube, David hatte so viel Zorn in sich, daß ein vernünftiges Gespräch nicht möglich war und deshalb fand ich Idee, ihn in die Wälder zu schicken, gar nicht schlecht. Er wußte genug, um nicht in größere Schwierigkeiten zu kommen, es gibt eine Reihe von leeren Hütten, in denen man ein paar Tage bleiben kann und er hatte eine Entscheidung zu treffen. Ich rief Colin an und erklärte ihm die Lage und ich ließ keinen Zweifel daran, daß die Entscheidung allein bei David lag. Kit hat mir später gesagt, daß er sich in den nächsten Tagen manchmal gewünscht hat, er wäre mit David gegangen, ich muß wohl ein wenig gereizt gewesen sein, allerdings in erster Linie, weil ich mir entsetzliche Sorgen um David machte. Ich hatte am Fenster gestanden und ihm nachgeschaut, wie er langsam im Schnee verschwand und Brandy mit ihm und es hatte mir fast das Herz gebrochen. Ich würde mir ewig Vorwürfe machen, wenn dieser Junge tatsächlich wieder auf die Reise gehen mußte, wieder auf den Weg in ein neues und hoffentlich besseres Zuhause. Jeden Morgen ging ich als erstes in sein Zimmer und in den Schuppen, aber David war nicht da.
Am vierten Tag verschwand die Sonne gerade, als David wiederkam. Ich hatte mir vorgenommen, im Wohnzimmer auf ihn zu warten, aber als ich ihn durch Fenster sah, ließ ich alles stehen und liegen und rannte zu ihm. Und er rannte auf mich zu und wir liefen uns in die Arme und fielen natürlich in den Schnee.
»David!«
»Dad!«
Ich war nur noch froh, daß er wieder da war, alles andere war mir in dem Moment völlig egal. Um so überraschter war ich, als David mit Brandy in den Schuppen ging. Aber er räumte nur den Schlafsack weg und stellte Futter und Wasser für Brandy hin. Ich blieb in der Tür stehen und war sehr, sehr glücklich.
»Hunde brauchen Frischluft.«
Das war und blieb Davids einziger Kommentar und er sagte den Satz mit der ganzen Überzeugung eines 16-Jährigen, der gerade einige grundsätzliche Wahrheiten entdeckt hatte. Und er hatte für sich einige Wahrheiten gefunden, das konnte ich sehen, seine Augen glänzten und irgendetwas hatte sich verändert, er kam mir weitaus erwachsener vor.
»Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee?«
Er schüttelte den Kopf.
»Danke, ich würde, glaube ich, lieber Tee trinken. Aber zuerst möchte ich mich waschen.«
»Gute Idee, aber ich bin ziemlich sicher, daß wir noch genug Wasser für ein Bad haben. Es sind auch noch Reste vom Mittagessen da, ich mache sie dir schnell warm.«
»Danke, aber hast du vielleicht die Telefonnummer von diesem Goodwin-Haus? Es wäre bestimmt gut, wenn ich mich dort vorstelle, bevor ich das Praktikum anfange.«
Hm, Mutter Natur scheint offenbar ein besserer Vater als ich zu sein. Was war bloß aus dem anderen David geworden, der ziemlich genervt die Schule runterriß und sich alle Mühe gab, jedem erreichbaren Menschen auf die Nerven zu gehen? David verschwand nach oben und kurz danach kam Kit herunter.
»Dad, was ist denn mit David los?«
»Was meinst du?«
»Er hat gerade bei mir geklopft und gefragt, ob er für ungefähr eine halbe Stunde das Bad benutzen kann! Sowas hat er doch früher nicht gemacht?«
Ich grinste.
»Tja, da kannst du mal sehen, was eine gute Erziehung bewirken kann.«
»Dann muß es daran liegen, das er ein paar Tage nicht in deiner Nähe war ...«
Er hatte einen ziemlichen Vorsprung, als er lachend nach draußen lief und dummerweise lief ich ihm nach und erwischte natürlich als erstes einen Schneeball. Was dann kam, war eine wunderschöne Schneeballschlacht, bei der Brandy wie ein Verrückter hinter den Bällen herlief und wir einen unglaublichen Spaß hatten ... wohl besonders deswegen, weil wir wußten, daß David wieder da war.
David Masters
Um zwei wär 'ne gute Zeit, hatten die gemeint. Na gut, es war jetzt sieben Minuten vor zwei und damit hatte ich noch Zeit für eine Kippe. Der Laden war auf einem großen Grundstück und man konnte nicht so ganz viel davon sehen, denn es war eine hohe Mauer drum, erinnerte mich ein bißchen an einen Knast, aber dafür standen da zu viele Bäume. Na, mal sehen, ich klingelte und wartete, bis jemand aufmachte, ein ziemlich breiter Typ.
»Guten Tag, ich bin David Masters, ich hatte angerufen ...«
Der Typ sagte nichts, sondern schaute auf ein Klemmbrett und schüttelte dann den Kopf.
»Hier steht nur ein Devon Masters.«
Naja, daß man mal einen Namen falsch versteht, ist doch nichts neues, aber der Typ rührte sich gar nicht. Ha, mal sehen, wie gut er mit Sarkasmus klarkam.
»Devon? Nein, tut mir leid, ich bin keine Landschaft in England, sondern David. Ich mache hier ein Praktikum.«
Er schaute mich staubtrocken an.
»Ich heiße George Washington und bin trotzdem weder der Präsident noch die Stadt noch der Bundesstaat. Komm rein.«
Eins zu null für ihn. Naja, kein Wunder, George machte den Wachdienst hier schon ein paar Jahre und hatte bestimmt schon jeden dummen Spruch ein paar hundert Mal gehört. Ach so, Wachdienst heißt, er paßt auf, daß hier nicht jeder reinkommt, er beschützt die Kids und das macht er verdammt gut, aber das wußte ich damals nicht. Er hat mich jedenfalls zu Alan Bluefield gebracht, das ist der Leiter und der hat mich zu Stephen gebracht und Stephen ist so eine Art Gruppenleiter, das bedeutet, er und sein Team kümmern sich um fünf Jungs, die in dem Haus wohnen und leben. Ich war ziemlich von den Socken, als ich zum ersten Mal in die Gruppe gekommen bin, ich mein, es war nicht so wie bei Rip, aber hier hatte jemand wirklich Kohle gelassen. Stephens Büro war einfach ein Wohnzimmer, in dem eben auch ein Schreibtisch stand, das Gruppenwohnzimmer war groß und wunderschön ... also, das hatte echt Stil. Jedenfalls saßen wir in Stephens Büro und er ließ sich überhaupt nicht hetzen, sondern machte erstmal in aller Ruhe 'ne Kanne Tee und erst, als wir beide 'ne Tasse vor uns hatten, fing er an, zu reden.
