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Mit anderen Augen
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Informationen
- Story: Mit anderen Augen
- Autor: Thomas J.
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Coming Out, Lovestory
Inhaltsverzeichnis
- Kapitel I, Carsten
- Kapitel II, Andreas
- Kapitel III, Das Internat
- Kapitel IV, Begegnungen
- Kapitel V, Der erste Tag
- Kapitel VI, Die Zeitung
- Kapitel VII, Gespräche
Kapitel I, Carsten
„So, fast haben wir es geschafft. Bleiben nur die Interviews mit den neuen Schülern.“
„Was steht denn auf der Liste, Carsten?“
„Neunundzwanzig Schülerinnen und Schüler. Einer besucht die Abschlussklasse. Die Zwölf und die Elf haben jeweils einen Zuwachs. Die Zehn geht diesmal leer aus. In der Neun haben sich zwei angemeldet. Gleiches gilt für die achte Klasse. Einen Schüler und zwei Schülerinnen mehr hat auch die Sieben. In der Sechs sind es diesmal vier. Zuletzt die neue fünfte Klasse besteht aus fünfzehn neuen Schülerinnen und Schüler. Hat jemand irgendwelche Vorschläge dazu?“
„Ich, nehme die vier aus der Sechsten. Sind meine Altersgruppe, Carsten.“
„Okay Maria. Ralph, würdest du bitte...“
„Hm, die aus der Acht und Neun? Was meinst du Britta, im Team?“
„Gerne Ralph, du die Jungen und ich die Mädchen! So kommst du mir nicht auf dumme Gedanken.“
Die anwesende Redaktionsrunde lachte.
Seit einigen Wochen waren Britta und Ralph als Paar zusammen. Und es sah wirklich nicht so aus, als ob sie schon bald wieder getrennte Wege gehen würden. Wie Ralph Carsten mal erzählte, hatte er sich schon in der Neun in sie verguckt. Ein Jahr hatte er investiert um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Seine Bemühungen trugen nun Früchte und deren Himmel hing noch voller Violinen. Das sie sich gegenseitig aufzogen, gehörte wohl zu ihrem Flirtritual und war keineswegs respektlos. Was Carsten wiederum daran erinnerte, dass er noch solo war.
„Ich habe nichts dagegen, ihr Beiden.“
„Okay, ich denke Michael, Carolin, Thomas und Svenja nehmen sich die komplette Fünf vor.“
„Ich würde gerne die drei aus der Siebenten nehmen! Christiane, Carsten geht das?“
„Sicher Michael! Florian wie wäre es mit dir, die Fünf?“
„Ich weiß nicht.“
„Das schaffst du! Ich denke, die anderen werden dir dabei helfen.“
„Gut.“
„Carsten, ich übernehme den Abiturienten und Paul, du bist doch in der Elf!“
„Ja, soll ich den aus meiner Klasse nehmen, Christiane?“
„Guter Gedanke. Dann bleibt nur noch einer übrig. Carsten?“
„Einverstanden. Wie heißt er denn, Christiane?“
„Andreas! Andreas Zahradník. Wenn ich den Namen jetzt richtig ausgesprochen habe.“
„Okay, den übernehme ich. In zwei Wochen sollten die Resultate vorliegen. Eine Auswahl an Interviewfragen findet ihr auf unserem Server unter JHP-News. Das war es für heute.“
„Ja, für die erste Ausgabe habt ihr diese Woche schon viel getan, darum haben Carsten und ich vorhin mit Patrick gesprochen. Im Speisesaal stehen für euch noch Eistee, Kaffee und Kuchen bereit. Und in der Küche könnt ihr euch ein Eis holen.“
Die Schülerrunde löste sich auf. Das Angebot war bei dem zeitig herrschenden Sommerwetter viel zu verlockend. Christiane, Max und Carsten waren die Letzten in der Internatsredaktion. Ihnen lag sehr viel an der JHP-News, der ‚Schülerzeitung‘. War es doch ihr Projekt, welches sie im vergangenen Schuljahr gestartet hatten. Mit einer handverlesenen Redaktion hatten sie eine qualitative Zeitung geschaffen, welche auch bei den Lehrern Anerkennung gefunden hat. Was wünscht man sich mehr, als kleiner Journalist?
Die erste Ausgabe nach den Sommerferien stand. Christiane schaltete die Macintoshs aus. Carsten schnappte sich sein Powerbook und packte dieses in die dazu gehörige Umhängetasche. Als Max das sah, stand sie auf und gesellte sich an seine Seite. Mit ihrer Schnauze stupste sie an sein linkes Bein. Freundlich strich er ihr über den Kopf und griff sich den Bügel des Hundegeschirrs.
Gemeinsam gingen sie hinaus auf den Korridor. Christiane schloss hinter sich ab. Ihre Wege trennten sich. Christiane ging hinunter ins Sekretariat um die Disk mit der virtuellen Ausgabe für den Druck abzugeben. Okay, der Direktor würde zuvor noch einen Blick darauf werfen, aber die Druckfreigabe war reine Formsache.
Carsten ging mit Max auf sein Zimmer. Dort stellte er die Tasche neben seinen Schreibtisch ab. Öffnete das Fenster. Eine kühle, feuchte Brise wehte in den Raum. Dass es geregnet hatte, war ihm entgangen. Egal. Hauptsache frische Luft. Tief atmend stand er da und hörte zu wie sein Golden Retriever an seinem Wassernapf das Nass schlabberte.
„Komm meine Kleine, lass uns noch eine Runde laufen gehen. Einverstanden?“
Wuff!
Carsten zog sich seine Laufsachen an und schnappte sich die Laufleine für den Hund. Den Bügelgriff entfernte er, damit konnte sich die Hündin freier bewegen. Die Leine würde er sowieso erst draußen befestigen, da Max normalerweise erst einmal in die Hocke ging, sobald sie eine geeignete Stelle dafür gefunden hatte. Im Treppenhaus lief sie noch manierlich neben dem Jungen her. Auf dem letzten Treppenabsatz hörte er die Eingangstür sich öffnen. Mit Max Disziplin war es vorbei. Sie stürmte hinaus ins Freie. Und dann hörte er sie: Die Stimme.
Eine Nuance vielleicht nur, doch für Carsten war sie ‚einmalig‘. Ein wohliges Gefühl machte sich in ihm breit.
Er blieb stehen. Analysierte! Sein Gehör nahm eine Reihe von phonetischen Eigenschaften wahr. Carsten konnte nicht genau sagen aus welcher Region sein Gegenüber kam. Er sprach mit einem nur leichten Dialekt. Dass es sich um einen Jungen handelte, da war er sich sicher. Es konnte einer der neuen Schüler des Internats sein, welche in dieser Woche eintrafen. Das Alter schätzte er auf sechzehn bis achtzehn Jahre. Dafür sprachen einige charakteristisch tiefe Laute. Dass der Stimmbruch noch nicht vollends vollzogen war, deuteten einige unsichere Tonschwankungen an. Die Aussprache an sich war deutlich und ruhig. Carsten bemerkte, dass die Betonung der Silben Selbstsicherheit ausstrahlte und eine gewisse magische Wirkung auf ihn hatte. Ihm schien, als ob sein Gegenüber jedes einzelne Wort formte, bevor er es aussprach. Diese an ihn gerichtete Frage wiederholte sich permanent in seinem Kopf. Sie ließ ihn nicht los. Er war von dieser warmen Stimme fasziniert.
Nachdem ihm langsam Bewusst wurde, dass er sich zu einer Antwort durchringen könnte, wurde die Frage ein weiteres Mal gestellt.
Kapitel II, Andreas
Andreas stand mit einer Tasche und dem Rucksack bepackt vor dem Portal des großen Hauses. Über der Tür war das Internatslogo in Stein gemeißelt. Es machte sich gut da. Darunter stand in großen Lettern ‚Johann Heinrich Pestalozzi Internat‘. Sein Zuhause für die kommenden zwei Jahre. Er schritt die breite Treppe hinauf bis zur Eingangstür. Die Eichentür öffnete sich leichter, als es ihr Anschein vermuten ließe. Doch bevor er hinein gehen konnte, stürmte ein Hund an ihm vorbei hinaus. Auf der Treppe stand Andreas ein Junge in seinem Alter gegenüber. Er hatte dunkelblondes, leicht welliges, kurzes Haar. In dem einfallenden Tageslicht, wirkte es leicht rötlich schimmernd. Seine Statur machte einen sportlichen Eindruck. Obwohl Andreas nicht behaupten würde, dass er muskulös wäre. Nein, sein Gegenüber wirkte eher graziös. Und sein Laufdress ließ darauf schließen, dass er Joggen gehen wollte. Mit seiner rechten Hand hielt sich der Junge am Geländer der Treppe fest, in der anderen hielt er eine Hundeleine. Seine Finger sahen fein und zierlich aus. Sein Gesicht barg etwas Geheimnisvolles, etwas, was ihn magisch faszinierte. Seine blauen Augen hielten ihn fest.
„Hallo! Kannst du mir sagen wie ich zum Sekretariat komme.“
Im ersten Augenblick schien es Andreas so, als ob sein Gegenüber ihn nicht verstanden hatte. Daher wiederholte er seine Frage. Und diesmal rang dieser sich zu einer Antwort durch.
„Hallo. Ja, von dir aus rechts herum, durch die Glastür. Folge danach einfach den Hinweisschildern. Hast du einen Golden Retriever gesehen?“
„Danke! Und ja, so ein Exemplar stürmte gerade an mir vorbei nach draußen. Hätte ich es verhindern sollen?“
„Untreue Seele, dieser Hund. Und nein, sie wird vor der Tür auf mich warten.“
Andreas sah ein strahlendes Lächeln im Gesicht des Jungen und wertete dessen Aussage als nicht so ernst gemeint. Er wandte sich um und sah bald die Schilder mit der Aufschrift ‚Sekretariat‘. Ihnen folgte er, bis er vor dem besagten Raum stand. Er schaute auf das Türschild, welches sich in Schulterhöhe befand. Die Aufschrift ‚Sekretariat‘ war mit ‚Punkten‘ unterlegt, Andreas ließ unwillkürlich seine Finger darüber gleiten. Danach klopfte er an. Es dauerte, bis er zum Eintreten aufgefordert wurde. Hinter einem Schreibtisch saß eine ältere Frau, in einem einfachen, modernen Kostüm gekleidet, die eine Computertastatur bearbeitete.
„Du wünscht?“ Sie fragte, ohne vom Bildschirm aufzusehen.
„Mein Name ist Andreas Zahradník, ich sollte mich hier melden.“
Diese Antwort veranlasste sie nun doch erstaunt hochzusehen, um ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Dann stand sie auf.
