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Streetkids
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Informationen
- Story: Streetkids
- Autor: Thomas
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Drama
Vorwort
Diese Story und alle Personen sind absolut frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Menschen wäre rein zufällig - und ich bin auch nicht der Tim in der Geschichte!
Diese Geschichte darf ohne mein vorheriges Einverständnis nicht weiterverbreitet oder publiziert werden - auch nicht auf anderen Internetseiten!
Alle verwendeten Markennamen sind eingetragene Warenzeichen und werden nur aus literarischen Gründen verwendet
Ich bevorzuge den Crossover zwischen alter, neuer und zukünftiger Rechtschreibung, besonders die Dialoge sind mit Absicht recht frei gestaltet.
Ich freue mich immer über Anregungen und Kommentare, bitte an thomas-stories@gmx.net
Ich werde mir viel Mühe geben, schnell zu antworten, aber habt bitte Verständnis, wenn es 'mal ein paar Tage dauert.
Für Robbi, wo immer er jetzt ist
Mann, das Ding sah aus wie ein Knast, schwere Stahltüren, hohe Betonmauern, echt Klasse, fehlte nur noch der Stacheldraht und die Kameras. Wie es im Knast war, wußte ich inzwischen, da sollte ich hier ja wohl auch klarkommen. Ich war früher da, als die anderen Kids, ich sollte mich noch beim Direktor melden, bevor es losging. Also rein in die Schule, sah von innen auch nicht besser aus, lange Betongänge mit bunten Streifen, wer denkt sich so einen Schwachsinn aus. Okay, Richtung »Verwaltung« sollte stimmen, ein paar Gänge weiter fand ich das Sekretariat und ging rein.
»Junger Mann, normalerweise klopft man erst an und kommt dann herein. Haben sie das nicht gelernt?«
Doch, hatte ich und ich hatte mit einem gebrochenen Finger für diese Lektion bezahlt, aber das war sicher nicht das, was die Lady hören wollte.
»Es tut mir leid, beim nächsten Mal werde ich daran denken. Aber wo ich schon mal hier bin, ich suche den Direktor.«
Ein verwunderter Blick ... und dann kapierte sie, wer ich war.
»Ach so, du mußt Tim sein. Herzlich willkommen bei uns! Ich sehe mal nach, ob Herr Dr. Schmidt Zeit hat.«
Es war mir eigentlich völlig egal, ob er Zeit hatte oder nicht, ich sollte mir nur das übliche Pädagogengewäsch abholen - und da konnte ich gut drauf verzichten. Trotzdem nickte ich lächelnd - ich konnte inzwischen jede Show abziehen. Herr Dr. Schmidt kam persönlich und streckte mir die Hand entgegen.
»Hallo Tim, schön dich zu sehen!«
Nein, bitte nicht! Nicht diese »Ich-bin-dein-Kumpel«-Nummer.
»Vielen Dank, ich freue mich auch, hier zu sein.«
Und dann ging's ab in sein Büro, der übliche Quatsch über die Relevanz von Schule und einer guten Ausbildung bla bla bla.
»Tim, du hast ja nun schon eine ganz schöne Karriere hinter dir.«
Also jetzt reichte es.
»Herr Dr. Schmidt, wir wissen beide, daß ich einige Zeit auf der Straße gelebt habe, wir wissen beide, daß ich ein paar Sachen gemacht habe, mit denen das Gesetz nicht einverstanden war und wir wissen beide, daß ich gerade sechs Monate Jugendknast hinter mir habe. Was ich nicht weiß, ist, was ich hier eigentlich soll! Das hier ist eine Privatschule, nur so Strebertypen und Kids mit Kohle ohne Ende. Soll ich hier das schlechte Beispiel geben, so nach dem Motto: Macht eure Hausaufgaben oder ihr endet so wie Tim! Oder was?«
»Klar! Wir ketten dich in der Eingangshalle fest, mit einem Schild um den Hals, auf dem steht: Ich bin Tim und ich habe den Unterricht gestört.«
Der Mann hatte Humor.
»Tim, ich weiß auch, daß ich mir das ganze Geschwätz hätte sparen können, aber ich wußte einfach nicht, wie ich dich behandeln sollte. Ja, wir sind eine Privatschule und viele unserer Schüler kommen aus einem reichen Elternhaus, aber das ist nicht der Punkt. Wir sind eine Schule und ich bin Lehrer und wir sind der Meinung, das absolut jeder Schüler eine Chance verdient, du genauso wie jeder andere.«
Klasse, nur war ich nicht wie jeder andere.
»Für dich wäre es an jeder Schule schwierig, besonders nach dem Medienrummel um dich. Aber wir sind eine kleine Schule und deshalb ist es hier vielleicht leichter - aber leicht wird es nicht.«
Medienrummel, mir wurde immer noch schlecht, wenn ich daran dachte. Die Bullen hatten mich buchstäblich mit 'runtergelassenen Hosen erwischt ... allerdings war mein Gegenüber ein Junge. Irgendwer konnte seine Klappe nicht halten und am nächsten Tag war die Sache auf der Titelseite - mit Foto. Dazu eine Serie »Schwule Straßenkinder in Deutschland«, eine wirklich brillante Idee und es machte mich zutiefst glücklich, daß ganz Deutschland an meinem coming out teilnehmen konnte. Scheißpresse!
»Nichts ist jemals leicht gewesen Herr Dr. Schmidt, ich werde es einfach versuchen.«
Womit unser Gespräch beendet war, er führte mich zu meinem Klassenraum.
»Das ist die 10b, Frau Sievers unterrichtet Französisch. Frau Kollegin, das hier ist Tim, unser neuer Schüler.«
»Hallo Tim. Tim, das hier ist die 10b, 10b, das hier ist Tim, euer neuer Mitschüler! Ihr werdet noch genug Gelegenheiten haben, euch kennenzulernen, aber wenn du willst, kannst du dich kurz vorstellen!«
Tolle Idee. Wenn ich nichts sagte, sah ich alt aus, wenn ich etwas sagen wollte, durfte ich mir eine Ansprache aus den Fingern saugen.
»Ich bin Tim, ich bin 16 und weil ihr es sowieso rauskriegen werdet, kann ich es euch auch gleich sagen - stand in allen Zeitungen. Also: Ich hab auf der Straße gelebt, ich hab grad sechs Monate Jugendknast hinter mir und ich bin schwul. Ich weiß auch noch nicht, wie das hier laufen soll und was ich an eurer Schule verloren habe - wir werden sehen.«
»Ich weiß zwar auch noch nicht, wie das funktionieren wird, aber ich kann dir sagen, wie das in meiner Stunde läuft.«
Frau Sievers mit der üblichen Einweisung.
»Du konzentrierst dich auf den Unterricht und gibst dein Bestes - dann werden wir gut miteinander auskommen. Such dir einen Platz, wir wollen weitermachen.«
Das deckte sich absolut mit meinen Wünschen, ich wollte nur in der Menge untertauchen und machte mich auf den Weg zu den hinteren Reihen - bis Frau Sievers noch etwas einfiel.
»Tim, wie steht es denn mit deinem Französisch?«
Worauf so ein blonder Trottel in Designerklamotten meinte:
»Ich wette, er kann's gut auf französisch machen!«
Im nächsten Moment war der Typ am Boden und ich auf ihm - ist ja nicht so, daß ich im Knast nichts gelernt hätte. Es dauerte etwas, bis sich Frau Sievers und Herr Dr. Schmidt durch die johlende Menge gekämpft hatten und das gab mir die Gelegenheit, dem Typ klarzumachen, was ich von blöden Sprüchen hielt. Lief alles ganz toll, bis Herr Dr. Schmidt versuchte, mich von dem Typen zu trennen. Hab' ich schon erwähnt, daß ich mir vor kurzem den Finger gebrochen hatte? Naja, eigentlich hatte ich ihn mir nicht selbst gebrochen, aber was soll's. Jedenfalls griff Schmidt beherzt zu und erwischte dabei meinen linken Ringfinger - und genau der war eigentlich noch kaputt. Es knackte einmal und dann existierte für mich nur noch mein Finger. Muß ne tolle Show gewesen sein, Blondie mit ein bißchen Blut im Gesicht und ich lag wie ein Ball zusammengerollt auf dem Boden und kriegte nicht mehr viel mit. Wirklich ein super Anfang.
Irgendwann war der Krankenwagen da und weil Blondie sein Frühstück wieder von sich gegeben hatte, durfte er auch mitfahren - Verdacht auf Gehirnerschütterung. Im Krankenhaus schossen sie mich erst mal ab, ich weiß nicht was die da spritzen, aber du fühlst dich wie in rosa Watte. Das Röntgen habe ich noch mitgekriegt und dann war da ein Typ mit 'nem Mundschutz und ein helles Licht - dafür gingen dann bei mir alle Lichter aus.
Wo war ich? Wieso lag ich in einem fremden Bett? Und was machte der Schlauch in meinem Arm? Krankenhaus! Ach ja, die neue Schule und Blondie. Spielte keine Rolle, ich war müde und schlief.
Die müssen mir ganz schön was verpaßt haben, jedenfalls wachte ich erst am nächsten Morgen wieder auf. Die übliche Routine. Aufstehen, waschen und frühstücken, gar nicht so einfach, denn meine linke Hand war dick verbunden. Gegen zehn tauchte einer von den Weißkitteln auf und zog mir den Schlauch aus dem Arm.
»Du hast ein ziemliches Glück gehabt, weißt du das eigentlich?«
Na, das war mir wirklich bisher entgangen.
»Nein und ehrlich gesagt weiß ich auch nicht, warum ich glücklich sein soll, hier zu liegen.«
»Wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist das bei einer Schlägerei passiert, also erwarte kein Mitleid.«
Ach, das war also die offizielle Version, gut zu wissen.
»Wenn du meinst, du müßtest dich mit einem noch nicht verheilten Bruch prügeln, dann bist du selber schuld. Aber gestern ist etwas mehr passiert als ein neuer Bruch, wir mußten ganz schön ackern, um dich wieder hinzukriegen!«
»Mir kommen die Tränen, Doc. Aber nachdem der Schlauch jetzt raus ist, kann ich duschen?«
»Nichts dagegen, aber laß dir von der Schwester eine Abdeckung für den Verband geben, es wäre nicht gut, wenn der naß würde.«
Die Schwester kam, sah und brachte mir eine Art Plastiktüte mit Klebeverschluß und dann unter die Dusche, war alles ein bißchen umständlich, aber ich fühlte mich hundertmal besser als vorher. Dann klopfte es und wer kam?
Blondie!
Oh scheiße, naja, wenigstens war ich schon im Krankenhaus, da brauchte ich nicht auf den Krankenwagen zu warten, wenn Blondie mit mir fertig war.
»Hat es irgendeinen Sinn, dich zu bitten, mit der Revanche zu warten, bis ich meine Hand wieder gebrauchen kann? Oder willst du mich gleich hier und jetzt erledigen?«
Blondie stockte und schaute mich groß an.
»Ich bin nicht hier, um dich zu erledigen, ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen!«
Entschuldigen? War ich im falschen Film?
»Also, vielleicht hab ich ja was nicht ganz richtig mitgekriegt, aber ich glaube, ich hab dir was aufs Maul gehauen. Warum solltest du dich entschuldigen?«
»Ja, du hast es mir ganz schön gegeben ... aber du hattest recht.«
»Und woher der plötzliche Sinneswandel? Übrigens, wenn du nicht vorhast, mich zu Hackfleisch zu verarbeiten, kannst du dich auch hinsetzen.«
Das tat er auch, allerdings auf mein Bett. Der Trottel hätte im Knast keine zwei Stunden überlebt.
»Tim, ich habe erst viel später begriffen, was für einen blöden Spruch ich da gerissen hab. Ich dachte, die ganze Aktion wäre eine Show, ich meine, wir sind eine Privatschule und normalerweise gibt es keinen, der im Knast war. Und als du dann noch gesagt hast, du wärst schwul, da war die Kiste für mich klar - das konnte nur irgendeine merkwürdige Aktion sein. Inzwischen hat der Direktor mir einiges erklärt. Tim, es tut mir leid!«
Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Hm, Blondie war zwar ein Trottel, aber vielleicht trotzdem ganz okay. Wir kamen ins Gespräch, Blondie hieß eigentlich Kevin und war auch 16. Er spielte in einer Band und immer, wenn in der Schule was los war, kam die Band zum Einsatz. Seine Eltern hatten reichlich Kohle, aber dafür waren sie auch kaum zu Hause. Bei mir war es umgekehrt, meine Alten waren nie Hause, aber dafür hatten sie auch keine Kohle.