»So, da wären wir. David, warum bist du hier?«
»Äh ... wegen dem Praktikum.«
»War es deine Idee?«
»Nein, eigentlich nicht. Dad meinte, es wäre eine gute Möglichkeit, meine Fähigkeiten besser kennenzulernen.«
Stephen nickte.
»Und wie kommt er darauf, daß du in diesem Bereich Fähigkeiten haben könntest?«
Ich hab was völlig verrücktes gemacht. Ich bin aufgestanden und hab mich ausgezogen, natürlich nur obenrum. Ich hatte einfach keine Lust, wieder alles zu erzählen, auch wenn ich inzwischen wußte, dass das alles ein Stück von mir war. Stephen schaute mich nur an.
»Ich hätte dir auch geglaubt, wenn du es mir einfach erzählt hättest. Du bist also Opfer.«
»Nee, ich 'war' ... Opfer.«
Das Wort mochte ich nicht. Stephen schüttelte den Kopf.
»Nein, die Narben sind nicht frisch, aber noch nicht so alt. Du kämpfst sicher immer noch und ich bin nicht sicher, das es eine gute Idee ist, wenn du hier mitarbeitest. David, bist du auch sexueller Gewalt ausgesetzt gewesen?«
Ich schüttelte den Kopf. Auf einmal war mir kalt und ich zog meine Sachen wieder an.
»Nein.«
»Bist du in Behandlung? Bei einem Psychologen oder Therapeuten?«
»Nein.«
Er schaute mich lange an.
»Eigentlich würdest du hierher gehören und es ist immer ein Risiko, wenn Opfer hier arbeiten. Ich schlage dir einen Kompromiß vor. Du machst hier ein Vollzeitpraktikum, das bedeutet, du kommst zum Frühstück und bleibst bis gegen 9 abends. Du arbeitest hier mit, aber wir versuchen auch, mit dir zu arbeiten ... dir ein bißchen Hilfestellung zu geben. Voraussetzung ist aber, daß unser Psychologe sein Einverständnis gibt. Kannst du dir das so vorstellen?«
Nee, konnt' ich eigentlich nicht, ich mein, was sollte ich denn da jetzt sein, Praktikant oder ... Opfer?
Als ich dann montags morgens um kurz vor acht mit dem Pick-Up auf den Parkplatz vom Goodwin-Haus gefahren bin, hatte ich immer noch keine Antwort, aber der Psycho-Mensch hatte sein Okay gegeben, aber er hatte mir auch ein paar Stunden Therapie reingedrückt. Naja, die würde ich auch noch überstehen und diesmal wußte George Washingten Bescheid und ließ mich direkt rein. Ich geb's ja zu, ich war schon ein bißchen aufgeregt, als ich in die Gruppe gegangen bin, und es war auch ganz anders, als ich gedacht hatte. Stephen hatte mir nichts über die Kids erzählt, er hatte nur gemeint, daß es gerade ziemlich ruhig wäre und das ich deshalb zu seiner Gruppe gekommen wäre. Tja, und da saßen fünf Jungs, naja, so ungefähr zwischen zehn und sechzehn und Stephen und eine Frau und frühstückten. Hätte fast eine Familie sein können.
»Guten Morgen David! Komm, setz dich, sonst ist alles weg. Tee oder Kaffee?«
Meine Teephase war wieder vorbei.
»Kaffee, danke. Ähh ...«
Scheiße, und jetzt?
» ... ich bin David und ich bin jetzt zwei Wochen hier. Ich mach' hier ein Praktikum. Von der Schule.«
Der Kleinste guckte mich neugierig an.
»Wirst du immer rot, wenn du redest?«
Na, gut daß ich Benni gehabt hatte.
»Nee, nur wenn ich was sagen soll und nicht genau weiß, was.«
Er nickte.
»Ach so.«
Und damit war das klar. Er war nur neugierig, aber das war ich auch. Die Jungs sahen eigentlich ziemlich normal aus, die Cornflakes auch, also fing ich erstmal mit dem Frühstück an. Stephen machte die Vorstellung und als ich erzählt hab, das ich aus Deutschland komme, war die nächste Viertelstunde auch klar und nach dem Frühstück wußte ich schon, das hier nicht alles so normal war, wie's aussah. Ich weiß auch nicht, die Jungs redeten zwar mit mir, aber ... naja, ich hätt ja gedacht, da käm dann sowas wie »In der Schule hab ich gehört, daß in Deutschland ...« oder so, aber da war nichts. Und dann kams mir: Sie redeten über nichts, war vor dem Goodwin-Haus war. Als ob ihr Leben erst hier angefangen hätte. Naja, vielleicht war das ja auch so, ich mein, das richtige Leben. Nach dem Frühstück wurds dann richtig kompliziert.
»David, Finn, kommt ihr mal bitte?«
Finn war einer von den älteren Jungs, so um die fünfzehn und er redete ziemlich viel. Wir gingen in Stephens Büro.
»Finn, Kelly hat eben angerufen, sie ist krank. Wäre es in Ordnung, wenn David dich fährt? Wir haben sonst niemanden, tut mir leid.«
Pöh, was war denn so schlimm daran, von mir gefahren zu werden?
Finn machte gerade den Mund auf, als Stephen ihm ins Wort fiel.
»Finn, bitte. Gib ihm eine Chance.«
Finn machte den Mund wieder zu ... und dann zuckte er mit den Schultern.
»Okay.«
Also, ich verstand jetzt nur noch Bahnhof.