„Ach, ich habe dich gar nicht so früh erwartet, Andreas. Dr. Neubert ist noch im Schulgebäude. Er sollte in einer viertel Stunde wieder hier sein. Da musst du noch etwas warten. Setz dich doch. Ja? Kann ich dir etwas anbieten, Kekse oder etwas zu Trinken?“
„Eine Cola, bitte! Ich hatte etwas Glück, einen Anschlusszug früher zu erreichen.“
„Das ist gut, bitteschön, deine Cola. Da vorn sind Gläser, wenn du möchtest nimm dir eines. Ach wo habe ich nur meine Manieren gelassen, ich bin Frau Schmitt.“
Andreas sah in ein freundliches Gesicht, nahm das Getränk dankend an und setzte sich in die wohl dafür vorgesehene, mit Kunstleder bezogene Sitzgruppe. Auf dem kleinen Tisch davor lagen Prospekte des Hauses und eine Ausgabe der JHP-News. Andreas nahm sich die News, welche sich auf den zweiten Blick als die Internatszeitung präsentierte.
Hin und wieder schaute er zu der, wieder geschäftigen, Schreibkraft hinüber. Einmal stand sie auf und ging zu einem kleinen Schrank. Sie öffnete eine der oberen Laden, entnahm ihr einen braunbeigen Aktenordner und ging wieder zu ihrem Platz zurück. Zuvor aber gab sie der Schublade einen kleinen Schubs, welche sich geräuschlos schloss. Dann vertiefte er sich wieder in einen Internatsartikel. Andreas war von der Aufmachung begeistert. Die Inserate und Artikel waren wie von Professionellen recherchiert und bearbeitet.
Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und ein Mann mit einer kleinen Nickelbrille trat temperamentvoll ein. Andreas musterte den Mann, der ihn noch nicht bemerkt hatte. Er trug eine Jeans und ein helles Kordjackett, welches an den Ellenbogen aufgenähte Lederpads hatte. Die ihm zugewandte Jackettasche wies weiße Kreidespuren auf. Im Grossen und Ganzen fand Andreas ihn sympathisch.
„Frau Schmitt, bitte bringen sie mir einen Cappuccino und die Akte Zahradník. Ich glaube der junge Mann wird heute Nachmittag eintreffen.“
„Der Cappuccino, kommt gleich. Die Akte und der Junge sind hier. Darf ich vorstellen, Andreas Zahradník, Herr Dr. Neubert.“
Der Mann drehte sich um und schaute über den Brillenrand zu dem Jungen. Er ging auf ihn zu und reichte ihm seine Hand. Andreas stand auf und erwiderte den Gruß. Dann wandte der Mann sich zur Sekretärin.
„Frau Schmitt, die Akte nehme ich gleich mit und fügen Sie zu meinem Cappuccino noch Kekse und etwas zu Trinken für den jungen Mann hinzu. Komm mit Andreas, gehen wir in mein Büro.“
„Könnte ich bitte einen Milchkaffee haben?“
Frau Schmitt sah den Jungen an und nickte. Dr. Neubert ging zu einer lederbespannten Tür, öffnete diese und wies Andreas an, ihm zu folgen.
„Setz dich bitte. Erst einmal Willkommen im Johann Heinrich Pestalozzi Internat, Andreas. Dass ich Dr. Neubert bin, hat Frau Schmitt ja schon verraten. Auf den Doktortitel lege ich keinen so großen Wert, den darfst du ruhig weg lassen. Dass ich dein zukünftiger Mathe- und Physiklehrer bin, ist dir hoffentlich neu.“
„Ja, das ist mir allerdings neu. Sind sie auch mein Klassenlehrer?“
„Nein. Deine Klassenlehrerin ist Frau Möller – Klein, und nun lass mich mal kurz einen Blick in deine Akte werfen.“
Der Direktor öffnete die Aktenmappe, las einen Moment und schloss sie wieder. Auf einem kleinen Tablett brachte Frau Schmitt den Cappuccino, den Milchkaffee und die Kekse herein. Sie stellte alles auf dem Tisch ab, der Direktor nahm seine Tasse an sich. Dann setzte er sich zu dem Jungen. rührte gedankenverloren in seiner Tasse. Andreas sah sich seinen Gegenüber ruhig an. Nachdem dieser keine Anstalten machte etwas zu sagen, schaute er sich im Raum um. Es war wirklich ein Arbeitszimmer. Ein großer Schreibtisch mit einem TFT-Bildschirm und vielen Akten darauf, an der Wand daneben ein Regal mit Büchern. Dem gegenüber, eine weiße und eine blaue Pinwand. Auf jeder klebten vielen bunten Magnetkästchen. Andreas merkte nicht wie der Direktor sich von der Akte zu ihm wandte. Er beobachtete den Jungen.
„Die weiße Tafel ist der Stunden- und Lehrplan. Die Blaue umfasst die Raumverteilung im Internat. Ich habe zwar jeden Plan noch auf meinen Computer, doch die großen Tafeln finde ich übersichtlicher. Vielleicht ist das auch ein stiller Protest. Wer weiß?“
„Sie wissen es: Es ist ihr Protest.“
„Du bist scharfsinnig, Andreas. Wie kommst du darauf?“
„Wenn dem nicht so wäre, hätten sie es nicht extra erwähnt. Sie haben etwas gegen die Digitalisierung?“
„Ein wenig, schon. Alles auf ‚Einsen‘ und ‚Nullen‘ zu reduzieren entspricht, meiner Auffassung nach, nicht dem Leben.“
„Da haben sie Recht. Das Leben ist bunt, nicht nur schwarz – weiß. Und Schüler sind keine Ziffern, welche ihren, ich sage mal so, wirtschaftlichen Nutzen widerspiegeln. Jedoch sind Informationen, wie ein Stundenplan sie beinhaltet konkret und man darf diese getrost auf ein ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ reduzieren. Vielleicht finden sie die Pinwände übersichtlicher, das ist jedoch ihre persönliche Ansicht. Ein anderer Direktor findet für sich eventuell die PC-Graphik vorteilhafter.“
„Bist du sicher, das du nicht der Lehrer bist und ich der Schüler?“
„Da bin ich mir sicher: Ich bin der Schüler. Ein Narr ist der, der von sich behauptet Meister zu sein.“
„Es macht Spaß sich mit dir zu unterhalten, Andreas. Doch ich schweife vom Thema ab. Ich habe gerade noch einmal den Brief von deinem ehemaligen Direktor überflogen. Mein Kollege zeichnet ein gutes Bild von dir. Und auch deine Noten scheinen okay zu sein. Die Fachkollegen werden dich noch prüfen, alles Routine. Laut der beigefügten Literaturliste differieren einige der Unterrichtsmaterialien, also warten wir mal ab. Nun aber zu etwas ganz anderes. Warum möchtest du auf ein Internat?“
„Seit dem Tod meiner Eltern haben sich meine Großeltern um mich gekümmert. Nun können sie mich nicht mehr so betreuen wie sie es gerne wollten. Und auch ich merkte, dass sie langsam überfordert wurden. Da kam die Idee mit dem Internat auf. Ihr Institut wurde uns von einem Anwalt meiner Eltern empfohlen.“
„Ja, Herr Johansson hatte mit mir gesprochen. Ich soll dir noch herzliche Grüße ausrichten. Weiter im Text. Wie steht es um deine Kreativität?“
„Ich habe mich mehr schlecht als recht damit befasst. Fächer wie Musik und künstlerisches Gestalten etc. wurden mangels Finanzierung und Personal in meinem bisherigen Stundenplan gestrichen.“
„Gut zu wissen, Andreas. Ich lege sehr viel Wert darauf, dass sich meine Schüler aktiv mit mehr als nur dem Lehrstoff befassen. Wir bieten unterschiedliche Kurse dazu an. Du kannst frei wählen.“
„Muss ich mich sofort entscheiden?“
„Nein, schau dich erst einmal um... vielleicht entwickelst du ja auch ein eigenes Projekt. Ist hier auch schon vorgekommen. Wichtig ist mir, dass du deine Phantasie gebrauchst.“
Mit diesen Worten öffnete er die Aktenmappe ein weiteres Mal und blätterte darin ein wenig. Das Umlegen der Seiten produzierte leise, knitternde Geräusche. Es schien Andreas, als ob sein Gegenüber etwas suchte. Er beobachtete Herrn Neubert wie er einen Moment innehielt und las.
Währenddessen dachte Andreas über seine momentane Situation nach. Auch wenn er sich schon öfters mit Lehrer unterhielt. Dr. Neubert nahm sich für ihn viel Zeit. Etwas was dem Jungen so noch nicht untergekommen war. Er hatte das Gefühl, als Person respektiert zu werden, nicht nur als ein Schüler.
„Herr Neubert, darf ich ihnen eine Frage stellen?“
„Das hast du bereits getan, Andreas.“
Der Pädagoge grinste zu ihm hinüber.
„Wenn deine Frage lauten sollte, ob ich mir immer Zeit für meine Schüler lasse, so lautet meine Antwort: Ja. Wenn ich ein Bild betrachte, möchte ich es gerne erkennen. Damit hoffe ich, ein wenig über den Maler zu erfahren. Ich sehe den Pinselstrich, die Farben, ja manchmal sogar wie der Künstler zum Licht gestanden hatte. Dazu benötige ich Zeit. Einen Menschen kann ich nur dann kennen lernen, wenn ich mich mit ihm auseinandersetze. Das geht nicht zwischen Tür und Angel.“
Andreas leuchtete die Antwort ein. Ihm wurde Vertrauen entgegen gebracht und er war für einen Pädagogen interessant. Herr Neubert gab sich mit ihm Mühe. Sollte er? Er rang sich durch, das ihm entgegen gebrachte Vertrauen zu erwidern.
„Herr Neubert, sie werden es sicherlich früher oder später sowie so erfahren. Dann lieber von mir.“
„Ja?“
„In meiner alten Schule gab es Probleme damit, dass ich schwul bin.“
Herr Neubert schaute nur kurz über den Rand seiner Brille hinweg. Sein Gesichtsausdruck ließ für Andreas kaum Interpretationsmöglichkeiten zu. Einzig die Mundwinkel zeigten ein Lächeln.