»Sag mal Tim, warum warst du eigentlich auf der Straße?«
»Also Moment mal, du bist zwar nicht der Arsch für den ich dich gehalten habe, aber lass mal langsam gehen, ja! Ich den Pressefritzen damals gesagt, daß es nicht immer so ganz easy war mit meinen Leuten und das war die Wahrheit. Alles andere ist off topic.«
»Ich dachte nur ...«
»Ich glaub' ich weiß, was du dachtest. Saufender, prügelnder Vater, schwache Mutter und der kleine gequälte Tim hält das nicht mehr aus und läuft weg. Nee, so war das nicht, so einfach ist das nicht. Ich hab's nie bereut, daß ich die Biege gemacht hab und es war meine Entscheidung. Danach gab's ein paar Sachen, die hätte ich besser nicht gemacht, aber es war halt so. Ich hab dafür bezahlt.«
»Das glaube ich dir. Tim, ich muß los, meine Mutter holt mich gleich ab. Weißt du schon, wann du rauskommst?«
Ich mußte unwillkürlich lachen.
»Im Knast konnte ich dir auf den Tag genau sagen, wann ich rauskomme, aber hier ... keine Ahnung. Der Schlauch ist raus, laufen kann ich auch ... ich denk, heute oder morgen.«
Wir verabschiedeten uns und Kevin ging. Er war ein netter Kerl, aber er würde es nie verstehen, uns trennten Welten.
Nachmittags wurde der Verband gewechselt und später trabte eine ganze Horde von Weißkitteln an ... mit guten Nachrichten. Morgen vormittag noch mal den Verband wechseln und wenn es gut aussah, konnte ich raus.
Kurz danach kriegte ich Gesellschaft - scheiße, die schoben mir da echt 'n Kind rein.
»Tim, das ist Sven. Sein früherer Zimmernachbar ist heute entlassen worden und wir versuchen immer, junge Leute auf ein Zimmer zusammenzulegen. Ich bin sicher, ihr vertragt euch.«
Da hatte ich nun wirklich keine Bedenken. Das Kerlchen war höchsten 13 und sah ziemlich friedlich aus. Er kam auch gleich zu mir und streckte mir seine rechte Hand entgegen.
»Hi Tim, ich bin ein Muko und ich hatte einen Pneu.«
»Hallo Sven. Ich hatte eine Schlägerei und mein Ringfinger ist etwas kaputt. Kannst du mal übersetzen, was du grad gesagt hast?«
»Klar, ich hab Mukoviszidose und deshalb ist meine Lunge kaputtgegangen.«
Er zog sein Pyjamaoberteil hoch und ich sah ein großes Pflaster. Ungefähr zehn Minuten und etliche Fragen später hatte ich verstanden, was los war - und Sven hielt mich wahrscheinlich für einen ausgemachten Ignoranten, aber was verstand ich schon von Medizin. Der wesentliche Punkt war folgender: Vielleicht hatte Sven noch ein paar Jahre zu leben - vielleicht aber auch nicht. Scheiße, der kleine Kerl strahlte mich an, als ob Weihnachten wäre und fragte mich, ob ich mit ihm Schach spielen würde. Er spielte nicht schlecht, aber ich hatte in den letzten Monaten sehr viel am Brett gesessen und spielte gut genug, um ihn gewinnen zu lassen, ohne daß er es merkte. Sven liebte Schach und wir spielten bis zum Abendessen, wir spielten nach dem Abendessen, später an seinem Bett. So gegen elf schlief er ein - und er lächelte im Schlaf. Meine Hand tat mir weh und ich hatte Kopfschmerzen und vielleicht würde ich es nie zu etwas bringen ... aber wenigsten konnte ich dafür sorgen, daß ein todkrankes Kind mit einem Lächeln einschlief. Morgens fing Sven an, zu husten. Dauerte ziemlich lange, bis sie das im Griff hatten und es war ein Scheißgefühl, draußen zu stehen und den Kleinen jaulen zu hören. Wenigstens war der Doc mit meinem Finger zufrieden und ich konnte dann gehen. Sven war noch ziemlich hinüber, unser Abschied war kurz. Schule war für heute gestorben, ich mußte erst mal zum Hausdoc - Rezept abholen. Der Doc las den Brief und griff zum Rezeptblock - so wünsch ich mir einen Arzt. Ab in die Apotheke, Schmerzmittel abholen und dann war Freizeit angesagt.
Die Schule war ... nett. Schmidt entschuldigte sich ohne Ende, die Kids waren sehr bemüht - alles eine riesige Show. Nach ein paar Tagen beruhigte sich die Lage und der Alltag fing an - Schule und Hausaufgaben, Hausaufgaben und noch mal Hausaufgaben. Ich war nicht schlecht, aber ich hatte so viel verpaßt ... es war echt Arbeit. Meistens kriegte ich es irgendwie hin, nicht aufzufallen, aber nach drei Wochen war der große Showdown zwischen dem Mathe und mir. KO in der ersten Runde und mir reichte es wirklich.
»Tim, was machst du heut nachmittag?«
Kevin hatte meinen titanicmäßigen Untergang natürlich life erlebt.
»Blöde Frage, am Schreibtisch sitzen und mir diesen Scheiß in die Birne prügeln.«
»Was hältst du davon, wenn wir das zusammen machen?«
Ich blieb zwar lieber für mich, aber es hing mir echt zum Hals raus, jeden Nachmittag alleine Stunden am Schreibtisch zu sitzen. Ich sagte zu.
Als ich vor Kevins Haus stand, wollte ich eigentlich sofort wieder umdrehen. So 'ne scheiss Bonzenhütte, wahrscheinlich mit goldenen Wasserhähnen. Es gab zwar keine goldenen Wasserhähne, aber ansonsten alles, was das Herz begehrt und als ich in Kevins Zimmer kam, schluckte ich erst mal. Ich dachte an mein Zimmer und ich hatte mächtig zu kämpfen, um meinen Neid nicht zu zeigen.
»Gut, laß uns mit Mathe anfangen.«
Und wie wir anfingen - drei Stunden am Stück. Kevin war gnadenlos, immer wenn etwas schwierig war, machten wir es drei- oder viermal. Irgendwann konnte ich einfach nicht mehr.
»Kevin, wenn ich heute noch eine Matheaufgabe sehe, geh' ich fröhlich pfeifend in den Bau zurück. Das wars für heute.«
»Ja, mir brummt auch der Schädel. Aber ich glaube, wir sind ein gutes Stück weiter gekommen. Morgen um die gleiche Zeit?«
»Hast du einen an der Klatsche? Seh ich aus wie so ein verdammter Einstein?«
»Irgendwie schon, Einstein war nämlich ziemlich schlecht in Mathe. Hey, entweder wir schaffen Mathe oder Mathe schafft uns.«
»Ja, das alte Spiel, entweder du schlägst sie oder sie schlagen dich. Ist doch überall dasselbe.«
»Nein, ist es nicht. Also nochmal: Morgen um die gleiche Zeit?«
»Okay, okay, ich werd hier sein.«
Als ich wieder in meinem Zimmer war, begriff ich, daß Kevin mich aufs Kreuz gelegt hatte. Das waren keine gemeinsamen Hausaufgaben gewesen, er hatte mir ein paar Nachhilfestunden verpaßt und ich hatte es nicht einmal gemerkt. So hatten wir nicht gewettet. Ich lief noch mal zur Bushaltestelle - auf zu Kevin, ein paar Dinge klarstellen.
Kevins Mutter öffnete die Tür.
»Guten Abend. Ich bin Tim und ich würde gern zu Kevin.«
»Er hat mir gar nicht gesagt, daß er noch Besuch erwartet.«
Die hochgezogene Augenbraue und den mißtrauischen Blick hätte sich die Alte wirklich sparen können.
»Das konnte er auch nicht, wir haben heute zusammen Mathe gelernt und ich habe meinen Taschenrechner vergessen und da bin ich noch eben schnell hergekommen.«
»Kevin ist in seinem Zimmer, geh einfach hoch.«
Ich spürte ihren Blick in meinem Rücken, wahrscheinlich merkte sie sich meinen Weg, damit sie am nächsten Tag dem Personal genau sagen konnte, wo besonders gründlich geputzt werden sollte.
Ich hielt mich nicht mit Anklopfen auf und meine Stimme war dunkel vor Zorn.
»Gratuliere! Ich hätt' mir ja denken können, daß du nur so ein scheiß Spiel abziehst!«
»Was? Wieso? Ich ...«
»Du kannst wegen meiner in deiner ganzen verdammten Kohle schwimmen gehen, das gibt dir nicht das Recht mich zu verarschen. Du hast mir ein paar Nachhilfestunden reingedrückt und ich hab's zu spät gemerkt. Toll, morgen kannst du allen in der Klasse erzählen, wie du dem blöden Typen aus dem Heim mal gezeigt hast, wie dämlich er ist.«
Kevin starrte mich aus großen Augen an und schwieg. Es gab sowieso nichts mehr zu sagen und ich ging.
Am nächsten Mittag war ich schon auf einer Autobahnraststätte in der Gegend von Hannover, es hatte nicht lange gedauert, meinen Kram zu packen. Das übliche Spiel, ich versuchte, halbwegs respektabel auszusehen und fragte jeden, der halbwegs normal aussah, ob er mich nach Berlin mitnehmen könnte. Dauerte ungefähr 'ne halbe Stunde, bis wer Ja sagte. Sah aus wie ein Verwaltungsmensch, so mit Krawatte und Ehering, vielleicht vierzig und fuhr einen blauen Passat, alles ziemlich durchschnittlich - sollte sicher sein, bei ihm mitzufahren. Ich legte meinen Rucksack in den Kofferraum und merkte mir das Kennzeichen und dann rollten wir auch schon Richtung Berlin.
»Kommst du aus Berlin?«
Ich hatte die Geschichte jetzt schon drei Mal erzählt, der übliche Unsinn von ein paar Freunden, die ich in Berlin besuchen wollte und das ich deshalb Urlaub genommen hatte und eigentlich eine Ausbildung machte.
»Da hast du aber Glück gehabt!«
»Ach, wissen sie, manchmal dauert es etwas, aber meistens finde ich schnell jemanden, der mich mitnimmt.«
»Nein, ich meine, du hast Glück gehabt, daß du mich gefunden hast.«
Schlagartig war ich hellwach. Was sollte das denn heißen? Wenn der Typ meinte, ich würde meinen Arsch für eine Fahrt nach Berlin verkaufen, dann hatte er sich geschnitten.
»Wie meinen sie das?«
»Du bist abgehauen und willst in der Berlin dein Glück versuchen.«
Bleib bei deiner Story, egal was passiert.
»Das ist doch Unfug. Ich will nur ein paar Leute besuchen!«
»Willst du nicht. Ich habe ein paar Tage meinen Bruder besucht und natürlich auch bei den Kollegen auf der Wache vorbeigeschaut.«
Klasse, 'n Bulle.
»Ich hab zufällig mitbekommen, wie deine Vermißtenmeldung durchkam, Personenbeschreibung paßt, roter Rucksack paßt auch, aber unter besondere Kennzeichen stand: linke Hand verbunden und damit war mir klar, wer du bist. Abgesehen davon ging dein Foto damals durch alle Zeitungen und als Polizist muß ich ein gutes Gedächtnis haben - ich denke, ich hätte dich auch so erkannt.«
Meine Gedanken rasten, der Typ hatte mich am Arsch und ich konnte gar nichts tun.
»Das gibt's doch alles nicht, ich steig zu 'nem Bullen ins Auto. Also, wie geht's jetzt weiter?«
»Ganz einfach, ich liefere dich bei den Kollegen von der Autobahnpolizei ab und die kümmern sich um alles weitere.«
»Es macht doch für sie gar keinen Unterschied, ob sie mich nun bei der Polizei abliefern oder an der nächsten Raststätte rauslassen.«
»Da hast du schon recht ...«
Na, vielleicht kam ich ja doch aus der Sache raus.
» ... aber ich will nicht, daß du nach Berlin gehst.«
Was sollte das denn jetzt?