»David, Finn muß wegen seiner Wirbelsäule regelmäßig schwimmen, er kennt den Weg und weiß, wie's läuft. Du mußt ihn nur fahren, aber ich geb dir eine Badehose mit, dann kannst auch ins Wasser. Laßt euch ruhig Zeit.«
Manche Sachen sind viel komplizierter, als sie aussehen. Finn redete auf einmal nicht mehr mit mir, und als wir am Schwimmbad ankamen, war es zu. Er ging einfach zu einer kleinen Tür und klingelte und da kam auch wirklich wer, der uns reinließ. Finn rannte fast zur Kabine und ich wußte wieder mal nicht, was der ganze Scheiß eigentlich sollte - bis ich mich umzog. Natürlich, Finn war bestimmt geschlagen worden und hatte Narben und er wollte nicht, daß ich die sehe, da hätt' ich auch eher drauf kommen können. Und deshalb hatte Stephen mich mitgeschickt, weil ich hatte ja auch welche, Mann, der Typ war schon gut. Ich war 'n bißchen eher fertig, als Finn und und hab mich an so eine Tafel mit Plakaten gestellt, damit er meinen Rücken sehen konnte. Ich hab zwar hinten keine Augen, aber ich hab genau gemerkt, daß er sich meinen Rücken angeschaut hat.
»Was soll der Scheiß? Gehörst du zu uns oder machst du ein Praktikum?«
Ich drehte mich langsam um und schaute ihm in die Augen.
»Ich gehöre zu euch und ich mach' ein Praktikum.«
Wenigstens hatte er wieder was gesagt, war ja schon mal was. Er drehte sich um und stieg in den Pool. Also, da waren keine Narben. Keine Spuren. Nichts. Ehrlich gesagt Finn war ... ähem, also er war einer der schönsten Jungs, die ich jemals gesehen hatte. Und einer der verrücktesten. Er schwamm ganz gut, aber er wußte nicht, wie man schnell schwimmt und weil ich in Scarborough viel trainiert hatte, zog ich ziemlich locker an ihm vorbei ... okay, okay, es sollte locker aussehen. So langsam gefiel mir das ganz gut, ich mein, in Ruhe frühstücken, schwimmen fahren, wegen meiner konnte jeder Tag so anfangen. Finn dachte gar nicht daran, sich zu beeilen und wir waren ziemlich pünktlich zum Mittagessen wieder zu Hause. Stephen holte mich danach eben ins Büro.
»Wie war's?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Schön, er redet zwar nicht mit mir, aber ich schwimme gern.«
Er lächelte.
»Gut! Dann kannst du das die nächsten Tage jeden Morgen machen. Was Finn angeht ... er wird schon reden, wenn er dazu bereit ist. Du brauchst nur Geduld.«
»Okay.«
Na, was sollte ich denn sonst sagen? Die anderen aus meiner Klasse schufteten in der Klinik oder im Altenheim und ich konnte schwimmen gehen, also, besser gings doch nicht! Bis zum Abendessen hatte sich rumgesprochen, das ich einer von ihnen war und ein paar Jungs hatten mit mir geredet, okay, also hatten mich gefragt und ich hatte Gary geholfen, sein Zimmer umzubauen ... das war toll, Gary war zwölf und erinnerte mich an Benni und das hab ich ihm auch gesagt. Wir haben eigentlich mehr gelacht, als gearbeitet und ich hab ihm versprochen, Bennis Teddy mal mitzubringen und ich war echt erstaunt, als es schon neun war und ich nach Hause mußte. Brandy wartete schon auf mich und es war ein ganz komisches Feeling, von einem Zuhause in das andere zu kommen. Dad hat noch warmen Kakao gemacht und ich hab nur noch kurz erzählt und bin dann ins Bett gefallen.
Tja, also, ins Bett gefallen bin ich eigentlich jeden Abend, aber es war in der zweiten Woche, als ich im Bett lag und nicht schlafen konnte und so gegen zwei Kaffe gemacht hab und mich an den Rechner gesetzt hab - Mails schreiben. Die erste ging an Rip, mit einer Kopie an Dad. Ja, ich weiß, war eigentlich Blödsinn, aber ich hatte inzwischen gelernt, daß man Sachen, die man nicht sagen kann, auch aufschreiben kann. Und was jetzt kam, konnte ich nicht sagen. Der Tag hatte ganz normal angefangen und war eigentlich wie immer, bis Finn mich in sein Zimmer eingeladen hat. Jepp, _der_ Finn. Der nicht mit mir redete.
Finn Rollins
Ich wußte schon lange nicht mehr, was richtig war. Vielleicht, weil ich viel zu viel mit mir selbst beschäftigt war. Gut, ich lebte und ich hatte nicht vor, daran in den nächsten Wochen etwas zu ändern. Auch, wenn das ziemlich anstrengend sein würde. Aber ich wollte erst noch wissen, ob es für mich eine Zukunft geben konnte oder ob ich immer allein sein würde. David war einfach so in mein Leben geplatzt und normalerweise hätte ich ihn abgelehnt, hätte es abgelehnt, mit ihm schwimmen zu fahren, hätte mich geweigert, mich von ihm anschauen zu lassen. Nur in Badehose anschauen zu lassen. Aber David hatte diese verdammte Ähnlichkeit mit Justin. Und wenn es einen Menschen gab, der mich von da, wo ich war, zurückholen konnte, dann war es Justin. Ich brauchte einige Tage, aber dann habe ich David eingeladen.
»Setz dich ruhig hin. Du wunderst dich wahrscheinlich, warum ausgerechnet ich dich eingeladen habe, oder?«
Da war es wieder, dieses unsichere Lächeln, genau wie bei Justin.
»Ja ... schon. Ich mein, du mußt ja nicht mit mir reden, wenn du nicht willst. Aber ich würd' mich freuen, wenn du's machen würdest.«
Ich schaute ihn lange an. Das blonde Haar hatte er heute zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden und mit diesem Hemd und dem beigen Pullover sah er etwas erwachsener aus, als sonst. Oder vielleicht sah seine Kleidung einfach erwachsener aus.
»David, ich möchte dir meine Geschichte erzählen. Kann sein, daß es länger dauert. Wenn du willst, hol ruhig deine Zigaretten, es stört mich nicht, wenn du hier rauchst.«
Er rauchte nicht auf der Gruppe, aber ich konnte es natürlich riechen. Er holte seine Kippen und einen Aschenbecher ... und eine Kanne Kaffee mit zwei Tassen.