„Ja, das ist mir nicht entgangen, Andreas. Mein Kollege hat es bedauerlicherweise für nötig gehalten, diesen Sachverhalt mir schriftlich mitzuteilen. Aber es ändert hier natürlich nichts, mein Junge. Zunächst einmal, ob es Probleme geben wird, kann ich dir leider nicht sagen. Warten wir einfach mal ab. Das Kollegium ist jedenfalls geschult und, darauf lege ich Wert, respektiert jeden Schüler. Damit möchte ich an sich die Sache auf sich beruhen lassen. Ich hoffe das ist okay! Wem du es sagen möchtest, ist deine Entscheidung, von mir erfährt es jedenfalls niemand. Den Brief vertraue ich nach unserem Gespräch dem Reißwolf an. Anderes Thema. Was ich von dir erwarte, kannst du dir sicher schon denken: Dein Bestes in allen Bereichen bis zum Abi. Wie du sicherlich schon bemerkt hast, haben wir hier schon angefangen. Wir benutzen die ersten Tage meist für die organisatorischen Dinge in den Klassen. Von daher hast du noch nicht viel verpasst. Und ‚Klasse‘ ist auch mein Stichwort: Du kommst in die zwölfte Jahrgangsstufe. So nun lass mich noch einmal schauen.“
Damit öffnete er die Mappe, welche noch immer auf seinem Schoss lag, entnahm einen Bogen Papier und einen Notizzettel, auf dem wohl einige Punkte notiert waren. Dann stand er auf. Das Blatt schob er in ein Gerät auf seinem Papierkorb, welches dann mit einem leisen Surren das Papier verschlang. Anschließend ging er zu der Pinwand hinüber.
„Ich weiß, jetzt zeige ich dir erst einmal ein wenig vom Internat und dein Zimmer. Deine Schulunterlagen werde ich auf dein neues Zimmer bringen lassen. Sage einmal, hast du eine Allergie?„
„Zum Glück: Nein. Warum fragen sie?“
„Wir haben einige Bewohner die auf ihren Zimmern Tiere haben. Da wäre eine Tierhaarallergie zum Beispiel nicht sehr förderlich. Und genauso verhält es sich. Dein Mitbewohner hat so einen Zimmergenossen. Ich hoffe das stört dich nicht.“
Der Direktor entnahm von der blauen Tafel ein Plättchen und positionierte es neu. Das musste wohl Andreas’ Magnet gewesen sein.
„Ich habe nichts dagegen, wenn Hamster oder Wellensittiche im Zimmer sind.“
„Gut, da bin ich froh. Hast du Gepäck?“
„Ein Koffer und ein Rucksack, sie stehen noch im Vorzimmer. Und in den nächsten Tagen erwarte ich noch weitere größere Gepäckstücke. Es war mir einfach zuviel um alles mitzunehmen. Daher habe ich einen Kurierdienst damit beauftragt.“
„Das war sicher eine weise Entscheidung. Die sind heute schon gekommen, ich sage dem Hausmeister Bescheid, wo er sie abstellen soll.“
Kapitel III, Das Internat
Herr Neubert öffnete die Tür und beide gingen nacheinander wieder ins Sekretariat.
Hier gab der Direktor noch die Anweisung in welchem Raum das Gepäck gebracht werden sollte. Gleiches galt auch für die restlichen Unterlagen.
Dann machten sie sich zur Besichtigung auf. In den nächsten anderthalb Stunden wurde Andreas durch den Komplex des Internates geführt. Da gab es schon einiges zu sehen. Mit dem Hauptgebäude fingen sie an. Dort waren die Verwaltung, die Küche und der Speisesaal im Erdgeschoss untergebracht. In einem weiteren Gebäudeteil, der Pädagoge nannte ihn den Ostflügel, fanden sie Sozialräume, kleinere Gruppenräume und zwei Musikzimmer.
Außerdem waren hier im dritten Stock einige Lehrer untergebracht. Dennoch, der Gros wohnte in der Umgebung. Im Südflügel sowie im Westflügel waren die Schülerinnen und Schüler nach Geschlecht getrennt untergebracht.
Danach gingen sie hinaus. Zwischendurch erklärte der Pädagoge dem Jungen immer wieder einmal etwas über das Internat und dessen Namensgeber.
„Herr Pestalozzi setzte sich zu seiner Zeit für die Bildung des allgemeinen Volkes ein. Du kannst dir sicher vorstellen, dass dieses Unterfangen zu Beginn des 18. Jahrhunderts nicht ohne Probleme mit der Oberschicht ging. In seinem, ich möchte es einmal so formulieren, Internat lehrte er, begleitend zu handwerklichen Arbeiten, die Theorie. Wir halten es hier im Internat ähnlich, daher haben wir uns auch nach ihm benannt. Hauptaugenmerk liegt natürlich bei der theoretischen Ausbildung. Die ‚handwerkliche‘ Praxis, soll hier durch kreative Aktivitäten ersetzt werden. Und auch da sind wir nicht auf die Wirtschaftlichkeit aus, wie es zu Herrn Pestalozzis Zeiten von Nöten war.“
Andreas hatte sehr schnell den Eindruck gewonnen, dass Dr. Neubert Wert darauf legte zu wissen, wer dieser ‚Johann Heinrich Pestalozzi‘ war. Während des Gespräches gingen sie zum Hauptgebäude zurück. Dabei sprach der Direktor ein wenig über den Tagesablauf. Auf dem Weg schauten sie sich noch den etwas vernachlässigten Schulgarten, inklusive einem kleinen Gewächshaus und ein zum Institut gehörendes Ruderhaus an. Es schien also auch von (sportlichem) Vorteil zu sein, einen eigenen Steg an einem großen See zu haben.
Danach schlenderten sie zu Andreas’ neuer Unterkunft. ‚Andreas Zahradník‘ stand auf dem Namensschild unterhalb von ‚Carsten von Feldbach‘. Und wieder war die Oberfläche nicht eben, sondern mit Punkten unterlegt. Wie sich herausstellte, hatte der Hausmeister schon seine Pflicht erfüllt. Gepäck und zwei Kartons mit seinem Namen waren schon dort. Der Direktor nahm dies zufrieden zur Kenntnis.
Andreas schaute sich im Zimmer um. Es entsprach nicht so ganz seinen Vorstellungen eines Internatszimmers. Jede Seite des Raumes war ein großzügig eingerichtetes Jugendzimmer. Bett und Schrank waren zur Korridorseite angeordnet. Daneben ein Regalelement. Der Schreibtisch stand an einer kleinen Dachschräge unter einem Fenster, von denen es insgesamt drei gab. In der Mitte befand sich ein kleiner runder Tisch mit zwei Stühlen. Neben der Eingangstür war eine Nasszelle angeordnet, an dessen Außenseite eine Pinwand angebracht war. Unter dem Waschbecken stand ein Wassernapf.
„Gefällt es dir, Andreas?“
„Ja richtig komfortabel hier.“
„Was hattest du denn gedacht, eine Mönchszelle?“
„So ungefähr... Nein, aber es wirkt so groß und richtig freundlich. Es ist jedenfalls größer als meines bei Oma und Opa.“
„Dieses ist eines der größten, weil Max – Carstens Hund – hier ja auch noch untergebracht ist. Aber an sich sind alle Räume hier großzügig gehalten. Richte dich so ein wie es dir gefällt, du sollst dich hier wohl fühlen. Einzig den Schrank kannst du nicht verschieben, der ist an der Wand befestigt. Wir sehen uns morgen Nachmittag in der Schule.“
Damit ließ der Direktor den Jungen allein in seinem neuen Zimmer. Andreas nahm sein Gepäck und warf es auf das freie Bett. Danach ging er zu seinem Schreibtisch hinüber, beugte sich vor und öffnete das Fenster. Anschließend machte er noch das Mittlere auf. Carsten hatte seines auf kipp stehen. Bei dem wechselhaften Wetter wohl eine gute Wahl. Einen Augenblick blieb er bei dem offenen Fenster stehen und schaute hinaus. Neben dem Fenster von Carsten stand eine große, an das Fenster reichende Fichte. Der Blick aus dem mittleren Fenster ging auf einen ans Institut grenzenden Wald. Durch den Regen hatte sich ein leichter Nebel darüber gelegt. Andreas lauschte, außer Waldgeräusche hörte er nicht viel. Reflexartig atmete er tief ein. Die Luft schmeckte frisch und feucht. Nach einigen Minuten wandte er sich wieder um. Er schaute sich Carstens Seite an. Etwas bescheiden fand er, keine Poster oder Ähnliches an den Wänden. Einige abgegriffene Gegenstände standen neben seinem Bett. Und – wie er fand – missglückte Tonarbeiten. Dazu ein größerer rechteckiger Digitalwecker. Ein Gerät was nicht so ganz in Andreas’ Vorstellung zu einem Jugendlichen passt. Selbst moderne Radiowecker haben ein besseres Design. Dieser jedoch sah er wie ein Ziegelstein aus. Das war es auch schon an Dekoration. Dafür hatte sein Mitbewohner eine super HiFi-Anlage und in einer Ecke stand ein recht edles Keyboard. Da schien wohl jemand musikalisch zu sein. Andreas ging zu seinem Bett und begann damit seine Wäsche in den Schrank einzuräumen. Eine Bettwäschegarnitur – mit Comicfiguren Design – legte er an das Kopfende des Bettes. Hoffentlich störte es Carsten nicht, da sein Bett mit einer schlichten blauen Garnitur bezogen war. Wenn er sich darüber lustig machen würde, es war ihm egal. Den Rest verstaute er ebenfalls im Schrank. Dann nahm er sich den Karton mit den Schulunterlagen vor. Ganz oben auf lag ein Exemplar der Hausordnung, darauf ein kleiner Schlüssel mit Klebefilm befestigt. Achtlos warf er es auf den Schreibtisch. Die Bücher stellte er zunächst einmal ins Regal. Einige von ihnen kamen ihm sogar bekannt vor. Schien also doch einiges länderübergreifend zu sein. Nachdem der Karton leer war, stellte er ihn zu dem Koffer neben der Tür. In dem zweiten Karton befanden sich Sweat- und T-Shirts im königsblauen Design. Ein Zettel informierte ihn, dass es sich um die offizielle Schulkleidung handelte. Ein ‚Anzug‘ würde in den kommenden Tagen noch folgen. Dazu sollte er sich noch einmal im Sekretariat melden. Schnell waren auch diese im Schrank verschwunden.
Als letztes öffnete er den Rucksack, ganz oben drauf war das Familienbild. Seine Eltern, Großeltern und er in der Mitte. Er nahm es und hielt es einige Momente fest. Sein Gesichtsausdruck wurde traurig, dann stellte er es neben dem Bett auf eine Konsole.
Ein Handtuch deponierte er an der Waschnische und sein Waschzeug in einem kleinen offenen Fach über dem Waschbecken. Dem Jungen fiel auf, dass Carsten ein sehr pingeliger Mensch sein musste. In dem Fach, welches Carsten belegte, lag alles ordentlich nebeneinander. So als könne man die Dinge mit geschlossenen Augen entnehmen. Ein Blick zu seinem Schreibtisch bestätigte ihn. Kein Bogen Papier oder ein herumliegendes Schreibgerät verunzierte dessen Oberfläche.
Andreas hoffte inständig, dass Carsten seine eigene Unordnung tolerierte. Sonst könnte es doch ein schwieriges Jahr werden.