»Versteh ich nicht.«
»Ich weiß ziemlich genau, wie es den Streetkids in Berlin geht und ich sage dir eines: Egal wo du hingehst, vergiß Berlin. Mir ist klar, daß du ganz schnell wieder auf der Straße bist, aber wenn ich dich nur einen Tag aus der Stadt raushalten kann, dann lohnt sich das schon. Ich habe genug von euch mit einem weißen Laken über dem Kopf gesehen und ich will dein Gesicht nicht auf meinem Schreibtisch sehen.«
»Hey, ich war nun wirklich schon länger auf der Straße, ich kenn' das Spiel!«
»Ich weiß, aber Berlin bringt dich um und das will ich nicht. Verdammt, was ist denn so schön daran, nach ein paar Monaten auf dem Strich zu stehen? Und dann brauchst du Drogen, um dein Leben zu vergessen und um die zu bezahlen mußt du dich verkaufen. Ist ein Kreislauf und die meisten gehen dabei drauf.«
Nette Ansprache. War aber nicht ganz das, was ich hören wollte. War aber jetzt egal, wir waren bei der Autobahnpolizei und da erlebte ich die Vertreter des Gesetzes so, wie ich das kannte. Dauerte nur ein paar Minuten, bis sie raushatten, wer ich war und dann ging's los. Klar war ich ne schwule Sau und natürlich war auch wer so freundlich, mir seinen Gummiknüppel anzubieten, damit ich mir was zwischen die Beine schieben konnte - das übliche eben. Das Problem war, daß sie erst wen finden mußten, der mich abholte und das bedeutete eine Übernachtung in der Zelle. Weiße Fliesen, Schaumstoffmatratze, Decke, Edelstahltoilette in Boden - so richtig gemütlich. Abendessen hatte ich nicht erwartet und ich kriegte auch keins. Dauerte nur 'ne Stunde oder so, bis ich wieder in der Knastroutine war, bringt nichts, die Zeit totzuschlagen, man muß sie nutzen. Aber irgendwann wurde es dunkel und da lag ich dann auf der Schaumstoffmatratze und da nutzte dann auch keine Knasterfahrung. Diese Zeit vor dem Einschlafen, wenn deine Gedanken sich anfühlen wie Glassplitter und wenn du dich fragst, warum all die anderen happy sind und du die Nacht in einer Zelle verbringst ... is 'ne scheiß Zeit. Kevin würde wohl vor seinem 70cm-TV sitzen und Sven sollte eigentlich inzwischen wieder zu Hause sein, falls es ihn noch nicht erwischt hatte. Ich lächelte, als ich an unsere Schachpartien dachte, war ein gutes Gefühl und ich schlief endlich ein.
»Guten Morgen, Tim!«
Dauerte einen Moment, bis ich klarkriegte, wo ich war. Als ich sah, daß da eine Polizistin mit einem Tablett in der Zelle stand, wurde ich schlagartig hellwach und sehr vorsichtig. Sah nach Frühstück aus und normalerweise bekomme ich so etwas nicht umsonst.
»Guten Morgen.«
»Wie ich die Kollegen kenne, haben sie wahrscheinlich vergessen, dir ein Abendessen zu bringen.«
»Kein Problem, ich war nicht hungrig.«
Sie schaute mich lange an, dann sagte sie leise.
»Wir sind nicht alle so. Jetzt gibt es erstmal Frühstück, und wenn du noch etwas möchtest, dann sag es einfach. Dein Wagen sollte bis Mittag hier sein, wenn nicht bekommst du auch ein Mittagessen, dafür werde ich sorgen.«
Die Lady war überhaupt nicht so, wie ich Polizei kannte.
»Warum tun sie das?«
»Mißtrauisch? Ich habe mich heute schon mit drei Kollegen wegen dir angelegt und immerhin habe ich erreicht, daß die Leute erstmal den Mund halten. Ich habe in den Computer geschaut und dort ein bißchen über dich gelesen. In meinen Augen spricht nichts gegen dich und es ist mir völlig egal, daß du schwul bist.«
Und nach einer Pause.
»Sieh mal, ich bin Polizeibeamtin geworden, weil ich mich für Gerechtigkeit engagieren wollte und weil ich Menschen helfen wollte. Heute habe ich mal Gelegenheit dazu. ... Dein Kaffee wird kalt.«
»Danke.«
Sie wußte, daß ich damit nicht nur das Frühstück meinte.
Das Frühstück war gut, sogar mit Zeitung, ich ließ mir viel Zeit und war sogar überrascht, als der Wagen da war. Irgend so ein Typ vom Jugendamt, mußte wohl ein Neuer sein, ich kannte ihn nicht.
»Hallo, ich bin Herr Mühlhaus. Ich hab das große Los gezogen und darf den Tag auf der Autobahn verbringen.«
»Wie schön für sie, ich hab's mir auch nicht ausgesucht. Vielleicht können wir die ganze Angelegenheit schnell hinter uns bringen.«
Aber das war wohl nichts, der Typ war neu und er probierte seine gesammelte Unfähigkeit an mir aus, selten so ein blödes Gewäsch gehört. Nach 'ner Stunde hatte ich die Schnauze voll.
»Herr Mühlhaus, ich werd' ein bißchen schlafen, die Nacht war nicht so gemütlich.«
»Natürlich, kein Problem.«
Und damit hatte ich meine Ruhe, solange ich meine Augen geschlossen hielt - und ich hielt sie lange geschlossen.
»Tim, was sollte der Scheiß?«
Jugendamt, ein kleines Büro, mein Betreuer hatte gesprochen, wir kannten uns.
»Hey, es hat einfach nicht funktioniert.«
»Und was genau hat nicht funktioniert? Und warum hast du deinen Hintern direkt wieder auf die Straße verfrachtet. Himmel, Tim, das hatten wir doch alles schon mal, hast du denn gar nichts begriffen? Was war denn los?«
Ingo - eigentlich Herr Glast, aber wir kannten uns schon lange - also Ingo hatte sich ziemlich viel Mühe mit mir gegeben und er war einer der wenigen Menschen, denen ich vertraute - er hatte mich nie belogen.
»Ingo, du weißt doch schon lange, was passiert ist.«
»Ich weiß, was Kevin erzählt hat, aber jede Medaille hat zwei Seiten und ich will deine Story hören, bevor ich was dazu sage.«
Also erzählte ich ihm, wie Kevin mich gelinkt hatte.
»Ja, so ungefähr dachte ich mir das. Hast du mal darüber nachgedacht, warum Kevin das getan hat?«
»Wieso, ist doch klar. Damit er allen erzählen kann, wie blöd ich bin.«
»Ich hab dir schon zig Mal gesagt, daß du nicht blöd bist. Du hast nur einfach zu viele miese Erfahrungen gemacht und deshalb glaubst du, daß dich jeder über den Tisch ziehen will. Tim, ich habe lange mit Kevin gesprochen. Er hat bis heute nicht verstanden, warum du eigentlich ausgeflippt bist, er versteht es einfach nicht.«
»Ja, hätte ich mir das denn gefallen lassen sollen?«
»Ja, verdammt noch mal, denn da gab es nichts, was du dir hättest gefallen lassen müssen!«
Ingo wurde lauter und das hieß schon was.
»Kevin hat dich als Freund bezeichnet, er mag dich und er wollte dir einfach nur helfen, krieg das endlich mal in deinen verdammten Dickschädel!«
Ingo hatte mich noch nie belogen, also mußte das wohl wahr sein. Verdammt, einen Freund hatte ich seit ... ich weiß nicht mehr gehabt.
»Ingo, wenn du sagst, daß ich Mist gemacht habe, dann hast du für gewöhnlich recht.«
»Ah, da rührt sich was in deinem Dickschädel.«
»Was meinst du, wird Kevin noch mit mir reden?«
»Keine Ahnung, aber wenn du es nicht wenigstens versuchst, dann röste ich dich auf kleiner Flamme, bis du gar bist.«
»Den Aufwand kannst du dir sparen, abgesehen davon ist offenes Feuer in öffentlichen Gebäuden verboten.«
»Klugscheißer!«
Ingo grinste und schob mir das Telefon zu
»Ich bin's, Tim. Kevin, bitte leg nicht auf.«
»Hatte ich auch nicht vor. Ich glaube, du schuldest mir noch ein paar Erklärungen.«
»Kann wohl sein. Letztes Mal war ich bei dir, hast du Lust, mal bei mir reinzuschauen?«
»Warum nicht. Du wohnst doch an der Weststraße, oder?«
»Nr. 47, das weiße Haus, so um acht?«
»Ich werd da sein.«
Ich legte auf und Ingo lächelte.
»Versau es nicht!«
»Hab ich nicht vor.«
So, jetzt aber los, es war schon so gegen fünf und bis Kevin kam, hatte ich noch einiges zu tun.
Ein paar kleine Einkäufe und dann ging's nach Hause. Das Jugendamt bezahlte mir ein Appartment, hört sich toll an, war aber 'ne Bruchbude. Gegen die Kohle von Kevins Alten konnte ich sowieso nicht anstinken, aber wenigstens würde es sauber sein. Die Einrichtung war vom Sperrmüll, aber ich hatte lange gesucht, um das richtige zu finden. Meine Miniküche war wohl noch aus den 70' und der Rest der Einrichtung war auch nicht viel jünger. Etwas aufräumen, eine Flasche Rotwein hatte ich noch im Schrank, Blumen in die Vase, die Chips in die Schüssel, so, Kevin konnte kommen ... naja, eigentlich bereute ich schon, ihn eingeladen zu haben. Für Kevins Verhältnisse wohnte ich einer Müllkippe und ich hatte gelernt, verächtliche Blicke zu fürchten. Kevin war pünktlich.
»Hi Kevin, komme rein.«
»Gern, danke.«
Ich beobachtete ihn genau, wollte wissen, wie er reagierte. Kevin hielt sich gut, er schaute sich um, interessiert, vielleicht neugierig, aber nicht verächtlich.
»Gemütlich hast du's hier.«
»Naja, nicht so wie bei dir, aber ich fühl mich wohl.«
»Da sind wir ja schon bei Thema.«
»Wieso?«
»Die Unterschiede zwischen uns. Meine Eltern haben Geld, du hast es nicht, aber das ist nicht der Punkt. Leben wir eigentlich in verschiedenen Welten, oder wie ist das? Ich versteh einfach nicht, was beim letzten mal eigentlich los war. Und ich würd's gern verstehen.«
»Ingo, also Herr Glast hat gesagt, ihr hättet euch unterhalten. Und er hat gesagt, du hättest mich einen Freund genannt. Ist das wahr?«
»Ja, wir haben uns unterhalten und ich habe ihm gesagt, daß ich dich für einen Freund halte. Dann hat Herr Glast mir einige Dinge über dich erzählt ...«
»Und, hat das deine Meinung über mich geändert?«
»Oh ja, vorher warst du jemand, den ich ganz nett fand und der einen Freund brauchen konnte, inzwischen wäre ich stolz darauf, dein Freund zu sein.«
»Also wolltest du mir nur helfen.«
»Klar, aber ich wußte, daß du keine Hilfe annehmen würdest, dazu bist du viel zu stolz. Wenn du so willst, habe ich dich betrogen, ja, aber nicht, um dir zu schaden.«
»Kevin, Ingo meinte, daß ich endlich mal lernen müßte, daß mir nicht jeder ans Bein pinkeln will. Scheint, du hast mir mehr beigebracht, als nur Mathe. Was meinst du, sollen wir es versuchen?«
Er streckte mir einfach seine Hand entgegen - und ich nahm sie.
Ich ließ Kevin die Flasche aufmachen und wir probierten den Roten, Ingo hatte mir die Flasche zur Wohnungseinweihung geschenkt.
»Was sagt deine Mutter eigentlich zu mir?«
Kevin sah ungefähr so glücklich aus wie ein 10-Jähriger beim Zahnarzt.
»Warum fragst du?«
»Hey, keine Spielchen! Als ich das letzte Mal bei dir war, hätte sie mir am liebsten den Schädel eingeschlagen, aber das hätte Flecken auf dem Fußboden gegeben.«
»Nein, sie benutzt lieber die Kettensäge und läßt die Flecken dann vom Personal entfernen. Nein, ernsthaft, du hast recht, sie mag dich nicht.«
»Und?«
»Und was? Ich kann sie nicht zwingen, dich zu mögen, aber die Hauptsache ist doch, daß ich dich mag!«
Oops, was war das denn? Kevin kriegte klar, was er da von sich gegeben hatte und lief rot an - ich grinste.
»Bißchen früh für 'n Heiratsantrag, oder? Paß auf mit solchen Sachen, ich bin schwul.«
Das Rot in seinem Gesicht hob sich gegen das Blond ab.
»Äh, du weißt schon, wie ich das gemeint habe.«
Ich seufzte.
»Ja, weiß ich.«
Ist ja nicht so, als hätt' ich noch kein Fleisch gesehen ... aber Kevin hatte schon was, sogar diese blöden Designerklamotten sahen an ihm gut aus. Er hätte auf dem Strich ein Vermögen verdienen können ... aber das hatte er wahrscheinlich schon. Das Vermögen, nicht den Strich.
»Wie kommst du denn überhaupt mit deiner Mutter klar?«
»Da gibt es nicht viel klarzukommen, sie ist oft weg, aber wenn sie mal da ist, dann behandelt sie mich wie ein wertvolles Haustier.«
Nette Vorstellung, mit Kevin Gassi gehen.
»Und dein Alter?«
»Mein Vater? Den sehe ich nur noch ganz selten, er arbeitet seit letztem Jahr in den Staaten und kommt hin und wieder mal für ein paar Tage rüber. Vormittags kommt eine Frau und macht sauber, wäscht, kocht und so, dann gibt es noch jemanden, der sich um den Garten und das Haus kümmert. Meistens ist niemand da, wenn ich aus der Schule komme und manchmal bleibt das so, bis ich wieder zur Schule gehe.«
Das hatte ich mir immer gewünscht. Daß mein Alter nicht da wäre, wenn ich nach Hause käme. Er war da. Immer.