»Ich dachte, es wär eine gute Idee.«
Er entschuldigte sich quasi dafür, daß er mir eine Tasse mitgebracht hatte ... vielleicht war er noch nervöser, als ich.
»Ich komme aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Cleveland. Zu Hause war es ... schwierig, Stephen meinte, ich hätte einen extrem dominanten Vater. Wahrscheinlich wäre ich heute in der kleinen Highschool und würde darüber nachdenken, wie ich Geld verdienen kann, wenn mein Vater mich nicht erwischt hätte. Ich hatte mit einem Freund ... gespielt. Wir fingen gerade an, unsere Sexualität zu entdecken und mein Vater hat uns erwischt. Er hat mich einfach vor die Tür gesetzt. Ich wäre nicht mehr sein Sohn, hat er gebrüllt und das ich mich nie wieder sehen lassen sollte. Der Witz ist, daß ich gar nicht schwul bin. Ich war dreizehn. Es gibt Männer, die bezahlen dafür, daß du bei ihnen übernachtest ... und sie bestimmte Sachen mit dir machen dürfen.«
David hatte zugehört, aber jetzt waren seine Gedanken woanders.
»Hey, ich fänds schön, wenn du mir zuhören würdest!«
Er zuckte zusammen.
»Sorry. Ich dachte nur an meinen Bruder, er heißt Janosch. Bei ihm war es sein Vater, der solche Sachen gemacht hat.«
»Mit dir auch?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nee, wir sind keine richtigen Brüder ... oder vielleicht sind wir auch mehr, als richtige Brüder. Jedenfalls hat mein Alter mich nur halb umgebracht.«
»'Nur' ist gut. Jedenfalls bin ich dann nach Detroit gekommen und ich habe da ... überlebt. Es war schlimm. Es hat nicht lange gedauert, und ich hatte einen Aufpasser. Er hat mich vermietet, als wär ich ein Auto oder ein Fernseher. Für eine Nacht oder ein Wochenende. Einmal für eine ganze Woche. Mein Gott, der Typ war wirklich krank.«
Ich hatte Mühe, die Bilder nicht in meinen Kopf zu lassen.
»Zu meinem vierzehnten Geburtstag sind wir in den Zoo gefahren, es war wirklich schön ... fast so, als wäre ich ein normaler Junge. Am Tag danach mußte ich meine Sachen packen und mit einem Mann mitfahren. Es wäre für länger, hat er gesagt. Und es war für länger. Acht Wochen und drei Tage. Wir sind zu einem abgelegenen Haus gefahren. Es waren andere Männer da und andere Jungs. Dort wurden Videos gedreht. Mit Jungs und Männern und Jungs und Jungs. Verstehst du? Man kann Videos kaufen, auf denen ich zu sehen bin! Mit dem ganzen Scheiß, den wir machen mußten. Es war gräßlich. Wir schliefen zu fünft oder sechst in einem kleinen Raum und die Matratzen stanken entsetzlich. Wenn wir gerade nicht dran waren, mußten wir helfen, Sachen tragen, Getränke holen und solche Sachen. Am Anfang habe ich mich jede Nacht in den Schlaf geweint, aber irgendwann hatte ich keine Tränen mehr. Und dann kam Justin.«
Es tat entsetzlich weh, den Namen auszusprechen und ich hatte Mühe, weiter zu reden.
»Justin ... ich glaube, Justin hat mich davor bewahrt, verrückt zu werden. Er war so wahnsinnig tapfer. Sogar, wenn er abends vom Filmen kam, hat er mich noch getröstet. Am schlimmsten war es, wenn wir beide zusammen drehen mußten. Er hat mich manchmal festgehalten, bis ich eingeschlafen bin. David, ich bin nicht schwul, aber ich liebe Justin mehr als jeden anderen Menschen. Und dann ging er weg und kam nicht wieder. Die anderen Jungs haben gesagt, er wäre abgeholt worden. Ich hatte Glück. Zwei Tage später waren auf einmal bewaffnete Männer da, alles voll mit Polizei und FBI. Aber Justin war weg. Und sie haben ihn auch nicht mehr gefunden.«
Ich konnte nicht mehr reden. Und David setzte sich zu mir aufs Bett und ich weinte in seinen beigen Pullover. Ich hatte schon lange nicht mehr geweint. Und er hielt mich fest, so wie Justin. Es tat so weh.
»Am Anfang wußten sie wohl nicht recht, wohin mit uns. Ich bin einfach immer wieder abgehauen, nur für ein paar Tage. Ich habe einige Male Männer getroffen, die mich kannten. Von den Videos kannten. Ich dachte, jeder kennt mich, jeder auf der Straße. Jedesmal, wenn mich jemand angeschaut hat, habe ich gemeint, er hätte mich auf den Videos gesehen. Ich habe dann angefangen, auf Brückengeländern zu balancieren. Ich wußte nicht, ob ich leben wollte und ich fand, es wäre eine gute Idee. Wenn ich nicht runterfalle, werde ich den Tag leben ... habe ich mir versprochen. Irgendwann hat jemand die Polizei gerufen und die haben mich hierhin gebracht. Stephen hat mich ein paar Mal von dem Geländer geholt. Und dann habe ich ihm versprochen, das nicht mehr zu machen. Und ich habe ihm versprochen, zu sagen, wenn ich nicht mehr leben will.«
Davids Augen waren rot, vielleicht hatte er auch geweint, ich weiß es nicht.
»Hast du Zeit? Ich möchte dir etwas zeigen.«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Ich habe alle Zeit der Welt. Wo soll's denn hingehen?«
Er lächelte.
»Laß dich überraschen. Komm, wir sagen Stephen Bescheid.«
George Anderson
Ich schrieb gerade an einer etwas unübersichtlichen Stelle meines neuen Romans, als ich David hörte, das heißt, als ich den Pick-Up hörte. Wie üblich war Brandy eine Schwanzlänge eher an der Haustür als ich, aber eines Tages werde ich schneller sein ... wahrscheinlich eines fernen Tages. Ich wartete, bis David den Motor abgestellt hatte, dann ließ ich Brandy raus. Der rannte bellend zu David und ich hinterher ... nein, natürlich nicht bellend. Und auch nicht rennend. David war eindeutig zu früh und er war eindeutig nicht allein ... ein Junge in Davids Alter, ich konnte mir denken, wo er herkam.