Die Papprolle mit den wenigen Postern legte er auf den Tisch ab. Seinen Laptop, ein Geschenk seiner Oma, stellte er neben den Schreibtisch. Er müsse mal Carsten fragen ob es auch Internet gab. Eine belegte Netzwerkdose hatte er schon gesichtet. Dann stellte er noch einige Spiele-CD’s in das Regal. Seine eigenen Bücher waren bei der Kuriersendung, welche noch unangetastet in der Ecke stand. Seinen Wecker platzierte er ebenfalls auf der Konsole. Zuletzt bezog er das Bett. Jetzt sah es schon wohnlicher aus. Er schaute sich nochmals die andere Zimmerseite an. Carstens Hälfte sah aus, als ob ein Blinder sich darin zurechtfinden müsste. Einzig eine kleine Decke passte nicht so recht in dieses Arrangement. Sie lag zerknittert zwischen Regal und Schreibtisch auf dem Boden. Da hatte sein Mitbewohner nicht so recht seine Augen offen gehalten.
Anschließend ging er zu den einzelnen Lichtschaltern. Die Zimmerleuchte flammte auf. Die Beleuchtung über den Waschbecken funktionierte auch. Die kleine Halogenschreibtischleuchte versagte ihren Dienst. Er nahm die Lampe, probierte eine andere Steckdose aus, nichts. Das fing ja gut an. Aber was soll’s, Morgen ist auch ein Tag. Andreas stellte die Lampe wieder auf den Tisch zurück. Einen leichten Hauch vom Wald wehte der Wind durch die offenen Fenster hinein. Er legte sich auf sein Bett und es dauerte auch nicht lange, bis er einschlief.
Kapitel IV, Begegnungen
Ein Luftzug strich über Andreas’ Haar und weckte ihn. Orientierungslos schaute er sich um. Dann fiel ihm ein, dass er im Internat war, in seinem neuen Zimmer. Carsten saß mit dem Rücken zu ihm an seinem Schreibtisch und tippte etwas auf der Tastatur seines Laptops. Dann lies er seine Finger über ein kleines Panel gleiten. Die Braillezeichen zogen wie auf einem Laufband unter seinen Fingern hinweg und er las.
Durch ein Geräusch aus der anderen Zimmerhälfte, ließ er sich nicht stören. Sein neuer Mitbewohner scheint Morpheus Armen wohl wieder entkommen zu sein. Als Andreas ihn begrüßte, war es jedoch mit seiner Konzentration vorbei.
Carsten erkannte die Stimme aus dem Treppenhaus wieder. Innerlich freute er sich, doch seinen neuen Mitbewohner musste er ja erst einmal kennen lernen. Was hatte er denn davon, dass der Neue eine wundervolle Stimme besaß aber einen unerfreulichen Charakter?
„Hallo Carsten! Was machst du da?“
„Hallo! Ich lese, habe ich dich geweckt?“
„Nein, ich habe dich ja noch nicht einmal ins Zimmer kommen gehört. Bist du schon lange da?“
„Wir sind halt von der leisen Truppe. Und ja, wir sind schon eine Weile wieder hier. Als ich vorhin ins Zimmer kam, hast du mich nicht gehört. Ich wollte dich nicht wecken, also sind wir runter noch etwas Klavier spielen.“
Wir? Just in dem Augenblick schaute ein Golden Retriever über den Bettrand direkt in Andreas Gesicht. So ein großes Hundegesicht keine zehn Zentimeter von der eigenen Nase flösst schon Angst ein. Er war darauf nicht vorbereitet. Ein kleiner Aufschrei verließ seine Kehle.
„Max, bei Fuß!“
Die Hündin, drehte sich um und trottete zu ihrem Herrchen. Stieß die Nase an sein Bein und wurde daraufhin am Kopf getätschelt. Der Carsten drehte sich samt seinen Stuhl um. Andreas versagte die Sprache. Saß doch der Junge von der Treppe vor ihm.
„Brave Max. Ich hoffe sie hat dich nicht erschreckt.“
„Doch ein klein wenig. Beißt sie?“
„Nein, sie mag Menschen und ist – sagen wir mal so – etwas neugierig? Du bist also Andreas, mein neuer Mitbewohner!“
„Woher weißt du das?“
„Der Neubert hat mich vorhin informiert, ich traf ihn auf dem Weg zum Musikzimmer. Außerdem steht dein Name schon seit Anfang der Woche auf dem Türschild.“
„Sag einmal Carsten, was mir vorhin aufgefallen ist. Bist du ein Sauberkeitsfanatiker?“
„Wie kommst du darauf?“
„Na, bei dir sieht alles so aufgeräumt und ordentlich aus. Einzig die Hundedecke ist zerknautscht! Hast du das nicht bemerkt?“
Gerade in dem Moment bemerkte er, dass Carsten nur in seine Richtung blickte. Er sah ihn aber nicht direkt an. Dabei waren seine leuchtend blauen Augen alles andere als uninteressant. Weiter beobachte er wie Carsten sich ans Handgelenk griff und die Uhr aufklappte. Seine Finger tasteten das Zifferblatt ab. Andreas beschlich ein seltsames Gefühl. Er begab sich in die Senkrechte. Carsten reagierte auf diese Bewegung nicht.
„Nein, ich habe es nicht gesehen. Und wenn auch, Max muss sich darauf wohl fühlen nicht ich. Sie mag es zerwühlt, also soll es so bleiben. Deine Frage zielt aber auf etwas anderes ab. Ich habe keinen Putztick. Es hat seinen Zweck und ich hoffe du kannst damit leben. Mehr noch. Du müsstest dich ein wenig daran gewöhnen nichts im Wege stehen zu lassen. Ich bin blind.“
„Oh, ich wusste nicht...“
„Dann hat es dir auch keiner gesagt, woher solltest du es erfahren haben?“
„Ja aber der Direktor, er hätte doch etwas sagen können!“
„Er nimmt mich so wie ich bin. Für alle hier ist es nichts Besonderes einen blinden Schüler unter sich zu haben. Außer mir gibt es noch weitere in den unteren Klassen. Aber du hättest leicht selber darauf kommen können. Schau dich doch mal um. Auf meiner Seite wirst du kein Bild oder dergleichen finden. Und die Anordnung der Möbel ist auch nicht typisch für einen Sehenden! Selbst mein Wecker gleicht mehr einem Backstein als einem Elektrogerät.“
Andreas lachte laut los.
„Was ist? Habe ich etwas Komisches gesagt oder macht Max irgendwelche Faxen?“
„Nichts von beidem. Vorhin als ich mir deine Hälfte angesehen habe, kam mir der Gedanke, das deine Uhr einem Ziegelstein ähnlich sieht. Nichts für ungut. Was die fehlenden Poster angeht, es ist Geschmacksache ob da welche hängen oder nicht. Dein Keyboard und deine Anlage, die lassen ebenfalls nicht auf einen Blinden schließen. Aber Recht hast du irgendwie schon, es fehlen Gegenstände und Dinge die Andere bei sich herumstehen haben.“
„Dann ist es ja gut. Ich dachte schon es wäre alles Normal hier. Nimm mich so wie ich bin. Und Andreas!“
„Ja?“
„Kein Mitleid.“
„Ich werde mich hüten Carsten. Aber jetzt macht es Sinn, warum die Türschilder alle mit Blindenschrift unterlegt sind. Ich hatte mich schon gewundert!“
„Anderes Thema. Hast du Hunger? Es ist Sieben durch und Essenszeit.“
„Ja ich habe Hunger und Essen ist immer eine gute Idee.“
„Dann bist du ja genau der richtige für dieses Zimmer. Zu Essbarem sagen wir auch selten nein.“
Andreas stand auf, ging zum Waschbecken hinüber und wusch sich sein Gesicht. Beäugt durch den Hund, trocknete er sich ab. Carsten drehte sich wieder zu seinem Laptop.
„Carsten, habe ich das jetzt richtig verstanden, Max ist eine ‚sie‘?“
„Ja, wieso?“
„Na Max ist doch alles andere als ein weiblicher Name!“
„Es ist eigentlich auch nur das Kürzel von ‚Maxime von Arco‘. Nur Maxime gefiel ihr nicht. Auf diesen Namen hörte sie einfach nicht. Nicht wahr meine Kleine?“
Damit strich er wieder über ihre Flanke. Danach klappte der Junge sein Powerbook zu.
Die Jungen machten sich auf zum Speisesaal. Während Carsten sich am Geländer orientierte lief die Hündin neben den beiden her. Unterwegs trafen sie auf Christiane. Carsten machte die beiden bekannt und weiter ging es.
Andreas schaute sich im Speisesaal um. Die Tische waren mal in Gruppen, mal in Reihen angeordnet. Die meisten der Tische waren schon besetzt. In der Essenstheke waren einige Musterteller mit Speisen ausgestellt. Da alles in einer Glasvitrine untergebracht war, stand eine Bedienung hinter dem Tresen und bot Hilfe an.
„Ich nehme heute Abend die Drei. Bratkartoffeln mit Rührei und Gurke. Als Nachspeise einen Vanillepudding und dazu eine Apfelschorle. Und für Max das Übliche.“
„An welchen Tisch sitzt du, Carsten?“
„Wie immer am Tisch drei, Inge! Hier meine Essenkarte.“
„Gut kommt gleich.“
„Gute Wahl Carsten, aber ich bleibe bei einem Salat. Als Dessert nehme ich einen Fruchtquark. Und auch eine Schorle.“
Christiane erhielt das Gewünschte und stellte es auf ihr Tablett. Die Bedienung schaute zu Andreas hinüber.
„Könnt ihr mir etwas empfehlen?“
„Daniel und Patrik, unsere Köche, sind wirklich gut, da kannst du alles wählen wonach dir ist.“
„Danke Christiane.“
„Ich nehme das Bauernfrühstück und dazu eine Vanillecreme. Haben sie auch Malzbier?“
„Ja, bitte schön.“
Es ging weiter zur Kasse, nachdem er alles erhalten hatte.
„Christiane?“
„Ja, was gibt es?“
„Ich habe kein Geld bei mir!“
„Brauchst du auch nicht, du hast doch deine Chipkarte!“
„Nein, habe ich nicht.“
Das Mädchen erhielt derweil ihre Card zurück. Der Kassierer schaute Andreas an.
„Deine Karte bitte!“
„Ich habe keine, was kostet es?“
Der ‚Kassierer‘ schüttelte mit dem Kopf und lächelte. Der junge Mann öffnete eine Schublade und nahm eine Liste heraus.
„Wie lautet dein Name?“
„Andreas Zahradník“
„Du bist heute angekommen, Andreas?“
„Ja!“
„Deine Zimmernummer?“
„III – 3 – 16!“
Sein Finger glitt über die Liste, hielt an und rutschte eine Zeile entlang. Tippte einige Ziffern in die Kasse ein. Dann nickte er.