»Hab also nur Pech gehabt, als ich letztes Mal da war?«
»Könnte man sagen. Sie war richtig begeistert und hat mir einen langen Vortrag darüber gehalten, wie wichtig es ist, mit den richtigen Leuten zu verkehren.«
»Und ich bin so was wie falsche Leute.«
»Ja ... Nein ... also, ach verdammt, du bist nicht falsch. Es ist mir egal, was meine Mutter sagt. Ich find's toll was du machst und was du bist. Ich wär' ...«
Er schluckte.
»... ich wär' ... auch gern so wie du.«
Nicht leicht, mich auf dem falschen Fuß zu erwischen, aber Kevin hatte es geschafft.
»Du willst mich verarschen, oder?«
»Ach, ich wußte, daß du das nicht verstehen würdest ... vergiß es einfach, ja?«
Er kriegte diesen Blick, naja, jedenfalls hatte ich da wohl Mist gebaut.
»Hey, wart mal, Kevin. Das mit dem Verstehen ist doch genau der Punkt! Ich war auf der Straße, ich war im Knast und du willst so sein wie ich? Versteh ich nicht, krieg' ich nicht klar. Aber ...«
Und jetzt schaute ich ihm direkt in die Augen.
»... wenn das hier funktionieren soll, dann erklär's mir! Verdammt, ich wär' vor Neid fast eingegangen, als ich deine Bude gesehen hab, ich hab immer von so 'ner Bonzenvilla geträumt und jetzt erzählst du mir, du willst so sein wie ich? Du weißt nicht, wovon du redest!«
Kevins Blick wurde unscharf und sein Ton nachdenklich.
»Vielleicht hast du recht. Ich weiß wirklich nicht, was ich mir da wünsche. Aber ... ich möchte es gern verstehen ... ich möchte dich gern verstehen.«
War ich jetzt so 'n scheiß Vorbild geworden, oder was? So was verrücktes war mir noch nie passiert. Aber wenn er mich unbedingt verstehen wollte ... why not.
»Okay ... das ist der Deal: Bleib 'n paar Tage hier, wir teilen uns die Bude. Keine Designerklamotten, keine Kohle ohne Ende, niemand, der dir die Wäsche wäscht und dir den Arsch abwischt. Probier's aus. Danach reden wir weiter.«
Er sah mich lange an ... irgendwann nickte er nachdenklich.
»Könnte funktionieren ... Mutter ist ab morgen sowieso wieder unterwegs und mit der Köchin komme ich schon klar. Weißt du ...«
Er schaute sich nochmal um.
» ... ich freu' mich drauf!«
Ich grinste.
»Wart's ab, ich hoffe, du kochst besser als ich!«
»Kochen? Für Kaffee reicht's, aber wozu gibt es Pizza und McD, damit können wir uns ein paar Tage über Wasser halten.«
»Ach, und woher nehmen wir die Kohle? Ne, ne, morgen gehen wir zu ALDI einkaufen und dann brutzeln wir uns was. Wie lange kannst du bleiben?«
»Hm, Mutter kommt erst in einer Woche wieder ... ich werd zwischendurch mal nach Hause müssen und mit ihr telefonieren ... und vielleicht mal mit der Köchin reden, damit sie beruhigt ist ... eine Woche geht klar.«
»Okay, morgen nach der Schule. Soll ich dir packen helfen?«
Kevin grinste und meinte mit piepsiger Stimme.
»Och, Papa, ich bin doch schon groß, das schaff ich auch alleine!«
Puuh, er hatte die Anmache aber echt drauf. Mit der Nummer hätte er 'n Schweinegeld machen können.
»Krieg dich wieder ein ....«
Da kam mir noch so 'ne Idee.
» ... und pack 'n paar unauffällige Klamotten ein, ich werd' dir Freitag ein paar Ecken zeigen, die du noch nicht kennst und da kannst du nicht rumlaufen, wie ne Einladungskarte.»
»Einladungskarte? Hey, diese Sachen haben ...«
Er schaute kurz an sich herunter.
» ... mindestens 700,-DM gekostet!«
»Genau - Einladungskarte. Zwei Möglichkeiten, was da draufsteht, 'hau mir aufs Maul und nimm meine Kohle' oder 'Arsch zu verkaufen' - beides willst du nicht. Also, pack was unauffälliges ein!«
Ja, ist schon klar, ich hatte 'n bißchen dick aufgetragen und es war ja auch ganz lustig, ich wollte mit ihm sowieso nicht zu den wirklich gefährlichen Ecken - konnte aber auch nicht schaden, wenn er was lernte. Er kriegte große Augen.
»Wo gehen wir denn da hin? Ist es wirklich so schlimm?«
»Nein. Oder doch. Naja, je nachdem, auf welcher Seite du stehst. Aber ich hab da fast zwei Jahre gelebt, also keine Panik, ist nur 'ne Sightseeing-Tour.«
Auf die ich aber überhaupt nicht heiß war. Ich weiß nicht, warum ich Kevin eigentlich ein paar Ecken zeigen wollte, war wohl mehr so eine Augenblicksentscheidung. Das Problem war, daß er mir hinterher einen ganzen Haufen fragen stellen würde. Eigentlich würde er mir wohl nur eine Frage stellen. Und ich wußte nicht, ob ich die beantworten wollte. Naja, wenn die Scheiße einmal im Klo ist, dann kann man sie nur noch runterspülen - ich würde antworten.
»Sag mal, was hältst du davon, wenn wir das auch mal andersherum machen?«
Ich verkniff mir den Kommentar zum 'andersherum machen', aber ich würde ihm am Freitag einschärfen, die Klappe zu halten ... wenn der Junge wüßte, was er da redete.
»Du meinst, ich bei dir wohnen?«
»Genau!«
»So'n Traumurlaub hört sich doch gut an ...«
Ich grinste ihn an.
» ... jeden Tag faul am Pool liegen, sich das Essen bringen lassen und abends die Sau rauslassen.«
»Wart's ab. Wie wär's mit nachmittags Mathe lernen und abends früh schlafen gehen, damit du für die Schule fit bist.«
»Kein Pool, kein Pizzaservice, keine Party?«
»Pool - ja, Pizza - ja, Party - nein. Ach so und pack ein paar vernünftige Klamotten ein, dann kann ich dir ein paar Ecken ...«
Okay, es war unfair. Trotzdem, wenn er den Spieß umdrehen wollte, war er bei mir falsch. Im nächsten Moment lag Kevin auf dem Sofa ... auf dem Bauch, die linke Hand auf dem Rücken und mein Knie sorgte dafür, daß sie dort blieb ... aber ganz vorsichtig, ich wollte ihm nicht weh tun.
»Bist du eigentlich kitzelig?«
»Hey, verdammt, geh runter!«
»Noch nicht. Erst werden wir mal klären, ob du kitzelig bist. Und dann reden wir über die vernünftigen Klamotten.«
Kevin war kitzelig. Aber er gab nicht so schnell auf, nachdem er quiekte wie ein abgestochenes Schwein, fragte ich ihn: »Also, wie war das mit den Klamotten?«
»Du sollst vernünftige Kleidung mitbringen, damit ...«
Okay, also weiter ... ja, es war gemein, aber ... naja, ich war schon lange nicht mehr mit einem Jungen zusammen gewesen und Kevin so zwischen meinen Beinen liegen zu haben ... war auch nicht schlecht. Meine Finger wanderte seine rechte Seite auf und ab ... und dann war plötzlich seine Hand nicht mehr unter meinem Knie, nicht gut, gar nicht gut. Das Ende vom Lied war, daß ich auf dem Rücken lag und Kevin auf mir saß, naja, war keine Kunst, meine linke Hand war immer noch verbunden. Aber er war wirklich vorsichtig, er ließ meinen linken Arm los, mit dem konnte ich sowieso nichts machen. Der Witz war aber, daß Kevin damit seine rechte Hand frei hatte und mit der konnte er etwas machen. Genau. Kitzeln.
»Hey, laß mich los! Das ist unfair! Ich hab nur eine Hand!«
Er grinste.
»Ach, ist mir gar nicht aufgefallen.«
Und dann waren seine Finger unter meiner Achsel ... dauerte nicht lange und ich kicherte ... und lachte ... und quiekte, Himmel, ich hätt mich fast naßgemacht.
»Na, soll ich aufhören?«
»Frag nicht so blöd!«
»Gut, unter einer Bedingung. Wenn du bei mir bist, dann gehen wir mal so richtig schön essen. Und du ziehst an, was ich sage.«
»Von deinem Designerkram?«
»Ja!«
»Vergiß es!«
Ich quiekte weiter.
»Okay, okay!«
»Was heißt okay? Ich zieh dich an und dann gehen wir essen - okay?«
»Muß das echt sein?«
»Ich lern deine Welt kennen - und du meine. Ja, es muß sein.«
»Okay. Wie lange willst du eigentlich auf mir sitzen bleiben?«
»Och, ist doch eigentlich ganz bequem.«
Fand ich auch. Als zum letzten Mal jemand in der Position auf mir gesessen hatte, war das ziemlich gut gewesen. Aber das konnte Kevin nicht wissen und es wär reichlich mies gewesen, ihm nicht zu sagen, was Sache war.
»Äh, Kevin, von mir aus kannst du gern sitzen bleiben, aber ich glaub', du vergißt da was.«
»Wieso?«
Ich seufzte.
»Lieber Kevin, falls du es vergessen hast, ich bin schwul. Und du reibst mit deinem Hintern ziemlich genau an meinem Schwanz.«
»Oh.«
Er blieb tatsächlich noch einen Moment sitze, er war wohl zu verblüfft. Dann stieg er runter ... wär ja auch zu schön gewesen.
»Tim?«
»Ja?«
»Ich ... es ... tut mir leid, das ...«
»Hey, nichts passiert.«
Stimmte nicht ganz, mein Schwanz war auch der Meinung, daß Kevin wirklich gut aussah und war jetzt ein bißchen enttäuscht. Shit happens.
»Oops, schau mal auf die Uhr!«
Halb elf, für normale Leute ging's jetzt erst los. Aber er hatte recht.
»Stimmt schon, morgen ist Schule. Okay, komm gut rüber, wir sehen uns morgen!«
Ich räumte noch etwas auf legte mich dann hin, aber das Bild von Kevin auf mir ging mir nicht mehr aus dem Kopf ... wär schön, mal einen Freund zu haben.
Schule war ... Schule. Allerdings schickte mir Dr. Schmidt mir ein Briefchen.
»Lieber Tim,
könntest Du bitte nach dem Unterricht in mein Büro kommen? Ich glaube, wir haben einige Dinge zu besprechen.
Mit freundlichen Grüßen
gez. Dr. Schmidt»
Also, auf meiner alten Schule hieß das 'Anschiß abholen', aber hier nannte man das 'ein pädagogisches Gespräch führen' - war das Gleiche, nur anders verpackt. Kevin mußte sowieso noch packen, also hatte ich Zeit und ging zu meinem verehrten Direktor.
»Hallo Tim! Nimm doch bitte Platz.«
Seit wann setzte man sich denn dazu hin? Wenn der Anpfiff so lange dauern sollte, saß ich aber echt in der Scheiße.
»Nun, Tim, wie würdest du dein Verhalten in letzter Zeit beurteilen?«
Wie bei den Bullen, erst lassen sie dich mal erzählen, vielleicht plauderst du ja was aus, das sie noch nicht wissen. Aber das Spiel kannte ich, mal sehen, wer besser war.
»Herr Dr. Schmidt, mir ist klar, daß sie besseres zu tun haben, als mir beim raten zuzuschauen. Ich bin sicher, sie haben genaue Vorstellungen, warum ich hier bin. Vielleicht sollten wir direkt zur Sache kommen.«
»Nun, jede Medaille hat zwei Seiten ...«
Na, das war jetzt aber eigentlich Ingos Spruch.
»... und ich würde gern deine eigene Einschätzung hören.«
Ach, und wozu? Meinte der Typ denn wirklich, ich würde hier so ins Blaue erzählen? Na gut, wenn er unbedingt spielen wollte ...
»Ich schätze mein Verhalten als durchaus lobenswert, um nicht zu sagen ausgezeichnet ein, danke der Nachfrage.«
Natürlich war er etwas von der Rolle, sollte er auch. So 'n Stuß hatte der Vorgänger von Ingo manchmal an mir ausprobiert ... keine Chance, mich mit dem Zeug zu linken.
»Und was schätzt du an deinem Verhalten als so ... lobenswert ein? Vielleicht kannst du mir ein paar Beispiele nennen.«
»Soweit ich weiß, ist es unhöflich, sich selbst zu loben.«
»Das ist richtig, aber möglicherweise sind wir in dieser Sache nicht völlig einer Meinung und vielleicht irre ich mich ja und du könntest das mit einigen Beispielen klären.«
»Jetzt verstehe ich, was sie meinen, natürlich bin ich ihnen da gern behilflich ...«
Ich genoß diesen Part.