»Tag, ich bin George Anderson und ich versuche, der Vater von David zu sein, mit wechselndem Erfolg, wie ich hinzufügen möchte.«
Woraufhin einige Schneeflocken den Weg von Davids Hand in mein Gesicht fanden. Ich grinste.
»Du siehst, was ich meine.«
Der Junge lächelte vorsichtig.
»Mein Name ist Finn. David meinte, ich könnte mitkommen.«
»Natürlich. Wenn du zum Abendessen bleibst, mache ich schnell mein berühmtes Kaninchenragout und ...«
»Dad, mach lieber deinen berühmten Anruf bei der Pizzeria. Wir wollen ein bißchen spazierengehen, zum Essen sind wir wieder da, in Ordnung?«
»Klar, viel Spaß.«
Die Beiden zogen los, zusammen mit Brandy und ich hatte das Gefühl, es würde ein sehr langer Spaziergang werden.
Das Abendessen war eine richtig gemütliche Sache. Dem Jungen, diesem Finn, schien der Spaziergang gut getan zu haben, denn er war ... lebendiger und ich fragte mich, was David wohl im Sinn hatte. Als wir fertig waren, stand er auf.
»Ich spül das nur eben schell weg, dann können wir hoch gehen.«
Ich zog die Augenbraue hoch.
»Finn? Habt ihr auf eurem Spaziergang merkwürdige Lichter gesehen? Oder kleine grüne Männchen? Irgendetwas muß passiert sein, denn der David, den ich kenne, würde niemals freiwillig spülen.«
Wieder dies vorsichtige Lächeln.
»Jetzt, wo Sie es erwähnen, da war, glaube, ich ein Raumschiff ...«
David spielte mit und zielte mit dem Tortenheber auf Finn.
»Ha, du hast unser Geheimnis verraten, Erdling! Wir werden euren Planeten mit unseren mächtigen Deintra ... «
Ich wußte, was er meinte.
»Desintegratoren, oh mächtiger Commander!«
»Wie auch immer, jedenfalls werden wir euren Planeten damit zu Staub zermalmen!«
Und so begab es sich, das der tapfere Erdling Finn mit seinem Laserschwert, in diesem Falle ein Sofakissen, gegen den übermächtigen Außerirdischen mit dem schrecklichen Tortenheber in den Kampf zog. Das einzige, was die beiden töteten, war mein Zwerchfell und ich entdeckte zwei Dinge. Als Finn in dem Durcheinander irgendwas von 'Tod allen Alganiern' schrie, wußte ich, daß er ein Buch von mir gelesen hatte, was eindeutig gegen seinen guten Geschmack sprach. Und als der tapfere Erdling dem besiegten Alganier am Schluß die Hand reichte und meinte: 'Jeder Bewohner der Erde wird bis zum letzten Atemzug für die Freiheit aller Menschen kämpfen', da hatte ich den Schlußsatz für meinen Roman und einen neuen Namen für die Danksagungen. Nun ja, selbst wohlmeinende Kritiker nennen meine Romane »Trivialliteratur«.
»Dad? Kann Finn hier übernachten?«
Nanu, was war denn das?
»Natürlich, aber klärt das auch mit dem Haus ab, ja? Und schlagt euch nicht die Nacht um die Ohren!«
»Klar, Dad.«
Na, ob das so klar war ... die Beiden verzogen sich nach oben und ich fuhr Kit holen, er hat Mittwochs immer Training. Spät am Abend habe ich noch ein Exemplar von »Notruf aus Algor Centauri« gefunden, genau, da kamen die besagten Alganier vor und hab eine kleine Widmung für Finn auf's Vorsatzblatt geschrieben und mich dann auch ins Bett gelegt. Ich wünschte, Sheila wäre hier. Sie hätte ihren Spaß an den Jungs gehabt und sicher viel besser als ich durchschaut, was da ablief.
Mitten in der Nacht hörte ich leise Schritte. Nun, bei uns laufen Einbrecher nicht barfuß durch die Gegend, insofern mußte es einer der Jungs sein. Dann hörte ich die Kaffeemaschine. Ich habe mir schon lange abgewöhnt, bei solchen Dingen nervös zu werden, das würde sich schon alles aufklären.
David sah beim Frühstück etwas müde aus und ich dachte mir meinen Teil. Dann bekam Finn noch das Buch.
»Finn? Du hast gestern die Alganier erwähnt. Ich freue mich immer, wenn jemand meine Bücher liest, deshalb hab ich dir ein Exemplar signiert.«
Ich bin ziemlich sicher, daß er sich gefreut hat, auch, wenn er das nicht so deutlich zeigte. Als die Jungs weg waren, fand ich die Mail von David ... und da wurde mir so einiges klar. Mir war auch schon vorher klar gewesen, dass Finn nicht grundlos im Goodwin-Haus war, aber das war ja wirklich heftig. Als David abends wieder kam, habe ich ihn erstmal ganz fest in den Arm genommen, denn ich war sehr stolz auf ihn.
»Dad? Können wir reden?«
Das war eindeutig nicht der Moment für Scherze.
»Natürlich. Was hast du auf dem Herzen?«
»Du gehörst doch zur Gruppe und da dachte ich, ihr könntet vielleicht ein Zuhause für Finn finden. Ich glaube, das ist wirklich wichtig.«
Nachdem ich die Mail gelesen hatte, wußte ich, was er meinte. Trotzdem war das nicht so einfach.
»David, ich gehöre eigentlich nicht zur Gruppe, jedenfalls nicht so richtig. Ich unterstütze die Gruppe natürlich, aber eher finanziell.«
Er schaute mich zweifelnd an. Na gut, das konnte ich verstehen, wir lebten zwar nicht ärmlich, aber auch nicht unbedingt luxeriös. Ich seufzte.
»Okay, muß sowieso mal sein. Hol bitte Kit, ich muß euch etwas sagen.«
Ich ging in mein Büro und holte ein paar Dinge und wartet, bis die beiden da waren.