„Alles klar, die Essenkarte erhältst du hier morgen zum Frühstück. Guten Appetit Andreas.“
Der Kassierer ging zum Nächsten über. Andreas folgte Christiane an den Tisch wo Carsten und ein Teil seiner neuen Klasse schon auf sie warteten. Die Begrüßung fiel noch zurückhaltend aus. Kurz darauf wurde Carstens Tablett gebracht und der Napf mit dem Hundefutter. Max wedelte schon eifrig mit ihrem Schweif.
„Carsten: Zehn Uhr, Sechs und Fünf nach Zwei!“
„Danke.“
„Was war das denn jetzt?“
„Mein Essen, wo ich es finde, Andreas. Stell dir den Teller als das Zifferblatt einer Uhr vor. Auf Zehn finde ich die Bratkartoffeln, zwölf das Rührei und Sechs die Gurke. Die Apfelschorle steht auf Zwei und der Pudding auf der Eins.“
Das Abendessen zog sich hin. Die Atmosphäre lockerte sich. Ralph gab einen Witz zum Besten und alle lachten. Andreas stellte einige Fragen und seine neuen Mitschüler bemühten sich ihm zu antworten, wollten aber auch einiges von ihm erfahren. Auch wenn er hier und da etwas zu weit ging, war er im Grossen und Ganzen ein sehr angenehmer Mensch. Carsten freute sich, dass sich alle gut verstanden. Für ihn war es ausser Frage, er mochte den ihm noch unbekannten Jungen. Britta verabschiedete sich nach dem Mahl und zog mit Ralph von dannen. Max stellte sich neben Carsten auf, er fasste den Bügel. Danach gingen sie in den Garten hinaus. Carsten wollte noch mit dem Hund eine Runde drehen und Andreas schloss sich ihm an. Die Jungen verschwanden in Richtung Wald.
Kapitel V, Der erste Tag
Ein tippelndes Geräusch weckte Andreas noch vor dem Wecker. Als er sich umdrehte und umherschaute, sah er Carstens leeres Bett. Max stand an ihrem Wassernapf und schlabberte. Andreas schlug die Bettdecke zur Seite und stand auf. Es hätte für ihn sowieso keinen Sinn gemacht, weiter zu schlafen. Dann ging er zu seinem Schreibtisch, beugte sich vor und öffnete das Fenster. Etwas umständlich, eine andere Lösung musste her. Am einfachsten wäre es, die Schreibtische zusammen zu stellen. Ob Carsten aber damit einverstanden wäre?
Von Hundeaugen beobachtet, ging er zu seinem Schrank, entnahm ein Duschtuch und schnappte sich seine Waschutensilien. Anschließend ging er hinaus auf den Korridor. Unterwegs fiel ihm das Gewusel auf dem Gang auf. Ihm war nicht bewusst geworden, dass so viele Jugendliche hier waren. Es gab zwei Räume mit sanitären Anlagen auf dem Flur. Zunächst besuchte er die Toilette, im Anschluss den Waschraum mit den Duschen.
Eine halbe Stunde später betrat er wieder sein Zimmer. Carsten stand an seinem Tisch und räumte einige Dinge in seine Schultasche. Gekleidet war er mit einem dieser königsblauen T-Shirts und einer Jeans-Shorts. Carsten sah richtig sexy darin aus. Doch das behielt Andreas für sich.
„Guten Morgen Andreas, hast du gut geschlafen?“
„Guten Morgen. Ja, danke der Nachfrage!“
„Ich muss mit Max raus, sehen wir uns zum Frühstück?“
„Ja, ach da fällt mir ein, muss ich die Schulkleidung anziehen?.“
„Yep, an gewöhnlichen Tagen reichen T-Shirt, Sweatshirt oder ein Hemd und eine Jeans aus. An besonderen Tagen und offiziellen Terminen trägst du die Internatsuniform.“
„Uniform?“
„Ja, einen Blazer mit dem Schulwappen, Hemd, Fliege oder Krawatte und eine dunkle Hose. Komplettiert durch schwarze Halbschuhe.“
„Ich dachte Einheitskleidung wäre Out? Und woher weißt du das?“
„Es macht Sinn. Wir sind ein nicht billiges Internat, folglich sind viele Schüler aus reichen und wohlhabenden Familien. Andererseits gibt es Stipendiaten, bei denen ist das Materielle nicht so üppig. Die Kleidung ist ein Anfang, Schüler nicht nach ihrer Herkunft zu beurteilen. So, es ist Zeit, Max wird ungeduldig und Frühstück gibt es bis viertel Neun. Bis gleich. Ach so, bevor ich es vergesse: Ich kann lesen Andreas.“
Max und Carsten verließen das Zimmer. Andreas ging zum Schrank hinüber, nahm eines von den Shirts und zog es sich über. Na ganz so übel sah es nicht aus, außerdem machte sich das kleine Logo des Internats sehr gut darauf. Schnell noch den Rest komplettiert und runter in den Speisesaal. Carsten, Christiane und noch einige andere seiner Klasse saßen an einer der langen Tischreihen. Andreas versorgte sich mit dem Nötigsten. An der Kasse erhielt er seine Mensacard und setzte sich zu den anderen. So richtig munter waren seine Mitschüler auch noch nicht. Doch zu einem „Guten Morgen“ oder „Hallo“ rang sich jeder durch. Nur Christiane und Carsten waren wohl keine Morgenmuffel. Sie unterhielten sich angeregt über ein anstehendes Jubiläum. Er selbst beschäftigte sich mit seinem Frühstück und verlor sich in Gedanken.
„Und Andreas, weißt du schon was du machen wirst?“
„Christiane, mir scheint Andreas schwebt noch in anderen Sphären.“
„Hm, wie bitte?“
„Wir wollten wissen was du heute nach dem Unterricht machen möchtest?“
„Nach dem Unterricht, würde ich mir gerne mal die Redaktion und die Zeitung genauer anschauen.“
„Ja, komm gegen fünf, dann zeige ich dir alles. Uns fehlen immer Leute, nicht wahr Carsten?“
„Stimmt und ein frischer Geist ist immer gut. Chris wird dir alle Fragen beantworten. Sie ist kompetent.“
„Bist du denn nicht da, Carsten?“
Andreas bereute diese spontane Frage. Doch schien sie wohl keinem der Anwesenden aufgefallen zu sein. Und Carsten antwortete in seiner ansteckenden fröhlichen Art.
„Du wirst mich schon nicht vermissen, Andreas. Nein, heute Nachmittag habe ich Klavierunterricht. Anschließend gehe ich zum Schwimmtraining. Nach dem Mittagessen sehen wir uns erst zum Abendessen wieder. Und noch etwas zu vorhin. Ich kenne keine Farben. Genauso wenig kenne ich die Eigenschaften ‚hell‘ oder ‚dunkel‘ nicht. Dass ich mich selten in meiner Kleidung irre, liegt an der Tatsache, dass Mutti sie entsprechend gekennzeichnet hat.“
Mitten im Gespräch ertönte ein Gong. Dieses war das Zeichen, das Frühstück zu beenden. Stühle wurden gerückt und viele der Anwesenden standen auf. Die blaue Schlange an der Tablettabgabe wuchs. Aber es sah für Andreas alles gesittet und geordnet aus. Wie selbstverständlich nahm Christiane Carstens’ Tablett. Stellte den leeren Napf von Max drauf und schloss sich ebenfalls der Schlange an. Britta und Andreas folgten ihr. Gemeinsam gingen sie zum Lehrkomplex hinüber.
Das Schulgebäude stammte aus der Gründerzeit. Die Fassade war saniert und wirkte auf Andreas alles andere als unfreundlich. Gleiches galt für seinen Klassenraum. Wie ihm der Direktor am Vortag schon erklärt hatte, hatte jede Jahrgangsstufe ihren eigenen Raum. In ihnen wurde alles bis auf die Naturwissenschaften unterrichtet. Für diese Einheiten gab es eigene Labore und Hörsäle. Der Klassenraum selber zeichnete sich durch eine Multimedia Einrichtung, mit Beamer und solch Geräten aus. Eine klassische Tafel zeugte davon, dass es sich wirklich um ein Klassenzimmer handelte.
Die Schülerpulte, im Stil des neunzehnten Jahrhunderts, waren einerseits ‚normale‘ Tische mit hochklappbarer Tischplatte auf welcher wunderbar geschrieben werden konnte. Darunter verbarg sich jedoch ein hochmodernes Equipment. Die Unterseite der Platte beherbergte einen TFT Monitor. Im Fach selber war eine Tastatur und diverse Anschlüsse, nur einen PC oder dergleichen konnte Andreas nicht finden.
„Falls du den Computer suchst, den wirst du hier nicht finden Andreas.“
„Dann ist dieses hier nur ein Terminal, Christiane?“
„Erraten. Die Rechnerzentrale ist woanders untergebracht. Jede Klasse hat dort ihren eigenen Hochleistungsrechner. Und damit alles funktioniert gibt es extra einen Administrator.“
„Arbeiten wir viel daran?“
„Es hält sich die Waage. An manchen Tagen brauchen wir ihn gar nicht und dann welche, wo du froh bist das Pult zu schließen. Einzig Carsten arbeitet immer damit. Für ihn werden die Daten blindenfreundlich aufgearbeitet und er kann sich seine Notizen auf sein Powerbook laden.“
„So und wo ist mein Platz?“
„Wir haben noch zwei freie Tische. Der da drüber und dort am Fenster. Suche dir einen aus.“
„Am Fenster finde ich es schöner.“
„Dann soll es so sein. Das ist dein Platz bis zum Ende des Schuljahres.“
Durch die eintretende Lehrerin verstummten die Gespräche. Jeder nahm seinen Platz ein. Carsten gesellte sich neben Andreas und Max schlich sich nach hinten auf ihren Platz. Zwischen den Tischen wäre es dem Tier wohl zu eng geworden. Andreas blickte sich noch einen Moment um. Wie gesagt, saß Carsten neben ihm. Christiane, Britta und Ralph weiter vorne.