» ... nehmen sie doch den Colaautomaten.«
»Häh?«
Eigentlich heißt das ja 'Wie bitte?', aber ich war ja nur der Schüler.
»Nun, ich habe ihn nicht aufgebrochen, umgeworfen oder zerstört ... wie es ja wohl befürchtet worden ist. Der Lehrkörper lebt noch, ich habe keine Autos aufgebrochen, keine Drogen verkauft und den Hund des Hausmeisters nicht vergewaltigt.«
Das mit dem Hund wäre auch extrem schwierig gewesen - unser Hausmeister hatte keinen Hund, was meinen Direktor allerdings nicht im geringsten verwirrte. Er holte tief Luft und brüllte los.
»Jetzt reicht es mir aber! Du läßt den Hund in Ruhe!«
Leute, die brüllen, haben meistens Unrecht. Wie hier.
»Von welchem Hund sprechen sie?«
»Werd nicht frech! Vom Hund des Haus...«
Ich verzog keine Mine. Wirklich nicht. Und ich hielt die Klappe. Aber der Direktor hatte wohl mehr Humor, als ich gedacht hatte, er fing erst an zu grinsen und dann lachte er laut.
»Wie oft haben die das schon mit dir gemacht?«
»Weiß ich nicht mehr, aber das Spiel kann ich im Schlaf.«
»Das glaube ich dir, war ein Fehler, es zu versuchen. Okay, also Klartext. Du bist abgehauen und ich will wissen warum.«
»Okay, Klartext. Mir ist klar, die sie die Gründe wissen wollen, aber das hat Grenzen. Es war ein Mißverständnis zwischen Kevin und mir, ich dachte, er wollte mir an Bein pinkeln und hab den Kram hingeschmissen.«
Schmidt nickte nachdenklich.
»Kevin ist für dich wichtig, oder?«
»Er ist damals zu mir ins Krankenhaus und hat sich entschuldigt. Hätten nicht viele getan.«
Schmidt zuckte kurz zusammen, er hatte mir zwar den Finger demoliert, aber besucht hatte er mich nicht.
»Und er hilft mir bei Mathe. Auf die Idee ist auch noch keiner gekommen.«
Er lächelte.
»Wir wußten, das es mir dir nicht ganz einfach werden würde, aber ich habe wirklich den Eindruck, daß du auf einem guten Weg bist. Wart's ab, wir machen noch einen Musterschüler aus dir!«
Also, jetzt war ich aber dran mit Lachen.
»Das glaub' ich zwar nicht, aber ich fang so langsam an, mich hier wohl zu fühlen. Gut, haben wir noch was zu besprechen?«
»Nein, wir sind durch. Schönen Nachmittag!«
Als ich ging, hörte ich ihn noch murmeln.
»Hund des Hausmeisters vergewaltigen - also wirklich.«
Pünktlich um drei stand Kevin auf der Matte. Mit Koffer.
»Sag mal, bist du komplett Zuhause ausgezogen?«
»Hi Tim, nein, wieso, wir hatten doch eine Woche abgemacht, oder?«
»Ja, hab ich auch noch im Ohr. Also, was willst du mit dem Koffer?«
»Ach so! Du hast doch gesagt, ich soll ein paar unauffällige Klamotten mitbringen, also hör auf rumzumaulen! Wo kann ich das Ding hinstellen?«
Tja, gar nicht so einfach. Ich wohne in einem Ein-Zimmer-Appartement, kurz Wohnklo genannt. Mit Badewanne. Darauf war ich besonders stolz, im Knast gibt's nur Duschen und es ist besser, nicht zu lange unter der Dusche rumzustehen ... sonst könnte jemand auf dumme Ideen kommen. Als ich hier eingezogen war, ging ich erstmal in die Wanne - für lange Zeit, es war toll.
»Ach, stell ihn neben die Couch, da steht er nicht im Weg. Magst du Kaffee?«
»Klar!«
»Okay, also gehen wir einkaufen, die Kaffeedose ist leer.«
Kevin guckte ein bißchen überrascht aus der Wäsche, aber er kam protestlos mit. Auf dem Weg erzählte ich ihm von meinem kleinen Gespräch mit dem Direktor und Kevin kriegte sich vor lachen nicht mehr ein, er grinste sogar noch auf dem Weg nach Hause. Wir verstauten erstmal das ganze Zeug und ich war gerade auf dem Weg, um die Zahnpasta ins Bad zu bringen ... allerdings hatte ich den Koffer vergessen, der da im Weg stand. Als ich auf dem Boden landete, hörte ich mein Rückgrat krachen und ich sah alles wie durch Nebel. War schwierig, Luft zu holen und ich hörte, wie Kevin meinen Namen rief. Der Nebel verzog sich langsam und ich schnappte nach Luft. Kevin hatte seinen Arm um mich gelegt und ich sah Sorge in seinen Augen.
»Tim, um Himmels willen! Sag doch was!«
»Ist ... okay ... Steißbein!«
Ja, genau, das tut höllisch weh, aber nach ein paar Minuten half Kevin mir aufs Sofa ... naja, eigentlich trug er mich und dann setzte er sich auf die Kante und strich mir über die Stirn. Und dann klickte irgendwas in meinem Kopf und ich begann zu weinen und ich hörte nicht mehr auf. Kevin hatte irgendwie alles, was ich jemals gelernt hatte, weggewischt. Wenn du am Boden liegst, dann hilft dir keiner, das war immer so gewesen. Niemals Schwäche zeigen, stark sein, das war wichtig. Warum konnte ich keine normalen Eltern haben, die ihr Kind lieb haben? Warum hatten sie mich nie gestreichelt, so wie Kevin? Erinnerungen, die ich ganz tief vergraben hatte, kamen wieder hoch ... die Angst, die Verzweiflung, die dunklen Nächte zu hause in denen ich zitternd gewartet hatte, ob mein Vater kommen würde. Zu mir ins Bett kommen würde. Und wenn er dann kam, groß und zornig ... und ich nichts tun konnte. Und dann die Nächte auf der Straße und die Typen, die für meinen Arsch bezahlt hatten ... manchmal sah ich ihre Gesichter in meinen Träumen und dann wachte ich von meinem eigenen Schrei auf. Die vielen Stunden bei der Polizei, dann der Knast, kalt und hart. Ingo war der Einzige, dem ich vertraute und jetzt kam Kevin, trug mich aufs Sofa und strich mir über die Stirn. Es war einfach zu viel, viel zu viel. Ich weiß nicht, wie und warum, aber Kevin verstand, was los war. Er nahm mich in den Arm und ließ mich nicht mehr los. Ich wäre damals ohne mit der Wimper zu zucken für ihn gestorben und ich würde es heute noch tun. Ich fing an zu erzählen, all die Dinge, an die ich mich nicht erinnern wollte ... es dauerte lange, und als ich fertig war, weinte ich mich in den Schlaf.
Als ich aufwachte, war ich völlig daneben. Wieso war ich zugedeckt auf dem Sofa und warum trug ich nur eine Unterhose und warum roch es nach Kaffee?
»Guten Morgen, Tim!«
Kevin? Wieso ... und dann erinnerte ich mich wieder.
»Morgen, Kevin!«
Er hatte den Couchtisch für's Frühstück gedeckt - es gab eh keinen anderen Tisch - und stellte die Kaffeekanne ab. Kevin grinste.
»Frühstück am Bett, na, wenn das kein Service ist!«
»Könnt' ich mich dran gewöhnen! Kevin ... ich weiß natürlich, was gestern passiert ist, aber wie hat es aufgehört?«
Da war tatsächlich ein großes schwarzes Loch in meinem Gedächtnis.
»Ganz einfach, du bist irgendwann eingeschlafen.«
»Ja, aber ... ich mein ... es ist eine saublöde Frage, aber, ich lieg hier in Unterhose ... haben wir beide ... du weißt schon ... zusammen geschlafen?«
Kevin grinste.
»Keine Angst, ist nichts passiert. Ich hab mir nur gedacht, daß du deine Klamotten heute wieder brauchst und hab dich deshalb ausgezogen.«
Jetzt war ich dran mit grinsen.
»Ich hab keine Angst davor, mir dir zu schlafen, ich hab nur Angst, daß ich es vergessen hätte und dann wäre ich den Rest meines Lebens traurig.«
Für meine Verhältnisse war das eine Art Liebeserklärung und Kevin verstand das auch so.
»Tim, wenn du mir das vor ein paar Tagen gesagt hättest, dann wäre ich ganz schnell weggelaufen. Aber ... ich weiß nicht, ich glaube, es könnte mir gefallen. Mit dir meine ich. Aber ich hab auch Angst davor. Und ich versteh es eigentlich nicht.«
»Was verstehst du nicht?«
»Du hast mir gestern viel erzählt ... von deinem Vater und von den Freiern und ... du hattest Sex mit ihnen und du hast deswegen geweint. Wie kann das schön sein?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein, mit meinem Vater, das hatte was mit Macht zu tun, nicht mit Sex. Und die Typen, das hatte was mir Geld zu tun. Bei dir ist das was ganz anderes!«
»Tim ... ich weiß nicht, ob ich dich das fragen darf ...«
»Frag!«
»Als ich dich gestern ausgezogen habe, da hab ich deinen Rücken und deine Brust gesehen ... die Narben ... ist es das, was ich denke?«
Ich schluckte. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.
»Ja. Andenken an meinen Vater.«
Ich sah, wie Kevins Augen feucht wurden, dann stand er auf, küßte mich auf die Stirn und ging ins Bad.
Die Schule war wie immer, aber ich war es nicht. Mir ging soviel im Kopf herum. Als die letzte Stunde vorbei war, gab ich Kevin meine Wohnungsschlüssel.
»Ich muß mal kurz weg, kommst du 'ne Stunde oder so alleine klar?«
»Sicher. Ich werd was kochen, bist du so gegen halb drei wieder da?«
»Mach drei Uhr draus ... ich muß jemanden besuchen.«
Und das tat ich auch. Ingo freute sich mich zu sehen und das war nicht gespielt.
»Hi, Kleiner! In was für einer Scheiße sitzt du diesmal?«
»Ist ziemlich schlimm. Ingo ... ich glaub, ich bin verliebt.«
Wenn Ingo sich freut, dann kann man das nicht nur sehen, sondern auch fühlen - und er freute sich mächtig.
»Wahnsinn! Weiß der Betreffende denn schon von seinem Glück?«
»Ja. Und er mag mich auch ... glaube ich.«
»Wie hast du das denn geschafft? Laß mich raten - Kevin?«
»Gibt es eigentlich irgendwas, das du nicht weißt?«
»Klar! Ich weiß nicht, wie ein gutaussehender, erfolgreicher Junge aus gutem Haus sich in ...«
Ich unterbrach ihn.
»Sich in jemanden wie mich verlieben kann.«
»Gibt es eigentlich irgendwas, das du nicht weißt?«
Es tat gut, zusammen zu lachen.
»Also laß hören!«
Ich erzählte ihm die ganze Geschichte.
»Wow! Ich freu mich riesig! Ich hab dir doch gesagt, daß er dir nicht ans Bein pinkeln will, aber ich hatte nicht damit gerechnet, daß ihr euch verliebt. Klasse! Aber eines sag ich dir gleich: Du schuldest mir ein Abendessen!«
»Ich schulde dir viel mehr, aber das Essen geht klar. Was dagegen, wenn Kevin dabei ist?«
»Ich hoffe doch, daß er dabei ist. Tim?«
»Ja.«
»Du hast doch noch was auf dem Herzen.«
Vor Ingo kann man nichts verstecken.
»Warum ich? Ich mein ... warum hab ausgerechnet ich solche Eltern? Warum konnte ich nicht ganz normal aufwachsen?«
»Tim, vergiß diese Frage, die kann dir niemand beantworten. Wir kriegen alle unsere Karten zugeteilt und du hattest ein verdammt schlechtes Blatt auf der Hand. Die Frage ist, was du aus dem Blatt machst und so wie ich das sehe, bist du gerade dabei, zu gewinnen.«
»Verdammt, Ingo, das ist doch kein Kartenspiel!«
Er seufzte.
»Okay, hör zu. Wenn ich könnte, dann würde ich deinem Vater ein paar Knochen brechen, er ist nur ein Stück Scheiße. Wenn ich könnte, würde ich das mit jedem deiner Freier machen und ich will gar nicht daran denken, was da im Knast gelaufen ist. Aber es würde nichts ändern. Ich kann dir nicht sagen, warum dein Vater dich vergewaltigt hat, ich kann dir nicht sagen, warum die Typen deinen Arsch gekauft haben, ich kann dir nicht sagen, warum die Jungs im Knast das mit dir gemacht haben - es ist passiert und es ist ein Teil von dir! Aber du bist doch viel mehr, als diese miesen Erfahrungen! Halt dich nicht an dem fest, was war ... steh auf und geh los, ein tolles Leben wartet auf dich! Mach was draus!«
»Danke. Ich glaub, das habe ich jetzt gebraucht.«
»Weißt du, ein bißchen Selbstmitleid ist ganz gut, aber ich glaube, zu Hause wartet jemand auf dich, der das heilen kann. Und Grüße an Kevin!«
»Werd's ausrichten.«
Es war so gegen halb drei, als ich zu Hause ankam.