»Gut, Kinder, setzt euch. Ich habe mich immer vor diesem Moment gefürchtet und ich wünschte, Mom wäre hier, aber es geht nun mal nicht anders. Kennt ihr dieses Buch?«
Beide nickten, natürlich kannten sie es, immerhin hatte es einige Wochen auf der New York Times Bestsellerliste gestanden, auf Platz eins, wie andere Bücher des gleichen Autors vorher. Ich schluckte.
»Es ist von mir.«
Finn Rollins
Ich hätte aus dem Fenster springen können, nur um irgendetwas zu tun. Gila hatte mich schon die Wege fegen lassen und wenn es nicht so kalt gewesen wäre, hätte ich meine Joggingschuhe angezogen. Meine Bibel lag auf dem Tisch. Sie hieß »Dead and Gone« und ist von Andrew Vacchs. Und wieder einmal hatte ich da ein Stück Wahrheit gefunden: »A family of choice, the only kind us Children of the Secret ever trust.« Ich wußte schon immer, das es wahr war, aber jetzt wußte ich, wie wahr. Und es zerriß mich. Ich wollte auch nach Hause. Nein, nicht zu dem Bastard, der mich gezeugt hatte, sondern zu Eltern. Ich wollte auch einen Vater, dem man ansehen konnte, daß er mich lieb hatte. Einen Bruder, mit dem ich lachen konnte. Ein Haus, in dem ich sicher war. Einen Hund, der für mich sterben würde. Stattdessen saß ich in meinem Zimmer und schaute aus dem Fenster und sah nichts. Ich konnte nicht auf David neidisch sein, aber ich wollte verdammt noch mal auch so was, wie er hatte. Ja, ich weiß, Glück ist das, was die anderen haben. Und genau deshalb konnte ich mit mir selbst nichts anfangen. Warum hatte ich eigentlich nie Glück? Was war das eigentlich für ein Scheiß? Erst fliegt man zu Hause raus, dann muß man auf den Strich, dann noch vor die Kamera und jetzt in dieses Heim. Und es sah nicht so aus, als ob es besser werden würde. Vielleicht sollte ich doch mal zu Stephen und ihm sagen, daß ich keine Lust mehr auf den Mist hab, den man Leben nennt. Aber ich wußte, daß ich es nicht tun würde. Denn jetzt ... jetzt hatte ich einen Traum. Ich träume immer, wenn ich einschlafe, ich stelle mir einfach schöne Sachen vor und gestern abend konnte ich nicht einschlafen, weil ich mir vorgestellt habe, wie das wohl wäre, wenn Justin und ich da wohnen würden, zusammen mit David und seinem Bruder und Mr. Anderson. Wenn ich auch nur einen Tag so leben dürfte, nur einen verdammten, wunderschönen Tag ... dafür würde ich gern sterben. Irgendwann gewöhnt man sich an die Dunkelheit, kann darin leben, aber David hatte mir wieder ein bißchen Licht gezeigt und deshalb tat das Dunkel viel mehr weh, als sonst.
Gila hatte mich auf mein Zimmer geschickt, weil ich ihn angeschrien hatte. David. Natürlich. Der Mensch, der mir wirklich hilft, den schreie ich an. Ich hab gesehen, daß es ihm weh getan hat und genau das wollte ich auch. Er war mir viel zu nahe gekommen, hatte die Mauern, die ich um mich aufgebaut hatte, einfach übersprungen. Er hatte alles kaputt gemacht, was ich aufgebaut hatte und dafür haßte ich ihn. Ich hatte mich in der Dunkelheit eingerichtet, hatte es mir gemütlich gemacht ... hab ich mir wenigstens eingeredet. Und jetzt hatte David mir gezeigt, daß es eine Müllkippe war. Okay, ich hatte David weh getan, aber eigentlich hatte ich mir selbst weh getan - wie üblich. Es ist das, was ich am besten kann. Mein Gott, ist das eine Scheiße!
»Finn?«
David. Bitte nicht. Nicht jetzt.
»Hast du denn immer noch nicht genug?«
Er zuckte ein wenig zusammen.
»Nein, hab ich nicht.«
Justin ... oder vielleicht war es David, ich weiß es nicht ... stand da. Justin hatte mich allein gelassen. David hatte alles kaputt gemacht ... ich konnte den Zorn nicht mehr festhalten, verlor die Kontrolle
»HAU AB! VERSCHWINDE!«
»Nein, das ...«
Weiter kam er nicht. Ich traf ihn mitten auf die Nase und wir gingen beide zu Boden und ich schlug nur noch zu. Man sagt, daß Wahnsinnige auch wahnsinnige Kräfte haben, vielleicht stimmt das. David hatte einfach keine Chance. Es war, als ob ich auf ein totes Stück Fleisch einprügeln würde. Irgendwann konnte ich nicht mehr. Gar nicht mehr. Nichts mehr. Der Treibstoff für meine Wut war weg. Ich machte die Augen auf und sah, was ich getan hatte. Gila hat gesagt, ich hätte geschrieen, aber ich erinnere mich nur an die Angst. Die Angst, daß ich David umgebracht hätte. Daß ich wieder alles kaputt gemacht hätte. Ich war so glücklich, als David die Arme runternahm, als er sich bewegte. Sein Gesicht war blutig und er spuckte zwei Zähne aus und irgendwas aus Metall.
»David ... ich ... ich ...«
Er zog mich runter zu sich, aber nicht, weil er mir weh tun wollte. Er hielt mich einfach fest. Und da hab ich geschrieen. Weil es so wahnsinnig weh tat. All der Schmerz. Und die Einsamkeit. Und die Angst. Irgendwann hab ich gemerkt, daß ich schon wieder Davids Pullover vollheulte, diesmal war es ein ein grüner.
David Masters
Vielleicht hatte Finn mich angesteckt und ich war auch ein bißchen durchgeknallt, vielleicht hatte ich auch zuviel auf den Kopf gekriegt, jedenfalls hab ich irgendwann angefangen, zu kichern. Finn hatte inzwischen aufgehört, zu weinen und hob den Kopf.
»Wenn uns jemand so sehen könnte!«
Ich hab echt angefangen, zu lachen und Finn lachte ein bißchen mit.