„Guten Morgen.“
„Guten Morgen Frau Möller - Klein.“
„Wie ihr sicher schon bemerkt habt, haben wir einen neuen Mitschüler. Andreas Zahradník. Ich denke ihr habt euch schon ein wenig bekannt gemacht. Wenn nicht, solltet ihr es nachholen. Ich verzichte nämlich hier auf eine weitere Vorstellung. Andreas ganz offiziell: Willkommen in meiner Klasse. Außerdem bat Frau Schmitt mich, dir zu sagen, dass du im Sekretariat vorsprechen mögest. So ich möchte nun mit dem Unterricht fortfahren...“
Andreas merkte sehr schnell, dass Unterricht nicht gleich Unterricht ist. Die Zeit bis zur Pause verging sehr kurzweilig, obwohl das Thema ‚Religionen‘ nicht unbedingt Andreas’ Nerv traf. In der folgenden Einheit kam die Technik zum Einsatz. Mittels Beamer und Terminals wurde die Geschichtsstunde richtig spannend. In neunzig Minuten wurde der amerikanische Unabhängigkeitskrieg behandelt. Von den Gründen der Entstehung bis zur Unterzeichnung des Friedens von Paris fehlten an Informationen nicht die Spur. Dargestellt in Graphiken, Animationsvideos und so weiter. Herr Gabriel informierte Andreas noch darüber, dass er die gesamten Unterrichtsmaterialien auch über das Intranet abrufen könne. Die dritte Einheit behandelte die englische Sprache. Hier punktete Andreas bei dem Lehrer. Er hatte ein Faible für Sprachen. Ob es daran lag, dass seine Eltern selber multilingual waren, konnte er nicht sagen. Es machte ihm nur Spaß sich in anderen Sprachen verständigen zu können.
Zwischenzeitlich schaute er sich nach Carsten um. Ihm lag sehr viel daran was dieser von ihm selber hielt. Carsten sah sehr zufrieden aus. Was Andreas nicht von jedem seiner Mitschüler behaupten konnte. Manch einer machte eine gequälte Miene. In der Mittagspause sprach er das Thema an.
„Du setzt neue Maßstäbe Andreas. Einige von uns werden wohl etwas mehr pauken müssen.“
„Ich möchte aber nicht, Christiane.“
„Zu spät. Aber mache dir darum bloß keinen Kopf. Es tut immer gut frischen Wind in die Klasse zu bringen. Britta ist in Biologie ultrafit, was meinst du was passiert ist? Der Klassenschnitt ist um einen Punkt gestiegen. Außerdem, wer dich sprechen gehört hat, wird bemerkt haben, dass es dir einfach nur Spaß macht. Du hast halt ein Talent dafür.“
„Ich hoffe du hilfst mir, in Englisch stehe ich nicht so toll da. Was mich jetzt allerdings interessiert, sprichst du noch andere?“
„Ja Carsten, Italienisch, Tschechisch und Französisch. Die erstgenannten sind die jeweiligen Muttersprachen meiner Eltern. Mama ist in Italien groß geworden und Papa in der damaligen Tschechoslowakei. Mit mir haben sie sich immer auf Deutsch unterhalten. Trotzdem konnte ich im Kindergarten schon diese drei Sprachen sprechen.“
„Da öffnen sich ja Möglichkeiten!“
„Sicher, Christiane. Schimpf mal auf italienisch oder tschechisch. Wer das nicht versteht, könnte glauben du machst Komplimente.“
Lachend löste sich die Runde auf. Carsten zog mit Max von dannen. Während die anderen sich wieder in den Unterrichtsräumen einfanden. Britta erklärte Andreas unterwegs, dass Carsten vom gemeinsamen Unterricht in den Naturwissenschaften befreit war. Nicht dass er keine Chemie, Physik oder Biologie hätte. Nein, er wurde hier durch spezielles Lehrpersonal unterrichtet. Im Klassenverband wäre es wohl bei den Experimenten und Praktika etwas zu gefährlich für ihn. Und die Klasse akzeptierte diese Maßnahme.
Andreas merkte auch hier sehr schnell, dass ein anderer Ton die Musik macht. Auf seiner alten Penne wurde er vom Lehrer angemacht, wenn etwas bei einem Experiment daneben ging. Hier hatte er schon fast den Eindruck, der Lehrer entschuldigte sich dafür. Vor allem beeindruckte den Jungen die angebotene Hilfestellung des Pädagogen.
Kapitel VI, Die Zeitung
Nach dem Unterricht fand Andreas sich in der Verwaltung ein. Frau Schmitt übergab ihm die restliche Schulkleidung, nach Anprobe. Auf Andreas Anfrage nach einem Leuchtkörper für seine Halogenlampe, drückte sie ihm noch zwei Glühlampen in die Hand. Danach ging er auf sein Zimmer zurück.
Am späten Nachmittag klopfte Andreas an die Tür der Redaktion. Christiane bat ihn herein und begrüßte ihn. In den nachfolgenden Minuten wurde er durch die Redaktion geführt. Zum einen gab es dort einen „Konferenzraum“ ausgestattet mit einem großen runden Tisch. Auf dessen Oberfläche noch einige ‚Getränkespuren‘ zu sehen waren. Anschließend gingen sie in das Fotolabor.
„Ist es nicht etwas altmodisch, im Zeitalter der digitalen Fotografie?“
„Für die Zeitung brauchen wir das Labor auch nicht mehr so häufig. Da hat das Digitalfoto den Film vorwiegend verdrängt. Aber wenn du noch Film und Fotos selber entwickeln möchtest, steht dir das Labor zur Verfügung. Ich zum Beispiel, mache gerne schwarz-weiß Fotos. Eine Entwicklung im kommerziellen Labor kostet ein Vermögen und die Resultate lassen zu wünschen übrig. Da mache ich es hier selbst.“
„Gut zu wissen, ich habe noch eine Spiegelreflexkamera mit Film.“
„Schön, dann bin ich hoffentlich nicht mehr die einzige, welche diesen Raum benutzt. Komm weiter.“
Damit verließen sie wieder den Raum und wandten sich nun dem Herzstück der Redaktion zu: Der eigentliche Arbeitsraum. Ausgestattet mit mehreren Computern für die Recherche, stand noch ein ‚großer‘ Macintosh für das Layout zur Verfügung.
„Hast du dir schon überlegt was du machen möchtest?“
„Ich würde mich gerne am Layout beteiligen.“
„Schön. Kennst du schon das Graphikprogramm Leonardo IV?“
„Nein!“
„Komm ich zeige es dir am Beispiel der letzten Ausgabe.“
Andreas staunte nicht schlecht, wie Christiane mit dem Rechner umging. Anhand verschiedener Einstellungen konnte Andreas sehen wie sich das Layout der JHP-News entwickelte. Er selber versuchte sich auch mal daran. Die Resultate waren alles andere als gekonnt. Dennoch ließ der Junge sich nicht einschüchtern. Christiane fand es im Gegenteil interessant. Schien es doch, dass Andreas ein graphisches Verständnis hatte.
„Wie ist eigentlich die Zeitung entstanden?“
„Die JHP-News selber gibt es schon seit mehreren Jahren. Nur mit der Zeit ist sie etwas vernachlässigt worden. Im vergangenen Jahr haben Carsten und ich zusammen ein neues Konzept aufgestellt. Herr Neubert hat es nur genehmigt, wenn wir eine Redaktion aufbauen, in der alle Klassen vertreten sind. Daran haben wir uns gehalten. Carsten obliegen die Inhalte der Zeitung, mir die des Layout.“
„Und gibt es eine Zensur? So etwas gab es bei der Schülerzeitung meiner alten Schule. Der Direx hat quasi mit einem schwarzen Filsstift die Artikel ‚nachbearbeitet‘.“
„Unsere Zeitung ist in dem Sinn keine eigentliche Schülerzeitung, sondern eine Institutszeitung. Damit präsentieren wir das Internat. Und ja es gibt eine Art von Zensur. Carsten liest jeden Artikel und jedes Inserat. Aber er verändert nichts. Im Gegenteil er setzt sich mit dem jeweiligen Verfasser zusammen, wenn dessen Artikel ‚anstößig‘ ist. Seine Geduld möchte ich manchmal haben. Wenn es sein muss nimmt er sich das Recht heraus, den Text erst gar nicht in der Zeitung zu veröffentlichen. Das aber, Andreas, bespricht er zuvor mit mir und auch mit Dr. Neubert. Dafür sind wir die Chefredakteure und halten unsere Köpfe hin.“
„Kritische Artikel und Informationen?“
„Sind uns immer willkommen. Egal ob es positive oder negative Kritik ist und aus welchem Lager sie kommt. Wir legen sehr viel Wert darauf, dass jeder ein Recht hat seine Meinung kund zu tun, solange sie nicht beleidigend und unsachlich ist.“
„Haben die Leute hier auch spezielle Bereiche?“
„Ja, es gibt zwei Sportjournalisten, ein Team was Informationen rund um das Thema Wirtschaft zusammenstellt, eines für Klatsch und Kultur. Reportagen und aktuelle Berichte werden von verschiedenen Schülern bearbeitet. Sparten wie Leserbriefe, Humor und Unterhaltung werden von jedem einmal übernommen. Selbst unsere Grafiker müssen ran. Für den Speiseplan, Rezepte etc. sind unsere beiden Köche verantwortlich. Änderungen im Internatsalltag, Veranstaltungen, Exkursionen wird stellvertretend von Frau Schmitt mitgeteilt. Man kann sagen an der Zeitung ist das ganze Internat beteiligt.“
„Wie groß ist das Team?“
„An Schülern selber sollten wir insgesamt Zwanzig sein. Sechs sind im Bereich Layout eingeteilt, die restlichen kümmern sich um die Texte. Davon sind wiederum zwei damit beschäftigt, die Texte auf ein einheitliches Druckformat zu bringen. Das erleichtert uns Graphikern ungemein die Arbeit.“
„Und wie stellt Carsten es an, alle Texte zu lesen?“
„An seinem Powerbook, wie auch an einen der hiesigen Rechner ist eine sogenannte Braillezeile installiert. Dieses Dingen wo seine Finger drüber wandern. Die Daten werden darauf transferiert. Wir haben auch mal ein Sprachprogramm ausprobiert, doch Carsten liest lieber selber. Er liest übrigens sehr flott und entsprechend schnell wechseln da die Zeilen unter seinen Fingern. Für die Texte einer Ausgabe benötigt er drei Tage, inklusive Korrektur. Redaktionssitzung ist einmal die Woche. Da werden diese Dinge von ihm angesprochen.“
„Und ihr beiden haltet die Fäden in euren Händen?“
„Wenn du es so siehst, ja.“
Andreas erschrak ein wenig, denn die Antwort kam von Carsten der hinter ihnen stand. Selbst Christiane zuckte zusammen. Dann stand sie auf, ging auf Carsten zu. Umarmte und begrüßte ihn herzlich. In diesem Moment spürte Andreas einen stechenden Schmerz, ihm tat der Anblick weh.
„Man, du schleichst dich wohl immer gerne heran?“
„Eigentlich nicht, Andreas. Was kann ich denn dafür, dass ihr in eurer Konversation die Umwelt vergesst? Ich wollte nämlich fragen ob es noch länger dauert, es ist Abendbrotzeit.“
„Was schon? Ich habe völlig die Zeit vergessen! Nein wir machen hier Schluss. Oder gibt es noch etwas Andreas?“
„Ich denke ich weiß jetzt worauf ich mich bei eurem Trupp einlasse.“
„Soll das bedeuten du machst mit?“
„Sicher doch.“
„Dann willkommen im JHP – Redaktionsteam.“
Christiane schaltete den Computer aus und scheuchte die Mannschaft vor sich her auf den Korridor. Danach schloss sie ab.