»Hi, Kevin! Grüße von Ingo! Was gibt's zu Essen?«
»Welcher Ingo?«
»Ach so, Ingo Glast vom Jugendamt.«
»Und ich hab mich schon gefragt, wo du plötzlich so dringend hin mußt.«
Hm, da hatte er recht. Ich hätte ihm wenigstens sagen können, wo ich hinwollte.
»Sorry, ich war wohl 'n bißchen durcheinander. Ingo ist ... sowas wie ein großer Bruder für mich und ich mußte einfach mir ihm reden, ein paar Dinge sortieren. Und ...«
»Was 'und'?«
Ich holte tief Luft stellte mich vor ihn und schaute in seine Augen. 'Mach was draus' hatte Ingo gesagt. Also dann.
»Kevin, ich glaube, ich liebe dich.«
Ich werd nie vergessen, wie ich da stand und nicht wußte, was kommen würde. Würde er mich auslachen, mich schlagen, einfach weggehen? So hilflos hatte ich mich noch nie gefühlt.
»Dummchen! Ich liebe dich doch auch!«
Und dann küßte er mich. Auf den Mund. Ja, wir schliefen zusammen und ich war so aufgeregt, als wär's das erste Mal und irgendwie war es das ja auch, ich mein, nicht aus Angst und nicht für Geld, sondern einfach weil ich diesen Jungen mehr liebte als mein Leben. Dauerte sowieso nicht lange, keine Tricks und Kunststückchen, einfach nur Liebe. Und es war wunderschön.
»Tim?«
»Mmhh«
»Ich hab so was noch nie gefühlt. Ist es immer so ... schön?«
Ich lehnte mich auf den Ellbogen und schaute ihn an. Er lächelte, als ob er es kaum glauben könnte und sein Blick war irgendwie unscharf ... ich wußte, daß ich genauso aussah, einfach nur glücklich. Ganz tief in mir drin wurde es warm und ich mußte Kevin einfach anfassen, sonst hätte ich nicht geglaubt, daß er tatsächlich neben mir lag.
»Nein, es ist nicht immer so schön ... es wird jedes Mal schöner!«
Wir lagen lange Zeit nebeneinander, aber irgendwann mußte ich aufs Klo und als ich wiederkam, schaute ich auf den Herd.
»Sag mal, Kevin, wolltest du nicht eigentlich was kochen?«
»Ja, ist fast fertig.«
Au, Schande, wenn das Essen seit Stunden roh herumlag, dann war das nicht gerade toll. Dann sah ich, was Kevin unter 'fast fertig' verstand - er war tatsächlich fast fertig damit geworden, eine Dose Eintopf zu öffnen. Etwas ungläubig hielt ich die Dose in der Hand, es war tatsächlich alles, was er getan hatte. Erst grinste ich, dann lachte ich und zum Schluß kriegte ich mich gar nicht mehr ein.
»Hey, was ist los?«
»Ich hab grad ...«
Kicher.
»... grad gesehen ...«
Lach
»... was du unter Kochen verstehst!«
Ich glaub, im ersten Moment war er ein bißchen beleidigt, aber lachen ist nun mal ansteckend. Wir gingen duschen und wuschen uns das Sperma ab, wies aussah würde ich wohl auch das Bettzeug waschen müssen. Mir war zwar eher nach einem Festessen, aber wo die Dose schon mal offen war ... wenn man weiß, wie's geht, ist es kein Problem, den Eintopf auf die doppelte Menge zu strecken, Kevin übernahm das Kartoffelschälen und ich suchte den Rest zusammen. Als das Zeug heiß war, stießen wir mit Mineralwasser an - der Wein war alle und eine neue Flasche saß nicht mehr drin.
»Auf uns!«
Wir tranken.
»Tim ... sag mal, zeigst du mir noch diese Ecken, wo du gelebt hast?«
Ich schaute ihn nur überrascht an.
»Naja, weißt du ... wenn du da warst ... auf der Straße ... ich möchte gern verstehen, wie das war ... wie sich das anfühlt.«
Mir fiel ein, was Ingo gesagt hatte ... daß das alles ein Teil von mir war.
»Okay, wenn du willst. Aber morgen abend, heute möchte ich was anderes machen.«
Kevin grinste.
»Und ich wette, ich weiß, was du willst. Aber vorher machen wir noch ein Stündchen Mathe.«
»Neee! Echt nicht! Komm, nicht heute! Es ist so ein wunderbarer Tag und ...«
» ... und morgen ist auch ein wunderbarer Tag, an dem wir Mathe haben. Tim, ich hab auch keine Lust, aber so langsam kapierst du die Sache und das bedeutet, wir machen weiter.«
Kevin hatte natürlich völlig recht.
»Sklaventreiber!«
»Ich liebe es einfach, dich schwitzen zu sehen. Also los, je eher wir anfangen, desto eher kommen wir zu anderen Dingen.«
»Na, ob ich danach noch zu den 'anderen Dingen' fähig bin ...«
War natürlich völlig egal, was ich sagte, nach ein paar Minuten kämpfte ich mit den Zahlen und Kevin machte den Abwasch.
Natürlich kamen wir später zu den anderen Dingen und noch später schaute ich Kevin beim Schlafen zu. Dann zog ich mich an, holte ein Päckchen Kippen aus der Schublade und ging in den Park. Ich hatte mir das Rauchen im Knast abgewöhnt, dort werden Zigaretten nicht nur mit Geld bezahlt ... aber dies war so eine Nacht. Ich wollte die Sterne sehen und ich war so glücklich, daß es fast schon weh tat. Ich saß lange da, schaute in den Himmel und spürte, wie die Nacht kühler wurde ... und ich dachte über das nach, was Ingo mir gesagt hatte, daß mit den Karten ... und darüber, ob es wirklich jemanden gab, der die Karten austeilte. Die Nacht war still und ich flüsterte nur.
»Wenn's dich gibt, dann hast du die letzten Jahre 'nen beschissenen Job gemacht. Aber eins schwör ich dir, das mir Kevin, das wirst du mir nicht kaputtmachen, da kannst du machen, was du willst. Aber eigentlich ... eigentlich wär's mir lieber, du würdest endlich mal auf uns aufpassen.«
Als ich zurückkam, lag Kevin immer noch schlafend in meinem Bett. Ich setzte mich ganz vorsichtig neben ihn ... es war irgendwie so, als ob ich immer nach etwas gesucht hätte und jetzt hatte ich es gefunden. Ich strich ihm das völlig verwurschtelte Haar aus dem Gesicht, es fühlte sich gut an, ihn zu streicheln, nein, nicht wegen Sex oder so, sondern ... einfach so. Dann zog ich mich aus und legte mich neben ihn, naja, war gar nicht so einfach, ich hab 'n ganz normales Bett und ich mußte Kevin ein bißchen zur Seite schieben, aber er murmelte nur irgendwas und atmete dann gegen meine Schulter. Eigentlich dachte ich ja, ich könnte gar nicht schlafen, aber plötzlich fiel die Klappe und ich war weg.
»Also, jeden Morgen mach ich das aber nicht! Hey, wach auf!«
Da schüttelte mich doch irgendwas?
»Kevin! Hör auf, mich umzubringen! Was ist denn?«
»Guten Morgen! Du hast Dich schon an den Service gewöhnt, oder wie? Der Kaffee ist fertig, das Frühstück steht bereit, wenn du möchtest, kannst du jetzt aufstehen!«
»Und wenn ich nicht möch...«
So weit kam ich ja noch. Dann war die Bettdecke weg und ein Waschlappen auf meinem Bauch. Wär' ja nicht so schlimm gewesen, aber Kevin hatte das Ding in den Kühlschrank gelegt! Ins Eisfach! Ich quiekte und sprang hoch und riß den Waschlappen weg und weil das ein bißchen viel auf einmal war, fiel ich auch noch aus dem Bett und landete ... genau, vor Kevins Füßen. Der grinste nur.
»Also, ich freu mich ja, daß deine Dankbarkeit so weit geht, das du ...«
Also, jetzt war es aber gut.
»Halt die Klappe! Bist du wahnsinnig? Das war echt gemein und ...«
Er grinste immer noch.
»Du siehst wirklich süß aus, wenn du so am Boden liegst und dich aufregst!«
Ich wollte ja eigentlich was sagen, aber ... dann kriegte ich klar, daß ich wohl wirklich komisch aussah, ein Fuß noch in der Decke, der andere am Boden, nackt und das ganze vor Kevin, der natürlich schon angezogen war, erst grinste ich und dann lachte ich. War vielleicht doch gar keine so schlechte Art, morgens geweckt zu werden.
»Oh, Mann, wenn das jetzt jeden morgen so wird, dann werd ich 'ne Matte oder sowas vor's Bett legen!«
Kevin kicherte und half mir auf die Füße.
»Vergiß es! Morgen machst du Frühstück! Aber ...«
Er strich mir über die Brust.
»... vielleicht zieht du dann besser was an, sonst wird das ein längeres Frühstück!«
Ich schaute ihn lange an - typisch Kevin, kurzärmliges, offenes Hemd in orange mit 'nem schweineteuren Logo, weißes T-Shirt, abgeschnittene Jeans und von den Schuhen hätte ich wahrscheinlich zwei Monate Miete bezahlen können. Früher hatte mich sowas immer aufgeregt ... aber jetzt war das gar nicht mehr wichtig, denn in diesem ganzen Kram steckte Kevin, der Junge, den ich liebe.
»Was hast du denn gegen ein längeres Frühstück? Ich finde, du hast viel zu viel an!«
Meine Hand war schon unter seinem T-Shirt, aber dann protestierte er doch.
»Vergiß es!«
Ich muß wohl ziemlich blöd geguckt haben, denn Kevin fing an, zu lachen.
»Hey, doch nur jetzt! Geh duschen und beeil' dich, wir haben Schule!«
Leider, aber wenigstens war Freitag und das Wochenende in Sicht. Passierte nicht viel aufregendes, außer das ich in Geschichte überlegte, wo ich mit Kevin hingehen sollte. Eigentlich eher, wo ich mit ihm auf keinen Fall hingehen würde. Freitags nachmittags war bei mir immer Hausputz, nicht, daß da viel zu putzen gewesen wäre, so groß war es ja nicht.
»Okay, Kevin, alles, was 'ne glatte Oberfläche hat, abwischen, den Boden auch, den Teppich saugen und spül das Zeug weg.«
»Damit du in Ruhe schlafen kannst?«
»Du kannst auch Klo und Wanne machen!«
Na also, war doch ganz einfach. War es nicht, ich hatte nur einen Eimer, aber wir kamen klar. Zum Glück war ich diese Woche nicht mit dem Treppenhaus dran, bei vier Stockwerken kommen eine Menge Stufen zusammen, aber diese blöde Putzerei war sehr wichtig. Meine lieben Nachbarn hatten natürlich ziemlich schnell mitgekriegt, wer ich war und es gibt immer noch ein paar, die eine Flasche Sekt aufmachen würden, wenn ich tot vor dem Eingang liegen würde, aber ... ein paar andere haben inzwischen kein Problem mehr mit mir. War nicht so ganz einfach, als ich der alten Frau Schultzweig zum ersten Mal die Taschen hochgetragen habe, war sie ziemlich erstaunt, daß ihre Einkäufe hinterher noch vollständig waren - inzwischen kriege ich sogar manchmal ein Stück Kuchen oder zwei und der ist meistens ziemlich lecker, egal, jedenfalls war inzwischen bekannt, daß das Treppenhaus wirklich sauber war, wenn ich an der Reihe war und so etwas ist einfach wichtig.
Kevin trocknete gerade ab, also, nicht er trocknete, sondern das Geschirr, und ich hatte ein paar Blumen unter Wasser gesetzt - nee, keine Proteste bitte, ich hab nur Grünzeug Marke 'Unsterblich', die Dinger sind nicht kleinzukriegen - sah alles ziemlich gut aus.
»Okay, Wochenende!«
»Keine Schule!«
Da fiel mir doch siedendheiß etwas ein - hoffentlich merkte Kevin nichts, ein schnelles Ablenkungsmanöver.
»Sollen wir für's Abendessen was kochen, oder tut's Brot auch?«
»Brot ist okay, wir haben sowieso keine Zeit zum Kochen.«
»?«
»Mathe!«
Soviel zum Thema Ablenkungsmanöver.