»Finn, vielleicht gehst du jetzt besser von David runter. Ich möchte mir sein Gesicht mal ansehen.«
Gila. Naja, wir sind dann ins Bad und so und eigentlich war nichts passiert ... okay, okay, es gab ein paar Stellen, die taten schweineweh, aber zum Glück war wohl nichts gebrochen. Ich mußte mir nur einen Pulli leihen, weil mein Zeug in kalt Wasser lag, damit das Blut rausging.
»David, ich glaube, du machst für heute Feierabend. Ruh dich aus, okay?«
»Nichts dagegen, aber nur, wenn Finn mit darf. Ich bring ihn morgen früh einfach wieder mit.«
Der hatte die ganze Zeit wie ein abgesoffener Pudel dabei gestanden. Ich konnt' mir denken, daß er nicht wußte, was er machen sollte, aber das wußte ich auch nicht.
»David, das geht nicht. Weißt du, streng genommen hat Finn einen Mitarbeiter des Hauses angegriffen und das können wir nicht einfach ignorieren.«
Ich glaub, manchmal muß man sich entscheiden, was richtig ist und dann machen, was sich richtig anfühlt, auch, wenn's sich nicht so toll ist.
»Und warum hast du dann nichts gemacht? Als ich da lag? Ich mach hier nur ein Praktikum und du hättest doch auf mich aufpassen müssen, oder?«
Gila guckte ein bißchen verletzt, sie hatte den 'sowas-machen-Kollegen-doch-nicht'-Blick drauf, aber ich wußt' verdammt genau, wo ich stand. Und ich wußte, daß sie verloren hatte. Und sie wußte das auch.
»Dann war es also ein ... «
Das wußte ich genau, schließlich hatte ich so'n Scheiß früher dauernd erfunden.
»Unfall, richtig. Finn ist gegen die Tür gestolpert und ich stand genau dahinter. War einfach Pech.«
Gila sah gar nicht glücklich aus.
»Tja, dann viel Spaß. Und wegen deiner Zähne ...«
»Laß mal, ich kümmere mich drum.«
Rip würde fluchen. Aber so würde ich mal wieder nach Hamburg kommen, hm, ob ich Dad wohl einen Flug mit der Concorde aus dem Kreuz leiern konnte? Ich mein, wo wir doch jetzt reich waren ... und ich mußte ja schnell wieder da sein, wegen der Schule. Aber das war jetzt nicht so wichtig, ich hatte zwar keinen blassen Schimmer, was da gerade bei Finn abgegangen war, aber ich wußt' genau, dass es verdammt wichtig war. Wir sind nach Hause gefahren und Dad war nicht so begeistert von meinen kaputten Zähnen, aber er hat klargekriegt, dass es so etwas wie ein Unfall war. Normalerweise wär' ich mit Finn losgelaufen, aber irgendwie haben wir uns dann doch in mein Zimmer gesetzt. Ich geb's ja zu, ein bißchen nervös war ich schon, weil ... naja, wenn Finn ein bißchen besser gezielt hätte, dann hätt' er mich auch totschlagen können. Und ich hatte 'ne Schweineangst davor, daß er nochmal durchdrehen würde. Und ich hatte vielleicht noch mehr Angst davor, daß ich jetzt was falsch machen würde.
»Finn? Wenn du willst ... ich möcht gern wissen, was da los war. Mit dir, meine ich.«
Er lächelte leise.
»Ich hab dir doch von Justin erzählt. David, du bist ihm ähnlich, du siehst ungefähr so aus wie er. Und du bist auch ein wenig so wie er. Ich habe immer davon geträumt, daß er wiederkommen würde. Eines Tages. Und jetzt bist du gekommen. David, ich habe dich ganz nahe an mich herangelassen und ... ich konnte nicht anders, ich mußte mir selbst beweisen, daß du ein Arsch bist. Daß ich nichts wert bin. Daß ich alles kaputt mache.«
Ich weiß nich', warum überhaupt, aber irgendwie machte das Sinn, irgendwie hab ich so ungefähr klargekriegt, was Finn meinte.
»Damals, in Deutschland, da hab ich mir immer eingeredet, das alles okay wär', das es eben so ist. Daß mein Stiefvater mich schlägt und meinen kleinen Bruder. Ich hatte einen Lehrer, der hat manchmal versucht, mit mir zu reden, aber das wollte ich nicht. Vielleicht hätte er gesagt, daß bei mir nicht alles okay ist.«
Finn nickte.
»Ja, ich glaube, wir meinen das Gleiche. David ... ich kann dir nichts versprechen. Ich weiß nicht, ob ich nicht wieder ausraste, ich ... kenne mich mit so etwas nicht aus. Ich ... kenne mich selbst nicht so genau. Und ich habe Angst.«
Also, so wie ich das verstand, schrie er einfach 'Laß mich jetzt nicht hängen'. Und das hatte ich auch nicht vor. Ich mußte nur noch ein paar Leute überreden.
»Finn, komm zu uns. Bleib hier. Geh nicht zurück.«
Es war echt schlimm. Benni hat manchmal so geguckt. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was ich machen würde, wenn Dad 'Nein' sagen würde, aber ich wußte ganz genau, dass ich Finn nicht allein lassen würd'. Und wenn ich mit ihm losziehen mußte, um diesen Justin zu suchen. War schon komisch, ich mein, klar mochte ich Finn, aber jetzt ... hatte ich wohl wieder einen Bruder mehr.
»Finn, hast du Lust, mit Brandy spazieren zu gehen? Ich muß mit Dad reden. Und ... ich laß dich nicht hängen. Versprochen.«
Tja, und dann wurd's spannend. Eigentlich hätte ich ja nervös sein müssen, aber das war ich irgendwie nicht. Hat vielleicht was mit erwachsen werden zu tun, keine Ahnung, aber ich wußte, was richtig ist und ich wußte, das ich es tun würde.
»Dad? Ich hab Finn gesagt, daß er hier bleiben soll. Hier bei uns.«
Er machte den Mund 'n paar Mal auf und wieder zu, bis er dann was gesagt hat.
»Schön, das du mich vorher fragst. David, wir können darüber reden, aber ich lasse mich nicht von dir erpressen, das weißt du.«
Ich nickte.