In der Mensa war Betrieb, aber nicht so wie am Mittag. Was wohl daran lag, dass es Abendbrot eine Stunde länger gab.
Die Drei setzten sich, nachdem sie sich mit dem Nötigsten versorgt hatten an einen kleinen Tisch. Diesmal versuchte Andreas Carstens Essen zu lokalisieren.
„Auflauf: Zwei Uhr, Beilage Neun. Dessert Sieben und Schorle Acht.“
„Fast Andreas. Du darfst die gedachte Uhr nicht von dir aus sehen, sondern von mir aus.“
„Woher weißt du denn das schon wieder?“
„Egal welche Bedienung mir das Essen bringt, der Nachtisch steht immer auf Eins und mein Getränk immer auf Zwei. Nie auf Sieben und Acht.“
„Sorry!“
„Du musst dich nicht Entschuldigen. Morgen machst du es richtig, ist doch nur Übungssache. Guten Appetit, Leute.“
„Und wie war dein Tag, Carsten?“
„Bescheiden, Christiane. Mir tun alle Knochen vom Training weh. Es rächt sich, dass ich in den Ferien weniger geschwommen bin. Und der Herr Kramer hat mir mein Musikprogramm vorgestellt.“
„Gehe ich zu Recht davon aus, dass hier die Sprache vom Musiklehrer ist?“
„Nein Andreas. Herr Kramer ist mein Klavierlehrer. Für den Musikunterricht im Internat ist Herr Walz zuständig. Wenn du einmal einen zerstreuten Professor siehst, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es sich dabei um Herrn Kramer handelt. Doch unterschätze ihn nicht! In Musik macht ihm keiner etwas vor. Jedenfalls habe ich dieses Semester einiges zu tun.“
„Da wären?“
„Einmal soll ich das Jubiläumskonzert zusammen mit dem JHP-Schülerorchester geben. Das ist mit dem Walz abgesprochen. Dann gibt es noch einen separaten Klavierabend im Januar oder Februar. Den soll ich selber gestalten. Und weil das noch nicht genug ist, hat er mir einen Tonträger mit einer Orchesteraufnahme gegeben. Der Professor wünscht, dass ich damit das Klavierkonzert E Dur für zwei Klaviere und Orchester vom Mendelssohn einübe. Aber nur die erste Klavierstimme. Michael, der Klassensprecher der Sieben hat mir eine Mail geschrieben. Er fragt an, ob ich bereit wäre die musikalische Leitung eines Weihnachtsmusicals zu übernehmen. Dem habe ich schon zugesagt. Die Choreographie leitet er selber und es macht sicherlich Spaß mit ihm und der Sieben zusammen etwas auf die Beine zu stellen.“
„Das ist, gelinde gesagt, ein Haufen Holz, Carsten. Warum eigentlich du? Gibt es keinen anderen Schüler oder andere Schülerin? Und wie willst du das alles schaffen?“
„Das sind ja gleich drei Fragen auf einmal! Erstens: Ich, weil Musik mein Leistungsfach ist und ich gerne musiziere. Zweitens: Es gibt auch andere Schüler mit Musik als Leistungsfach und die haben ebensolche Aufgaben zu lösen. Ich sage nur: Orchester! Andreas. Drittens: Es hört sich schlimmer an als es in Wahrheit ist. Das Konzert haben wir im vergangen Herbst schon einmal gegeben, da braucht es nur wenige Proben. Übrigens ein Wunsch vom Direktor. Für das Musical gibt es auch schon eine Vorlage. Mit Michael treffe ich mich in den nächsten Tagen. Er hat mich und Herrn Kramer zu einer Besprechung eingeladen. Der Klavierabend ist die Herausforderung. Das Programm soll die Bereiche Klassik bis Moderne umfassen. Ich habe ehrlich noch keinen blassen Schimmer was ich da machen soll.“
„Ich bin zuversichtlich, dass dir schon etwas einfällt, Carsten. Aber den Mendelssohn kannst du doch schon!“
„Da hast du Recht Britta, den Klavierauszug kenne ich. Es kommt auf die Interpretation zum Orchester an. Die Berliner Philharmoniker setzten andere Akzente als zum Beispiel das Bostoner Symphony Orchestra. Ich denke das bezweckt Herr Kramer damit. So Leute, ich möchte noch mit Max eine Runde drehen. Ich habe sie heute etwas vernachlässigt. Das möchte ich nachholen. Entschuldigt bitte, ja?“
Die leeren Teller und der Hundenapf standen schon eine Weile auf den Tabletts. Carsten erhob sich und die Runde löste sich auf. Während der eine mit dem Hund hinausging, trafen sich die anderen zu einem Spielabend bei Ralph. Die Spielerei mit einigen aus der Klasse hatte Andreas Spaß gemacht. Nur schade dass Carsten nicht dabei war. Da es schon zu einer vorgerückten Stunde war, öffnete er leise die Tür zu seinem Zimmer.
„Huch, Carsten du bist ja noch auf.“
„Ja, ich weiß auch nicht. Ich fühle mich fix und fertig und doch finde ich nicht die nötige Ruhe. Außerdem macht sich der Muskelkater bemerkbar. Ich wünschte meine Mutter wäre hier und würde mich massieren.“
„Wenn du möchtest könnte ich dich massieren. Ich habe zwar keine große Erfahrung darin...“
„Das Angebot nehme ich gerne an.“
„Dann wirf dich gleich mal auf dein Bett. Ich gehe erst noch den Waschraum aufsuchen.“
„Tu das, bis gleich!“
Andreas verschwand aus dem Zimmer und Carsten schaltete sein Powerbook ab. Dann legte er sich auf sein Bett. Andreas kam zurück. Carsten zog sich sein Oberteil aus. Andreas setzte sich auf die Bettkante neben Carsten und begann mit der Massage. Seine Hände glitten über den Rücken des Jungen und spürten die Verspannungen. Nach einer Weile merkte Andreas wie sich Carsten entspannte. Also schien er genau das Richtige zu tun.
„Gut so?“
„Ja, Andreas. Es fühlt sich gut an. Du und keine Erfahrung, darf ich mal lachen?“
Andreas lächelte vor sich hin. Carsten spürte wieder dieses wohlige Gefühl im Bauch. Es verwirrte ihn. Dennoch, langsam gewann die Müdigkeit des Tages Oberhand und er schlief ein.
Andreas bemerkte, dass sein Mitbewohner eingeschlafen war. Er stand vorsichtig auf und deckte Carsten zu. Auf dessen Gesicht lag ein hübsches Lächeln. Er selber zog sich um, schaute noch einmal zu Max hinüber, welche selig auf ihrem Platz lag. Er löschte das Licht und es dauerte nicht lange, bis er selber einschlief.
Kapitel VII, Gespräche
In den folgenden Tagen verbrachten die Jungen viel Zeit miteinander. Andreas’ Vorschlag, die Schreibtische umzustellen, kam bei Carsten an. Zumal als kleiner Nebeneffekt nicht nur Max Ecke geräumiger wurde. Carsten hatte zunächst Bedenken. Denn immer, wenn sie gemeinsam am Schreibtisch saßen, musste Andreas ihn ansehen. Doch der Junge zerstreute seine Zweifel. Seit seinem Einzug, ließ er es sich nicht nehmen Grünzeug im Zimmer zu verteilen. Auf dem Schreibtisch standen immer irgendwelche Blumen, die sich der Junge aus dem Garten holte. In den Ecken und Regalen verteilte er Pflanzen. Carsten sah sie zwar nicht, doch fühlte er ihre Anwesenheit. Und Max? Sie schnupperte mal daran, danach waren sie uninteressant für sie. In der Klasse wurde Andreas schnell akzeptiert. Die Mädchen schwärmten für den ‚Neuen‘, allein schon durch sein Erscheinungsbild. Sie beschrieben Andreas als einen ‚Südländer‘. Damit bezeichneten sie den braun – olivfarbenden Teint seiner Haut und die dunklen Haare. Trotz der markanten Gesichtszüge sah er eher bubenhaft aus. Was nicht ganz dazu passen wollte waren seine graugrünen Augen. Sie verliehen ihm etwas ‚magisch – geheimnisvolles‘. Bisher blieb es bei schwärmerischen Blicken und leise seufzenden Stimmen. Was Andreas mehr als begrüßte, doch so ganz wohl fühlte er sich nicht in seiner Haut. Beim gemeinsamen Lernen mit Carsten sprach der es beiläufig an.
„Weißt du eigentlich was die Mädchen im Hause so reden?“
„Nein Carsten. Dass hinter meinem Rücken getuschelt wird, ist mir nicht entgangen. Doch das ‚was‘ bleibt mir verborgen. Weißt du etwas mehr?“
„Ich denke schon, Andreas. Erst einmal ziehst du wohl die Blicke der weiblichen Schülerschaft auf dich. Wichtiger ist aber, es geht ein Gerücht im Hause herum, das du schon vergeben bist!“
„Wie kommen die darauf?“
„Einfach, du lässt keine der holden Weiblichkeit an dich heran. Du bist im Gespräch mit ihnen freundlich, aber distanziert. Keine Minute mehr als nötig verbringst du mit ihnen. Du bist für sie ein Geheimnis, was entschlüsselt werden will. Einzig bei Christiane und Britta taust du auf. Scherzt mit ihnen und gibst dich absolut locker. Das ist mir auch schon aufgefallen.“
„Na mit Christiane verbringe ich nun mal viel Zeit in der Redaktion. Sie zeigt außer freundschaftlichem Interesse, keine weiteren Ambitionen. Britta ist in Ralphs festen Händen, hoffe ich. Zumal er es mir in einem stillen Moment deutlich gemacht hat.“
„Ja, das denke ich auch. Christiane hat übrigens einen festen Freund im Dorf. Der Sohn vom Eiscafé Besitzer.“
„Ach, ich dachte du und sie!“
„Nein! Es gab mal eine Zeit, da zeigte sie Interesse an meiner Wenigkeit. Doch es fehlte das gewisse etwas bei mir. So wie ich nun mal bin, habe ich es ihr direkt gesagt. Die Konsequenz, sie ist in die Eisdiele geflüchtet und hat sich den Eisverkäufer gekrallt. Seit dem sind wir die besten Freunde. Wie kommst du darauf?“
„Na ihr begrüßt euch immer so herzlich.“
„Och, das ist schon ein Relikt. Sie hatte mal tierische Probleme mit ihrem Freund. Mir gegenüber hatte sie ihr Herz ausgeschüttet, sie brauchte wohl jemanden, dem sie alles erzählen konnte. Jedenfalls habe ich sie zum Schluss einfach mal feste in den Arm genommen. Seit dem handhaben wir es so, mehr steckt da nicht hinter.“
„Vielleicht bin ich jetzt etwas indiskret, hast du eine Freundin?“
„Nein Andreas, keine Freundin. Ich bin noch zu haben!“
„Woran liegt es? Du siehst gut aus, bist charmant, intelligent, musikalisch und humorvoll. Da sollten sie dir doch die Tür einrennen.“
„Ich bin blind, das schreckt ab. Wer will schon einen ‚Behinderten‘ zum Freund haben? Gegenfrage, warum gibst du dich reserviert?“
Carsten merke, dass er diese Frage wohl besser nicht gestellt hätte. Andreas, so schien ihm, hielt einen Moment den Atem an. Fieberhaft überlegte er, wie die jetzt unangenehme Situation elegant umschiffen könnte. Max stand plötzlich neben ihn und machte Anstalten unbedingt raus zu müssen.