Nach dem Abendessen machten wir dann Modenschau, es war zum Verzweifeln. Ich wühlte mich durch Kevins Klamotten, irgendwo mußte doch was zu finden sein, was nicht auf 100m schrie 'Ich war wirklich teuer!' Der Junge hatte nicht mal ein weißes T-Shirt, auf dem nicht irgendwo ein Name stand, der mehr kostete, als meine halbe Garderobe. Also griff ich in meinen Kleiderschrank ... weißes T-Shirt und blaues Hemd von C und A, Kevin hatte 'ne Jeans mit, die schon mal bessere Tage gesehen hatte und bei den Schuhen ... naja, mußte irgendwie gehen. Und los ging's ... bis Kevin an der Bushaltestelle stehenblieb.
»Wartest du auf was besonderes, oder nur einfach so?«
»Worauf werde ich an einer Bushaltestelle wohl warten? Auf die Postkutsche vielleicht?«
Tja, das war wohl wieder mal einer von diesen Punkten ...
»Kevin, ein Bus kostet Geld und das haben wir nicht. Also laufen wir.«
»Quatsch, wir brauchen doch keinen Fahrschein, das kontrolliert kein Mensch!«
»Und wenn doch, zahlst du die Kohle und ich hab ein Problem, Kevin, ich bin vorbestraft! Schwarzfahren ist wirklich nicht die Welt, aber meine Akte ist dicker als das halbe Telefonbuch! Nee, ich versuch, mich aus Ärger rauszuhalten, also kein Bus.«
Kevin zuckte beim Wort 'vorbestraft' doch mal kurz zusammen, aber wenigstens trabte er an. Und dann fiel mir noch was ein.
»Kevin, ich weiß nicht, wen wir da heute Abend noch so treffen, also halt dich zurück, okay? Keine dummen Sprüche, keine neugierigen Fragen, keine blöden Bemerkungen! Schau dir die Sache an und laß mich reden, klar?«
Hoffentlich hielt er sich dran.
Nach 'ner Stunde waren wir am Bahnhof, war noch nicht viel los und so hatte ich mir das auch gedacht. Ich zeigte Kevin ein paar Wege, auf denen man schnell weg kam, wenn es nötig war und dann liefen wir ein bißchen durch die Halle ... nicht viele bekannte Gesichter, aber das war klar. Was mir nicht klar war, waren die Langfinger, die immer mal wieder rüberkamen. Wir sahen doch nun wirklich nicht wie lohnende Beute aus und Kevins Schuhe konnten sie sich kaum greifen. War kein Problem, wir bleiben stehen, ich schaute einem von ihnen in die Augen und schüttelte kurz den Kopf, dauerte nicht lange und wir waren sie los. Und dann kam es mir.
»Kevin, was für eine Uhr hast du eigentlich?«
Er zeigte sie mir. Alles klar, wenn die echt war, dann konnte man damit schon ein Frühstück bezahlen ... für hundert Leute oder so, kein Wunder, daß die Jungs sich das Ding gern unter den Nagel gerissen hätten.
»Sorry, mein Fehler, steck die Uhr in die Tasche.«
»Warum?«
»Weil du nicht willst, das sie jemand sieht. Ein paar Leute waren schon interessiert.«
»Wer?«
»Sind schon weg, aber mach sie trotzdem ab!«
Tat er dann auch.
»Siehst du den Jungen da, im blauen T-Shirt?«
»Ja ... und?«
»Stricher.«
Kevin fiel die Kinnlade runter.
»Aber ... der ist doch höchstens 13!«
»Eher 14, vielleicht 15, in dem Job mußt du versuchen, jung auszusehen. Abgesehen davon ist es noch zu früh für ihn, der hängt hier nur rum.«
Kevin schaute nochmal hin.
»Du spinnst doch. Der wartet nur auf seine Eltern oder so!«
Ich seufzte. Naja, Kevin wollte das hier kennenlernen ... also gut
»Hast du Geld mit?«
»Ein bißchen, ja.«
»Reicht es für ein paar Hamburger?«
»Sicher!«
»Komm mit.«
Wir gingen direkt zu ihm, ich wollte keine Spielchen spielen.
»Hi, ich bin Tim. Lust auf 'n Hamburger?«
Er schaute sich erstmal in Ruhe an, wen er da vor sich hatte - sehr vernünftig, wir sahen sicher nicht so aus, wie seine übliche Kundschaft.
»Gehört ihr zusammen?«
»Ja. Das ist Kevin.«
»Das wird dann aber teurer.«
»Wird es nicht, wir laden dich ein, wir zahlen und wir gehen wieder ...«
Wurde Zeit, ihm einen Hinweis zu geben.
»... macht Silly immer noch ihren Job?«
Er lächelte ... Silly war eine von den Klofrauen, aber sie war viel mehr, wenn's hart kam, hatte sie einen Verbandskasten und manchmal auch einen Platz zum Schlafen. Wenn du Silly kanntest, war das wie eine Krankenversicherung.
»Klar. Du warst schon mal hier?«
Ich nickte.
»Länger.«
»Und wieder im Geschäft?«
»Nee, ich bin draußen. Nur mal 'reinschauen.«
»Du hast 'n netten Fang gemacht!«
Ich grinste.
»Das ist kein Fang, das ist Kevin, er ist mein Freund, aber er ist nicht von hier.«
»Das sieht man zwei Meilen gegen den Wind. Wo gehen wir hin?«
»Gibt's Karl noch?«
Diesmal war sein Lächeln echt - bei Karl's Imbiß muß man sich die Schuhe abputzen, wenn man wieder rausgeht, aber das ist nur Show, seine Küche ist klasse, aber wissen nur die, die wirklich schon mal länger hier waren. Karl mag keine Laufkundschaft, aber dafür konntest du bei seinen Kunden so ziemlich alles kaufen, solange es nicht legal war.
Der Junge ließ mich vorgehen - hätte ich an seiner Stelle auch getan - und ich ließ ihm den Platz mit dem Rüchen zur Wand und dem Gesicht zur Tür.
»Wie heißt 'n du eigentlich?«
»Sascha.«
Ich grinste, er auch, war schon klar, daß es nur der Name war, den seine Kunden gern hörten.
»Schön länger hier?«
»Halbes Jahr.«
Womit klar war, daß er uns als Kunden aufgegeben hatte, sonst hätte er seine Show abgezogen und irgendwas von ein paar Tagen erzählt oder das er nur manchmal herkäme, um etwas Spaß zu haben.
»War irgendwas los?«
Naja, wir erzählten halt ein bißchen, es gab nicht viele Leute, die wir beide kannten, wir vertilgten die Hamburger und irgendwann kam von Sascha das unvermeidliche » ... ja, wenn ich hier 'raus könnte!«
Ich zuckte mit den Schultern, aber das war der Moment, in dem Kevin seine Klappe nicht mehr halten konnte.
»Und warum kannst du hier nicht raus?«
Es gibt Fragen, die man nicht stellt. Sascha schaute mich nur an und meinte: »Dein Freund ist wirklich nicht von hier. Danke für's Essen.«
Kevin zahlte und wollte dann noch auf's Klo, bei Karl war das kein Problem, wenn man sich nicht entsetzlich dämlich anstellte ... Moment mal.
»Kevin ... laß dich nicht anquatschen und wenn doch, dann sei sehr höflich, klar?«
Er nickte und zog ab ... Sascha lächelte.
»Wo hast du den denn aufgeschnappt?«
»Lange Geschichte. Er ist 'n Freund, aber er kommt von der anderen Seite der Straße. Er wollte mal sehen, wie das hier ist, weil ich hier mal war.«
»Wenn er diese Scheiße sehen will, dann muß er wirklich ein Freund sein.«
Ich dachte einen Moment nach, dann nahm ich einen Bierdeckel und lieh mir einen Kuli.
»Ich bin nicht die verdammte Heilsarmee, aber wenn's mal eng wird, das ist meine Adresse, für 'ne Nacht oder so ist das okay. Und das hier ... ist die Telefonnummer von Ingo, der Typ ist Jugendamt, aber er bescheißt dich nicht.«
Er nahm den Deckel und schaute sich an, was ich geschrieben hatte.
»Die Nummer interessiert mich nicht, aber ich merk mir Deine Adresse. Danke.«
Ich nickte und zerriß den Deckel in kleine Stückchen, Sascha war weg, bevor ich fertig war, dafür tauchte Kevin wieder auf und er sah ziemlich nachdenklich aus.
»Wo ist Sascha?«
Ich schaute auf die Uhr, Sascha sah noch jung genug aus, um früh anzufangen.
»Arbeiten.«
»Ich glaub das einfach nicht. Das ist doch noch ein Kind!«
Ich schaute ihn lange an ... endlich hatte er was kapiert.
»Ja, so wie die meisten anderen ... und ich war auch so alt, als ich anfing.«
Karl nickte mir zum Abschied zu ... also hatte er mich doch erkannt. Karl reißt sich für niemanden den Arsch auf, aber an 'nem kalten Tag gibt's schon mal 'n Kaffee auf lau.
Zurück in die Halle ... so langsam ging's los.
»Tim?«
»Ja?«
»Warst du ... auch so? Wie Sascha?«
Gute Frage, aber sowas wollt' ich nicht mitten zwischen irgendwelchen Leuten bereden, also Zeit für 'ne ruhige Ecke.
»Komm!«
Es gibt da bei den Schließfächern so 'ne kleine Mauer, da kann man sich hinsetzen und da laufen genug Grün-Weiße rum, damit du deine Ruhe hast - genau dahin gingen wir, das hier war wichtig und ich wollte in Ruhe reden.
»Kevin, ich weiß nicht genau, ob ich wie Sascha war, aber wenn ich noch hier wär', dann würde ich jetzt Kunden suchen. Es gibt hier ein paar Ecken, wo du mit 'nem Kunden ein bißchen rummachen kannst, aber das mußt du schon ziemlich oft machen, damit die Kohle stimmt. Du kannst auch mit jemandem mitgehen, also über Nacht mitgehen und hoffen, daß er okay ist.«
»Und was ist, wenn er nicht okay ist?«
»Das willst du nicht wissen.«
Kam nicht in Frage, daß ich ihm die Sachen erzählte, die ich so gehört hatte ... oder von dem Arsch, bei dem mir das selbst mal passiert war.
»Mit ein bißchen Glück gibt's gute Kohle und du hast Essen, Dusche und ein Bett auf lau.«
»Und der Typ hat deinen Arsch.«
Ich hatte wohl schon einen schlechten Einfluß auf Kevin, früher hätte er so etwas nie gesagt.
»So ungefähr.«
»Hallo Timmy! Na, wieder auf der Piste? Und gleich mit Verstärkung!«
Mein Rücken wurde kalt. Die Stimme kam von hinten, aber ich hätte sie überall erkannt. Daß er mich 'Timmy' nannte, bedeutete nur, daß er mich erkannt hatte, das war der Name gewesen, den meine Kunden gern hörten. Sein Name war 'Bleifuß' - keine Ahnung warum, aber er war jemand, vor dem ich Angst hatte und den Grund dafür kannte ich ganz genau. Ich sagte gar nichts, denn ich wußte nicht, was los war. Er stelle sich vor uns hin, auf den ersten Blick sah er so aus, als könnte man ihm vertrauen, aber den Fehler machte man nur einmal.
»Macht ihr jetzt auf Team oder läuft er für dich?«
War schon klar, wenn ein Ex-Stricher mit 'nem neuen Jungen auftaucht, dann war da für Bleifuß vielleicht Kohle drin.
»Wir sind nicht im Geschäft.«
»Schade! Du hast dir da 'n nettes Stück Fleisch geangelt ...«
Er schob tatsächlich Kevins Oberlippe hoch, um sich seine Zähne anzuschauen ... und ich schlug Kevins Arm runter - er sprach einfach weiter, als hätte er nichts gemerkt.
»... wenn du mal ein paar Fotos machen willst, sag Bescheid, ich zahl gut.«
»Ich werd dran denken.«
Ich ignorierte Kevins Fragen, bis Bleifuß verschwunden war.
»Kevin, wir gehen jetzt, langsam!«
Taten wir. Die Sache war klar, wenn Bleifuß bei den Schließfächern auftauchte, dann wußte er, daß die Bullen da nicht rumlaufen würden, wie sie es sonst taten. Und wenn die Bullen nicht bei den Fächern waren, dann deshalb, weil woanders auf dem Bahnhof was los war - und ich wollte gar nicht wissen, wo das war. Also, nichts wie weg.
Ein paar Straßen weiter war es ruhig, aber nicht zu ruhig - gut, um zu reden.
»Hast du noch ein paar Mark über?«
Kevin war reichlich von der Rolle, aber er konnte auch noch zwei Minuten warten.