»Ja. Das hab ich auch nicht vor. Ich mußte aber eine Entscheidung treffen und das hab ich gemacht. Ich hab einfach gehofft, dass du mir den Rücken frei hältst. Du und Kit. Und Mom.«
Er schüttelte den Kopf.
»David, ich weiß noch nicht, ob ich unendlich sauer bin oder wirklich stolz. Als ich dich ins Goodwin-Haus geschickt habe, da habe ich gehofft, dass du deine Fähigkeiten entdeckst, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass du so weit gehst. Also gut, erzähl mal. Was ist der Hintergrund?«
Ich hab erzählt, alles erzählt. Ein bißchen wußte er ja schon, aber ich hab ihm wirklich alles gesagt. Danach war es lange Zeit still.
»David, ich verstehe, warum du ihm gesagt hast, daß er bleiben soll. Auch, wenn ich nicht davon begeistert bin. Ich habe nichts gegen Finn, aber eine Familie funktioniert nur als Team und deshalb redet man _vorher_ über solche Dinge. Eine Familie hält aber auch zusammen und ich werde dich nicht im Regen stehen lassen. Deshalb kann er erstmal für ein paar Wochen bleiben. Probieren wir es aus und ...«
So hatten wir nicht gewettet.
»Dad. Sorry, aber Finn braucht kein 'Vielleicht', er braucht eine Familie. Leute, die zu ihm stehen. Leute, die ihm nicht weh tun. Die ihn mögen. Sag bitte Ja oder Nein, es ist beides in Ordnung.«
Dad hob die Augenbraue.
»Und was machst du, wenn ich Nein sage?«
»Ich gehe mit Finn los und suche Justin. Und ich komme wieder, wenn wir ihn gefunden haben. Ich will euch nicht verlieren, verdammt, ich hab euch sehr lieb. Aber ich kann Finn nicht hängen lassen ... ich kann's einfach nicht.«
Es hat mir selbst weh getan, das zu sagen. Ich mein, der Mann hatte mich in seine Familie geholt, er hatte mir ein Zuhause gegeben und ich war wohl nicht der tollste Sohn gewesen und jetzt war's wieder schwierig. Er tat wir wirklich leid und ich hab mich verdammt mies gefühlt, aber manchmal ist das eben so. Aber er hat es verstanden, viel besser, als ich.
»Es hat etwas mit Benni zu tun, oder?«
»Wieso?«
»Weil er ... tot ist. Nicht mehr da ist. Du konntest nichts für ihn tun. Vielleicht versuchst du jetzt, Finn zu helfen, weil du Benni nicht mehr helfen kannst.«
Dad hatte recht, so verdammt recht.
»Blödsinn. Weißt du, was Rick mir mal gesagt hat?«
Er schüttelte den Kopf.
»Wer war nochmal Rick?«
»Er war der erste von der Gruppe, der mit mir gesprochen hat. Er ist mit mir reiten gegangen und er hat mich sein Auto fahren lassen. Ich hab Rick mal gefragt, warum er das macht. Ich weiß noch genau, was er gesagt hat, auch wenn ich es damals nicht so ganz verstanden habe: 'Diese Welt schuldet dir etwas, David, und ich habe nur versucht, ein kleines bißchen dieser Schuld zurückzuzahlen. Ich kann nicht ändern, was gewesen ist und vielleicht kann ich die Welt nicht verändern, aber manchmal kann ich wenigstens ein bißchen was tun.' Wir schulden Finn etwas, Dad, jeder von uns. Weil wir in einer Welt leben, die solche Sachen zuläßt. Die Gruppe hat mir eine Chance gegeben, du hast mir eine Chance ... viele Chancen gegeben - ich will doch nichts anderes, als dass Finn auch eine Chance kriegt. Eine verdammte Chance, das ist alles!«
Dad schimpfte nicht mal wegen dem fluchen, das mag er eigentlich gar nicht.
»Hm, ich verstehe, was du meinst. Und ich gebe zu, dass da etwas dran ist. Okay, ich mach dir einen Vorschlag: Finn kann für ein paar Wochen zu uns kommen ...«
Ich hatte schon tief Luft geholt, aber winkte ab.
» ... lass mich ausreden. Er kann für ein paar Wochen zu uns kommen und in der Zeit suchst du eine neue Familie für ihn.«
»ICH?«
Er lächelte.
»Ja. Du willst ihm helfen. Okay, dann tu es. Die Gruppe wird dir helfen, ich werde dir auch helfen, aber du triffst die Entscheidungen. Schau dir die Familien an, red mit ihnen, du hast die Wochenenden dafür Zeit. Du kannst den Pick-Up haben, wenn du Geld für Flugtickets brauchst, sag es einfach.«
Ich wußt' nicht so genau, ob ich lachen oder weinen sollte ... aber ich wußte plötzlich, dass das Wort »Verantwortung« was ziemlich heftiges bedeuten kann.
Nachwort
Noch ein kurzes Nachwort: »Finn« ist eine frei erfundene Figur, leider gibt es solche Kids auch in der Realität. Meine Entschuldigung an alle, die in solchen Heimen wie dem Goodwin-House leben und arbeiten, ich weiß, daß ich vieles zu einfach dargestellt habe, aber NetEscape ist eine Story, keine Dokumentation. Ich glaube aber, dass ich »Finns« Schwierigkeiten mit dem Leben ziemlich realistisch beschrieben habe, denkt bitte daran, wie es den Opfern geht, wenn ihr mal wieder irgendetwas über die verdammten Bastarde lest, die Kinderpornos machen.
Das Buch »Dead and Gone« von Andrew Vacchs gibt es wirklich, keine Ahnung, wie der deutsche Titel heißt. Vacchs hat unter vielen Mißbrauchsopfern einen Kultstatus, er ist ein New Yorker Rechtsanwalt und vertritt ausschließlich mißhandelte/-brauchte Kinder. Er schreibt ziemlich heftige Krimis, in denen es meistens auch um Kids geht, seine Hauptfigur ist »Burke«, ein Privatdetektiv ohne Lizenz, der in einer Art Grauzone lebt und arbeitet. Fangt bitte nicht mit »Dead and Gone« an, lest erstmal seine älteren Sachen.
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