„Sorry Andreas, dass ich unterbreche, Max muss mal eine Runde drehen. Ich gehe schnell mit ihr nach draußen. Danach können wir uns weiter unterhalten. Ja?“
„Ja. Ist gut.“
Carsten stand auf, nahm seinen weißen Stock und ging mit Max hinaus. Ob sie nun wirklich musste, konnte er nicht sagen. Er aber hatte das Gefühl bei Andreas auf einen wunden Punkt gestoßen zu sein. Instinktiv spürte Max die angespannte Situation zwischen den Jungen und tat, was ein guter Blindenführhund tut: Für Entspannung sorgen. Carsten ging mit ihr hinunter zum See. Dort ließ er sie sich austoben. Er selber setzte sich auf eine der Bänke und dachte über Andreas nach.
Warum tat ihm das weh, als Andreas eben zögerte. Vertraute er ihm nicht? Er spürte in jenem Augenblick seine Verletzbarkeit. Wie stand er selber zu diesem Jungen? Viele Fragen schossen ihm durch den Kopf und die Antworten blieben aus. Carsten beschloss die Sache fürs erste auf sich beruhen zu lassen. Wenn Andreas bereit wäre, würde er ihn wohl ins Vertrauen ziehen. Freunde geben sich diese Zeit. Carsten merkte, wie Max neben ihm auf die Bank sprang. Sie legte sich hin und schob ihren Kopf auf Carstens Schoss. Zu gerne ließ der Junge es sich gefallen und kraulte seelenruhig hinter ihren Ohren.
Andreas sah aus dem Fenster des Korridors Carsten mit Max am See sitzen. Er sah nachdenklich und traurig aus. Wieso hatte er gezögert? Hatte Carsten nicht ehrlich auf seine Frage geantwortet? Hatte es ihm nicht schmerzlich durchzogen, als er die Sache mit seiner Blindheit erwähnte?
Ja, er hatte Angst. Davor dass Carsten ihn meiden würde, wenn er erführe, dass er schwul war. Mehr noch, das er sich in ihn verliebt hatte. Andreas begann sich für seine mangelnde Courage zu hassen. Warum musste alles so kompliziert sein?
„Hallo Andreas, weißt du wo Carsten ist?“
„Ja, er ist mit Max da unten am See, Christiane.“
„Sieht friedlich aus die Beiden da? Findest du nicht auch?“
„Ja, sieht friedlich aus, ein Dream Team.“
„Stimmt. Das sind sie, eine wahre Symbiose die Beiden. Carsten kann sich auf ihre Fähigkeiten verlassen. Und vor allem, weil Max sein Vertrauen in kürzester Zeit gewonnen hat.“
„Wie meinst du das?“
„Ihr Vorgänger hatte Probleme und Carsten tat sich schwer, ihn abgeben zu müssen. Einige Zeit fühlte er sich absolut unsicher. Dann vor zwei Jahren war ihre Ausbildung zur Blindenführhündin abgeschlossen. In den Sommerferien hielt Max bei ihm Einzug. In nur sechs Wochen lernte sie worauf es bei Carsten ankam. Mehr noch, instinktiv führte sie ihn sicher durch diese Hallen. Obwohl Max kein einziges Mal zuvor hier gewesen ist. Sie gab ihm Sicherheit. Er war wieder der fröhliche Junge. Zwischen ihm und Max gibt es ein unsichtbares Band. Wenn du mich fragst, kommunizieren die beiden auf eine Weise miteinander die für mich ein Geheimnis bleibt. Und so wie sie da unten sitzen, reden sie miteinander. Da würde ich jetzt nur stören. Sage ihm einfach, dass ich in der Redaktion auf ihn warte. Ja? Danke, Andreas.“
Mit diesen Worten verschwand sie wieder. Andreas schaute noch einen Moment hinunter. Er sah wie Max ihren Kopf hob und sich ihm zuwandte.
„Danke Max. Was meinst du, sollen wir wieder hinauf oder erst noch ein wenig Klavier spielen?“
Wuff!
„Gut machen wir noch ein wenig Musik.“
Carsten stand auf. Mit seinem Stock tastete er den Weg in den Ostflügel zum Musikzimmer. Max lief gehorsam neben ihm her.
Während er sich an sein Klavier einrichtete, machte Max es sich neben der Tür bequem. Carsten begann mit seinen Fingerübungen. Spielte einige Etüden um warm zu werden. Dann begann er mit dem was ihm so einfiel. Zwischenzeitlich hörte er wie jemand den Raum betrat.
„Là ci darem la mano – Reich mir die Hand mein Leben.“
„Christiane woher weißt du das?“
„Schlaukopf, habe ich nicht auch Musikunterricht? Das ist eine Arie aus Don Giovanni.“
„Ja, aber wir haben die Oper von Mozart noch nicht durchgenommen.“
„Mensch Carsten, du bist ein wandelnder Festplattenspeicher. Es ist das Lieblingsstück von Mario. Er singt es mir manchmal vor, wenn ich traurig bin. Damit muntert er mich immer etwas auf und sagt mir dass er mich liebt. Bist du traurig?“
„Ich bin nachdenklich! Diese Variationen von Beethoven auf das Mozartthema, helfen mir eine Sache von verschiednen Seiten anzugehen.“
„Möchtest du mir deine Gedanken mitteilen?“
„Ist vielleicht ganz gut.“
Ein leises Geräusch ließ Christiane zu Max hinüberschauen.
Die Hündin sah Carsten an. Dann robbte sie vor die Tür und machte es sich dort bequem.
Christiane schüttelte nur mit dem Kopf.
„Ich stelle mir gerade die Frage was wäre, wenn ich sehen könnte. Was würde sich ändern? Wie würde mein Leben verlaufen? Jedenfalls anders als jetzt. Aber ich müsste auch auf Fähigkeiten verzichten. Dazu zähle ich vor allem dass ich instinktiv Stimmen analysiere. Welche phonetischen Eigenschaften, wie ist die Aussprache, welchen Klang hat die Stimme und so weiter. Du kannst mir folgen?“
„Noch, du untersuchst Stimmen und Geräusche, wahrscheinlich genauso unbewusst wie viele von uns Sehenden auf das Äußere achten.“
„Ein guter Vergleich. Mir geht eine Stimme nicht mehr aus dem Kopf. Manchmal träume ich sogar davon. Besonders was sie in mir auslöst. Ich freue mich, wenn ich sie höre. Die Worte haben für mich mehr Inhalt als nur der Sinn den sie ergeben würden. Spitzfindigkeiten sind wohl kaschiert und vor allem versteckt die Person sehr viel von ihren Gefühlen darin. Ich glaube sie weiß das noch nicht einmal. Jedenfalls fiel mir heute bei einer Unterhaltung auf, dass ich unbewusst auf einen wunden Punkt gestoßen bin. Eine Nuance der Unsicherheit hat es verraten. Christiane, es tat mir weh.“
„Hm, einmal würde ich dir raten, das Thema, welches es auch gewesen sein mag, zu meiden. Sicherlich wird es früher oder später zur Sprache kommen. Ich glaube es fehlt einfach noch etwas Vertrauen. Allein die Tatsache, dass es dir wehgetan hat, ist ein Zeichen dafür, dass du diese Person sehr magst.“
„Da hast du Recht. Ich mag sie wirklich.“
„Was mich jetzt natürlich brennend interessiert...“
„Du willst wissen wer die Person ist?“
„Das auch, aber da gebe ich mich keiner Hoffnung hin, es von dir zu erfahren. Nein, wie steht es um die Analyse meiner Stimme?“
„Da gibt es nichts groß zu analysieren. Einzig der schwäbische Dialekt ist interessant.“
„Ich komme aus Hannover, da ist nichts ‚schwäbisches‘!“
„Ich sagte ja auch nicht, dass du aus der Region stammst. Du hast diese Eigenheit wahrscheinlich von deinen Eltern oder Großeltern übernommen.“
„Oma! Das hast du gehört?“
„Ist für mich nicht schwer, Christiane. Der Merz würde es nicht merken.“
„Der würde es noch nicht einmal merken, wenn Christoph hessisch redet.“
„Da hast du Recht, als Deutschlehrer entgeht ihm so etwas. Dafür kennt er sich in der Literatur aus. Ganz etwas anderes, hattest du mich gesucht?“
„Ja, du musst mir in der Redaktion helfen. Ich habe mal grob überschlagen wie viel Platz wir benötigen: Es reicht nicht aus, Carsten.“
„Komm lass uns rüber gehen, es findet sich sicherlich eine Lösung. Max!“
Die Hündin gesellte sich zu dem Jungen. Gemeinsam verließen sie das Musikkabinett. In der Redaktion wurde dem Jungen schnell klar, wo das Problem lag. Zuviel Text für die nächste Ausgabe. Allein die ausstehenden Interviews würden mehr als zwei Drittel Platz benötigen. Carsten schlug vor die Statements der Schüler in einer kleinen Serie zu verpacken. So konnte einiges an Platz eingespart werden. Christiane stimmte dem zu. Mit einem Rundschreiben an das Team informierten sie über ihr Vorhaben und fragten nach Vorschlägen, wie dieses am besten zu bewerkstelligen sei. Es sollte in der folgenden Redaktionssitzung besprochen werden.
Carstens Golden Retriever hatte wohl genug, jedenfalls legte sie ihre Pfote auf sein Bein.
Der Junge verstand den Wink und fasste nach seiner Uhr.
„Ups, Christiane es ist gleich Acht durch, wenn wir noch etwas zu Essen haben wollen sollten wir uns aufmachen!“
„Hui, doch schon so spät. Also los ihr beiden auf zum Essen fassen. Heute gibt es Fisch.“
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