»Äh, ja, klar.«
Ich ging ein Päckchen Kippen kaufen und machte mir eine an. Meine Hände zitterten
»Also, was willst du wissen?«
»Tim, wer war das? Und was für Fotos wollte er machen? Und wieso hast du mir den Arm weggeschlagen? Ich hätte dem Typen ...«
»Du hättest ihm in die Fresse gehauen, genau deshalb hab ich deinen Arm weggeschlagen. Das war Bleifuß.«
»Und?«
»Er ... er kann wirklich fies werden.«
» Tim! Was heißt das? Jetzt red doch mal Klartext!«
»Also gut. Er ist ... so 'ne Art Zuhälter. Er hat 'n paar Jungs laufen und macht alles, was Geld bringt. Er hat mich mal ... vermittelt ... an einen Typen und der war 'n Arsch ... und Bleifuß wußte das. Und er macht Filme und das würde er auch gerne mit dir machen, Pornos natürlich. Ich hab gehört, daß es da ziemlich brutal wird.«
Kevin war still und ich hatte ehrlich gesagt die Schnauze voll.
»Kevin, ich will nach Hause!«
Es war ein langer Weg und ich ging schnell ... ich schloss meine Wohnungstür auf, ging ins Bad und kotzte. Irgendwann kam nur noch Schleim und ich hörte trotzdem nicht auf. Die Nacht war schlimm, ich war wieder auf dem Strich, ich wachte wieder in fremden Zimmern auf, ich spürte wieder den Schmerz und den Ekel und die Angst, ich sah Gesichter, die ich nie wieder sehen wollte und dazwischen immer wieder Kevin.
»Tim?«
Wer? Was?
»Tim?«
»Was ist denn?«
»Wie geht's dir?«
Gute Frage.
»N' bißchen daneben, aber okay.«
»Ich hab noch Kamillentee gefunden, willst du was?«
»Wozu? Sind meine Füße dreckig?«
Ja, ich weiß, uralter Spruch, aber immerhin lächelte Kevin. Ich setzte mich mal versuchsweise hin ...
»Bah!«
Kevin schaute mich ernst an.
»Ja, ich wollte eigentlich schon den Arzt rufen. Was war denn eigentlich los? Du hast nicht mehr aufgehört, zu zittern und zu schwitzen und ich wußte nicht, was ich machen sollte ..«
»Laß mal, ist okay. Vielleicht war der Hamburger nicht mehr so ganz frisch oder so. Ich geh erstmal duschen und dann muß ich das Bettzeug waschen.«
Ich hatte eigentlich keinen Hunger, aber nach ein bißchen Brot und verdünntem Kaffee ging's mir doch wieder besser.
»Was hältst du von ein bißchen Frischluft?«
Manchmal mußt du die Sonne auf der Haut spüren, um zu glauben, daß sie wirklich scheint.
»Meinst du, du schaffst das schon?«
»Ich will nur in den Park.«
Das waren nur ein paar Schritte oder so und als wir in der Sonne saßen, da ging's dann wieder.
»Tim?«
Oops, den Tonfall kannte ich doch irgendwoher ... ich schaute Kevin an und nickte.
»Warum erzählst Du mir so 'ne Scheiße?«
Also, wenn er sich so eine Sprache angewöhnte, dann würde seine Mutter irgendwann mit dem Messer in meiner Tür stehen. Aber das war jetzt nicht der Punkt ... nicht daß ich einen blassen Schimmer gehabt hätte, was denn der Punkt war.
»Was meinst du damit?«
»Dein Hamburger war nicht schlecht. Ich glaube, das gestern abend war einfach ein bißchen viel für dich. Stimmt's?«
Früher war ich ziemlich gut darin, Leute zu belügen, aber mir fehlte wohl das Training.
»Der Hamburger war's nicht, das stimmt.«
»Warum lügst du mich denn an?«
Scheiße. Und jetzt?
»Weil ich dir die Wahrheit nicht sagen kann.«
»Hat das was mit diesem Bleifuß zu tun?«
Kevin kannte mich viel besser, als ich gedacht hatte.
»Ja.«
»Tim, sag es! Ich möchte es wissen!«
Ich schaute ihn an, wie er da in der Sonne saß ... verdammt, ich kam ja selbst nicht mit der Sache klar, wie sollte er es da können. Und ... konnt' ich ihm das wirklich sagen, die Wahrheit? Gut, daß von gestern Abend noch Kippen da waren, ich machte eine an, schmeckte wie Stroh.
»Okay. Das ... was Sascha da macht ... was ich gemacht hab ... ist echt schlimm. Ich mein ... da kommt dann ein Typ, kuckt dich an und fängt schon an zu sabbern und kann die Kohle nicht schnell genug rüberschieben, damit er endlich anfangen kann ... und du machst die Augen zu ... und tust so, als würdest du's auch toll finden. Du gewöhnst dich nie daran. Aber der Typ, zu dem mich Bleifuß gebracht hat ... der war echt krank ... ich war ein paar Tage da ... und ich hab die meiste Zeit nichts gesehen und er hat mich nicht weggelassen ... und ein paar Mal hab ich gedacht, daß es vorbei wäre, ich mein, mit mir vorbei. Irgendwie hab ich es dann bis zu Silly geschafft ... als ich wieder arbeiten konnte, hab ich ihr einen neuen Verbandskasten gekauft und ich hab ihr einen dicken Strauß Rosen auf den Tisch gestellt. Kevin, wegen dem Typen hab ich gekotzt.«
Er sah ziemlich weiß aus.
»Und die Bullen?«
»Wieso?«
»Warum bist du nicht zu denen gegangen?«
Vielleicht hatte er ja 'n paar Sachen kapiert, aber so richtig geschnallt hatte er es nicht.
»Kevin! Was wär dann passiert? Okay, der Typ wär vielleicht im Knast gelandet, wenn überhaupt ... aber ich wär zu Hause gelandet und das, was mein Vater dann mit mir gemacht hätte ... nee, echt nicht.«
»Und du hast dann einfach so weitergemacht?«
»Einfach? Nee, sicher nicht. Aber von nichts kannst du nicht leben.«
Wir saßen noch ein bißchen da und in der Sonne ... wurde das Dunkel weniger, ist schwer zu erklären ... wenn du 'ne Tiefkühlpizza in den Ofen tust, dann mußt du warten und irgendwann ist dann das Eis weg und sie ist gut. So ungefähr ging mir das mit der Sonne. Dann schaute Kevin auf die Uhr.
»Tim, ich muß noch mal kurz weg. Ungefähr 'ne Stunde, okay?«
»Ja, klar. Ich bleib noch 'n bißchen und mach dann Mittagessen.«
Kevin zog los und ich träumte noch ein bißchen ... Schottland, da wollte ich schon immer mal hin ... steile Klippen ... das Meer ... der Wind ... die Burgen und Schlösser ... halt! Nicht einschlafen! War sowieso Zeit und ich ging nach Hause. So, was sollten wir denn essen ... Nudeln, okay, Ketchup, okay ... nee, Tomatenmark ist besser, Zwiebeln ... ob man da Fleischwurst reintun kann? Eher nicht ... ich hatte doch noch irgendwo ... Speck, okay, das geht. Dann schellte es - Kevin, mit einem großen Karton auf dem Arm.
»Was hast du denn da?«
»Mußt du noch mal zur Toilette?«
War nicht unbedingt die Antwort, mit der ich gerechnet hatte.
»Wieso?«
»Weil dein Bad die nächste Stunde oder so gesperrt ist.«
Redete Kevin Blödsinn oder stand ich auf der Leitung?
»Kevin! Was. Ist. Los?«
»Geh aufs Klo.«
Ich mag's ja nicht, wenn ich nicht weiß, was Sache ist, aber Kevin hatte so ein fröhliches Funkeln in den Augen, also tat ich ihm den Gefallen. Ich war kaum wieder draußen, da ging Kevin mit dem Karton rein und kam ohne wieder raus.
»Was gibt's zu Essen?«
Ich grinste, Kevin fühlte sich hier schon ganz wie zu Hause. Aber trotzdem war ich nicht der Kellner.
»Das hängt davon ab, wie du kochst.«
»Du bist aber mutig! Okay, was haben wir denn?«
Ich zeigte ihm, was ich rausgelegt hatte und er legte los ... gar nicht schlecht, Nudeln kochen, Speck und Zwiebeln anbraten, Tomatenmark rein, Würzen machten wir zusammen ...
»So, dann laß uns mal probieren ... hey, nicht schlecht!«
»Tja, gelernt ist gelernt.«
»Was? Du kannst kochen?«
Er grinste.
»Klar. Meinst du, ich ess immer nur Pizza?«
»Ich glaub, ich hab dich unterschätzt!«
»Nur, weil ich Dich mit der Eintopfdose auf den Arm genommen habe? Wart mal ab, was da noch alles kommt!«
Also erstmal kam das Essen richtig gut, mein Magen schrie vor Hunger und ich legte richtig los.
»Hey, mach mal langsam, wen du das alles ißt, dann kannst du dich gleich nicht mehr bewegen!«
»Hatte ich eigentlich auch nicht vor ... wieso, was hast'n du in dem Karton? So 'n Fahrrad oder Gewichte oder sowas?«
»Nein, laß dich überraschen!«
Was blieb mir anderes übrig. Nach dem Essen gab's n' richtig starken Kaffee und dann spülten wir und so langsam war ich wieder fit.
»So, ich glaub, es kann losgehen ... setz dich hin oder so und komm nicht ins Bad.«
Äh, ich hätte ja noch was gesagt, aber er war schon weg ... ins Bad. Hm, ich hörte das Wasser laufen ... was sollte das denn werden? Nach ein paar Minuten kam Kevin raus, nackt, den Karton in der Hand.
»Okay, geh schon mal rein und zieh dich aus!«
Vielleicht war ich ja noch ein bißchen müde von den vielen Nudeln, aber das mußte er mir nicht zwei Mal sagen. Es roch großartig und in der Wanne waren Unmengen von Schaum und da standen ein paar Fläschchen, die ich noch nie gesehen hatte. Kevin hatte sich wirklich was einfallen lassen. Ich zog meine Klamotten aus und legte die Sachen auf die Fensterbank und dann war Kevin auch wieder da und setzte sich langsam in die Badewanne.
»Komm rein! Und setz dich mit dem Rücken zu mir.«
Eigentlich war's ja völlig verrückt, wer legt sich schon an einem warmen Sommermittag in ein heißes Bad ... aber es tat gut! Mein Rücken lehnte an Kevins Brust und ich fühlte, wie da langsam etwas hart wurde ... und dann fühlte ich etwas kühles auf meinen Schultern und dann fing Kevin an, mir den Rücken zu massieren. So was tolles hatte ich ja noch nie erlebt, er machte ganz langsam und unheimlich gründlich ... er massierte sogar Muskeln, von denen ich gar nicht gewußt hatte, das es sie überhaupt gibt. So entspannt war ich wahrscheinlich nicht mehr gewesen, seit ... ich weiß nicht wie lange.
»So, und jetzt gehen wir ins Bett!«
Also, davon war mein Schwanz eigentlich auch ausgegangen, er freute sich schon länger. Das mit dem Abtrocknen dauerte nicht lange, und als wir dann im Bett lagen, da sagte Kevin: »Mach die Augen zu und laß mich das machen!«
Und wie er machte! Himmel, der Junge trieb mich ja fast zum Wahnsinn ... es war großartig.
Hinterher lagen wir ganz dicht nebeneinander, unsere Köpfe berührten sich und Kevin flüsterte nur: »Tim, was war, ist vorbei ... du bist nicht mehr auf der Straße ... du hast ein Zuhause ... und du hast mich ...«
Und da begriff ich es ... ich wußte vorher gar nicht, daß man auch vor Freude weinen kann. Ich lag nur da und spürte Kevin neben mir, ich hörte die Vögel zwitschern und ein bißchen Sonne fiel auf meine Beine ... Moment mal, was für Vögel, hier gab's nur Tauben und die zwitschern nicht ... und dann sah ich es oder besser, dann sah ich sie: zwei Wellensittiche, einen blauen und einen gelb-grünen in einem weißen Käfig auf meinem Küchenschrank.
»Ich dachte schon, du würdest sie nie sehen.«
»Wie ... was ... warum ...«
»Ganz einfach, ich glaube, du brauchst hier einfach ein bißchen Leben. Und es sind Männchen und Weibchen und sie werden sich bestimmt mögen ... ich dachte, so ähnlich wie wir.«
Ich hab nicht viel Erfahrung damit, 'Danke' zu sagen, aber ich glaube, ich machte es ganz gut ... und ich schaute immer wieder hoch zu den kleinen Kerlchen, die sich da in ihrem Käfig vergnügten ... und ich lächelte.
Nachwort
Ich habe diese Story eigentlich exklusiv für Braveboy geschrieben, aber nachdem ich nun einen eigenen Storybereich habe, ist es wohl ganz gut, wenn da auch alle Stories zu finden sind, die ich geschrieben habe.
Ihr habt inzwischen gemerkt, daß »Streetkids« eine ziemlich harte Story ist, aber sie endet, wie die meisten Geschichten, gut. Leider gibt es dieses 'Happy End' für viel zu viele Jungs nicht, Tim und Sascha haben in der Realität viele Brüder. Wenn ihr die Chance habt, dann helft ihnen, sie verdienen es!
Thomas
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